Teil 2
Ich bin
dabei den Hof des ersten Venus Projekts zu betreten. Wir haben den
Wagen, wie geplant, ein paar Blocks weiter unten an der Straße
geparkt. Nur Darryl begleitet mich, während die anderen im Auto
warten. Die verdunkelten Scheiben dieser auffälligen Luxuslimousine
gereichen uns diesmal sogar zum Vorteil, da sie die Insassen für
alle zufälligen Passanten unsichtbar machen.
Dies
hier ist das Projekt Nummer 137 des P.M. Konzerns. Die typische
mehr-farbige Mauer, die Hof und Gebäude umschließt, steht in einem
starken Kontrast zur Umgebung der grauen Betonblöcke.
Ein
Torbogen führt in den Hof, der von dem ebenso typischen Venusbrunnen
geprägt ist. Bei jedem der Projekte dieses bestimmten Konzerns ist
der Brunnen Teil eines Marmorbaums, aus dem das Wasser direkt auf die
Brüste einer Venus gesprüht wird, die sich halbaufgerichtet nach
hinten beugt.
Bei
diesem Anblick dreht sich mir der Magen um. Ich schlucke, drehe mich
zu Darryl um und nicke ihm zu. Er wird hier draußen warten, wo er
lässig an die Wand gelehnt versucht, sich so unauffällig wie
möglich zu verhalten.
Als ich
das Gebäude betrete, begrüßt mich der Geschäftsführer gleich
enthusiastisch, mehr noch nachdem ich mich mit einem Händedruck
vorgestellt habe. Ganz nebenbei lasse ich es noch durchblicken, dass
ich unter Umständen ein Stammkunde werden könnte. Schweigend folge
ich ihm dann durch die Räume, zuerst durch die öffentlichen im
ersten Stock, danach durch die privaten im zweiten und dritten.
Während
wir die Treppe hinterher wieder hinunter gehen, kreuze ich die Arme
vor der Brust und richte die Kamera in meinem Armbandkontroller
vorsichtig auf die Kabine der Sicherheitsvollstrecker.
Es
arbeiten zu dieser Zeit zwei von ihnen im Eingangsbereich, wobei der
eine in der Kabine sitzt, und der andere direkt am Eingang steht.
Diese
Informationen, genau wie die über die Lage der Räumlichkeiten und
die Sicherheitsvorkehrungen auf den Etagen, werden in allen Details
direkt an Daryl übermittelt, der sie dann an Cass Dakota und sein
Team weitergibt. Sie haben die nähere Umgebung schon
ausgekundschaftet, aber sie brauchen noch genaue Vorstellungen davon,
wie es innen aussieht, damit die ganze Operation später schnell und
ohne Zwischenfälle abläuft.
„Was
ist dort unten“, frage ich, obwohl ich es bereits weiß.
„Nur
die Trainingszellen und ein paar Ruheräume für unsere Frauen“,
antwortet der Geschäftsführer. „Nichts, was Sie interessieren
würde.“
„Mich
interessiert alles“, erkläre ich ihm.
Der
Geschäftsführer zuckt mit den Achseln und führt mich dann hinunter
in den Keller.
Dies hier ist keines der J.G. Venus-Projekte, und trotzdem ist
zumindest der Keller praktisch identisch mit dem in dem J.G.
Projekt. Dort auf der rechten Seite am Ende des Ganges hinter der
letzten Tür, das war einmal ihr Zimmer. Die Erinnerung hat sich in
mein Gedächtnis eingebrannt.
Nein,
natürlich war das nicht wirklich ihr Zimmer, es ist einfach nur der
Gang, der genau so aussieht. Ich schlucke, bleibe stehen... Und als
der Geschäftsführer die Tür öffnet, und ich in den Raum
hineinsehe, bin ich wie erstarrt.
***
David
schloss langsam die Tür.
Er sah
Hope an. Sie stand neben ihm, die Augen zu Boden gewandt. Er fühlte,
dass eine tiefe Traurigkeit von ihr ausging, aber außerdem noch
etwas anderes – es war eine Art Verwirrung, eine die er zuvor nicht
an ihr bemerkt hatte. Bis jetzt war sie ihrer eigenen Meinung immer
so sicher gewesen, aber nun war diese Sicherheit plötzlich
verschwunden.
Hope sah
hoch. „Ich hab es nicht gewusst“, flüsterte sie.
„Was
hast du nicht gewusst?“ fragte David sanft.
„Ich
wusste nicht, dass es so war, ich meine die Gefühle...dass Leute in
deiner Zeit so...so fühlen … das war so...“ Hope redete mit
leiser Stimme, und ihre Sätze waren weit weniger klar als zuvor.
David
nickte: „Du hättest nicht gedacht, dass wir Leute aus den 'Dunklen
Zeiten' auch Menschen sind.“
„Ich
hatte das ‚Erste Prinzip‘ vergessen“, gab sie schuldbewusst zu.
„Was
ist denn eigentlich dieses 'Erste Prinzip'“, fragte David
interessiert. „Du hast mir vorhin erklärt, eure ganze Welt sei
darauf aufgebaut, aber du hast dabei nicht erwähnt, was dieses
Prinzip eigentlich ist.“
Hope
schloss ihre Augen und verschwand, nur um gleich wieder in einer
völlig anderen Umgebung aufzutauchen.
Sie saß
nun mit gekreuzten Beinen in der Mitte eines Raumes, der mit einem
Teppich ausgelegt war. Und sie war dort nicht allein. Sie war Teil
einer Gruppe von 14 Kindern, die gemeinsam im Halbkreis einem Mann
mittleren Alters gegenüber saßen, der genau wie die Kinder mit
gekreuzten Beinen auf dem Teppich saß. Die meisten der Kinder
trugen, genau wie Hope, lilafarbene Anzüge und Kappen, der Rest
von ihnen hatte dunkelblaue Outfits. Die Hälfte der Kinder schien
etwa in Hope's Alter zu sein, während die anderen viel jünger
waren, etwa sechs oder sieben Jahre alt.
David
schloss seine Augen und konzentrierte sich auf die Szene. Wie bei den
vorangegangenen Erinnerungsbildern, so erkannte David auch diesmal
die anwesenden Personen auf einen Blick. Der erwachsene Mann war
Sensei, Hope's Lehrer, die Kinder waren alle Schüler seiner Klasse.
Alle
Kinder rezitierten nun gemeinsam:
„Leben
ist ein göttliches Geschenk.
Menschliches
Leben ist heilig und muss deshalb immer geschützt werden.
Jeder
Mensch ist von großer Bedeutung für die gesamte Menschheit.
Ebenso
ist er von unbegrenztem Wert und besitzt eine unantastbare Würde.
Kein
Mensch ist wertvoller oder weniger wertvoll,
oder
von größerer oder geringerer Bedeutung
als
irgendein anderer Mensch auf Erden.
DAS
IST DAS ERSTE PRINZIP.“
Der letzte
Satz wurde, zumindest von den kleineren Kindern, mit voller
Begeisterung und mit ebensolcher Lautstärke ausposaunt.
Die Szene
verblasste, und die gegenwärtige Hope tauchte wieder auf.
„Das
war dein Klassenzimmer, nicht wahr?“ riet David
Hope
nickte: „Jeden Morgen zu Beginn des Unterrichts wiederholen wir das
Erste Prinzip, damit wir es niemals vergessen.“
Und dann
fügte sie etwas verwundert hinzu: „Aber ich habe es trotzdem
getan. Immer, wenn ich an die Leute aus den 'Dunklen Zeiten' gedacht
habe, dann habe ich es einfach vergessen.“
„Ist
es wegen der vielen Kriege, dass du die Menschen meiner Zeit als
weniger menschlich angesehen hast“, fragte David.
Als Hope
nickte, fuhr er fort: „Dann denk ich mal, dass es in deiner Zeit
wohl keine Kriege mehr gibt? Aber du hast mir doch erzählt, dass
deine Mutter auf einer Kampfmission ist. Was bekämpft sie denn dann
eigentlich?“
Ein
schwaches Lächeln formte sich um Hope's Lippen: „Die Eiszeit
natürlich!“
Das
Lächeln verschwand, als Hope noch einmal bekräftigte: „Sie
bekämpft die Eiszeit und sonst nichts, nur die Eiszeit... genau wie
mein Vater vor ihr...“
Eine
Sekunde lang hörte Hope auf zu reden, dann wechselte sie das Thema.
„Es
gibt keine Kriege in unserer Zeit, nirgendwo... ich meine, es hat in
der ganzen Welt schon ganz lange keine Kriege mehr gegeben, seit mehr
als einem Jahrhundert...“
Wieder
hielt sie inne.
David
wusste, dass Hope die Wahrheit sagte. Er bezweifelte, dass dieses
Kind überhaupt in der Lage war direkt zu lügen, aber er fühlte
auch, dass sie irgendetwas verschwieg.
Wieder
einmal übermittelten sich ihm die Worte 'Orange Country' und dann
'Nephilim City', obwohl Hope ihre Lippen fest zusammengepresst hielt.
„Orange
Country“, fragte David, „der Ort, den du Hölle genannt hast? Ist
dort vielleicht etwas los? Oder in Nephilim City?“
Hope
presste ihre Lippen noch fester zusammen, und David spürte, dass sie
ihn aus ihren Gedanken aussperrte. Sie war nicht bereit, mit ihm über
dieses ominöse 'Orange Country' zu reden.
Dann
erinnerte David sich wage an irgend so einen Film, in dem Nephilim
als mythische Wesen dargestellt wurden, so etwas wie gefallene Engel,
oder vielleicht auch die Kinder von gefallenen Engeln. Er war sich da
nicht ganz sicher.
Was für
sonderbare Namen manche Leute doch ihren Ortschaften gaben, dachte
er.
Aber
gleichzeitig erkannte David, dass Hope mit Sicherheit nicht bereit
war, mit ihm über diese Absonderlichkeit zu reden, und darum
wechselte er das Thema.
„Weißt
du, ich habe mich da über etwas gewundert. Du hast mir doch letzte
Nacht erklärt, dass du nicht wirklich hier bist in dieser Zeit, dass
dein physischer Körper irgendwo in deiner eigenen Zeit an Maschinen
angeschlossen ist.
Und du
hast auch gesagt, dass wenn ich dich hier vor mir stehen sehe, dies
nur eine Projektion von dir in meinen Gedanken ist. Wie kommt es
dann, dass sowohl ich als auch Mr. Johnson dich haben weinen sehen?
Tränen sind doch etwas Physisches.“
Hope hatte
keine Probleme mit diesem Thema: „Ich denke mal, die Projektion
zeigt auch meine Gefühle. Wenn ich mich nach Weinen fühle... oder
nach Lachen, dann kannst du das an meinem Abbild sehen, ganz als ob
ich wirklich da wäre.“
Das hörte
sich vernünftig an, aber...
„Da
gibt es etwas, was mich noch mehr wundert. Wo wir schon bei Mr.
Johnson sind, wie ist es denn eigentlich möglich, dass er eine
Projektion von dir in meinen Gedanken gesehen hat?“
Und um
einer möglichen esoterischen Antwort zuvorzukommen, fügte David
noch hinzu: „Und sag mir nicht, das sei auch wieder so ein
göttliches Wunder gewesen. Eine technische Erklärung wäre hier
doch ganz nett.“
Hope biss
sich auf die Lippe, um eine Weile scharf nachzudenken, dann meinte
sie:
„Großonkel
Professor hat mir erklärt, dass das Deltawellen-Reisen eigentlich
andauernd passiert. Es ist etwas ganz Natürliches. Leute verbinden
sich geistig miteinander, manchmal über weite Distanzen hinweg, aber
normalerweise nur für Bruchteile von Sekunden. Mama hat mir erzählt,
dass sie oft an ihre Schwester denkt, die in einem Dorf in der
Nordwest US Nation lebt. Und ein paar Sekunden später ruft dann
Tante Susi auf dem Netzphone an.
Das ist
eine Deltawellen-Gedankenreise, sagt mein Großonkel. Das geschieht
zufällig, und manchmal sogar zwischen Leuten, die gar nicht
miteinander verwandt sind. Die Zeitreisemaschine richtet diese Wellen
nur auf bestimmte Punkte aus und stabilisiert die Verbindung, damit
diese Gedankenreise länger anhält. Darum denke ich, als Mr. Johnson
mich sehen konnte, da waren seine Gedanken auf seinen Deltawellen
mit deinem Bewusstsein verbunden. Das ist aber nur eine Vermutung,
ganz sicher bin ich mir da nicht. Großonkel Professor würde das
wissen.
„In
Ordnung“, sagte David, war aber doch nicht ganz zufrieden. Er
wusste jedoch, dass er keine bessere Erklärung bekommen würde.
„Aber
wenn er dich sehen konnte, warum konnte ich nicht auch seinen Mr.
Green sehen?“
Hope
antwortete sofort: „Ich denke Mr. Johnson ist wohl viel besser im
Deltawellenreisen als du.“
Diese
Antwort war dann ein guter Grund für David, das Thema zu wechseln
oder besser noch den Ort. „Wie wär‘s, wenn wir uns nach draußen
begeben, und ich dir etwas mehr von meiner Welt zeige? Vielleicht
gibt es doch noch etwas, das du von den 'Dunklen Zeiten' noch nicht
weist.“
Ohne auf
eine Antwort zu warten, zog sich David seine Jacke wieder an und
öffnete die Tür. Diesmal lag niemand davor, und so schloss er sie
hinter sich ab, ging die paar Schritte zum Bürgersteig hinauf und
dann die Straße hinunter. Wie immer folgte ihm Hope.
