Teil 2



Ich bin dabei den Hof des ersten Venus Projekts zu betreten. Wir haben den Wagen, wie geplant, ein paar Blocks weiter unten an der Straße geparkt. Nur Darryl begleitet mich, während die anderen im Auto warten. Die verdunkelten Scheiben dieser auffälligen Luxuslimousine gereichen uns diesmal sogar zum Vorteil, da sie die Insassen für alle zufälligen Passanten unsichtbar machen.
Dies hier ist das Projekt Nummer 137 des P.M. Konzerns. Die typische mehr-farbige Mauer, die Hof und Gebäude umschließt, steht in einem starken Kontrast zur Umgebung der grauen Betonblöcke.
Ein Torbogen führt in den Hof, der von dem ebenso typischen Venusbrunnen geprägt ist. Bei jedem der Projekte dieses bestimmten Konzerns ist der Brunnen Teil eines Marmorbaums, aus dem das Wasser direkt auf die Brüste einer Venus gesprüht wird, die sich halbaufgerichtet nach hinten beugt.
Bei diesem Anblick dreht sich mir der Magen um. Ich schlucke, drehe mich zu Darryl um und nicke ihm zu. Er wird hier draußen warten, wo er lässig an die Wand gelehnt versucht, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten.
Als ich das Gebäude betrete, begrüßt mich der Geschäftsführer gleich enthusiastisch, mehr noch nachdem ich mich mit einem Händedruck vorgestellt habe. Ganz nebenbei lasse ich es noch durchblicken, dass ich unter Umständen ein Stammkunde werden könnte. Schweigend folge ich ihm dann durch die Räume, zuerst durch die öffentlichen im ersten Stock, danach durch die privaten im zweiten und dritten.
Während wir die Treppe hinterher wieder hinunter gehen, kreuze ich die Arme vor der Brust und richte die Kamera in meinem Armbandkontroller vorsichtig auf die Kabine der Sicherheitsvollstrecker.
Es arbeiten zu dieser Zeit zwei von ihnen im Eingangsbereich, wobei der eine in der Kabine sitzt, und der andere direkt am Eingang steht.
Diese Informationen, genau wie die über die Lage der Räumlichkeiten und die Sicherheitsvorkehrungen auf den Etagen, werden in allen Details direkt an Daryl übermittelt, der sie dann an Cass Dakota und sein Team weitergibt. Sie haben die nähere Umgebung schon ausgekundschaftet, aber sie brauchen noch genaue Vorstellungen davon, wie es innen aussieht, damit die ganze Operation später schnell und ohne Zwischenfälle abläuft.
Was ist dort unten“, frage ich, obwohl ich es bereits weiß.
Nur die Trainingszellen und ein paar Ruheräume für unsere Frauen“, antwortet der Geschäftsführer. „Nichts, was Sie interessieren würde.“
Mich interessiert alles“, erkläre ich ihm.
Der Geschäftsführer zuckt mit den Achseln und führt mich dann hinunter in den Keller.
Dies hier ist keines der J.G. Venus-Projekte, und trotzdem ist zumindest der Keller praktisch identisch mit dem in dem J.G. Projekt. Dort auf der rechten Seite am Ende des Ganges hinter der letzten Tür, das war einmal ihr Zimmer. Die Erinnerung hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
Nein, natürlich war das nicht wirklich ihr Zimmer, es ist einfach nur der Gang, der genau so aussieht. Ich schlucke, bleibe stehen... Und als der Geschäftsführer die Tür öffnet, und ich in den Raum hineinsehe, bin ich wie erstarrt.


***








David schloss langsam die Tür.
Er sah Hope an. Sie stand neben ihm, die Augen zu Boden gewandt. Er fühlte, dass eine tiefe Traurigkeit von ihr ausging, aber außerdem noch etwas anderes – es war eine Art Verwirrung, eine die er zuvor nicht an ihr bemerkt hatte. Bis jetzt war sie ihrer eigenen Meinung immer so sicher gewesen, aber nun war diese Sicherheit plötzlich verschwunden.
Hope sah hoch. „Ich hab es nicht gewusst“, flüsterte sie.
Was hast du nicht gewusst?“ fragte David sanft.
Ich wusste nicht, dass es so war, ich meine die Gefühle...dass Leute in deiner Zeit so...so fühlen … das war so...“ Hope redete mit leiser Stimme, und ihre Sätze waren weit weniger klar als zuvor.
David nickte: „Du hättest nicht gedacht, dass wir Leute aus den 'Dunklen Zeiten' auch Menschen sind.“
Ich hatte das ‚Erste Prinzip‘ vergessen“, gab sie schuldbewusst zu.
Was ist denn eigentlich dieses 'Erste Prinzip'“, fragte David interessiert. „Du hast mir vorhin erklärt, eure ganze Welt sei darauf aufgebaut, aber du hast dabei nicht erwähnt, was dieses Prinzip eigentlich ist.“
Hope schloss ihre Augen und verschwand, nur um gleich wieder in einer völlig anderen Umgebung aufzutauchen.
Sie saß nun mit gekreuzten Beinen in der Mitte eines Raumes, der mit einem Teppich ausgelegt war. Und sie war dort nicht allein. Sie war Teil einer Gruppe von 14 Kindern, die gemeinsam im Halbkreis einem Mann mittleren Alters gegenüber saßen, der genau wie die Kinder mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich saß. Die meisten der Kinder trugen, genau wie Hope, lilafarbene Anzüge und Kappen, der Rest von ihnen hatte dunkelblaue Outfits. Die Hälfte der Kinder schien etwa in Hope's Alter zu sein, während die anderen viel jünger waren, etwa sechs oder sieben Jahre alt.
David schloss seine Augen und konzentrierte sich auf die Szene. Wie bei den vorangegangenen Erinnerungsbildern, so erkannte David auch diesmal die anwesenden Personen auf einen Blick. Der erwachsene Mann war Sensei, Hope's Lehrer, die Kinder waren alle Schüler seiner Klasse.
Alle Kinder rezitierten nun gemeinsam:


Leben ist ein göttliches Geschenk.
Menschliches Leben ist heilig und muss deshalb immer geschützt werden.
Jeder Mensch ist von großer Bedeutung für die gesamte Menschheit.
Ebenso ist er von unbegrenztem Wert und besitzt eine unantastbare Würde.
Kein Mensch ist wertvoller oder weniger wertvoll,
oder von größerer oder geringerer Bedeutung
als irgendein anderer Mensch auf Erden.
DAS IST DAS ERSTE PRINZIP.“


Der letzte Satz wurde, zumindest von den kleineren Kindern, mit voller Begeisterung und mit ebensolcher Lautstärke ausposaunt.
Die Szene verblasste, und die gegenwärtige Hope tauchte wieder auf.
Das war dein Klassenzimmer, nicht wahr?“ riet David
Hope nickte: „Jeden Morgen zu Beginn des Unterrichts wiederholen wir das Erste Prinzip, damit wir es niemals vergessen.“
Und dann fügte sie etwas verwundert hinzu: „Aber ich habe es trotzdem getan. Immer, wenn ich an die Leute aus den 'Dunklen Zeiten' gedacht habe, dann habe ich es einfach vergessen.“
Ist es wegen der vielen Kriege, dass du die Menschen meiner Zeit als weniger menschlich angesehen hast“, fragte David.
Als Hope nickte, fuhr er fort: „Dann denk ich mal, dass es in deiner Zeit wohl keine Kriege mehr gibt? Aber du hast mir doch erzählt, dass deine Mutter auf einer Kampfmission ist. Was bekämpft sie denn dann eigentlich?“
Ein schwaches Lächeln formte sich um Hope's Lippen: „Die Eiszeit natürlich!“
Das Lächeln verschwand, als Hope noch einmal bekräftigte: „Sie bekämpft die Eiszeit und sonst nichts, nur die Eiszeit... genau wie mein Vater vor ihr...“
Eine Sekunde lang hörte Hope auf zu reden, dann wechselte sie das Thema.
Es gibt keine Kriege in unserer Zeit, nirgendwo... ich meine, es hat in der ganzen Welt schon ganz lange keine Kriege mehr gegeben, seit mehr als einem Jahrhundert...“
Wieder hielt sie inne.
David wusste, dass Hope die Wahrheit sagte. Er bezweifelte, dass dieses Kind überhaupt in der Lage war direkt zu lügen, aber er fühlte auch, dass sie irgendetwas verschwieg.
Wieder einmal übermittelten sich ihm die Worte 'Orange Country' und dann 'Nephilim City', obwohl Hope ihre Lippen fest zusammengepresst hielt.
Orange Country“, fragte David, „der Ort, den du Hölle genannt hast? Ist dort vielleicht etwas los? Oder in Nephilim City?“
Hope presste ihre Lippen noch fester zusammen, und David spürte, dass sie ihn aus ihren Gedanken aussperrte. Sie war nicht bereit, mit ihm über dieses ominöse 'Orange Country' zu reden.
Dann erinnerte David sich wage an irgend so einen Film, in dem Nephilim als mythische Wesen dargestellt wurden, so etwas wie gefallene Engel, oder vielleicht auch die Kinder von gefallenen Engeln. Er war sich da nicht ganz sicher.
Was für sonderbare Namen manche Leute doch ihren Ortschaften gaben, dachte er.
Aber gleichzeitig erkannte David, dass Hope mit Sicherheit nicht bereit war, mit ihm über diese Absonderlichkeit zu reden, und darum wechselte er das Thema.
Weißt du, ich habe mich da über etwas gewundert. Du hast mir doch letzte Nacht erklärt, dass du nicht wirklich hier bist in dieser Zeit, dass dein physischer Körper irgendwo in deiner eigenen Zeit an Maschinen angeschlossen ist.
Und du hast auch gesagt, dass wenn ich dich hier vor mir stehen sehe, dies nur eine Projektion von dir in meinen Gedanken ist. Wie kommt es dann, dass sowohl ich als auch Mr. Johnson dich haben weinen sehen? Tränen sind doch etwas Physisches.“
Hope hatte keine Probleme mit diesem Thema: „Ich denke mal, die Projektion zeigt auch meine Gefühle. Wenn ich mich nach Weinen fühle... oder nach Lachen, dann kannst du das an meinem Abbild sehen, ganz als ob ich wirklich da wäre.“
Das hörte sich vernünftig an, aber...
Da gibt es etwas, was mich noch mehr wundert. Wo wir schon bei Mr. Johnson sind, wie ist es denn eigentlich möglich, dass er eine Projektion von dir in meinen Gedanken gesehen hat?“
Und um einer möglichen esoterischen Antwort zuvorzukommen, fügte David noch hinzu: „Und sag mir nicht, das sei auch wieder so ein göttliches Wunder gewesen. Eine technische Erklärung wäre hier doch ganz nett.“
Hope biss sich auf die Lippe, um eine Weile scharf nachzudenken, dann meinte sie:
Großonkel Professor hat mir erklärt, dass das Deltawellen-Reisen eigentlich andauernd passiert. Es ist etwas ganz Natürliches. Leute verbinden sich geistig miteinander, manchmal über weite Distanzen hinweg, aber normalerweise nur für Bruchteile von Sekunden. Mama hat mir erzählt, dass sie oft an ihre Schwester denkt, die in einem Dorf in der Nordwest US Nation lebt. Und ein paar Sekunden später ruft dann Tante Susi auf dem Netzphone an.
Das ist eine Deltawellen-Gedankenreise, sagt mein Großonkel. Das geschieht zufällig, und manchmal sogar zwischen Leuten, die gar nicht miteinander verwandt sind. Die Zeitreisemaschine richtet diese Wellen nur auf bestimmte Punkte aus und stabilisiert die Verbindung, damit diese Gedankenreise länger anhält. Darum denke ich, als Mr. Johnson mich sehen konnte, da waren seine Gedanken auf seinen Deltawellen mit deinem Bewusstsein verbunden. Das ist aber nur eine Vermutung, ganz sicher bin ich mir da nicht. Großonkel Professor würde das wissen.
In Ordnung“, sagte David, war aber doch nicht ganz zufrieden. Er wusste jedoch, dass er keine bessere Erklärung bekommen würde.
Aber wenn er dich sehen konnte, warum konnte ich nicht auch seinen Mr. Green sehen?“
Hope antwortete sofort: „Ich denke Mr. Johnson ist wohl viel besser im Deltawellenreisen als du.“
Diese Antwort war dann ein guter Grund für David, das Thema zu wechseln oder besser noch den Ort. „Wie wär‘s, wenn wir uns nach draußen begeben, und ich dir etwas mehr von meiner Welt zeige? Vielleicht gibt es doch noch etwas, das du von den 'Dunklen Zeiten' noch nicht weist.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sich David seine Jacke wieder an und öffnete die Tür. Diesmal lag niemand davor, und so schloss er sie hinter sich ab, ging die paar Schritte zum Bürgersteig hinauf und dann die Straße hinunter. Wie immer folgte ihm Hope.
Nach zwei Minuten drehte David sich zu ihr um und sagte beiläufig. „Weißt du, dieses Rezitieren von eurem 'Ersten Prinzip' das erinnert mich an das, was ich selbst als Kind in der Schule tun musste, nachdem ich in die USA gekommen war.
Jeden Morgen mussten alle Schüler den Treueschwur auf die Fahne rezitieren, aber nicht im Sitzen sondern im Stehen. Da haben wir dann feierlich erklärt: 'Ich schwöre die Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und…'“
Hope unterbrach ihn: „Aber ist denn eine Fahne nicht einfach nur ein Stück Stoff mit ein paar Zeichen darauf?“
David schüttelte den Kopf: „Eine Fahne ist viel mehr als das, sie hat tiefe symbolische Bedeutung. Der Treueschwur geht weiter mit: 'und zu der Republik für die sie steht, eine Nation unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle…’“
Wieder unterbrach Hope: „Freiheit für alle? Aber Sensei hat uns doch erklärt, dass in deiner Nation mehr Leute in Gefängnissen eingesperrt waren als in jeder anderen Nation. Und eingesperrt sein bedeutet doch, dass man keine Freiheit hat oder?
Und wir haben auch gelernt, dass es die ungerechteste Nation der Welt war, denn ein paar wenige Menschen waren so reich, dass sie tausende von Häusern und Werkstätten besaßen und mehr Land als hundert Dörfer. Und dann waren da andere Menschen, die waren so schlimm arm, dass sie nicht einmal genug zu essen hatten und kein Land, um das Essen anzubauen und keine Häuser oder Wohnungen, um darin zu leben.“
David musste zugeben, dass auch wenn Hope es ziemlich ungewöhnlich ausdrückte, sie im Grunde mit ihren Fakten Recht hatte. Er kannte die Gefängnisstatistiken und auch die der weiten Einkommensdifferenzen. Seine Zeitung hatte hin und wieder darüber berichtet, auch wenn er selbst nie irgendwelche Artikel darüber verfasst hatte. Also was sollte er darauf erwidern?
Freiheit und Gerechtigkeit sind nun einmal Ideale. Wir streben zwar nach ihnen, haben sie aber noch nicht erreicht.“
Hope dachte eine Weile nach und stellte dann fest:
Also meint ihr die Worte von diesem Treueschwur nicht wirklich, sie sind nur so was wie ein Traum. Aber unser 'Erstes Prinzip' ist ganz anders. Wir meinen jedes einzelne Wort.“
Also einen Moment mal“, protestierte David, „euer 'Erstes Prinzip' hört sich auch ziemlich hochsinnig und utopisch an, wie zum Beispiel dieser Teil, der von dem gleichen Wert und der gleichen Wichtigkeit aller Menschen spricht. Das ist doch auch nur eine Idee, es könnte niemals eine echte Realität werden. Real gesehen wäre so etwas unmöglich.“
Warum unmöglich“, fragte Hope mit einem Kopfschütteln.
Erkennst du das denn nicht“, fragte David, während er um die Ecke in die Sacrecors Avenue einbog.
Es gibt doch immer irgendwelche Leute, die wichtiger sind als andere, Politiker zum Beispiel, du weißt schon, solche Leute, die die Gesetze machen und Regierungen führen und Entscheidungen für viele andere Menschen treffen. Auf diese Weise werden sie dann wichtig für den Lauf vieler Dinge, über die sie so bestimmt haben. Manchmal werden sie sogar wichtig für die gesamte Geschichte ihres Landes und vielleicht sogar für die der ganzen Welt.
Und dann sind da die anderen Leute, die überhaupt keinen Einfluss und fast nichts zu sagen oder zu entscheiden haben, nicht einmal bezüglich ihres eigenen Lebens. Diese Leute sind völlig unwichtig, denn ob sie leben oder nicht oder überhaupt je gelebt haben, macht keinen Unterschied für irgendjemanden außer für sie selbst.“
In den letzten Wochen hatte David viel Zeit damit verbracht, über die Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens nachzudenken, besonders seines eigenen.
Klar, war er dann zu seinen Schlussfolgerungen unter dem Einfluss einiger hochprozentiger, und wie Hope es sehen würde, sehr unheiliger Geister gelangt. Trotzdem wusste er, dass diese Schlussfolgerungen nicht völlig unlogisch waren.