Nach zwei
Minuten drehte David sich zu ihr um und sagte beiläufig. „Weißt
du, dieses Rezitieren von eurem 'Ersten Prinzip' das erinnert mich an
das, was ich selbst als Kind in der Schule tun musste, nachdem ich in
die USA gekommen war.
Jeden
Morgen mussten alle Schüler den Treueschwur auf die Fahne
rezitieren, aber nicht im Sitzen sondern im Stehen. Da haben wir dann
feierlich erklärt: 'Ich schwöre die Treue auf die Fahne der
Vereinigten Staaten von Amerika und…'“
Hope
unterbrach ihn: „Aber ist denn eine Fahne nicht einfach nur ein
Stück Stoff mit ein paar Zeichen darauf?“
David
schüttelte den Kopf: „Eine Fahne ist viel mehr als das, sie hat
tiefe symbolische Bedeutung. Der Treueschwur geht weiter mit: 'und
zu der Republik für die sie steht, eine Nation unteilbar, mit
Freiheit und Gerechtigkeit für alle…’“
Wieder
unterbrach Hope: „Freiheit für alle? Aber Sensei hat uns doch
erklärt, dass in deiner Nation mehr Leute in Gefängnissen
eingesperrt waren als in jeder anderen Nation. Und eingesperrt sein
bedeutet doch, dass man keine Freiheit hat oder?
Und wir
haben auch gelernt, dass es die ungerechteste Nation der Welt war,
denn ein paar wenige Menschen waren so reich, dass sie tausende von
Häusern und Werkstätten besaßen und mehr Land als hundert Dörfer.
Und dann waren da andere Menschen, die waren so schlimm arm, dass sie
nicht einmal genug zu essen hatten und kein Land, um das Essen
anzubauen und keine Häuser oder Wohnungen, um darin zu leben.“
David
musste zugeben, dass auch wenn Hope es ziemlich ungewöhnlich
ausdrückte, sie im Grunde mit ihren Fakten Recht hatte. Er kannte
die Gefängnisstatistiken und auch die der weiten
Einkommensdifferenzen. Seine Zeitung hatte hin und wieder darüber
berichtet, auch wenn er selbst nie irgendwelche Artikel darüber
verfasst hatte. Also was sollte er darauf erwidern?
„Freiheit
und Gerechtigkeit sind nun einmal Ideale. Wir streben zwar nach
ihnen, haben sie aber noch nicht erreicht.“
Hope
dachte eine Weile nach und stellte dann fest:
„Also
meint ihr die Worte von diesem Treueschwur nicht wirklich, sie sind
nur so was wie ein Traum. Aber unser 'Erstes Prinzip' ist ganz
anders. Wir meinen jedes einzelne Wort.“
„Also
einen Moment mal“, protestierte David, „euer 'Erstes Prinzip'
hört sich auch ziemlich hochsinnig und utopisch an, wie zum Beispiel
dieser Teil, der von dem gleichen Wert und der gleichen Wichtigkeit
aller Menschen spricht. Das ist doch auch nur eine Idee, es könnte
niemals eine echte Realität werden. Real gesehen wäre so etwas
unmöglich.“
„Warum
unmöglich“, fragte Hope mit einem Kopfschütteln.
„Erkennst
du das denn nicht“, fragte David, während er um die Ecke in die
Sacrecors Avenue einbog.
„Es
gibt doch immer irgendwelche Leute, die wichtiger sind als andere,
Politiker zum Beispiel, du weißt schon, solche Leute, die die
Gesetze machen und Regierungen führen und Entscheidungen für viele
andere Menschen treffen. Auf diese Weise werden sie dann wichtig für
den Lauf vieler Dinge, über die sie so bestimmt haben. Manchmal
werden sie sogar wichtig für die gesamte Geschichte ihres Landes
und vielleicht sogar für die der ganzen Welt.
Und dann
sind da die anderen Leute, die überhaupt keinen Einfluss und fast
nichts zu sagen oder zu entscheiden haben, nicht einmal bezüglich
ihres eigenen Lebens. Diese Leute sind völlig unwichtig, denn ob sie
leben oder nicht oder überhaupt je gelebt haben, macht keinen
Unterschied für irgendjemanden außer für sie selbst.“
In den
letzten Wochen hatte David viel Zeit damit verbracht, über die Frage
nach dem Sinn und Wert des Lebens nachzudenken, besonders seines
eigenen.
Klar, war
er dann zu seinen Schlussfolgerungen unter dem Einfluss einiger
hochprozentiger, und wie Hope es sehen würde, sehr unheiliger
Geister gelangt. Trotzdem wusste er, dass diese Schlussfolgerungen
nicht völlig unlogisch waren.
Er hatte
an einer der am meisten gelesenen Zeitungen des Landes, vielleicht
sogar der ganzen Welt, gearbeitet. Und obwohl er dort nicht wirklich
irgendeine leitende Position eingenommen hatte, hatten einige seiner
Artikel doch hin und wieder einen entscheidenden Einfluss auf die
lokale Politik gehabt. Er war wichtig gewesen, weil sein Leben einen
Einfluss auf das vieler anderer Leute gehabt hatte. Nachdem er diese
Einflussposition verloren hatte, hatte auch sein Leben allen Wert
verloren, und somit war seine Existenz im Grunde sinnlos geworden.
Und
deshalb erklärte David im Brustton der Überzeugung: „Euer 'Erstes
Prinzip' ist weit unrealistischer und hat viel mehr von einem Traum
als unser 'Treueschwur zur Fahne'.“
„Das
stimmt nicht“, Hope's Stimme war wieder fest und voller
Selbstsicherheit. Überwunden war die Unsicherheit, die David noch
vor einigen Augenblicken in ihr gespürt hatte.
„Das
Erste Prinzip ist real, kein Traum, nicht nur einfach ein Ideal. Wir
meinen es wirklich. Und außerdem gibt es überhaupt keine Politiker
in unserer Zeit.“
„Keine
Politiker? Das wage ich nun echt zu bezweifeln, “ konterte David.
„Ihr werdet sie wahrscheinlich etwas anderes nennen, aber
Politiker hat es immer gegeben und es wird sie immer geben, solche
Leute, die über den Rest der Bevölkerung regieren und für diese
die Gesetze beschließen. Früher waren das einmal die Könige und
die Adeligen und deren Hofangestellten gewesen. Jetzt haben wir bei
uns den Präsidenten und die in den Kongress gewählten Senatoren und
Abgeordneten als Gesetzgeber. Und in den einzelnen US-Staaten gibt es
dann noch Gouverneure und auch dort noch Staats-Parlamente.“
„Solche
Leute haben wir nicht“, erklärte Hope mit fester Stimme. „Wir
haben einen Dorfrat, das ist eine Versammlung aller Erwachsenen von
Spesaeterna. Darum beschließen auch alle Erwachsenen gemeinsam die
Regeln für unser Dorf. Du könntest sie deshalb vielleicht alle
Gesetzgeber nennen, wenn du willst. Keiner von den Erwachsenen
regiert über andere Erwachsene. Vielleicht könntest du sagen, dass
die Erwachsenen über die Kinder und Jugendlichen regieren. Aber das
ist nur aus dem Grund so, weil die Kinder noch nicht genug Wissen
haben, um die Regeln machen zu können, und weil die Jugendlichen
immer noch an Hormonverwirrungen leiden“.
„In
Ordnung“, räumte David ein, „ihr habt also keine Politiker in
eurem Dorf. Stattdessen habt ihr das, was wir eine ‚direkte
Demokratie‘ nennen. Aber was geschieht dann außerhalb eures
Dorfes, auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene? Es
muss dort doch Leute geben, die regieren und andere, die für diese
Regierungen die Gesetze schreiben.“
„Es
gibt keine Gesetzgeber außerhalb unseres Dorfes,“ erklärte Hope
in festem Ton.
„Wie
ist das denn überhaupt möglich“, David hatte doch starke Zweifel
an Hope's Aussage. Sie war schließlich nur ein kleines Mädchen, das
vielleicht gar keine Ahnung von dem politischen System außerhalb
ihrer eigenen kleinen Welt hatte.
„Es
muss doch Leute geben, die über Infrastruktur und internationale
Zusammenarbeit entscheiden und diese Dinge koordinieren. Es muss doch
Regeln und Gesetze geben, die auch außerhalb eures Dorfes gelten.“
„Klar
gibt es Gesetze für die ganze Welt“, stimmte Hope ihm zu. „Aber
dafür braucht man keine Gesetzgeber mehr. Diese Gesetze wurden vor
über hundert Jahren verfasst. Sie sind unveränderlich, und es gibt
auch nur drei von ihnen.
Nummer 1:
Jeder Mensch auf der Welt, ebenso wie jede Hausgemeinschaft, jedes
Dorf, jeder Distrikt und jede Religion müssen sich an das Erste
Prinzip halten.
Nummer 2:
Kein Dorf darf den Lebensraum eines anderen Dorfes und keine Nation
darf den einer anderen Nation verletzen. Deshalb muss auch jede
Verschmutzung von Luft oder Wasser, die Nachbardörfer
beeinträchtigen könnte, unterlassen werden.
Nummer 3:
Den Frieden zwischen einzelnen Menschen, Dörfern und Nationen zu
bewahren, ist von allerhöchster Priorität. Deshalb muss allen
Kindern der Wert von Frieden und die Gefahren des Krieges
nahegebracht werden. Aus diesem Grund muss jedes gesunde Kind im
Alter von 12 Jahren das Opferszenario durchlaufen.
Das sind
alle Gesetze, die wir haben.“
„Drei
Gesetze? Bist du ganz sicher, dass es nur drei gibt?“ Es erschien
David doch ziemlich unglaublich, dass irgendein politisches System
funktionieren konnte, wenn es auf so wenigen Grundsätzen basierte.
„Gibt
es denn gar keine Zusammenarbeit außerhalb eures Dorfes?“
„Doch
natürlich; wir treiben Handel. Wir kaufen Dinge von anderen Dörfern,
und die kaufen Dinge von uns. Wir müssen da aber Intercoin benutzen,
weil die Dorfcoin nur in unserem Dorf gültig sind.“
„Und
wer organisiert den Handel? Wer bestimmt die Regeln darüber wie und
mit was man handelt?“
„Was
für Regeln?“ fragte Hope verwirrt. „Wenn du etwas brauchst, was
man in deinem Dorf nicht bekommen kann, dann schaust du auf dem
Friedensnetz nach, dem weltweiten Friedensnetz. Du schaust nach, wer
so etwas verkaufen will, und dann kontaktierst du den Verkäufer, und
du übermittelst ihm den Betrag von Coin, die du ihm geben willst,
und der Verkäufer bringt die Ware zum Transport.
„Aber
was geschieht, wenn der Verkäufer dich betrügt und er dir den
bestellten Artikel nicht liefert, oder wenn das Produkt dann nicht in
Ordnung ist? Es muss doch irgendwelche Gesetze geben, um den Käufer
zu schützen.“
„Warum
würde ein Verkäufer so etwas tun“, Hope fand das ziemlich
unverständlich. „Es wäre eine solche Schande für ihn und für
seine ganze Gemeinschaft. Niemand würde mehr etwas von ihm oder
seiner Hausgemeinschaft kaufen, vielleicht nicht einmal mehr von
seinem Dorf. Die Leute aus anderen Dörfern würden einem Dorf nicht
vertrauen, dass seinen Bürgern erlaubt, unehrlich im Handel zu
sein.“
Dann fügte
sie hinzu: „Aber ich habe fast vergessen, dass es in deiner Zeit
keine Schande ist unehrlich zu sein.“
„Das
stimmt nicht ganz“, protestierte David. „Für die meisten Leute
ist es immer noch äußerst peinlich, wenn sie eines Betrugs entlarvt
werden.“
Nach einem
Augenblick gab er dann aber zu: „Aber in mancher Hinsicht hast du
doch Recht. Es gibt bei uns wirklich Leute, die wegen so etwas
niemals Schuld- oder Schamgefühle entwickeln. Einige von ihnen sind
so raffiniert, dass sie überhaupt niemals entlarvt werden. Und dann
haben sie auch noch so gute Verbindungen, dass alles, was auch immer
irgendwann einmal herauskommen sollte, trotzdem unter der Decke
gehalten wird. So können sie einfach weiter machen, als wäre nichts
geschehen. Diese Leute können dann problemlos das Leben von
ehrlichen Menschen zerstören.“
David
schluckte; das kannte er aus eigener Erfahrung nur zu gut. 'Und',
fügte er aber nur in Gedanken hinzu, 'das mit der Lebenszerstörung
ist wörtlich zu nehmen. Denn da gibt es sogar welche, die morden
können, ohne je dafür zur Verantwortung gezogen zu werden...'
David's
Miene verdunkelte sich, dann aber schüttelte er den Kopf und
straffte die Schulter. Er würde jetzt nicht wieder in seine dunklen
Grübeleien verfallen.
„In
Ordnung, vielleicht ist euer Handel wirklich selbstorganisiert ohne
eine regulierende Regierungsbehörde zu benötigen. Aber es gibt
sicherlich Stellen, an denen ihr eine weitergehende Kooperation
außerhalb des örtlichen Bereichs benötigt. Wer organisiert denn
das?“
„Unsere
Repräsentanten“, war Hope's kurze Antwort.
„Na
also, die Repräsentanten, “ das passte in David's Weltbild.