Er hatte an einer der am meisten gelesenen Zeitungen des Landes, vielleicht sogar der ganzen Welt, gearbeitet. Und obwohl er dort nicht wirklich irgendeine leitende Position eingenommen hatte, hatten einige seiner Artikel doch hin und wieder einen entscheidenden Einfluss auf die lokale Politik gehabt. Er war wichtig gewesen, weil sein Leben einen Einfluss auf das vieler anderer Leute gehabt hatte. Nachdem er diese Einflussposition verloren hatte, hatte auch sein Leben allen Wert verloren, und somit war seine Existenz im Grunde sinnlos geworden.
Und deshalb erklärte David im Brustton der Überzeugung: „Euer 'Erstes Prinzip' ist weit unrealistischer und hat viel mehr von einem Traum als unser 'Treueschwur zur Fahne'.“
Das stimmt nicht“, Hope's Stimme war wieder fest und voller Selbstsicherheit. Überwunden war die Unsicherheit, die David noch vor einigen Augenblicken in ihr gespürt hatte.
Das Erste Prinzip ist real, kein Traum, nicht nur einfach ein Ideal. Wir meinen es wirklich. Und außerdem gibt es überhaupt keine Politiker in unserer Zeit.“
Keine Politiker? Das wage ich nun echt zu bezweifeln, “ konterte David. „Ihr werdet sie wahrscheinlich etwas anderes nennen, aber Politiker hat es immer gegeben und es wird sie immer geben, solche Leute, die über den Rest der Bevölkerung regieren und für diese die Gesetze beschließen. Früher waren das einmal die Könige und die Adeligen und deren Hofangestellten gewesen. Jetzt haben wir bei uns den Präsidenten und die in den Kongress gewählten Senatoren und Abgeordneten als Gesetzgeber. Und in den einzelnen US-Staaten gibt es dann noch Gouverneure und auch dort noch Staats-Parlamente.“
Solche Leute haben wir nicht“, erklärte Hope mit fester Stimme. „Wir haben einen Dorfrat, das ist eine Versammlung aller Erwachsenen von Spesaeterna. Darum beschließen auch alle Erwachsenen gemeinsam die Regeln für unser Dorf. Du könntest sie deshalb vielleicht alle Gesetzgeber nennen, wenn du willst. Keiner von den Erwachsenen regiert über andere Erwachsene. Vielleicht könntest du sagen, dass die Erwachsenen über die Kinder und Jugendlichen regieren. Aber das ist nur aus dem Grund so, weil die Kinder noch nicht genug Wissen haben, um die Regeln machen zu können, und weil die Jugendlichen immer noch an Hormonverwirrungen leiden“.
In Ordnung“, räumte David ein, „ihr habt also keine Politiker in eurem Dorf. Stattdessen habt ihr das, was wir eine ‚direkte Demokratie‘ nennen. Aber was geschieht dann außerhalb eures Dorfes, auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene? Es muss dort doch Leute geben, die regieren und andere, die für diese Regierungen die Gesetze schreiben.“
Es gibt keine Gesetzgeber außerhalb unseres Dorfes,“ erklärte Hope in festem Ton.
Wie ist das denn überhaupt möglich“, David hatte doch starke Zweifel an Hope's Aussage. Sie war schließlich nur ein kleines Mädchen, das vielleicht gar keine Ahnung von dem politischen System außerhalb ihrer eigenen kleinen Welt hatte.
Es muss doch Leute geben, die über Infrastruktur und internationale Zusammenarbeit entscheiden und diese Dinge koordinieren. Es muss doch Regeln und Gesetze geben, die auch außerhalb eures Dorfes gelten.“
Klar gibt es Gesetze für die ganze Welt“, stimmte Hope ihm zu. „Aber dafür braucht man keine Gesetzgeber mehr. Diese Gesetze wurden vor über hundert Jahren verfasst. Sie sind unveränderlich, und es gibt auch nur drei von ihnen.
Nummer 1: Jeder Mensch auf der Welt, ebenso wie jede Hausgemeinschaft, jedes Dorf, jeder Distrikt und jede Religion müssen sich an das Erste Prinzip halten.
Nummer 2: Kein Dorf darf den Lebensraum eines anderen Dorfes und keine Nation darf den einer anderen Nation verletzen. Deshalb muss auch jede Verschmutzung von Luft oder Wasser, die Nachbardörfer beeinträchtigen könnte, unterlassen werden.
Nummer 3: Den Frieden zwischen einzelnen Menschen, Dörfern und Nationen zu bewahren, ist von allerhöchster Priorität. Deshalb muss allen Kindern der Wert von Frieden und die Gefahren des Krieges nahegebracht werden. Aus diesem Grund muss jedes gesunde Kind im Alter von 12 Jahren das Opferszenario durchlaufen.
Das sind alle Gesetze, die wir haben.“
Drei Gesetze? Bist du ganz sicher, dass es nur drei gibt?“ Es erschien David doch ziemlich unglaublich, dass irgendein politisches System funktionieren konnte, wenn es auf so wenigen Grundsätzen basierte.
Gibt es denn gar keine Zusammenarbeit außerhalb eures Dorfes?“
Doch natürlich; wir treiben Handel. Wir kaufen Dinge von anderen Dörfern, und die kaufen Dinge von uns. Wir müssen da aber Intercoin benutzen, weil die Dorfcoin nur in unserem Dorf gültig sind.“
Und wer organisiert den Handel? Wer bestimmt die Regeln darüber wie und mit was man handelt?“
Was für Regeln?“ fragte Hope verwirrt. „Wenn du etwas brauchst, was man in deinem Dorf nicht bekommen kann, dann schaust du auf dem Friedensnetz nach, dem weltweiten Friedensnetz. Du schaust nach, wer so etwas verkaufen will, und dann kontaktierst du den Verkäufer, und du übermittelst ihm den Betrag von Coin, die du ihm geben willst, und der Verkäufer bringt die Ware zum Transport.
Aber was geschieht, wenn der Verkäufer dich betrügt und er dir den bestellten Artikel nicht liefert, oder wenn das Produkt dann nicht in Ordnung ist? Es muss doch irgendwelche Gesetze geben, um den Käufer zu schützen.“
Warum würde ein Verkäufer so etwas tun“, Hope fand das ziemlich unverständlich. „Es wäre eine solche Schande für ihn und für seine ganze Gemeinschaft. Niemand würde mehr etwas von ihm oder seiner Hausgemeinschaft kaufen, vielleicht nicht einmal mehr von seinem Dorf. Die Leute aus anderen Dörfern würden einem Dorf nicht vertrauen, dass seinen Bürgern erlaubt, unehrlich im Handel zu sein.“
Dann fügte sie hinzu: „Aber ich habe fast vergessen, dass es in deiner Zeit keine Schande ist unehrlich zu sein.“
Das stimmt nicht ganz“, protestierte David. „Für die meisten Leute ist es immer noch äußerst peinlich, wenn sie eines Betrugs entlarvt werden.“
Nach einem Augenblick gab er dann aber zu: „Aber in mancher Hinsicht hast du doch Recht. Es gibt bei uns wirklich Leute, die wegen so etwas niemals Schuld- oder Schamgefühle entwickeln. Einige von ihnen sind so raffiniert, dass sie überhaupt niemals entlarvt werden. Und dann haben sie auch noch so gute Verbindungen, dass alles, was auch immer irgendwann einmal herauskommen sollte, trotzdem unter der Decke gehalten wird. So können sie einfach weiter machen, als wäre nichts geschehen. Diese Leute können dann problemlos das Leben von ehrlichen Menschen zerstören.“
David schluckte; das kannte er aus eigener Erfahrung nur zu gut. 'Und', fügte er aber nur in Gedanken hinzu, 'das mit der Lebenszerstörung ist wörtlich zu nehmen. Denn da gibt es sogar welche, die morden können, ohne je dafür zur Verantwortung gezogen zu werden...'
David's Miene verdunkelte sich, dann aber schüttelte er den Kopf und straffte die Schulter. Er würde jetzt nicht wieder in seine dunklen Grübeleien verfallen.
In Ordnung, vielleicht ist euer Handel wirklich selbstorganisiert ohne eine regulierende Regierungsbehörde zu benötigen. Aber es gibt sicherlich Stellen, an denen ihr eine weitergehende Kooperation außerhalb des örtlichen Bereichs benötigt. Wer organisiert denn das?“
Unsere Repräsentanten“, war Hope's kurze Antwort.
Na also, die Repräsentanten, “ das passte in David's Weltbild. Zufrieden erklärte er: „Zu meiner Zeit nennen wir solche Leute Politiker. In allgemeinen Wahlen wählen wir bestimmte Leute, die gehen dann nach Washington, um dort im Kongress Gesetze zu beschließen. Gemeinsam mit dem Präsidenten und den Staatssekretären haben diese Leute die Macht, die Geschicke unserer Nation und aller Menschen, die hier leben zu bestimmen.“
Hope, die David's Beschreibung geduldig angehört hatte, schüttelte den Kopf:
Unsere Repräsentanten sind nicht so wie eure, sie werden nicht durch Wahlen bestimmt. Ich weiß, was Wahlen sind, das habe ich in der Schule gelernt.
In den meisten Ländern in den Dunk... ich meine in deiner Zeit, da bekamen die Menschen die Erlaubnis ein X auf ein Blatt Papier zu schreiben und zwar hinter den Namen einer Person oder einer Gruppe von Personen, die damals Partei genannt wurden. Danach sollte diese Person oder Partei die Leute repräsentieren, die sie gewählt hatten.
Vor den Wahlen hat die Person oder die Partei versprochen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Person oder die Partei mit den meisten Ixen war dann gewählt. Aber nach der Wahl konnten diejenigen, die gewählt wurden, dann ihre Versprechen nicht einhalten, weil sie den Anweisungen anderer folgen mussten, die viel mächtiger waren.“
Dazu konnte David eigentlich nichts erwidern, denn er musste zugeben, dass Hope's Beschreibung des demokratischen Systems zwar simplifiziert, aber doch nicht ganz falsch war. Sein Job hatte ihm genug Einblicke in das Polit-System gegeben, um den enormen Einfluss der nicht-gewählten Machteliten, die hinter den öffentlichen Bühnen agierten, zu erahnen.
Hope fuhr fort: „Unsere Repräsentanten sind anders. Sie sind von Gott auserwählt.“
Sie sind was?“ David war völlig schockiert. Das war nun wirklich der Rückfall ins finsterste Mittelalter. Hope hatte ihm ja bereits erzählt, dass alle in ihrer Zeit irgendwie religiös waren, aber 'von Gott auserwählt'? Das schlug nun wirklich dem Fass den Boden aus. Und sie bezeichnete seine Zeit als die 'Dunklen Zeiten'?!
Von Gott auserwählt“, wiederholte Hope. „Jeder Erwachsene, also jemand, der älter ist als 25 Jahre, kann seinen Namen auf die Liste für all die Leute setzen, die eine Periode lang als Repräsentanten von unserem Dorf im Distrikt, in der Nation oder im internationalen Hilfskongress dienen wollen.
Von allen Erwachsenen im Dorf gibt es zu jeder Zeit zwei, die gerade Distrikts-Repräsentanten sind. Und von allen Menschen im Distrikt sind es dann auch immer zwei, die den Distrikt in der Nationalversammlung repräsentieren. Und jede Nation auf der Welt sendet einen Repräsentanten zum internationalen Hilfskongress.
Und wenn all die Leute sich im Welt-Friedens-Netz auf die Liste gesetzt haben, dann gehen die Namen durch eine Zufallsmaschine -das ist ein Computerprogramm, weißt du- und dann erscheinen die Namen und Orte der ausgewählten Repräsentanten. Das geschieht alle drei Monate, aber eine Periode dauert sechs Monate, so dass immer nur die Hälfte aller Repräsentanten jedes Mal ausgetauscht wird.
Und so siehst du, dass die Repräsentanten nicht von Menschen gewählt worden sind, sondern von Gott auserwählt wurden.“
Eine sonderbare Welt, aus der Hope kam, dachte David; Regierungen waren aus Lotteriegewinnern zusammengesetzt. Wie konnte so etwas überhaupt funktionieren?
Aber wie wisst ihr denn, ob diese zufällig ausgewählten Leute auch qualifiziert sind“, fragte er.
Qualifiziert?“
Ja, dass sie wirklich wissen, was sie tun“, erklärte David
Wir wissen alle, was man als Repräsentant zu tun hat. Das lernen wir in der Schule, “ versicherte Hope David.
Dann stellte sie die Gegenfrage: „Aber wie könnt ihr denn so sicher sein, dass die Leute die ihr wählt, wirklich qualifiziert sind?“
Das wissen wir, weil...“ begann David und hielt dann inne. Das war schon eine ganz gute Frage. Was qualifizierte eigentlich einen Politiker für seinen Job?
In Hope's System da war es gut möglich, dass einige der Lotteriegewinner-Repräsentanten geistig behindert waren, aber waren diese denn dann wirklich so verschieden von den Politikern in seiner eigenen Welt, dachte David mit einer gehörigen Prise Zynismus.
Es war doch gar nicht so lange her gewesen, dass jemand in die höchste politische Position gelangt war, von dem man damals munkelte, dass er sich durch übermäßigen Drogen- und Alkoholkonsum um große Teile seines Verstands gebracht hatte. Und hatte nicht besagter Politiker die Nation durch immer wieder neue Fauxpas blamiert?
Zu der Zeit hatte David an der Schülerzeitung seiner High-School gearbeitet. Und er und seine Freunde dort hatten diese Ausfälle immer wieder dankbar für amüsante Karikaturen und Satiren benutzt.
Und dann kam der Urknall des 11. Septembers, und vorbei war es mit dem Spaß. Als die Türme im freien Fall kollabierten, das war der Tag, an dem die Welt sich verdrehte.
Patriotische Manie hatte alle im Land erfasst, zusammen mit dem Patriot Act. Keiner wagte es mehr den großen ‚Entscheider‘ zu hinterfragen, ob er nun einen Krieg anfing, der mit falschen Behauptungen begründet wurde, oder ob er die Folter wieder einführte. Und obwohl die Massenvernichtungswaffen auf Mythen basierten, waren die Kriegsprofite doch ganz real. Ebenso real waren auch diejenigen, die diese Profite einfuhren, die der gute alte Ike Eisenhower einmal den militärisch-industriellen Komplex genannt hatte, Insider also, die aufs engste mit denselben Politikern verbandelt waren, die den Krieg beschlossen und gerechtfertigt hatten.
Ja, entschied David zynisch, ein Mangel an Intelligenz war bei Weitem nicht der wichtigste Faktor, der jemanden von einem politischen Amt disqualifizieren sollte.
Jeder kannte sie, aber kaum einer wagte sie öffentlich zu erwähnen, die Existenz der Drehtür nämlich, der zwischen den politischen Positionen und den Großkonzernen, durch die Parlamentarier im Anschluss an ihre Amtsperiode direkt aus ihren politischen Büros in die Vorstandsetagen von Pharmariesen und Ölkonzernen wechselten, oder durch die Top-Manager sich direkt aus den Großbanken ins Polit-Karussell eindrehten und von dort aus dann als Nächstes in die -von der Finanzwelt gestützten- Denkfabriken, durch die sie dann wiederum zu prominenten Politberatern wurden oder auch zu Wirtschafts-Lobbyisten, um danach gleich wieder auf die politische Bühne zurückzukehren, und das Ganze immer und immer wieder im endlosen Kreisverkehr.
David's eigenes Karussell hatte sich wieder einmal in seinem Kopf zu drehen begonnen, während er an das Spiel mit den politischen Verbindungen dachte, die überall zu finden waren, sei es in den elitären Studentenverbindungen, wie der mit dem Totenkopf als Logo, oder innerhalb des weit größeren und wohl auch noch viel mächtigeren Klubs, in den sein Freund Ed ihn schon so lange versucht hatte zu rekrutieren.
Erst vor kurzem hatte David sich endlich selbst eingestehen müssen, welche Rolle sein eigener Berufsstand in diesem endlosen Beziehungsspiel einnahm.
Vor jeder Wahl beschlossen all die großen Medienkonzerne mit scheinbar einer einzigen Stimme, welche Leute diesmal ins helle Rampenlicht gerückt werden sollten. Und jedes Mal wurde beschlossen, dass nur diejenigen, die mit den 'richtigen' Verbindungen ausgestattet waren, dieses auch verdienten, dass sie also für ein politisches Amt qualifiziert waren.
Es waren deren Porträts, die Tag für Tag dem Wahlvolk präsentiert wurden. Grinsend wie auf einer Zahnpasta-Reklame, wurde diesen Auserwählten dann erlaubt ihre Sprüche zu klopfen und sie so lange zu wiederholen, bis Millionen von Fast-Food essenden Football-Fans glaubten, dass diese Country-Club Typen ihre besten Freunde von nebenan seien.
Wenn irgendeinem anderen Kandidaten dann doch ein wenig Aufmerksam geschenkt wurde, dann war das Licht, das auf ihn gelenkt wurde, dunkel und verzerrend.
Und aus dieser gesamten Klicken-Wirtschaft war dann ein gewisser Abiffsen in seine gegenwärtige Position aufgestiegen, und das mit der großangelegten Unterstützung von David's eigenem Blatt, das ihn praktisch als Superhelden feierte. Sie nannten ihn einen Idealisten, einen Reformer, einen Champion von Freiheit und Demokratie.
Und der ganze Rest der Pressemeute hatte diese Mantras kritiklos übernommen. So wurde Abiffsen zur rechten Hand des Präsidenten. Er kontrollierte sowohl die Außenpolitik als auch das Pentagon. Inzwischen hatte er mehr Einfluss gewonnen als der Verteidigungssekretär und das gesamte Auswärtige Amt, und offensichtlich sogar mehr als der Präsident selbst.