Zufrieden erklärte er: „Zu meiner Zeit nennen wir solche Leute
Politiker. In allgemeinen Wahlen wählen wir bestimmte Leute, die
gehen dann nach Washington, um dort im Kongress Gesetze zu
beschließen. Gemeinsam mit dem Präsidenten und den Staatssekretären
haben diese Leute die Macht, die Geschicke unserer Nation und aller
Menschen, die hier leben zu bestimmen.“
Hope, die
David's Beschreibung geduldig angehört hatte, schüttelte den Kopf:
„Unsere
Repräsentanten sind nicht so wie eure, sie werden nicht durch
Wahlen bestimmt. Ich weiß, was Wahlen sind, das habe ich in der
Schule gelernt.
In den
meisten Ländern in den Dunk... ich meine in deiner Zeit, da bekamen
die Menschen die Erlaubnis ein X auf ein Blatt Papier zu schreiben
und zwar hinter den Namen einer Person oder einer Gruppe von
Personen, die damals Partei genannt wurden. Danach sollte diese
Person oder Partei die Leute repräsentieren, die sie gewählt
hatten.
Vor den
Wahlen hat die Person oder die Partei versprochen, ihre
Lebensbedingungen zu verbessern. Die Person oder die Partei mit den
meisten Ixen war dann gewählt. Aber nach der Wahl konnten
diejenigen, die gewählt wurden, dann ihre Versprechen nicht
einhalten, weil sie den Anweisungen anderer folgen mussten, die viel
mächtiger waren.“
Dazu
konnte David eigentlich nichts erwidern, denn er musste zugeben, dass
Hope's Beschreibung des demokratischen Systems zwar simplifiziert,
aber doch nicht ganz falsch war. Sein Job hatte ihm genug Einblicke
in das Polit-System gegeben, um den enormen Einfluss der
nicht-gewählten Machteliten, die hinter den öffentlichen Bühnen
agierten, zu erahnen.
Hope fuhr
fort: „Unsere Repräsentanten sind anders. Sie sind von Gott
auserwählt.“
„Sie
sind was?“ David war völlig schockiert. Das war nun wirklich der
Rückfall ins finsterste Mittelalter. Hope hatte ihm ja bereits
erzählt, dass alle in ihrer Zeit irgendwie religiös waren, aber
'von Gott auserwählt'? Das schlug nun wirklich dem Fass den Boden
aus. Und sie bezeichnete seine Zeit als die 'Dunklen Zeiten'?!
„Von
Gott auserwählt“, wiederholte Hope. „Jeder Erwachsene, also
jemand, der älter ist als 25 Jahre, kann seinen Namen auf die Liste
für all die Leute setzen, die eine Periode lang als Repräsentanten
von unserem Dorf im Distrikt, in der Nation oder im internationalen
Hilfskongress dienen wollen.
Von allen
Erwachsenen im Dorf gibt es zu jeder Zeit zwei, die gerade
Distrikts-Repräsentanten sind. Und von allen Menschen im Distrikt
sind es dann auch immer zwei, die den Distrikt in der
Nationalversammlung repräsentieren. Und jede Nation auf der Welt
sendet einen Repräsentanten zum internationalen Hilfskongress.
Und wenn
all die Leute sich im Welt-Friedens-Netz auf die Liste gesetzt haben,
dann gehen die Namen durch eine Zufallsmaschine -das ist ein
Computerprogramm, weißt du- und dann erscheinen die Namen und Orte
der ausgewählten Repräsentanten. Das geschieht alle drei Monate,
aber eine Periode dauert sechs Monate, so dass immer nur die Hälfte
aller Repräsentanten jedes Mal ausgetauscht wird.
Und so
siehst du, dass die Repräsentanten nicht von Menschen gewählt
worden sind, sondern von Gott auserwählt wurden.“
Eine
sonderbare Welt, aus der Hope kam, dachte David; Regierungen waren
aus Lotteriegewinnern zusammengesetzt. Wie konnte so etwas überhaupt
funktionieren?
„Aber
wie wisst ihr denn, ob diese zufällig ausgewählten Leute auch
qualifiziert sind“, fragte er.
„Qualifiziert?“
„Ja,
dass sie wirklich wissen, was sie tun“, erklärte David
„Wir
wissen alle, was man als Repräsentant zu tun hat. Das lernen wir in
der Schule, “ versicherte Hope David.
Dann
stellte sie die Gegenfrage: „Aber wie könnt ihr denn so sicher
sein, dass die Leute die ihr wählt, wirklich qualifiziert sind?“
„Das
wissen wir, weil...“ begann David und hielt dann inne. Das war
schon eine ganz gute Frage. Was qualifizierte eigentlich einen
Politiker für seinen Job?
In Hope's
System da war es gut möglich, dass einige der
Lotteriegewinner-Repräsentanten geistig behindert waren, aber waren
diese denn dann wirklich so verschieden von den Politikern in seiner
eigenen Welt, dachte David mit einer gehörigen Prise Zynismus.
Es war
doch gar nicht so lange her gewesen, dass jemand in die höchste
politische Position gelangt war, von dem man damals munkelte, dass er
sich durch übermäßigen Drogen- und Alkoholkonsum um große Teile
seines Verstands gebracht hatte. Und hatte nicht besagter Politiker
die Nation durch immer wieder neue Fauxpas blamiert?
Zu der
Zeit hatte David an der Schülerzeitung seiner High-School
gearbeitet. Und er und seine Freunde dort hatten diese Ausfälle
immer wieder dankbar für amüsante Karikaturen und Satiren benutzt.
Und dann
kam der Urknall des 11. Septembers, und vorbei war es mit dem Spaß.
Als die Türme im freien Fall kollabierten, das war der Tag, an dem
die Welt sich verdrehte.
Patriotische
Manie hatte alle im Land erfasst, zusammen mit dem Patriot Act.
Keiner wagte es mehr den großen ‚Entscheider‘ zu hinterfragen,
ob er nun einen Krieg anfing, der mit falschen Behauptungen begründet
wurde, oder ob er die Folter wieder einführte. Und obwohl die
Massenvernichtungswaffen auf Mythen basierten, waren die
Kriegsprofite doch ganz real. Ebenso real waren auch diejenigen, die
diese Profite einfuhren, die der gute alte Ike Eisenhower einmal den
militärisch-industriellen Komplex genannt hatte, Insider also, die
aufs engste mit denselben Politikern verbandelt waren, die den Krieg
beschlossen und gerechtfertigt hatten.
Ja,
entschied David zynisch, ein Mangel an Intelligenz war bei Weitem
nicht der wichtigste Faktor, der jemanden von einem politischen Amt
disqualifizieren sollte.
Jeder
kannte sie, aber kaum einer wagte sie öffentlich zu erwähnen, die
Existenz der Drehtür nämlich, der zwischen den politischen
Positionen und den Großkonzernen, durch die Parlamentarier im
Anschluss an ihre Amtsperiode direkt aus ihren politischen Büros in
die Vorstandsetagen von Pharmariesen und Ölkonzernen wechselten,
oder durch die Top-Manager sich direkt aus den Großbanken ins
Polit-Karussell eindrehten und von dort aus dann als Nächstes in die
-von der Finanzwelt gestützten- Denkfabriken, durch die sie dann
wiederum zu prominenten Politberatern wurden oder auch zu
Wirtschafts-Lobbyisten, um danach gleich wieder auf die politische
Bühne zurückzukehren, und das Ganze immer und immer wieder im
endlosen Kreisverkehr.
David's
eigenes Karussell hatte sich wieder einmal in seinem Kopf zu drehen
begonnen, während er an das Spiel mit den politischen Verbindungen
dachte, die überall zu finden waren, sei es in den elitären
Studentenverbindungen, wie der mit dem Totenkopf als Logo, oder
innerhalb des weit größeren und wohl auch noch viel mächtigeren
Klubs, in den sein Freund Ed ihn schon so lange versucht hatte zu
rekrutieren.
Erst
vor kurzem hatte David sich endlich selbst eingestehen müssen,
welche Rolle sein eigener Berufsstand in diesem endlosen
Beziehungsspiel einnahm.
Vor jeder
Wahl beschlossen all die großen Medienkonzerne mit scheinbar einer
einzigen Stimme, welche Leute diesmal ins helle Rampenlicht gerückt
werden sollten. Und jedes Mal wurde beschlossen, dass nur diejenigen,
die mit den 'richtigen' Verbindungen ausgestattet waren, dieses auch
verdienten, dass sie also für ein politisches Amt qualifiziert
waren.
Es waren
deren Porträts, die Tag für Tag dem Wahlvolk präsentiert wurden.
Grinsend wie auf einer Zahnpasta-Reklame, wurde diesen Auserwählten
dann erlaubt ihre Sprüche zu klopfen und sie so lange zu
wiederholen, bis Millionen von Fast-Food essenden Football-Fans
glaubten, dass diese Country-Club Typen ihre besten Freunde von
nebenan seien.
Wenn
irgendeinem anderen Kandidaten dann doch ein wenig Aufmerksam
geschenkt wurde, dann war das Licht, das auf ihn gelenkt wurde,
dunkel und verzerrend.
Und aus
dieser gesamten Klicken-Wirtschaft war dann ein gewisser Abiffsen in
seine gegenwärtige Position aufgestiegen, und das mit der
großangelegten Unterstützung von David's eigenem Blatt, das ihn
praktisch als Superhelden feierte. Sie nannten ihn einen Idealisten,
einen Reformer, einen Champion von Freiheit und Demokratie.
Und der
ganze Rest der Pressemeute hatte diese Mantras kritiklos übernommen.
So wurde Abiffsen zur rechten Hand des Präsidenten. Er kontrollierte
sowohl die Außenpolitik als auch das Pentagon. Inzwischen hatte er
mehr Einfluss gewonnen als der Verteidigungssekretär und das gesamte
Auswärtige Amt, und offensichtlich sogar mehr als der Präsident
selbst.
Abiffsen...
David schauderte, Abiffsen der große böse Wolf im Schafspelz, der
Mann, der die ganze Menschheit als seine Beute betrachtete, der
Planer von politischem Massenmord.
David
fühlte wie sich ihm der Magen umdrehte. Übelkeit stieg in ihm hoch.
Nein,
nein, nein. Er würde jetzt nicht wieder an Abiffsen denken.
Es war so
sinnlos, so durch und durch hoffnungslos, man konnte sich gegen ihn
nicht wehren...
David
schluckte wieder einmal, und dann riss er sich zusammen. Er versuchte
den Faden von dem Gespräch mit Hope wieder aufzunehmen und
antwortete dann, ein wenig verspätet:
„Weil
sie es sagen.“
„Wer
sagt was“, Hope war ein bisschen verwirrt, aber nur für eine
Sekunde:
„Oh,
du meinst sie sagen selbst, dass sie qualifiziert sind, die Politiker
in deiner Zeit.“
Und dann
brach sie in Gelächter aus, und David schloss sich ihr an. Ja,
dieses kleine Mädchen war schnell von Begriff, dachte er.
Und es
fühlte sich so gut an, mit ihr zu lachen, einfach nur zu lachen über
den ganzen Irrsinn, den es hier in seiner Zeit gab, nicht in Hope's :
Lügner
und Betrüger wurden belohnt, Krieg wurde Friedenspolitik genannt und
Friedensaktivisten als Terroristen abgestempelt, die Täter bei
großen Finanzbetrügereien bekamen Millionen als Boni, während ihre
Opfer ihr Zuhause, ihre Arbeit und ihre Pensionen verloren.
Und dann
war da noch er selbst, David Ragnarsson, der Journalist, der sein
ganzes professionelles Leben lang die Möglichkeit großer und
geheimer politischer Verschwörungen geleugnet und als vollkommen
irre dargestellt hatte, er hatte dann genau so eine Verschwörung
aufgedeckt, eine, die so enorm war, dass sie unermessliche
internationale Auswirkungen gehabt hätte.
Als er
aber dann seine professionelle Integrität über seine Karriere
gestellt und gegen den 'Rat' seiner Vorgesetzten gehandelt hatte, da
wurde sein Bericht als 'fake news' verschrien. Um ihn dann noch
unglaubwürdiger zu machen, wurden ihm außerdem noch eine Reihe
anderer Falschmeldungen angehängt, all das, um ihn so zum größten
Betrüger der amerikanischen Zeitungsgeschichte abzustempeln.
Und so war
er auf die endgültige schwarze Liste geraten und zwar scheinbar
überall auf der Welt, sogar im Heimatland seines Vaters, der kleinen
kalten Insel ganz oben im Nordatlantik. Obwohl, wenn er wirklich
ehrlich mit sich selbst war, dann musste David sich eingestehen, dass
er nicht so ganz nüchtern gewesen war, als er sich dort letzten
Monat telefonisch beworben hatte. Und diese Tatsache könnte
vielleicht etwas mit der frostigen Antwort von dort zu tun haben.
Je mehr er
über all das nachdachte, umso komischer erschien es ihm. Und so
konnte David gar nicht aufhören zu lachen. Als er und Hope die
U-Bahn Station erreicht hatten, kamen gerade ein Mann und eine Frau
die Treppe herauf. Aber nachdem sie David's hysterisches Lachen von
oben herunter hallen hörten, drehten sie sich beide schnell um, um
einen anderen Ausgang zu benutzen.
David
entschloss sich allerdings auch eines besseren und entschied sich,
nicht die U-Bahn zu nehmen. Er wollte Hope noch viele Fragen stellen.
Ihre Welt schien sich auf eine so faszinierende Weise von der David's
zu unterscheiden. Er wusste, dass sie seine Gedanken lesen konnte,
aber irgendwie fühlte es sich besser an, wenn er sie aussprechen
konnte, und in einer vollbesetzten U-Bahn wäre das einfach zu
peinlich gewesen.
Während
er sich von der Treppe zur U-Bahn abwandte, fragte er Hope: „Wenn
diese Repräsentanten aus deiner Welt keine Gesetze machen, was tun
sie dann eigentlich?“
„Sie
organisieren Hilfe für Situationen“, war die Antwort.
„Was
sind das denn für Situationen?“ fragte er weiter.
„Na
zum Beispiel,“ führte Hope aus, „wenn die Leute, die am Meer
leben, bemerken, dass ihre Kaimauer nicht hoch und stark genug ist,
um bei Sturm eine Überflutung zu verhindern, oder auch die Leute an
einem Fluss so etwas über ihre Dämme befürchten, dann werden die
Repräsentanten das Problem untersuchen und die Möglichkeiten zur
Reparatur oder zum Neubau vergleichen, und danach eröffnen sie einen
Topf.“
„Sie
eröffnen einen Topf? Was heißt das denn, “ fragte David
Hope
erklärte: „Also die Dörfer am Meer oder an dem Fluss haben oft
nicht genug eigene Ressourcen und Leute, um so große Projekte
durchzuführen, und deshalb müssen die anderen Dörfer ihres
Distrikts oder ihrer Nation dazu beitragen, indem sie Intercoin in
den Topf transferieren. Und Dörfer, die gerade wenige Intercoin
haben, die schicken Freiwillige um zu helfen, und diese werden dann
mit den Intercoin aus dem Topf bezahlt. Und die Intercoin der Helfer
werden dann in ihrem Dorf gegen Dorfcoin ausgetauscht. Und so
bekommen die Helfer Coin, um in ihrem Dorf einzukaufen, und das Dorf
Intercoin um von anderen Dörfern etwas zu kaufen, und die Dörfer am
Meer oder am Fluss werden sicher gemacht gegen Überflutung.“
„Solche
Zahlungen von Geld für Infrastruktur nennen wir bei uns Steuern“,
stellte David klar und fragte weiter:
„Aber
was machen die Repräsentanten, wenn ein Dorf kein Geld in so einen
Topf einbezahlen und auch keine Arbeiter schicken will? Wie können
die Repräsentanten diese Steuerzahlungen erzwingen?“
„Warum
sollten sie das Einzahlen in den Topf erzwingen? Kein Dorf würde
sich weigern an einem Projekt teilzunehmen – das wäre eine große
Schande für die Menschen im Dorf. Und außerdem würden die anderen
Dörfer mit so einem Dorf nie wieder Handel treiben.
„Also
ist es nicht nur der Gedanke an die Schande, die die Menschen dazu
bringt ihre Steuerzahlungen zu leisten, es gibt auch ökonomische
Gründe“ stellte David fest.
„Ich
denke schon“, gab Hope zu.
„Das
habe ich mir gedacht!“ David fühlte eine gewisse Befriedigung
darüber, dass er sich in seiner Ansicht bestätigt sehen konnte.
Seiner professionellen und persönlichen Erfahrung nach gab es
niemanden, der irgendetwas ausschließlich aus reiner Herzensgüte
tat. Und keine einzige Organisation, nicht einmal eine karitative,
konnte sich allein auf Mitgefühl und Hilfsbereitschaft verlassen.
Jedes Mal, wenn er die Dinge ein bisschen genauer unter die Lupe
genommen hatte, dann war da ein Punkt der Gemeinsamkeit:
Was auch
immer Menschen tun, das Hauptmotiv ist regelmäßig Selbstinteresse,
sei es ein finanzieller Profit oder auch größerer Ruhm, Ehre und
Einfluss.
Hope fuhr
mit ihrer Erklärung fort: „Die Repräsentanten sorgen auch dafür,
dass das Transport- und Informationssystem immer in gutem Zustand
ist.“
Wieder
erschien Hope's Klassenzimmer in David's Sichtfeld. Er hielt an und
schloss seine Augen.
Dieses Mal
war der Raum verdunkelt, und die Kinder standen in einem großen
Kreis. Dreidimensionale Buchstaben schwebten über ihnen, die das
Thema der Lektion als 'DAS TRANSPORT- UND INFORMATIONSSYSTEM'
überschrieben. Unter dem Text stand Sensei, der ein paar Mal auf ein
Smartphone-ähnliches Gerät tippte, welches auf seinem Handgelenk
befestigt war, ein Gerät, von dem David jetzt wusste, dass es
Armband-Controller genannt wurde.
Ein
holographischer Bildschirm erschien nun über dem Arm des Lehrers. Er
berührte die Symbole darauf, bis er Zugang zu den vier Projektoren
hatte, die in den Ecken des Raums angebracht waren, um durch sie
seine bereits vorbereitete Videolektion zu zeigen.
Daraufhin
verschwanden die Buchstaben über dem Kopf des Lehrers, statt dessen
erschien mitten im Raum eine Bahn. Diese näherte sich mit ihrem
einzigen Wagen auf einer einspurigen Schiene langsam einer Plattform,
die aus dem fünften Stock eines etwa zehnstöckigen Gebäudes
hervorragte. Als sie ganz herangefahren war, erkannte David, dass
die Bahn nicht direkt auf der Schiene fuhr, sondern über ihr
schwebte.
„Wem
gehört diese Maglev?“ fragte Sensei seine Schüler. Durch die
Verbindung mit Hope's Geist erfuhr David sofort, dass der Ausdruck
'Maglev' für 'magnetic levitation' also die Magnetschwebetechnik
stand.
Er
erinnerte sich daran, dass er von Modell-Projekten mit dieser
Verkehrs-Technologie in den USA und in Europa gehört hatte, und dass
in einigen asiatischen Ländern solche Züge bereits als reguläre
Verkehrsmittel eingesetzt wurden.
„Diese
Maglev gehört unserem Dorf“ antwortete eine kindliche Stimme.
„Das
ist richtig, Jenny Chan. Und weißt du auch, wer diese Maglev
repariert, wenn es nötig ist?“
„Ja,
das ist Mr Kelton's Reperaturwerkstatt,“ antwortete Jenny.
„Und
wer bezahlt Mr Kelton, Mr Denton, Ms Chen und Mr Abani und die
anderen Leute, die in dieser Werkstatt arbeiten? Wer bezahlt sie für
ihre Arbeit und für die Materialien, die sie für ihre Arbeit
benötigen?“
Als Jenny
zögerte, deutete Sensei auf das Mädchen neben ihr und sagte:
„Sempai, kannst du bitte helfen?“
Das
Mädchen, dessen Name eigentlich Marcella war, beugte sich hinunter
und flüsterte Jenny etwas ins Ohr. Jenny lächelte und beantwortete
dann die Frage:
„Alle
Leute in unserem Dorf zahlen dafür! Sie legen Coins in den
Maglev-Topf, so dass die Reperaturen bezahlt werden können.“
„Aber
wie ich es euch bereits erklärt habe, “ erklärte der Lehrer
weiter, „so besitzen nicht alle Dörfer so eine Maglev. Einige
Dörfer benutzen ältere Transportmittel. Dort hat jede Familie ihr
eigenes kleines Transportmobil, und das fährt dann auf
Transportwegen auf dem Boden. Ebenso fahren die elektrischen
Transportzüge der Distrikte dort auf dem Boden. Die Dörfer in
diesen Distrikten sehen auch ganz anders aus als unser Dorf. Die
Menschen dort leben in einzelnen Häusern und nicht in
Wohnungsblöcken.“
„Aber
das Gebäude von unserer Nachtigallen-Hausgemeinschaft ist so
wunderschön,“ protestierte ein kleines Mädchen namens Tania laut.
„Wie können die Leute ein einzelnes Haus so schön machen? Ich
würde nicht in so einem einzelnen Haus leben wollen.“
Sensei
lächelte: „Ich bin sicher, dass den Menschen in diesen Dörfern
ihre kleinen Häuser genauso gut gefallen, wie uns unsere Gebäude
gefallen. Die Menschen der Welt leben alle an unterschiedlichen
Orten, haben unterschiedliche Kulturen und deshalb auch
unterschiedliche Ideen, von dem was schön ist.“
Tania
schien nicht völlig überzeugt zu sein, aber Sensei fuhr nun mit
seiner Lektion fort.
Er
berührte seinen Armband-Controller, und der kleine Zug verschwand
und machte einem größeren Platz, der mit mehreren Waggons hoch über
eine Landschaft mit Wohnungsblöcken, Zelten, Bäumen und Wiesen
fuhr.
Die
Schiene war weit höher angebracht als die des Dorfzuges, aber die
Technik schien dieselbe zu sein. Der Zug war mit rot-silbernen
Streifen lackiert, und die großen Fenster waren etwas nach außen
gewölbt, um den Passagieren darin eine gute Aussicht auf die
Landschaft unter ihnen zu gewähren.
David
erkannte nun, dass die Bilder, die Hope am Morgen, als er im Bad
gewesen war, produziert hatte, Eindrücke von einer Reise in so einem
Zug gewesen waren.
„Ist
jemand von euch schon in so einem Inter-Dorf Maglev gefahren?“
fragte Sensei.
Alle
älteren Kinder und die meisten der jüngeren hoben ihre Hand.
„Wisst
ihr auch wem er gehört?“
Dieses Mal
wedelte das kleine Mädchen, das neben Hope stand, mit ihrer Hand:
„Ich
weiß, ich weiß!“ rief sie.
„In
Ordnung, Cindy chan, du darfst es uns erzählen.“
„Er
gehört dem Distrikt, all den Menschen, die in unserem Distrikt
leben.“
Und weil
sie die nächste Frage schon voraussah, flüsterte Hope der kleinen
Cindy bereits ins Ohr, und diese wiederholte laut: „Für die
normale Nutzung zahlen die Passagiere mir ihren Tickets, aber wenn
etwas kaputt ist, dann werden alle Dörfer darum gebeten, Coins in
den Maglev-Topf zu legen.“
„Das
stimmt, Cindy chan,“ stimmte Sensei zu. „Und wie einige von euch
bereits wissen, gehören nicht nur der Inter-Dorf Maglev, sondern
auch die Reparaturwerkstatt dem Distrikt. Könnt ihr euch denken
warum?“
Dieses Mal
antwortete Cindy, ohne auch nur die Hand zu heben: „Weil es nicht
fair wäre, wenn die Werkstatt nur ein paar Leuten in einem Dorf
gehören würde. Diese Leute würden dann all die Intercoins
verdienen von all den anderen Dörfern, die immer nur bezahlen
müssten.“
„Das
stimmt, Cindy chan, “ erklärte Sensei.
„Aber
es geht um mehr als nur um Fairness. Das Transportwesen von Menschen
und Gütern ist ein wichtiger Aspekt unseres täglichen Lebens. Wenn
einzelne Menschen unsere wichtigsten Transportmittel besäßen, dann
könnten sie unter Umständen den ganzen Handel und Verkehr lahmlegen
oder zumindest große Hindernisse dafür schaffen. Und wenn jemand so
etwas tun kann, wie wird das dann genannt?“
Cindy's
Antwort kam diesmal sogar ohne Hope's Hilfe wie aus der Pistole
geschossen:
„Das
nennt man Macht.“
„Ja“,
stimmte Sensei zu. „Das wäre eine enorm gefährliche Macht. Und
wir glauben doch alle, dass niemand über so eine Macht verfügen
sollte, stimmt‘s? Und deshalb gehört der Interdorf-Maglev, dessen
Reparaturwerkstatt und dessen Schienen allen Menschen unseres
Distrikts gemeinsam, so wie die Continental-Maglevs, deren
Reparaturwerkstätten und Schienen allen Menschen der Nationen
gehören, durch die diese Maglevs fahren.“
Die
Projektion von dem rot-silbern gestreiften Zug wurde von einer mit
einem blau-silbern-gestreiften ersetzt, der mit extrem hoher
Geschwindigkeit auf einer noch höheren Ebene zu fahren schien. Und
es war auch nicht mehr nur ein einzelner Zug. Da waren vier andere
Maglevs, die gleichzeitig auf niedrigeren Ebenen fuhren. Die Züge
auf den unteren Ebenen hatten allerdings keine Fenster.
'Gütertransport' stand über die unteren Teile des Hologramms
geschrieben. Nachdem die langen Züge an den Schülern vorbeigezogen
waren, wurde die Schienen-Konstruktion sichtbar, genauso wie eine
andere, parallele fünf-spurige Schienen-Konstruktion, auf der jetzt
fünf weitere Züge in die entgegengesetzte Richtung donnerten.
Während
die Waggons rasant hintereinander an den Schülern vorbeizogen, fuhr
der Lehrer mit seiner Lektion fort:
„Die
normalen Kosten, wie für die Instandhaltung der Schienen, werden
wieder von den Tickets bezahlt, während zusätzliche Kosten aus den
Spezialtöpfen bezahlt werden, für die unsere Repräsentanten
zuständig sind. Es gibt 57 kontinentale Maglev Linien auf dem
Nordamerikanischen Kontinent.“
Eine Karte
erschien, auf der gerade Linien den Kontinent von Alaska bis zum
Panamakanal durchzogen, von Osten nach Westen und vom Norden in den
Süden. Die Kreuzpunkte waren gelb markiert.