Abiffsen... David schauderte, Abiffsen der große böse Wolf im Schafspelz, der Mann, der die ganze Menschheit als seine Beute betrachtete, der Planer von politischem Massenmord.
David fühlte wie sich ihm der Magen umdrehte. Übelkeit stieg in ihm hoch.
Nein, nein, nein. Er würde jetzt nicht wieder an Abiffsen denken.
Es war so sinnlos, so durch und durch hoffnungslos, man konnte sich gegen ihn nicht wehren...
David schluckte wieder einmal, und dann riss er sich zusammen. Er versuchte den Faden von dem Gespräch mit Hope wieder aufzunehmen und antwortete dann, ein wenig verspätet:
Weil sie es sagen.“
Wer sagt was“, Hope war ein bisschen verwirrt, aber nur für eine Sekunde:
Oh, du meinst sie sagen selbst, dass sie qualifiziert sind, die Politiker in deiner Zeit.“
Und dann brach sie in Gelächter aus, und David schloss sich ihr an. Ja, dieses kleine Mädchen war schnell von Begriff, dachte er.
Und es fühlte sich so gut an, mit ihr zu lachen, einfach nur zu lachen über den ganzen Irrsinn, den es hier in seiner Zeit gab, nicht in Hope's :
Lügner und Betrüger wurden belohnt, Krieg wurde Friedenspolitik genannt und Friedensaktivisten als Terroristen abgestempelt, die Täter bei großen Finanzbetrügereien bekamen Millionen als Boni, während ihre Opfer ihr Zuhause, ihre Arbeit und ihre Pensionen verloren.
Und dann war da noch er selbst, David Ragnarsson, der Journalist, der sein ganzes professionelles Leben lang die Möglichkeit großer und geheimer politischer Verschwörungen geleugnet und als vollkommen irre dargestellt hatte, er hatte dann genau so eine Verschwörung aufgedeckt, eine, die so enorm war, dass sie unermessliche internationale Auswirkungen gehabt hätte.
Als er aber dann seine professionelle Integrität über seine Karriere gestellt und gegen den 'Rat' seiner Vorgesetzten gehandelt hatte, da wurde sein Bericht als 'fake news' verschrien. Um ihn dann noch unglaubwürdiger zu machen, wurden ihm außerdem noch eine Reihe anderer Falschmeldungen angehängt, all das, um ihn so zum größten Betrüger der amerikanischen Zeitungsgeschichte abzustempeln.
Und so war er auf die endgültige schwarze Liste geraten und zwar scheinbar überall auf der Welt, sogar im Heimatland seines Vaters, der kleinen kalten Insel ganz oben im Nordatlantik. Obwohl, wenn er wirklich ehrlich mit sich selbst war, dann musste David sich eingestehen, dass er nicht so ganz nüchtern gewesen war, als er sich dort letzten Monat telefonisch beworben hatte. Und diese Tatsache könnte vielleicht etwas mit der frostigen Antwort von dort zu tun haben.
Je mehr er über all das nachdachte, umso komischer erschien es ihm. Und so konnte David gar nicht aufhören zu lachen. Als er und Hope die U-Bahn Station erreicht hatten, kamen gerade ein Mann und eine Frau die Treppe herauf. Aber nachdem sie David's hysterisches Lachen von oben herunter hallen hörten, drehten sie sich beide schnell um, um einen anderen Ausgang zu benutzen.
David entschloss sich allerdings auch eines besseren und entschied sich, nicht die U-Bahn zu nehmen. Er wollte Hope noch viele Fragen stellen. Ihre Welt schien sich auf eine so faszinierende Weise von der David's zu unterscheiden. Er wusste, dass sie seine Gedanken lesen konnte, aber irgendwie fühlte es sich besser an, wenn er sie aussprechen konnte, und in einer vollbesetzten U-Bahn wäre das einfach zu peinlich gewesen.
Während er sich von der Treppe zur U-Bahn abwandte, fragte er Hope: „Wenn diese Repräsentanten aus deiner Welt keine Gesetze machen, was tun sie dann eigentlich?“
Sie organisieren Hilfe für Situationen“, war die Antwort.
Was sind das denn für Situationen?“ fragte er weiter.
Na zum Beispiel,“ führte Hope aus, „wenn die Leute, die am Meer leben, bemerken, dass ihre Kaimauer nicht hoch und stark genug ist, um bei Sturm eine Überflutung zu verhindern, oder auch die Leute an einem Fluss so etwas über ihre Dämme befürchten, dann werden die Repräsentanten das Problem untersuchen und die Möglichkeiten zur Reparatur oder zum Neubau vergleichen, und danach eröffnen sie einen Topf.“
Sie eröffnen einen Topf? Was heißt das denn, “ fragte David
Hope erklärte: „Also die Dörfer am Meer oder an dem Fluss haben oft nicht genug eigene Ressourcen und Leute, um so große Projekte durchzuführen, und deshalb müssen die anderen Dörfer ihres Distrikts oder ihrer Nation dazu beitragen, indem sie Intercoin in den Topf transferieren. Und Dörfer, die gerade wenige Intercoin haben, die schicken Freiwillige um zu helfen, und diese werden dann mit den Intercoin aus dem Topf bezahlt. Und die Intercoin der Helfer werden dann in ihrem Dorf gegen Dorfcoin ausgetauscht. Und so bekommen die Helfer Coin, um in ihrem Dorf einzukaufen, und das Dorf Intercoin um von anderen Dörfern etwas zu kaufen, und die Dörfer am Meer oder am Fluss werden sicher gemacht gegen Überflutung.“
Solche Zahlungen von Geld für Infrastruktur nennen wir bei uns Steuern“, stellte David klar und fragte weiter:
Aber was machen die Repräsentanten, wenn ein Dorf kein Geld in so einen Topf einbezahlen und auch keine Arbeiter schicken will? Wie können die Repräsentanten diese Steuerzahlungen erzwingen?“
Warum sollten sie das Einzahlen in den Topf erzwingen? Kein Dorf würde sich weigern an einem Projekt teilzunehmen – das wäre eine große Schande für die Menschen im Dorf. Und außerdem würden die anderen Dörfer mit so einem Dorf nie wieder Handel treiben.
Also ist es nicht nur der Gedanke an die Schande, die die Menschen dazu bringt ihre Steuerzahlungen zu leisten, es gibt auch ökonomische Gründe“ stellte David fest.
Ich denke schon“, gab Hope zu.
Das habe ich mir gedacht!“ David fühlte eine gewisse Befriedigung darüber, dass er sich in seiner Ansicht bestätigt sehen konnte. Seiner professionellen und persönlichen Erfahrung nach gab es niemanden, der irgendetwas ausschließlich aus reiner Herzensgüte tat. Und keine einzige Organisation, nicht einmal eine karitative, konnte sich allein auf Mitgefühl und Hilfsbereitschaft verlassen. Jedes Mal, wenn er die Dinge ein bisschen genauer unter die Lupe genommen hatte, dann war da ein Punkt der Gemeinsamkeit:
Was auch immer Menschen tun, das Hauptmotiv ist regelmäßig Selbstinteresse, sei es ein finanzieller Profit oder auch größerer Ruhm, Ehre und Einfluss.
Hope fuhr mit ihrer Erklärung fort: „Die Repräsentanten sorgen auch dafür, dass das Transport- und Informationssystem immer in gutem Zustand ist.“
Wieder erschien Hope's Klassenzimmer in David's Sichtfeld. Er hielt an und schloss seine Augen.
Dieses Mal war der Raum verdunkelt, und die Kinder standen in einem großen Kreis. Dreidimensionale Buchstaben schwebten über ihnen, die das Thema der Lektion als 'DAS TRANSPORT- UND INFORMATIONSSYSTEM' überschrieben. Unter dem Text stand Sensei, der ein paar Mal auf ein Smartphone-ähnliches Gerät tippte, welches auf seinem Handgelenk befestigt war, ein Gerät, von dem David jetzt wusste, dass es Armband-Controller genannt wurde.
Ein holographischer Bildschirm erschien nun über dem Arm des Lehrers. Er berührte die Symbole darauf, bis er Zugang zu den vier Projektoren hatte, die in den Ecken des Raums angebracht waren, um durch sie seine bereits vorbereitete Videolektion zu zeigen.
Daraufhin verschwanden die Buchstaben über dem Kopf des Lehrers, statt dessen erschien mitten im Raum eine Bahn. Diese näherte sich mit ihrem einzigen Wagen auf einer einspurigen Schiene langsam einer Plattform, die aus dem fünften Stock eines etwa zehnstöckigen Gebäudes hervorragte. Als sie ganz herangefahren war, erkannte David, dass die Bahn nicht direkt auf der Schiene fuhr, sondern über ihr schwebte.