„Jede
der 38 Nationen auf unserem Kontinent hat mindestens eine große
Reparaturwerkstatt für die Schienen und für die Maglevs auf ihrem
Territorium.
Wir
brauchen aber auch ein Interkontinental-Transportwesen. Weiß jemand,
was wir dafür benutzen?“
Dieses Mal
war es ein kleiner Junge, der die Frage beantwortete: „Das sind
Schiffe und Flugzeuge.“
Nachdem
ihm der ältere Junge neben ihm die einzelnen Satzabschnitte ins Ohr
geflüstert hatte, fügte der Kleine dann nach und nach in einem
langsamen Ton hinzu: „Die Schiffe und die Flugzeuge gehören allen
Menschen der Welt gemeinsam...Die meisten Kosten werden von den
Tickets getragen...Aber neue Schiffe und Flugzeuge werden... mit
Hilfe von Intercoin... aus den Spezialtöpfen gebaut... in die alle
Dörfer der Welt einzahlen...“ Er atmete auf.
„Das
ist vollkommen richtig, Tommy chan,“ lobte der Lehrer und beide
Jungen grinsten stolz.
Sensei
fügte hinzu: „Die Töpfe und die Projekte zum Bau oder der
Reparatur werden von unseren Repräsentanten vom Internationalen
Hilfskongress organisiert, genau wie sie die Eisbrecher-Missionen und
die Hilfe bei großen Naturkatastrophen koordinieren.
Wie ihr
wisst, ist der Transport von Gütern und Menschen äußerst wichtig.
Aber was wir eben so sehr benötigen, ist der Transport von Worten
und Bildern.“
Die
kleineren Kinder sahen jetzt ziemlich verwirrt aus, während die
älteren grinsten. Einer von ihnen tippte dem kleinen Jungen neben
sich auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr.
„Oh,
Sie meinen das Friedensnetz, Sensei,“ rief der kleine Junge dann
überrascht.
„Das
ist richtig, Jimmy chan“ antwortete Sensei, „das
Welt-Friedensnetz ist unser Werkzeug, um Worte, Ideen, Töne und
Bilder zu transportieren, das ganze Spektrum der Kommunikation, um
Informationen mit der ganzen Welt zu teilen. Das Friedensnetz ist
entscheidend für das Wohlbefinden aller Bürger in allen Dörfern
auf dem ganzen Planeten. Es ist vor allem unser wichtigstes Werkzeug
dafür, den Frieden der Menschheit zu bewahren.
„Und
genau wie die Maglevs Schienen benötigen, so braucht das
Weltfriedensnetz Kabel, Sender und Satelliten. Darum muss jemand auch
für die Hardware des Friedensnetzes verantwortlich sein. Und deshalb
gehören die Kabel den Menschen in den Distrikten innerhalb der
verschiedenen Nationen, während die Unterwasserkabel, die durch die
Ozeane verlegt wurden und die Satelliten, die im All um die Erde
fliegen, den Menschen der ganzen Welt gemeinsam gehören, und aus
diesem Grund vom internationalen Hilfskongress verwaltet werden.
Möchtet
ihr eines Tages einmal eine Aufgabe im Transport- oder im
Informationswesen erhalten?“
Auf die
Frage ihres Lehrers hoben alle Kinder ihre Hand.
„Dann
wisst ihr, was ihr zu tun habt: Ihr müsst fleißig lernen und euch
einen Spezialbereich heraussuchen, auf den ihr euch konzentriert. Ihr
müsst euch darin in einem virtuellen Produktionsbetrieb so gut üben,
dass ihr dann die Prüfung in eurem Spezialgebiet besteht.
Und dann
und nur dann, könnt ihr euch auf die Liste für eine sechsmonatige
Mission im Transport- oder im Informationswesen setzen. Natürlich
müsst ihr dann immer noch ein bisschen Geduld haben, weil es viele
Leute auf dieser Liste gibt. Aber eines Tages, kommt auch ihr an die
Reihe.“
„Ich
will einen neuen Satelliten bauen, der ganz hoch oben im Weltall
fliegt, und immer, immer wieder um die Erde kreist, “ piepste die
aufgeregte Stimme des kleinen Tommy.
„Du
weißt doch, Tommy-chan, dass die Kabel genauso wichtig für unser
Informationssystem sind wie die Satelliten. Aber sicher, wenn du das
wirklich willst, dann, incha-Allah, wirst du eines Tages mithelfen,
einen solchen Satelliten zu bauen.“
Das
Klassenzimmer verschwand und wurde von der gegenwärtigen Hope
ersetzt, die sagte:
„Das
sind die normalen Situationen, in denen die Repräsentanten arbeiten,
sie helfen in Zeiten von Naturkatastrophen und sie verwalten das
Transport- und Informationssystem.
Manchmal
müssen einige von ihnen auch zu Vermittlern werden. Wenn es Probleme
zwischen verschiedenen Dörfern gibt, dann werden diese
Repräsentanten zu Friedensbewahrern. Diese Vermittler helfen denen,
die Probleme haben, dass sie besser miteinander reden können, so
lange bis die Dörfer einen vernünftigen Kompromiss ausgehandelt
haben.
Aber
eigentlich ist es nur sehr selten notwendig, dass die Repräsentanten
als Vermittler gebraucht werden, meint Sensei. Normalerweise können
die Dörfer ihre Probleme mit anderen Dörfern ganz ohne Hilfe von
außen lösen.“
Plötzlich
verdunkelte sich jedoch Hope‘s Miene wieder, und David spürte,
dass sie etwas tief bedrückte. Aber was auch immer das war, Hope
unternahm große Anstrengungen ihre Gedanken und Gefühle zu
kontrollieren, um damit fortzufahren, David das politische System
ihrer Welt weiter zu erklären:
„Aber
was auch immer die Repräsentanten tun, selbst als Vermittler haben
sie keine Macht, Gesetze zu schreiben oder über andere zu regieren
oder sie zu zwingen etwas zu tun, was sie nicht tun wollen. Wir
glauben, dass die Macht zu regieren für den Geist des Menschen
gefährlich ist. Sie kann dich in den Wahnsinn treiben.“
Und wieder
erschien Hope‘s Klassenzimmer. Ihr Lehrer redete und die Klasse
hörte aufmerksam zu.
„Die
Konzentration von Macht in menschlichen Institutionen und der Frieden
für die Menschen, die von diesen Institutionen beherrscht werden,
stehen in einem vollkommenen Gegensatz. Sobald die Macht über viele
in einer Gruppe von wenigen konzentriert wird, kann es keine
Gerechtigkeit mehr für irgendjemanden geben. Denn wenn die Macht den
Geist beherrscht, dann geht das Mitgefühl verloren, und das Erste
Prinzip wird vergessen.
In den
Dunklen Zeiten hat ein weiser Mann einmal gesagt:
-Macht
neigt dazu den Menschen zu korrumpieren, absolute Macht aber
korrumpiert ihn immer.-“
Sensei
drückte wieder einmal auf den Bilderzeuger an seinem
Armbandcontroller.
Das
holographische Bild eines ganz gewöhnlich-aussehenden
Zeichentrickmannes in einem Anzug erschien. Er war gerade angestrengt
dabei, mehrere steile Stufen zu einem hohen Podest zu erklimmen. Über
ihm schwebte bedrohlich eine Art dunkles Rauchmonster mit einem
riesigen pausbäckigen Gesicht und einem dicken Körper. Mit jedem
Schritt nach oben, den der Mann nahm, vergrößerte sich das Monster,
dessen vorstehende Augen immer durchdringender wurden und dessen Mund
sich zu einem bösartigeren Grinsen verzerrte.
Als der
Mann die oberste Stufe erreicht hatte, drehte er sich um. Er stand
nun vor einer großen Menge von Zeichentrickmenschen, die sich unter
dem Podest duckten.
Das
riesige Monster hatte jetzt mit seinen Händen den Kopf des Mannes
umrahmt, und dessen vorher so normales Gesicht war in die Kopie der
Fratze des Monsters verwandelt worden. Aus seinem rechten Ärmel
wuchs nun der Schaft einer neunschwänzigen Peitsche, die er mit
beiden Händen umfasste, um sie rhythmisch über die Köpfe der
Menschen unter ihm zu schwingen, wobei er diejenigen ins Gesicht
peitschte, die sich nicht schnell genug niederbeugten.
David
konnte nun ein unheimliches und wahnsinnig-anmutendes Gelächter
vernehmen, das gleichzeitig von dem Monster und dem Mann ausging...
„Autsch!“
schrie David auf, denn etwas hatte ihn am Rücken getroffen.
***
In dem
Raum gibt es nichts zu sehen außer einem schmalen Sofa, einem Stuhl
und einem Tisch. Es ist dort auch niemand im Zimmer, es ist
menschenleer; aber nicht für mich.
Ich
sehe sie noch genau, wie so dort in dem Bett liegt, kaum in der Lage
den Kopf anzuheben.
Es war
vor vier Monaten, als Mr. Tanner mich auf der Straße getroffen hat.
Er hatte ein falsches Lächeln gespielter Überraschung aufgesetzt,
als er rief: „Hallo Jonathan, ich habe dich ja schon so lange nicht
mehr gesehen. Was machst du denn so? Komm, wir wollen einen trinken
gehen, du bist ja jetzt schon erwachsen genug für so ein Gläschen.“
Mit
diesen Worten öffnete Mr. Tanner die kleine Einkaufstasche, die er
mit sich trug, einen Spalt breit, damit ich einen kurzen Blick auf
seinen Verzerrer darin werfen konnte.
Ohne zu
zögern folgte ich daraufhin Mr. Tanner in die Kneipe an der nächsten
Ecke. Es war ein ziemlich dunkler Raum, gefüllt mit dem Gestank von
billigem Fusel gemischt mit dem Schweiß der Kunden. Keiner von ihnen
sah auf, als Mr. Tanner uns am Tresen zwei Bier bestellte, und wir
uns dann in die dunkelste Ecke der Kneipe zurückzogen.
Nachdem
wir das bestellte Bier bekommen hatten, stellte Mr. Tanner seine
Tasche auf den Tisch und öffnete sie wieder einen Spalt, um darin
einen Knopf zu betätigen. Sofort hörte ich dann das mir so gut
vertraute Summen und Zischen der Maschine. Erst dann ließ Mr. Tanner
die Bombe platzen:
„Deine
Mutter lebt noch, Jonathan. Sie ist in einem der Venusprojekte deines
Vaters.“
Es war,
als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren. Der ganze Raum
begann zu schwanken, und mir wurde schwarz vor Augen.
„Nein,“
presste ich hervor, „das ist unmöglich...“
Aber
tief in meinem Innern wusste ich bereits, dass es sehr gut möglich
sein könnte, ja, dass es wahr war.
Wut
stieg in mir hoch, eine Wut, an der ich fast erstickte. Ich packte
Mr. Tanner am Ärmel. Nur die vielen Jahre der Übung mit dem
Verzerrer verhinderten, dass ich ihn laut anschrie. Und darum kam
meine wütende Frage instinktiv als ein Flüstern:
„Warum
hast du mir das nicht früher gesagt?“
„Ich
hatte auch keine Ahnung davon“, flüsterte Mr. Tanner zurück. „Ich
habe es erst letzte Woche erfahren.“
Mr.
Tanner legte seine Hand beschwichtigend auf die meinige, um mich
daran zu hindern, eine öffentliche Szene zu machen. Dann erklärte
er mir in seinem gewöhnlich ruhigen Ton:
„Dein
Vater hatte seinen Leuten den Befehl erteilt, dass du niemals wieder
etwas von ihr hören solltest, und dass dir auch unter keinen
Umständen erlaubt werden sollte, dieses bestimmte Projekt zu
betreten. Aber Freunde von mir haben Gerüchte gehört. Daraufhin
haben sie Nachforschungen angestellt und in Erfahrung gebracht, wo
sich deine Mutter aufhält.
Sie
haben auch herausgefunden, dass der Geschäftsführer in dem Projekt
dort Coin braucht, wie andere die Luft zum Atmen, und dass er darum
seine Finger tief in die Kasse des Projekts gesteckt hatte und zwar
mehr als einmal. Darum hatten wir dann auch keinerlei Probleme, ein
bisschen Druck auf ihn ausüben zu können. Heute Abend wird der Mann
dich am Hintereingang empfangen.”
Und
genau wie der Geschäftsführer heute, so führte auch der, den Mr.
Tanner erpresst hatte, mich in den Keller. Dann öffnete er die Tür
zu dem schlecht beleuchteten Raum. Das wenige Licht, das durch die
kleinen vergitterten Fenster drang, zeigte mir kahle graue Wände und
die wenigen armseligen Möbelstücke.
Und da
habe ich sie dann wiedergesehen...nach 15 Jahren.
Erst
erkannte ich sie gar nicht, die abgemagerte alte Frau, die auf dem
niedrigen, schmalen Bett lag. Ihr Kopf wurde von Kissen hochgehalten,
so dass die junge Frau, die auf einem Hocker neben dem Bett saß, sie
mit einem Löffel füttern konnte.
Aber
sie erkannte mich sofort.
„Thani“,
rief sie und benutzte den Kosenamen, den ich seit 15 Jahren nicht
mehr gehört hatte. „Mein kleiner Thani!“
Und das
war es dann. Die Stimme war so schwach, aber es war immer noch ihre,
so sanft, so liebevoll. Für einen Augenblick war ich wieder ein
kleiner Junge:
„Mama“,
rief ich laut. „Mama!“
Die
junge Frau auf dem Hocker drehte sich um. Und der Teller, den sie in
der Hand hielt, rutschte ihr aus den Fingern und landete auf dem
Fußboden. Er war aus Plastik, so dass er nicht zerbrach, aber der
Inhalt spritzte über den ganzen Boden.
Das war
mir egal. Ich trat einfach in den Matsch hinein und kniete mich vor
das Bett, damit ich meine Mutter umarmen konnte. Ich hielt sie fest,
und sie streichelte meine Haare, so wie sie es immer getan hatte,
damals vor so vielen Jahren.
Ich
weinte.
„Schau
Luscinia, das ist mein Sohn, Jonathan,,“ stellte mich meine Mutter
der jungen Frau vor, die aufgestanden war und mit einem Ausdruck
völliger Ungläubigkeit auf uns herabschaute.
„Ich
habe dir doch gesagt, dass er eines Tages kommen würde, “ fügte
sie hinzu.
Aber
ich ignorierte Luscinia völlig und redete allein mit meiner Mutter:
„Ich dachte, du wärst tot. Er hat mir gesagt, dass du...“
„Ja,
ich habe immer gewusst, dass es so etwas ähnliches sein musste,“
die Stimme meiner Mutter hatte einen ruhigen Tonfall, ohne den Hauch
von Überraschung oder Zorn, „anders hätte er das nicht machen
können. Aber jetzt bist du hier, Thani, und das ist alles, was
zählt...“
Ich
reiße mich gewaltsam aus den Erinnerungen heraus. Ich kann es mir
nicht leisten, in ihnen zu verweilen. Ich muss mich jetzt
konzentrieren.
Der
Geschäftsführer sieht mich bereits so an als frage er sich, was ich
an diesem leeren Raum eigentlich so interessant finde. Ruhig erwidere
ich seinen Blick, gebe ihm ein Zeichen der Zustimmung und folge ihm
dann nach oben. Nachdem ich ihm versichert habe, dass er mich bald
als Kunden wiedersehen würde, verlasse ich das Projekt, um mich
Darryl anzuschließen, der außer Sichtweite auf mich gewartet hat,
und mir nun ein Zeichen gibt, dass draußen alles in Ordnung ist.
***
David
sprang zur Seite und entdeckte, dass es ein Einkaufswagen war, der
ihn da angefahren und fast auf die Straße befördert hatte. Der
Wagen war gefüllt mit Papier- und Plastiktüten aus
unterschiedlichen Läden. Und was aus den Tüten herausragte, waren
meist Schuhe und Kleider. In einem Beutel konnte er einen
eingerollten Teppich erkennen. Und in einem anderen zeugten die
Klappergeräusche von Töpfen und Besteck.
Die
Frau, die den Einkaufswagen schob, machte keinerlei Anstalten sich zu
entschuldigen. Sie sah David nicht einmal richtig an, stattdessen
schob sie den Wagen einfach geistesabwesend weiter, wobei sie in
einer monotonen Stimme vor sich hin redete:
„Ein
Mann steht mitten auf dem Weg und träumt, ein Mann schreit laut auf,
ein Mann dreht sich um, ein Mann bleibt stehen, ein Mann schaut
hin...ein Mann steht mitten auf dem Weg und träumt...“
Die Frau
trug eine alte Wollmütze über einer Mähne von langen grauen Haare
und einen langen zerknautschten braunen Mantel, unter dem schwarze
Stiefel zu sehen waren. Sie tönte weiter ihren Monolog vor sich hin,
während sie den Einkaufswagen, in dem offensichtlich ihre gesamte
weltliche Habe untergebracht war, an David vorbei vor sich herschob.
David rieb
sich den schmerzenden Rücken und fühlte sich ganz schön verärgert.
„Sie
ist so wie Mr. Johnson, stimmt‘s?“ fragte Hope.
„Nein,
nicht wie Mr. Johnson, die da ist gefährlich“, meinte David.
„Wirklich?“
Hope grinste und imitierte die alte Frau: „Ein Mann steht mitten
auf dem Weg und träumt...“
„In
Ordnung“, lachte David, „ich denke mal, wenn du mir noch mehr von
deiner Welt zeigen willst, dann muss ich einen Ort zum Hinsetzen
finden, damit ich mir das in Frieden anschauen kann. Nach ein paar
Blocks kommen wir zum St. Francis Park. Da gibt es Bänke alle paar
Meter den Weg entlang.
Dahinter
wäre dann eine Bushaltestelle für den BxM4. Mit dem Bus kommt man
den ganzen Weg bis nach Manhattan. Unterwegs kannst du die
berühmtesten Sehenswürdigkeiten New-Yorks bewundern. Ich bin
sicher, so eine Bustour würde dir besser gefallen als die U-Bahn.“
„Ich
habe Bilder davon gesehen, wie unser Distrikt in deiner Zeit
ausgesehen hat,“ erwiderte Hope voller Vorfreude, „aber das Ganze
in echt anzuschauen, ich meine mit dir dort zu sein, das ist bestimmt
ganz anders!“
„Bilder
zu sehen und die Wirklichkeit des 'Big Apple' der großartigsten
Stadt der Welt, das kann man doch gar nicht vergleichen,“ meinte
David voller Lokalstolz. „Aber das, was ich aus deiner Zeit gesehen
habe, diese Szenen aus deinem Klassenzimmer oder von deinem Zuhause
und aus dem Labor deines Onkels, die kommen aus deiner Erinnerung,
stimmt‘s?“
Hope
nickte.
Und David
kommentierte weiter: „Dann hast aber ein unglaublich präzises
Erinnerungsvermögen. All die Details, wie alles aussieht und was die
Leute Wort für Wort sagen...es ist als ob man einen Film sieht.“
Hope
nickte wieder und erklärte dann: „Ich habe das ganz spezielle
Talent einer guten Erinnerung, Wenn ich mich auf das konzentriere,
was um mich herum passiert, dann erinnere ich mich später an jede
Einzelheit, und ich vergesse sie nie wieder. Nicht viele Leute haben
diese Fähigkeit. In unserem Dorf sind es nur mein Großonkel
Professor und ich.“
Dann fügte
sie fast ein bisschen sehnsüchtig hinzu: „Aber manchmal wünschte
ich, ich hätte diese Fähigkeit nicht, und ich könnte einige Sachen
vergessen.“
„Du
hast ein fotografisches Gedächtnis“, stellte David fest. „Ich
habe gehört, dass das sowohl ein Segen als auch ein Fluch sein
kann.“ David dachte dabei an einen bestimmten leicht gestörten
Fernsehdetektiv.
Hope
schüttelte entschieden den Kopf: „Nein, nein kein Fluch! Man
bekommt seine Talente nicht als Fluch – immer nur als Segen. Du
weißt nur nicht immer sofort, wie du sie richtig einsetzen sollst.“
David
seufzte und fühlte wieder einmal den Graben zwischen ihnen. Er
zuckte die Achseln und fragte stattdessen: „Aber wenn das deine
Erinnerungen sind, warum kann ich dich selbst denn darin sehen,
anstatt dass ich einfach nur durch deine Augen blicke?“
„Ja,
das ist schon merkwürdig“, stimmte Hope ihm zu. „Ich kann mich
auch selbst in meinen Erinnerungen sehen. Vielleicht hat das etwas
mit dem Deltawellen-Reisen zu tun. Ich kann dich hier auch ganz klar
vor mir sehen, so als ob ich neben dir stehe oder gehe, obwohl ich
eigentlich doch in deinem Gehirn bin und deine Zeit mit deinen Augen
sehen sollte.
Vielleicht
lassen die Delta-Wellen eine Barriere zwischen uns entstehen, so dass
wir unsere Gehirne nicht verwechseln. Wir sind immer noch getrennt,
du bist immer noch du und ich bin immer noch ich. Und es sieht so
aus, als ob auch ein Unterschied bestände zwischen mir hier in
deiner Zeit und mir in den Erinnerungen aus meiner Vergangenheit. Ich
wünschte, ich könnte Großonkel Professor fragen, der wüsste das
besser.“
„Du
machst das sehr gut“, versicherte ihr David. „Ich denke, ich
würde es auch nicht besser verstehen, wenn dein Großonkel es mir
erklären würde. Dieses Konzept vom Bewusstseinsreisen oder vom
Zeitreisen, das ist mir immer noch so fremd. Es ist schwer für mich,
es richtig zu begreifen.“
„Für
mich ist es auch das erste Mal. Ich lerne noch, “ sagte Hope mit
einem entschuldigenden Lächeln.
David
lächelte zurück. Trotz all ihrer Unterschiede fühlte er eine
wachsende Zuneigung zu diesem kleinen Mädchen. Der Gedanke an eine
fünfmal entfernte Urenkelin sollte eigentlich keine Familiengefühle
in ihm erwecken. Und doch, die Wirklichkeit dieses Mädchens vor ihm,
sie tat es. Der Kontrast von starken Emotionen und bereitwilliger
Freundlichkeit war anziehend, und die Mischung von Intelligenz,
Unschuld und Ehrlichkeit war herzerwärmend.
Ja, sie
war wirklich Familie für ihn!
David
fühlte, wie die Taubheit der letzten Wochen von ihm wich. Er hatte
wieder Interesse am Leben, er hatte einen Grund zu leben: Er wollte
jedes, auch das winzigste Detail von Hope's Zeit und Welt erfahren,
ganz gleich wie unverständlich ihm diese Welt auch erschien. Und
selbst wenn er die Richtung, in die sich die Dinge in der Zukunft
entwickelt hatten, vielleicht nicht guthieß, er wollte trotzdem
alles wissen. Denn Hope gehörte zur Familie, und er wollte sie
verstehen.
So fragte
er sie weiter aus: „Ist dein Lehrer ein Muslim? Ich habe gehört,
wie er Incha'Allah gesagt hat, aber wenn ich mich Recht erinnere,
dann trägt er dasselbe Symbol auf der Brust wie du.“
„Sensei
Thomsen ist ein Christ, so wie ich,“ erklärte Hope, „aber
'incha'Allah' bedeutet 'wenn Gott will'. Das ist Interlingua – alle
Leute sagen das.“
„Dann
denke ich mal, das Wort Sensei ist auch aus der Interlingua-Sprache,
denn dein Lehrer sieht mir auch nicht sehr japanisch aus“,
vermutete David.
Hope
nickte: „Wir benutzen viele Inerlingua Worte in der Schule. Sensei
bedeutet Lehrer und Sempai heißt älterer Klassenkamerad und Chan
bedeutet, jüngerer Schüler. Seit letztes Jahr bin ich ein Sempai
und Cindy ist mein Chan.“
„Dein
Chan?“ fragte David
„Ja,
mein kleiner Schüler. In den ersten fünf Jahren deiner Schulzeit
bist du ein Chan – aber im sechsten Jahr wirst du ein Sempai, und
ein Schulkind aus dem ersten Jahr wird dir zugeteilt. Cindy wurde mir
zugeteilt.“
„Ich
kümmere mich um ihr Lernen. Ich bringe ihr das Lesen, das Schreiben
und das Rechnen bei. Ich habe ihr auch gezeigt, wie man im
Hühnerstall arbeitet, wie man die Hühner füttert und wie man ganz
vorsichtig die Eier einsammelt. Cindy ist eine wirklich gute
Schülerin, die ganz schnell lernt“ erklärte Hope stolz.
„Und
weil Cindy keine älteren Geschwister hat, die sich um sie kümmern
könnten und keine jüngeren, mit denen sie spielen könnte, darum
folgt sie mir auch nach der Schule. Sie spielt mit Sissy und
Lillebro, und ich muss ihr die ganz normalen Sachen im Leben
beibringen. Wie zum Beispiel letztes Jahr, kurz nachdem sie mit der
Schule angefangen hat...“
Eine neue
Szene begann sich vor David's Augen zu formen.
„Warte“,
rief er. „Ich muss zuerst zu der Bank.“
Die Szene
verblasste wieder, als er begann zur ersten Parkbank zu rennen. Er
ließ sich auf sie fallen und schloss seine Augen.
Und wieder
wurde David Zeuge von einer von Hope's Erinnerungen, eine
dreidimensionale Projektion, die so klar war, als ob David selbst
dort an der Tür zu der Bäckerei stand, gemeinsam mit Hope und der
kleinen Cindy.
Der
Ladenbesitzer, ein Mann um die sechzig, der eine weiße Schürze über
dem -David schon gut bekannten- violett-glitzernden Anzug trug, stand
hinter einer Glastheke, unter der durchsichtige Regale eine große
Menge von unterschiedlichen Torten und Backwaren präsentierten. Beim
zweiten Blick erkannte David jedoch, dass dies nur holografische
Abbildungen waren und hinter jeder Sorte die ungefähre Zeit, die
benötigt wurde um das Backwerk herzustellen, vermerkt war. Auf die
Holzregale hinter dem Bäcker waren allerdings echte Brote und
Brötchen gestapelt.
“Assalamu
alaikum, Mr. Wang,” begrüßte Hope den Ladenbesitzer. David hörte,
wie die gegenwärtige Hope ihm ins Ohr flüsterte: „Das bedeutet
'Friede sei mit dir'“
“Wa
alaikum assalaam, Hope and Cindy,“ antortete der Bäcker. „Was
kann ich euch anbieten?“
„Er
hat gesagt, 'und mit dir sei auch Friede',“ übersetzte Hope
wieder, indem sie versuchte David's unausgesprochene Fragen
vorherzusehen. Aber David kannte die Bedeutung der Worte bereits und
dachte eigentlich über das Radsymbol nach, welches nur teilweise von
der Schürze des Bäckers verdeckt wurde. Gemäß Hope's Erklärungen
bedeutete es, dass der Mann ein Buddhist war.