Wem gehört diese Maglev?“ fragte Sensei seine Schüler. Durch die Verbindung mit Hope's Geist erfuhr David sofort, dass der Ausdruck 'Maglev' für 'magnetic levitation' also die Magnetschwebetechnik stand.
Er erinnerte sich daran, dass er von Modell-Projekten mit dieser Verkehrs-Technologie in den USA und in Europa gehört hatte, und dass in einigen asiatischen Ländern solche Züge bereits als reguläre Verkehrsmittel eingesetzt wurden.
Diese Maglev gehört unserem Dorf“ antwortete eine kindliche Stimme.
Das ist richtig, Jenny Chan. Und weißt du auch, wer diese Maglev repariert, wenn es nötig ist?“
Ja, das ist Mr Kelton's Reperaturwerkstatt,“ antwortete Jenny.
Und wer bezahlt Mr Kelton, Mr Denton, Ms Chen und Mr Abani und die anderen Leute, die in dieser Werkstatt arbeiten? Wer bezahlt sie für ihre Arbeit und für die Materialien, die sie für ihre Arbeit benötigen?“
Als Jenny zögerte, deutete Sensei auf das Mädchen neben ihr und sagte: „Sempai, kannst du bitte helfen?“
Das Mädchen, dessen Name eigentlich Marcella war, beugte sich hinunter und flüsterte Jenny etwas ins Ohr. Jenny lächelte und beantwortete dann die Frage:
Alle Leute in unserem Dorf zahlen dafür! Sie legen Coins in den Maglev-Topf, so dass die Reperaturen bezahlt werden können.“
Aber wie ich es euch bereits erklärt habe, “ erklärte der Lehrer weiter, „so besitzen nicht alle Dörfer so eine Maglev. Einige Dörfer benutzen ältere Transportmittel. Dort hat jede Familie ihr eigenes kleines Transportmobil, und das fährt dann auf Transportwegen auf dem Boden. Ebenso fahren die elektrischen Transportzüge der Distrikte dort auf dem Boden. Die Dörfer in diesen Distrikten sehen auch ganz anders aus als unser Dorf. Die Menschen dort leben in einzelnen Häusern und nicht in Wohnungsblöcken.“
Aber das Gebäude von unserer Nachtigallen-Hausgemeinschaft ist so wunderschön,“ protestierte ein kleines Mädchen namens Tania laut. „Wie können die Leute ein einzelnes Haus so schön machen? Ich würde nicht in so einem einzelnen Haus leben wollen.“
Sensei lächelte: „Ich bin sicher, dass den Menschen in diesen Dörfern ihre kleinen Häuser genauso gut gefallen, wie uns unsere Gebäude gefallen. Die Menschen der Welt leben alle an unterschiedlichen Orten, haben unterschiedliche Kulturen und deshalb auch unterschiedliche Ideen, von dem was schön ist.“
Tania schien nicht völlig überzeugt zu sein, aber Sensei fuhr nun mit seiner Lektion fort.
Er berührte seinen Armband-Controller, und der kleine Zug verschwand und machte einem größeren Platz, der mit mehreren Waggons hoch über eine Landschaft mit Wohnungsblöcken, Zelten, Bäumen und Wiesen fuhr.
Die Schiene war weit höher angebracht als die des Dorfzuges, aber die Technik schien dieselbe zu sein. Der Zug war mit rot-silbernen Streifen lackiert, und die großen Fenster waren etwas nach außen gewölbt, um den Passagieren darin eine gute Aussicht auf die Landschaft unter ihnen zu gewähren.
David erkannte nun, dass die Bilder, die Hope am Morgen, als er im Bad gewesen war, produziert hatte, Eindrücke von einer Reise in so einem Zug gewesen waren.
Ist jemand von euch schon in so einem Inter-Dorf Maglev gefahren?“ fragte Sensei.
Alle älteren Kinder und die meisten der jüngeren hoben ihre Hand.
Wisst ihr auch wem er gehört?“
Dieses Mal wedelte das kleine Mädchen, das neben Hope stand, mit ihrer Hand:
Ich weiß, ich weiß!“ rief sie.
In Ordnung, Cindy chan, du darfst es uns erzählen.“
Er gehört dem Distrikt, all den Menschen, die in unserem Distrikt leben.“
Und weil sie die nächste Frage schon voraussah, flüsterte Hope der kleinen Cindy bereits ins Ohr, und diese wiederholte laut: „Für die normale Nutzung zahlen die Passagiere mir ihren Tickets, aber wenn etwas kaputt ist, dann werden alle Dörfer darum gebeten, Coins in den Maglev-Topf zu legen.“
Das stimmt, Cindy chan,“ stimmte Sensei zu. „Und wie einige von euch bereits wissen, gehören nicht nur der Inter-Dorf Maglev, sondern auch die Reparaturwerkstatt dem Distrikt. Könnt ihr euch denken warum?“
Dieses Mal antwortete Cindy, ohne auch nur die Hand zu heben: „Weil es nicht fair wäre, wenn die Werkstatt nur ein paar Leuten in einem Dorf gehören würde. Diese Leute würden dann all die Intercoins verdienen von all den anderen Dörfern, die immer nur bezahlen müssten.“
Das stimmt, Cindy chan, “ erklärte Sensei.
Aber es geht um mehr als nur um Fairness. Das Transportwesen von Menschen und Gütern ist ein wichtiger Aspekt unseres täglichen Lebens. Wenn einzelne Menschen unsere wichtigsten Transportmittel besäßen, dann könnten sie unter Umständen den ganzen Handel und Verkehr lahmlegen oder zumindest große Hindernisse dafür schaffen. Und wenn jemand so etwas tun kann, wie wird das dann genannt?“
Cindy's Antwort kam diesmal sogar ohne Hope's Hilfe wie aus der Pistole geschossen:
Das nennt man Macht.“
Ja“, stimmte Sensei zu. „Das wäre eine enorm gefährliche Macht. Und wir glauben doch alle, dass niemand über so eine Macht verfügen sollte, stimmt‘s? Und deshalb gehört der Interdorf-Maglev, dessen Reparaturwerkstatt und dessen Schienen allen Menschen unseres Distrikts gemeinsam, so wie die Continental-Maglevs, deren Reparaturwerkstätten und Schienen allen Menschen der Nationen gehören, durch die diese Maglevs fahren.“
Die Projektion von dem rot-silbern gestreiften Zug wurde von einer mit einem blau-silbern-gestreiften ersetzt, der mit extrem hoher Geschwindigkeit auf einer noch höheren Ebene zu fahren schien. Und es war auch nicht mehr nur ein einzelner Zug. Da waren vier andere Maglevs, die gleichzeitig auf niedrigeren Ebenen fuhren. Die Züge auf den unteren Ebenen hatten allerdings keine Fenster. 'Gütertransport' stand über die unteren Teile des Hologramms geschrieben. Nachdem die langen Züge an den Schülern vorbeigezogen waren, wurde die Schienen-Konstruktion sichtbar, genauso wie eine andere, parallele fünf-spurige Schienen-Konstruktion, auf der jetzt fünf weitere Züge in die entgegengesetzte Richtung donnerten.
Während die Waggons rasant hintereinander an den Schülern vorbeizogen, fuhr der Lehrer mit seiner Lektion fort:
Die normalen Kosten, wie für die Instandhaltung der Schienen, werden wieder von den Tickets bezahlt, während zusätzliche Kosten aus den Spezialtöpfen bezahlt werden, für die unsere Repräsentanten zuständig sind. Es gibt 57 kontinentale Maglev Linien auf dem Nordamerikanischen Kontinent.“
Eine Karte erschien, auf der gerade Linien den Kontinent von Alaska bis zum Panamakanal durchzogen, von Osten nach Westen und vom Norden in den Süden. Die Kreuzpunkte waren gelb markiert.
Jede der 38 Nationen auf unserem Kontinent hat mindestens eine große Reparaturwerkstatt für die Schienen und für die Maglevs auf ihrem Territorium.
Wir brauchen aber auch ein Interkontinental-Transportwesen. Weiß jemand, was wir dafür benutzen?“
Dieses Mal war es ein kleiner Junge, der die Frage beantwortete: „Das sind Schiffe und Flugzeuge.“
Nachdem ihm der ältere Junge neben ihm die einzelnen Satzabschnitte ins Ohr geflüstert hatte, fügte der Kleine dann nach und nach in einem langsamen Ton hinzu: „Die Schiffe und die Flugzeuge gehören allen Menschen der Welt gemeinsam...Die meisten Kosten werden von den Tickets getragen...Aber neue Schiffe und Flugzeuge werden... mit Hilfe von Intercoin... aus den Spezialtöpfen gebaut... in die alle Dörfer der Welt einzahlen...“ Er atmete auf.
Das ist vollkommen richtig, Tommy chan,“ lobte der Lehrer und beide Jungen grinsten stolz.
Sensei fügte hinzu: „Die Töpfe und die Projekte zum Bau oder der Reparatur werden von unseren Repräsentanten vom Internationalen Hilfskongress organisiert, genau wie sie die Eisbrecher-Missionen und die Hilfe bei großen Naturkatastrophen koordinieren.
Wie ihr wisst, ist der Transport von Gütern und Menschen äußerst wichtig. Aber was wir eben so sehr benötigen, ist der Transport von Worten und Bildern.“
Die kleineren Kinder sahen jetzt ziemlich verwirrt aus, während die älteren grinsten. Einer von ihnen tippte dem kleinen Jungen neben sich auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr.
Oh, Sie meinen das Friedensnetz, Sensei,“ rief der kleine Junge dann überrascht.
Das ist richtig, Jimmy chan“ antwortete Sensei, „das Welt-Friedensnetz ist unser Werkzeug, um Worte, Ideen, Töne und Bilder zu transportieren, das ganze Spektrum der Kommunikation, um Informationen mit der ganzen Welt zu teilen. Das Friedensnetz ist entscheidend für das Wohlbefinden aller Bürger in allen Dörfern auf dem ganzen Planeten. Es ist vor allem unser wichtigstes Werkzeug dafür, den Frieden der Menschheit zu bewahren.
Und genau wie die Maglevs Schienen benötigen, so braucht das Weltfriedensnetz Kabel, Sender und Satelliten. Darum muss jemand auch für die Hardware des Friedensnetzes verantwortlich sein. Und deshalb gehören die Kabel den Menschen in den Distrikten innerhalb der verschiedenen Nationen, während die Unterwasserkabel, die durch die Ozeane verlegt wurden und die Satelliten, die im All um die Erde fliegen, den Menschen der ganzen Welt gemeinsam gehören, und aus diesem Grund vom internationalen Hilfskongress verwaltet werden.
Möchtet ihr eines Tages einmal eine Aufgabe im Transport- oder im Informationswesen erhalten?“
Auf die Frage ihres Lehrers hoben alle Kinder ihre Hand.
Dann wisst ihr, was ihr zu tun habt: Ihr müsst fleißig lernen und euch einen Spezialbereich heraussuchen, auf den ihr euch konzentriert. Ihr müsst euch darin in einem virtuellen Produktionsbetrieb so gut üben, dass ihr dann die Prüfung in eurem Spezialgebiet besteht.
Und dann und nur dann, könnt ihr euch auf die Liste für eine sechsmonatige Mission im Transport- oder im Informationswesen setzen. Natürlich müsst ihr dann immer noch ein bisschen Geduld haben, weil es viele Leute auf dieser Liste gibt. Aber eines Tages, kommt auch ihr an die Reihe.“
Ich will einen neuen Satelliten bauen, der ganz hoch oben im Weltall fliegt, und immer, immer wieder um die Erde kreist, “ piepste die aufgeregte Stimme des kleinen Tommy.
Du weißt doch, Tommy-chan, dass die Kabel genauso wichtig für unser Informationssystem sind wie die Satelliten. Aber sicher, wenn du das wirklich willst, dann, incha-Allah, wirst du eines Tages mithelfen, einen solchen Satelliten zu bauen.“
Das Klassenzimmer verschwand und wurde von der gegenwärtigen Hope ersetzt, die sagte:
Das sind die normalen Situationen, in denen die Repräsentanten arbeiten, sie helfen in Zeiten von Naturkatastrophen und sie verwalten das Transport- und Informationssystem.
Manchmal müssen einige von ihnen auch zu Vermittlern werden. Wenn es Probleme zwischen verschiedenen Dörfern gibt, dann werden diese Repräsentanten zu Friedensbewahrern. Diese Vermittler helfen denen, die Probleme haben, dass sie besser miteinander reden können, so lange bis die Dörfer einen vernünftigen Kompromiss ausgehandelt haben.
Aber eigentlich ist es nur sehr selten notwendig, dass die Repräsentanten als Vermittler gebraucht werden, meint Sensei. Normalerweise können die Dörfer ihre Probleme mit anderen Dörfern ganz ohne Hilfe von außen lösen.“
Plötzlich verdunkelte sich jedoch Hope‘s Miene wieder, und David spürte, dass sie etwas tief bedrückte. Aber was auch immer das war, Hope unternahm große Anstrengungen ihre Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, um damit fortzufahren, David das politische System ihrer Welt weiter zu erklären:
Aber was auch immer die Repräsentanten tun, selbst als Vermittler haben sie keine Macht, Gesetze zu schreiben oder über andere zu regieren oder sie zu zwingen etwas zu tun, was sie nicht tun wollen. Wir glauben, dass die Macht zu regieren für den Geist des Menschen gefährlich ist. Sie kann dich in den Wahnsinn treiben.“
Und wieder erschien Hope‘s Klassenzimmer. Ihr Lehrer redete und die Klasse hörte aufmerksam zu.
Die Konzentration von Macht in menschlichen Institutionen und der Frieden für die Menschen, die von diesen Institutionen beherrscht werden, stehen in einem vollkommenen Gegensatz. Sobald die Macht über viele in einer Gruppe von wenigen konzentriert wird, kann es keine Gerechtigkeit mehr für irgendjemanden geben. Denn wenn die Macht den Geist beherrscht, dann geht das Mitgefühl verloren, und das Erste Prinzip wird vergessen.
In den Dunklen Zeiten hat ein weiser Mann einmal gesagt:
-Macht neigt dazu den Menschen zu korrumpieren, absolute Macht aber korrumpiert ihn immer.-“
Sensei drückte wieder einmal auf den Bilderzeuger an seinem Armbandcontroller.
Das holographische Bild eines ganz gewöhnlich-aussehenden Zeichentrickmannes in einem Anzug erschien. Er war gerade angestrengt dabei, mehrere steile Stufen zu einem hohen Podest zu erklimmen. Über ihm schwebte bedrohlich eine Art dunkles Rauchmonster mit einem riesigen pausbäckigen Gesicht und einem dicken Körper. Mit jedem Schritt nach oben, den der Mann nahm, vergrößerte sich das Monster, dessen vorstehende Augen immer durchdringender wurden und dessen Mund sich zu einem bösartigeren Grinsen verzerrte.
Als der Mann die oberste Stufe erreicht hatte, drehte er sich um. Er stand nun vor einer großen Menge von Zeichentrickmenschen, die sich unter dem Podest duckten.
Das riesige Monster hatte jetzt mit seinen Händen den Kopf des Mannes umrahmt, und dessen vorher so normales Gesicht war in die Kopie der Fratze des Monsters verwandelt worden. Aus seinem rechten Ärmel wuchs nun der Schaft einer neunschwänzigen Peitsche, die er mit beiden Händen umfasste, um sie rhythmisch über die Köpfe der Menschen unter ihm zu schwingen, wobei er diejenigen ins Gesicht peitschte, die sich nicht schnell genug niederbeugten.
David konnte nun ein unheimliches und wahnsinnig-anmutendes Gelächter vernehmen, das gleichzeitig von dem Monster und dem Mann ausging...
Autsch!“ schrie David auf, denn etwas hatte ihn am Rücken getroffen.


***




In dem Raum gibt es nichts zu sehen außer einem schmalen Sofa, einem Stuhl und einem Tisch. Es ist dort auch niemand im Zimmer, es ist menschenleer; aber nicht für mich.
Ich sehe sie noch genau, wie so dort in dem Bett liegt, kaum in der Lage den Kopf anzuheben.
Es war vor vier Monaten, als Mr. Tanner mich auf der Straße getroffen hat. Er hatte ein falsches Lächeln gespielter Überraschung aufgesetzt, als er rief: „Hallo Jonathan, ich habe dich ja schon so lange nicht mehr gesehen. Was machst du denn so? Komm, wir wollen einen trinken gehen, du bist ja jetzt schon erwachsen genug für so ein Gläschen.“
Mit diesen Worten öffnete Mr. Tanner die kleine Einkaufstasche, die er mit sich trug, einen Spalt breit, damit ich einen kurzen Blick auf seinen Verzerrer darin werfen konnte.
Ohne zu zögern folgte ich daraufhin Mr. Tanner in die Kneipe an der nächsten Ecke. Es war ein ziemlich dunkler Raum, gefüllt mit dem Gestank von billigem Fusel gemischt mit dem Schweiß der Kunden. Keiner von ihnen sah auf, als Mr. Tanner uns am Tresen zwei Bier bestellte, und wir uns dann in die dunkelste Ecke der Kneipe zurückzogen.