„Ich
hätte gern zwei Pfund Mischbrot mit Sonnenblumenkernen“,
antwortete Hope dem Bäcker.
„Das
ist das, was du immer nimmst, und es ist auch eine gute Wahl,“
antwortete die raue Stimme von Mr. Wang, die seine freundlichen Worte
fast schon Lügen strafte.
„Ich
werde es für dich schneiden“, fügte er hinzu, während Hope ihm
einen Stoffbeutel reichte, den sie mitgebracht hatte. Das Brot schien
Sauerteig aus einer Mischung von Weizen- und Roggenmehl zu enthalten.
Es war ein Brot, wie man es nur in einer deutschen Bäckerei bekam.
David lächelte, er freute sich, dass zumindest bei Brot er und Hope
denselben Geschmack hatten.
„Welche
Summe von Coin möchten Sie dafür haben, Mr. Wang?“ fragte Hope.
Nachdem er
das Brot geschnitten und in den Beutel gefüllt hatte, antwortete der
Bäcker: „Ich hätte gern vier Coin für das Brot, bitte.“
„Aber
das ist zu wenig für so ein gutes Brot“, antwortete Hope. „Ich
gebe Ihnen fünf Coin.“
„Aber
das ist zu viel“, entgegnete der Bäcker.
„Und
ich bestehe darauf“, erklärte Hope mit fester Stimme.
„Vielen
Dank, das ist sehr großzügig,“ sagte der Bäcker und nahm von
Hope eine goldene Münze entgegen, die er dann in eine altmodische
Kasse steckte, die sich mit einem Glockenklang geöffnet hatte und
aussah, als sei sie aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
David
hörte die andere Hope in seinen Gedanken flüstern: „Alle Läden
und Gaststätten in unserem Dorf haben so eine Kasse. Mr. Hennessy
hat eine davon von einer Europareise mitgebracht. Und als er sie dann
in seinem Laden benutzte, da waren alle Touristen, die unser Dorf
besuchten, davon begeistert. Darum hat Mr. Allen die Kasse für alle
anderen Kaufleute kopiert. Die sind jetzt eine Besonderheit unseres
Dorfes. Die sehen doch aus, wie die Kassen, die in deiner Zeit
benutzt wurden?“
„Ein
bisschen vor meiner Zeit“, murmelte David. Aber eigentlich dachte
er viel mehr über dieses sonderbare Verkaufsgespräch nach, das der
Bäcker mit der anderen Hope geführt hatte, während er nun
beobachtete, wie Mr. Wang ihr die Münze wieder zurückgab.
Es
schien sich also nicht um eine Bargeldkasse zu handeln. Und die Münze
war anscheinend eher so etwas wie eine Kredit- oder eine Kontokarte.
Jetzt war
die kleine Cindy an der Reihe. Sie zog ihre eigene Münze aus der
Tasche und sagte: „Ich hätte gerne ein süßes Panini.“
Mr. Wang
nahm ein Brötchen aus dem Regal und gab es Cindy; „Bitte schön.“
„Welche
Summe von Coin möchten Sie dafür?“ fragte Cindy, so wie es Hope
zuvor gemacht hatte.
„Zwei
Coin, bitte“ antwortete Mr. Wang.
„Aber
das ist viel zu wenig für so ein gutes Panini. Ich gebe Ihnen fünf
Coin,“ entgegnete Cindy mit vollem Mund, da sie von ihrem Brötchen
bereits abgebissen hatte, wobei sie ihre Münze mit der anderen Hand
hochhielt.
„Nein,
nein Cindy, das ist viel zu viel“, antwortete Mr. Wang mit strenger
Stimme. „Du kannst mir zwei und ein halb Coin dafür geben.“
„Aber
ich bestehe darauf,“ sagte Cindy laut und klar, nachdem sie schnell
ihren ersten Bissen heruntergeschluckt hatte. „Ich bin großzügig.“
„Aber
ich bestehe noch mehr darauf“, erwiderte Mr. Wang und nahm Cindy's
Münze entgegen, um sie in die Kasse zu stecken. „Du bist
großzügig, aber du kannst nicht gut genug rechnen. Hope, bist du
nicht Cindy's Sempai, wäre es nicht deine Aufgabe, ihr das
beizubringen?“
„Aber
Mr. Wang,“ versuchte sich Hope zu rechtfertigen, „Cindy hat doch
erst gerade mit der Schule angefangen, Prozente auszurechnen ist noch
zu schwierig für sie.
„Sie
hat aber auch schon angefangen im Hühnerstall zu arbeiten, oder
nicht?“ Mr. Wang's Stimme war hart und herrisch. „Wenn sie Geld
verdienen kann, dann muss sie auch lernen Handel zu treiben. Und es
ist deine Aufgabe, es sie zu lehren!“ Dabei gab er Cindy ihre Münze
zurück, während Hope, peinlich berührt, knallrot im Gesicht wurde.
David
fühlte Ärger in sich aufsteigen, als er diese Szene beobachtete.
War dieser Mr. Wang so etwas wie eine Mathe-Polizei. Wie konnte man
nur so gemein zu den beiden kleinen Mädchen sein.
Gleich
hinter Hope und Cindy hatten zwei ältere Frauen den Laden betreten,
die das Ganze auch mit angesehen hatten und nun zu Mr. Wang's Worten
nickten.
Eine der
Frauen war wie Hope und die meisten anderen Leute gekleidet, die
David bis jetzt gesehen hatte, die andere hatte zwar Kleidung in der
gleichen Form aber nicht in der gleichen Farbe. Ihr Outfit war von
einem schimmernden hellgrün.
„In
Ordnung, Mr. Wang, das werde ich tun,“ sagte Hope schnell und
versuchte Cindy aus dem Laden zu ziehen, nur um von einer der Frauen
aufgehalten zu werden: „Hope, wenn du später deine Großmutter
siehst, kannst du ihr bitte ausrichten, dass der Frauenverein sich
heute Abend bei Ms Alba trifft? Und wenn sie bitte ihre Spezial-Kekse
mitbringen würde, dann wäre das wirklich schön.“
„Ich
werde das meiner Großmutter sofort ausrichten,“ versprach Hope.
„Bless Ms Higgins! Bless Ms Alba,“ beendete sie schnell das
Gespräch und war auch schon aus der Tür, um so schnell wie möglich
eine größtmögliche Distanz zwischen sich und die Bäckerei zu
legen.
David
hatte erkannt, dass 'Bless' ein Ausdruck für 'Tschüss' in
Interligua war. Aber er fragte sich, ob das wirklich aus dem
Isländischen kam, wo er es so viele Male als Kind gehört hatte,
schloss diese Möglichkeit dann aber aus. Warum sollten die Leute der
Zukunft in ihrer Weltkommunikation Worte aus einer so wenig
gesprochenen Sprache benutzen.
Hope und
Cindy gingen jetzt einen langen und breiten Balkon entlang, der auf
der obersten Etage in diesem zehnstöckigen Block gelegen war.
Die
Bäckerei war nur eine von einer ganzen Reihe von kleinen Läden.
Hope und Cindy begegneten mehreren Erwachsenen, die alle beim
Einkaufen waren. Jeden von ihnen begrüßten die Mädchen mit einem
'Salaam', das mit einem Nicken und einem Lächeln beantwortet wurde.
Nicht weit von der Bäckerei schien so etwas wie eine Apotheke zu
sein, jedenfalls war dieses Wort auf das Schild über dem Eingang
gemalt. Das Geschäft glich allerdings eher einem chinesischen
Kräuterladen. So wie der Eingang der Bäckerei mit Wandmalereien von
Kuchen und Torten dekoriert war, so war auch der Eingang dieses
Ladens mit Wandmalereien geschmückt. Diesmal waren es exotische
Pflanzen.
Durch die
offene Tür konnte David entlang der Wand Regale voller Gläser
gefüllt mit getrockneten Pflanzen erkennen. Und vor der Tür standen
eine Reihe von Blumentöpfen, in denen die unterschiedlichsten
Pflanzen wuchsen. Die meisten davon hatte David noch nie gesehen. Ein
paar davon aber, wie beispielsweise die weiße Kamillenblume,
erkannte er doch.
Ist das
wirklich die Art, wie sie in der Zukunft ihre Medizin herstellen
werden, fragte sich David, wie bei den Kräuterhexen im Mittelalter
und den Quacksalbern des vorletzten Jahrhunderts?
Aber er
hatte keine Zeit mehr darüber nachzudenken, denn Hope und Cindy
waren längst an der sonderbaren Apotheke vorbeigelaufen. Sie gingen
jetzt an einem kleinen Restaurant entlang, das ein älterer Mann
gerade mit einem Tablett auf dem Arm verließ. Der Mann war wieder im
selben Stil wie Hope bekleidet, die Farbe seines Anzugs war
allerdings von einem dunklen Blau, dieselbe Farbe wie sie einige der
Kinder in Hope's Klasse getragen hatten.
„Mr.
Jennings ist aus der Delphin-Hausgemeinschaft,“ flüsterte die
andere Hope in David's Gedanken. „Er kauft sein Abendessen immer im
Restaurant von Ms Daniel aus unserer Hausgemeinschaft. Aber Ms
Higgins aus der Reh-Hausgemeinschaft kauft nur bei uns ein, wenn sie
ihre Freundin Ms Alba besucht.“
Mr.
Jennings stellt sein Tablett in eine Kiste mit zwei fetten kurzen
Beinen, die vor der Tür gestanden hatte. Er drückte auf einen
Knopf, und die Kiste begann langsam ein paar Schritte vorwärts zu
watscheln, um sich dann selbst auf die Schiene zu hieven, die entlang
des ganzen Balkons angebracht war. Die Beine der Kiste verwandelten
sich nun in Stromnehmer, die sich um die Schiene schlossen, und sie
begann langsam darüber zu schweben, so dass David erkannte, dass das
ganze Konstrukt auf derselben Technik basierte, wie die Magnetbahnen,
die er zuvor in Hope's Unterricht gesehen hatte.
Als
Mr Jennings und seine schwebende Kiste an ihnen vorbei waren, stieg
Hope selbst über die Schiene, um zum Rand des Balkons zu gelangen,
wobei sie Cindy hinter sich herzog. Die Balkoneinfassung bestand aus
einer Plastikwand, die höher war als Hope selbst, aber gleichzeitig
auch völlig transparent, so dass sogar kleine Kinder eine perfekte
Aussicht auf ihre Umgebung hatten.
Dort wo
die Kinder jetzt standen, gab es eine kleine Einbuchtung mit einer
Bank, die offensichtlich dazu gedacht war, dass Leute dort verweilen
konnten, um die Aussicht zu genießen. David konnte von dort aus
knapp ein Dutzend ähnlicher Wohnblocks sehen, die einen großen
Platz einschlossen. Die Gebäude standen etwa 50 Meter auseinander,
waren aber an ihren schmalen Seiten durch transparente Brücken
verbunden, die vom obersten Stockwerk jedes Gebäudes abgingen.
Was David
besonders faszinierte war die Leidenschaft, die diese Leute für
Wandmalereien zu haben schienen. Nicht nur waren die Wände um jede
Eingangstür herum mit solchen Bildern dekoriert, und zwar bei
Privatwohnungen genau wie bei Geschäften, sondern es waren auch die
schmalen Seiten der gesamten Gebäude mit riesigen Wandgemälden
versehen.
Das
Gebäude zur Linken von David aus gesehen, war mit dem Bild einer
Berglandschaft bemalt, über die mehrere Adler kreisten. Das Gebäude
rechts von ihm schmückte ein Abbild tosender Meereswellen, aus denen
gleichzeitig zwei Delphine-große Tropfen um sich sprühend-
hervorsprangen.
Außer
durch die Brücken waren die Gebäude auch durch die Schienen des
kleinen Maglev-Zugs verbunden, der auf der fünften Etage in der
Mitte jedes Gebäudes eine hervorstehende Haltestelle hatte. Nach dem
Kreis entlang der großen Gebäude, machte die Schiene einen weiteren
Spiral-Kreis innerhalb des Platzes, auf dem eine ganze Reihe kleiner
zeltartiger Gebäude standen, wo dann durchsichtige Aufzüge zu den
Haltestellen über ihnen führten, bis die Schiene dann über dem
Zentrum des Platzes endete.
Hier stand
ein breites quadratisches, aber nur einstöckiges Gebäude, das von
drei religiösen Häusern eingerahmt wurde: einer Kirche, einer
Moschee und einem runden Gebäude mit einem gold-dekorierten Dach,
das nach David's Vermutung ein Buddhistischer Tempel war.
„Das
Haus in der Mitte, ist das Gemeindezentrum“, lektorierte die andere
Hope wieder flüsternd. „Hier werden Dorfrats-Versammlungen
abgehalten, aber auch viele Feste. Und es ist der Ort für Musik- und
Bildgeschichtenvorführungen.“
Die
Kinder, die David vor sich sah, hatten allerdings zur Zeit keinerlei
Interesse an der Aussicht auf die Umgebung um sie herum, als sie sich
nun auf die Bank setzten.
Cindy
hatte den ganzen Weg schon geschluchzt und schien untröstlich: „Aber
ich war doch großzügig, genauso wie du. Warum hat er mich dann
ausgeschimpft?“
„Mr.
Wang hat nicht wirklich dich ausgeschimpft“, erklärte Hope ihrem
Schützling, während sie ihr die Tränen trocknete. „Er hat mich
ausgeschimpft, weil ich dir nicht genug von den Zahlen beigebracht
habe.“
„Aber
ich kenne doch viele Zahlen“, meinte Cindy, nicht mehr schluchzend
aber immer noch verwirrt. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, alle
Zahlen bis hundert. Und ich kann sie auch zusammen zählen 2 plus 2
sind 4 und 3 plus 4 sind 7. Du hast mir das gezeigt, Sempai.“
„Ja,
das habe ich, “ stimmte Hope ihr zu, „und du musst mich hier
nicht Sempai nennen, nur wenn wir in der Schule sind. Außerhalb
sagst du einfach nur Hope zu mir.“
„Okey,
Hope“, antwortete Cindy folgsam.
„Ja
und weißt du, wenn du Handel treibst,“ versuchte Hope jetzt zu
erklären, „dann brauchst du noch andere Zahlen, kompliziertere.
Wenn du von einem Verkäufer etwas kaufst, dann musst du ihm mehr
anbieten, als er dafür verlangt, aber auch nicht zu viel, nur
zwanzig bis dreißig Prozent mehr.“
„Zwanzig
bis dreißig Coin, aber ich hab doch nur fünf gehabt“, sagte Cindy
enttäuscht und sah traurig die Münze in ihrer Hand an.
„Nein,
nein nicht zwanzig Coin, “ versuchte Hope noch einmal
klarzustellen, „nur zwanzig Prozent, das ist einfach nur ein
kleines bisschen mehr. Wenn du ein Panini kaufen willst, und Mr. Wang
möchte zwei Coin dafür haben, dann bietest du ihm zwei und ein halb
Coin an. Und wenn du Brot kaufst, und er sagt vier Coin, dann bietest
du ihm fünf an. Kannst du dir das merken?“
Cindy
nickte.
„Und
wenn du etwas anderes von Mr. Wang oder in einem anderen Geschäft
kaufen willst, dann hältst du dich an mich, und ich flüstere dir
das Richtige ins Ohr,“ gab Hope Cindy die Anweisung. „Und
vielleicht im nächsten Jahr, dann bringe ich dir die komplizierte
Prozentrechnung bei. Und danach kannst du ganz alleine Handel treiben
gehen.
Cindy
nickte noch einmal und biss dann breit lächelnd wieder von ihrem
Panini ab. Daraufhin stellte sie eine weitere Frage, wobei Hope mit
einem Schwall Brotkrümel bedacht wurde. Es war eine Frage, die David
auch schon auf der Zunge lag, seit er die Szene in der Bäckerei
beobachtet hatte, nur Cindy formulierte sie etwas höflicher, als er
es selbst getan hätte: „Warum sagt uns Mr. Wang nicht gleich,
wieviel Coin er haben will?“
„Dummerchen,“
nannte Hope ihren Schützling mit einem nachsichtigen Lächeln. „Das
ist natürlich deshalb, weil er ein anständiger Händler ist.
Deshalb bietet er seine Ware nur für die Summe an, die er an Coin
unbedingt braucht. Und weil du ein anständiger Käufer bist, da
willst du ihm mehr geben. Und dann sagt er, 'das ist aber zu viel'
und du sagst, 'aber ich bestehe darauf' und dann sagt er 'du bist
sehr großzügig'. Auf diese Weise wird überall auf der Welt Handel
getrieben, auch mit anderen Dörfern über das Friedensnetz.“
Cindy war
jetzt dabei die letzten Reste ihres Panini zu verdrücken und
murmelte so mit vollen Backen: „Aber das ist so schwierig.“
„Ja,
ein bisschen kompliziert ist es schon, “ stimmte Hope ihr zu, „
aber mein Großonkel hat mir erklärt, dass es etwas damit zu tun
hat, wie wir den Frieden bewahren. Er hat gesagt: 'Frieden ist mehr
als die Abwesenheit von Krieg. Ohne Gerechtigkeit, kann es keinen
Frieden geben.“
Cindy
schluckte ihren letzten Bissen herunter und sah dann völlig verwirrt
aus.
Also
seufzte Hope ein bisschen, während sie vom philosophischen auf ihr
Sempai-Programm umschaltete: „Also das bedeutet, dass wir zu
anderen Leuten fair sein müssen, damit sie nicht so wütend werden,
dass sie uns verhauen wollen. Oder schlimmer noch, so wie in den
Dunklen Zeiten, wo die Leute von einem Ort mit Gewehren oder so was
auf die Leute in einem anderen Ort geschossen haben, wenn sie richtig
wütend geworden sind.“
Cindy
nickte, sie hatte es jetzt verstanden: „Fair bedeutet, dass man ein
bisschen mehr gibt.“
„Stimmt,
“ antwortete Hope, „und es bedeutet auch, dass der Verkäufer
nicht zu viel verlangt, so dass, wenn der Käufer arm ist, er dann
trotzdem noch etwas kaufen kann. Denn weißt du, wenn du nur zwei
Coin hättest, dann würde dir Mr. Wang immer noch ein Panini
verkaufen.
Aber, wenn
Mr. Wang arm wäre und nur ganz wenige Dinge zu verkaufen hätte,
dann solltest du ihm sogar noch mehr geben als nur zwei und einhalb
Coin. Aber Mr. Wang ist kein armer Mann, und deshalb musst du das
nicht tun.
Stattdessen
könntest du den Rest von deinen Coin deiner Mama geben.“
„Aber
meine Mama will meine Coin nicht“, erwiderte Cindy. „Sie hat
gesagt, dass ich all das, was ich bei der Arbeit im Hühnerstall
verdiene, selber behalten soll. Und ich bekomme fünf Coin jedes Mal,
dreimal in der Woche.“
„Das
ist richtig“, stimmte Hope zu. „Ich bekomme auch Coin, wenn ich
die Kühe melke. Aber weißt du was? Du könntest mit dem Rest deiner
Coin ein Geschenk für deine Mama kaufen. Was glaubst du, würde sie
sich wünschen?“
Cindy
begann zu strahlen: „Meine Mama mag auch Panini.“
Sie sprang
von der Bank und wollte sich sofort wieder in Richtung Bäckerei
aufmachen. Aber Hope hielt sie ganz schnell am Arm fest und meinte:
„Ich denke, wir haben für heute genug von Mr. Wang gesehen! Kennst
du nicht etwas anderes, das deine Mama mag?“
Cindy
hielt sich den Zeigefinger an den Mundwinkel und dachte einen
Augenblick angestrengt nach, dann strahlte sie wieder: „Meine Mama
mag Müsli mit Erdnüssen und getrockneten Äpfeln und Zimtzucker
besonders gern.“
„In
Ordnung, dann gehen wir zum Müsli-Laden“, entschied Hope.
Sie
berührte den Schirm ihres Armbandcontrollers ein paar Mal, daraufhin
erschien über dem Gerät das holographische Gesicht einer Frau mit
einer beigen Mütze.
„Salaam,“
grüßte sie.
„Salaam,
Ms Denko,“ antwortete Hope. „Ich würde gern eine Bestellung für
Cindy Lennox aufgeben, und zwar für einen Beutel Müsli mit
Erdnüssen, getrockneten Äpfeln und Zimtzucker für insgesamt zwei
Coin. Und weil Cindy keinen Beutel dabei hat, könnten Sie ihr bitte
einen ausleihen?“
„Natürlich“,
war Ms Denko's Antwort „die Bestellung könnte in zwanzig Minuten
bereit sein. Wollt ihr sie dann gleich abholen oder lieber etwas
später?“
„Wir
können in zwanzig Minuten bei Ihnen sein“, erklärte Hope. „Vielen
Dank, Ms Denko.“
„Dann
werde ich dich und Cindy bald sehen, Bless bis dann“ Damit
verschwand Ms Denko's Gesicht, und Hope entschied, während sie von
der Bank aufstand: „Bevor wir zur Kaninchen-Hausgemeinschaft gehen,
will ich zuerst noch kurz bei meiner Großmutter vorbeilaufen, damit
ich die Botschaft für sie nicht vergesse.“
„Aber
du vergisst doch gar nie etwas, Hope, “ widersprach Cindy, „das
hat Sensei gesagt.“
„Das
stimmt schon, “ erklärte Hope, „ aber ganz oft erinnere ich mich
erst, wenn es schon zu spät ist. Denn es gibt ja so viele Dinge, an
die ich mich erinnern muss.“ Dabei öffnete sie ihre Arme weit und
schüttelte seufzend ihren Kopf.
Cindy
kicherte und fragte: „Können wir dann aber auch hinterher die
Maglev nach da drüben benutzen?“
„In
Ordnung“, stimmte Hope zu. Dann schüttelte sie Cindy ein bisschen
durch: „Du bist aber ein ganz schöner Faulpelz, der nicht laufen
will.“
Cindy
grinste und behauptete: „Laufen mag ich schon. Aber Maglev-Fahren
macht so viel mehr Spaß!“
Damit
verschwand die Szene mit Hope und Cindy aus dem 23. Jahrhundert, und
als David die Augen öffnete, tauchte die andere Hope auf dem
Hintergrund des New York des 21. Jahrhunderts wieder auf.
***
Dies
ist jetzt das fünfte und letzte Venus Projekt, das ich mit meiner
Kamera auskundschaften muss. Es gehört zum J.G. Konzern, dem Konzern
meines Vaters. Jeder der fünf Konzerne besitzt ein eigenes Design
für seine Venus Projekte. Und dieses Design wird in allen Projekten
des jeweiligen Konzerns ganz genau kopiert, um die Konzern-Identität
zu akzentuieren. So wurde es mir jedenfalls einmal erklärt. Die
Bilder aus einem Projekt eines jeden Konzerns werden somit den
Rettungsteams einen genauen Einblick in die Lage der Räumlichkeiten
jedes anderen Projekts desselben Konzerns geben.
Und
obwohl dies nicht das genaue Projekt ist, in dem meine Mutter und
Luscinia gewesen sind, so sieht es doch ganz genauso aus.
Wir
sind jetzt im dritten Stock. Der Geschäftsführer hat die Tür zu
einem Raum geöffnet, in dessen Mitte ein riesiges Bett umrandet von
Seidengardinen steht. Sanfte Musik durchflutet den Raum, um eine ganz
bestimmte Atmosphäre zu erzeugen, die durch einen Duft von
exotischen Blüten noch hervorgehoben werden soll. Die Wände und die
Zimmerdecke sind von Spiegeln bedeckt, und dutzende von Venus
Figürchen sind auf Regalen und Kommoden aufgestellt. Anstelle des
Tageslichts wird dieser fensterlose Raum durch Wandleuchten an allen
Ecken in ein rötliches Licht getaucht.
„Unsere
Luxus-Suite, “ verkündet der Geschäftsführer.
Plötzlich
höre ich einen Schmerzensschrei durch die Tür aus dem nächsten
Raum dringen. Ich zucke bei dem Laut zusammen, doch glücklicherweise
hält der Geschäftsführer meine Reaktion für etwas anderes.
„Jemand
hat Spaß“, erklärt er mit einem schmierigen Grinsen.
Ganz
automatisch formen sich meine Hände zu Fäusten. Aber dann mache ich
eine bewusste Anstrengung sie wieder zu entspannen und mein Gesicht
zu einer undurchdringlichen Maske werden zu lassen. Ich folge dem
Geschäftsführer nach unten. Und um noch weiterhin keinen Verdacht
zu erregen, habe ich beschlossen, noch etwas länger zu bleiben, um
die Frauen beim Tanzen zu beobachten. Eine der Frauen nähert sich
mir. Auf ihrem Gesicht ist dieses falsche Lächeln zu sehen, das
typisch ist, für ihren Berufszweig.
„Vielleicht
beim nächsten Mal“, weise ich sie ab und drehe mich um, um zu
gehen.
Auf dem
Weg nach draußen bemerke ich dann eine ziemlich junge und blasse
Frau, die langsam die Treppe herunterkommt. Ihre Seidenbluse ist
zerrissen und ihr Make-up ist von den Tränen verschmiert worden, die
ihr immer noch übers Gesicht laufen. Als sie ihren Arm hebt, um ihre
Haare in Ordnung zu bringen, sehe ich es: Luscinia's Narben auf ihrem
Arm und eine frische Wunde.
Ich
fühle Übelkeit in mir hochsteigen und eine Wut, die mich beinahe
erstickt. Alles, wonach ich mich jetzt sehne ist es, da rauf zu
rennen und jemanden zusammen zu schlagen, ihn so lange zu schlagen
bis er sich nicht mehr rühren kann. Aber gleichzeitig weiß ich,
dass, wenn ich diesem Drang nachgäbe, dann alles verloren wäre.
Ich
schaffe es nur mit größter Anstrengung, ganz ruhig das Gebäude zu
verlassen und im Hof am Venusbrunnen vorbeizugehen, bis ich Darryl
treffe, der wieder auf mich gewartet hat.
„Haben
Sie alle Bilder bekommen?“ flüstere ich.
Darryl
nickt und fügt hinzu: „Ich habe den Arm dieser Frau gesehen.“
Ich
bemerke Darryl's mitfühlenden Bick und erkenne, dass seine Effizienz
nicht die einzige gute Eigenschaft des Texaners ist.
„Heute
Abend wird sie das Land verlassen“, versichert er mir.
Ich
nicke meine Zustimmung, aber füge in Gedanken hinzu: 'Wenn alles so
läuft, wie geplant...'
***
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