Nachdem wir das bestellte Bier bekommen hatten, stellte Mr. Tanner seine Tasche auf den Tisch und öffnete sie wieder einen Spalt, um darin einen Knopf zu betätigen. Sofort hörte ich dann das mir so gut vertraute Summen und Zischen der Maschine. Erst dann ließ Mr. Tanner die Bombe platzen:
Deine Mutter lebt noch, Jonathan. Sie ist in einem der Venusprojekte deines Vaters.“
Es war, als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren. Der ganze Raum begann zu schwanken, und mir wurde schwarz vor Augen.
Nein,“ presste ich hervor, „das ist unmöglich...“
Aber tief in meinem Innern wusste ich bereits, dass es sehr gut möglich sein könnte, ja, dass es wahr war.
Wut stieg in mir hoch, eine Wut, an der ich fast erstickte. Ich packte Mr. Tanner am Ärmel. Nur die vielen Jahre der Übung mit dem Verzerrer verhinderten, dass ich ihn laut anschrie. Und darum kam meine wütende Frage instinktiv als ein Flüstern:
Warum hast du mir das nicht früher gesagt?“
Ich hatte auch keine Ahnung davon“, flüsterte Mr. Tanner zurück. „Ich habe es erst letzte Woche erfahren.“
Mr. Tanner legte seine Hand beschwichtigend auf die meinige, um mich daran zu hindern, eine öffentliche Szene zu machen. Dann erklärte er mir in seinem gewöhnlich ruhigen Ton:
Dein Vater hatte seinen Leuten den Befehl erteilt, dass du niemals wieder etwas von ihr hören solltest, und dass dir auch unter keinen Umständen erlaubt werden sollte, dieses bestimmte Projekt zu betreten. Aber Freunde von mir haben Gerüchte gehört. Daraufhin haben sie Nachforschungen angestellt und in Erfahrung gebracht, wo sich deine Mutter aufhält.
Sie haben auch herausgefunden, dass der Geschäftsführer in dem Projekt dort Coin braucht, wie andere die Luft zum Atmen, und dass er darum seine Finger tief in die Kasse des Projekts gesteckt hatte und zwar mehr als einmal. Darum hatten wir dann auch keinerlei Probleme, ein bisschen Druck auf ihn ausüben zu können. Heute Abend wird der Mann dich am Hintereingang empfangen.”
Und genau wie der Geschäftsführer heute, so führte auch der, den Mr. Tanner erpresst hatte, mich in den Keller. Dann öffnete er die Tür zu dem schlecht beleuchteten Raum. Das wenige Licht, das durch die kleinen vergitterten Fenster drang, zeigte mir kahle graue Wände und die wenigen armseligen Möbelstücke.
Und da habe ich sie dann wiedergesehen...nach 15 Jahren.
Erst erkannte ich sie gar nicht, die abgemagerte alte Frau, die auf dem niedrigen, schmalen Bett lag. Ihr Kopf wurde von Kissen hochgehalten, so dass die junge Frau, die auf einem Hocker neben dem Bett saß, sie mit einem Löffel füttern konnte.
Aber sie erkannte mich sofort.
Thani“, rief sie und benutzte den Kosenamen, den ich seit 15 Jahren nicht mehr gehört hatte. „Mein kleiner Thani!“
Und das war es dann. Die Stimme war so schwach, aber es war immer noch ihre, so sanft, so liebevoll. Für einen Augenblick war ich wieder ein kleiner Junge:
Mama“, rief ich laut. „Mama!“
Die junge Frau auf dem Hocker drehte sich um. Und der Teller, den sie in der Hand hielt, rutschte ihr aus den Fingern und landete auf dem Fußboden. Er war aus Plastik, so dass er nicht zerbrach, aber der Inhalt spritzte über den ganzen Boden.
Das war mir egal. Ich trat einfach in den Matsch hinein und kniete mich vor das Bett, damit ich meine Mutter umarmen konnte. Ich hielt sie fest, und sie streichelte meine Haare, so wie sie es immer getan hatte, damals vor so vielen Jahren.
Ich weinte.
Schau Luscinia, das ist mein Sohn, Jonathan,,“ stellte mich meine Mutter der jungen Frau vor, die aufgestanden war und mit einem Ausdruck völliger Ungläubigkeit auf uns herabschaute.
Ich habe dir doch gesagt, dass er eines Tages kommen würde, “ fügte sie hinzu.
Aber ich ignorierte Luscinia völlig und redete allein mit meiner Mutter: „Ich dachte, du wärst tot. Er hat mir gesagt, dass du...“
Ja, ich habe immer gewusst, dass es so etwas ähnliches sein musste,“ die Stimme meiner Mutter hatte einen ruhigen Tonfall, ohne den Hauch von Überraschung oder Zorn, „anders hätte er das nicht machen können. Aber jetzt bist du hier, Thani, und das ist alles, was zählt...“
Ich reiße mich gewaltsam aus den Erinnerungen heraus. Ich kann es mir nicht leisten, in ihnen zu verweilen. Ich muss mich jetzt konzentrieren.
Der Geschäftsführer sieht mich bereits so an als frage er sich, was ich an diesem leeren Raum eigentlich so interessant finde. Ruhig erwidere ich seinen Blick, gebe ihm ein Zeichen der Zustimmung und folge ihm dann nach oben. Nachdem ich ihm versichert habe, dass er mich bald als Kunden wiedersehen würde, verlasse ich das Projekt, um mich Darryl anzuschließen, der außer Sichtweite auf mich gewartet hat, und mir nun ein Zeichen gibt, dass draußen alles in Ordnung ist.


***


David sprang zur Seite und entdeckte, dass es ein Einkaufswagen war, der ihn da angefahren und fast auf die Straße befördert hatte. Der Wagen war gefüllt mit Papier- und Plastiktüten aus unterschiedlichen Läden. Und was aus den Tüten herausragte, waren meist Schuhe und Kleider. In einem Beutel konnte er einen eingerollten Teppich erkennen. Und in einem anderen zeugten die Klappergeräusche von Töpfen und Besteck.
Die Frau, die den Einkaufswagen schob, machte keinerlei Anstalten sich zu entschuldigen. Sie sah David nicht einmal richtig an, stattdessen schob sie den Wagen einfach geistesabwesend weiter, wobei sie in einer monotonen Stimme vor sich hin redete:
Ein Mann steht mitten auf dem Weg und träumt, ein Mann schreit laut auf, ein Mann dreht sich um, ein Mann bleibt stehen, ein Mann schaut hin...ein Mann steht mitten auf dem Weg und träumt...“
Die Frau trug eine alte Wollmütze über einer Mähne von langen grauen Haare und einen langen zerknautschten braunen Mantel, unter dem schwarze Stiefel zu sehen waren. Sie tönte weiter ihren Monolog vor sich hin, während sie den Einkaufswagen, in dem offensichtlich ihre gesamte weltliche Habe untergebracht war, an David vorbei vor sich herschob.
David rieb sich den schmerzenden Rücken und fühlte sich ganz schön verärgert.
Sie ist so wie Mr. Johnson, stimmt‘s?“ fragte Hope.
Nein, nicht wie Mr. Johnson, die da ist gefährlich“, meinte David.
Wirklich?“ Hope grinste und imitierte die alte Frau: „Ein Mann steht mitten auf dem Weg und träumt...“
In Ordnung“, lachte David, „ich denke mal, wenn du mir noch mehr von deiner Welt zeigen willst, dann muss ich einen Ort zum Hinsetzen finden, damit ich mir das in Frieden anschauen kann. Nach ein paar Blocks kommen wir zum St. Francis Park. Da gibt es Bänke alle paar Meter den Weg entlang.
Dahinter wäre dann eine Bushaltestelle für den BxM4. Mit dem Bus kommt man den ganzen Weg bis nach Manhattan. Unterwegs kannst du die berühmtesten Sehenswürdigkeiten New-Yorks bewundern. Ich bin sicher, so eine Bustour würde dir besser gefallen als die U-Bahn.“
Ich habe Bilder davon gesehen, wie unser Distrikt in deiner Zeit ausgesehen hat,“ erwiderte Hope voller Vorfreude, „aber das Ganze in echt anzuschauen, ich meine mit dir dort zu sein, das ist bestimmt ganz anders!“
Bilder zu sehen und die Wirklichkeit des 'Big Apple' der großartigsten Stadt der Welt, das kann man doch gar nicht vergleichen,“ meinte David voller Lokalstolz. „Aber das, was ich aus deiner Zeit gesehen habe, diese Szenen aus deinem Klassenzimmer oder von deinem Zuhause und aus dem Labor deines Onkels, die kommen aus deiner Erinnerung, stimmt‘s?“
Hope nickte.
Und David kommentierte weiter: „Dann hast aber ein unglaublich präzises Erinnerungsvermögen. All die Details, wie alles aussieht und was die Leute Wort für Wort sagen...es ist als ob man einen Film sieht.“
Hope nickte wieder und erklärte dann: „Ich habe das ganz spezielle Talent einer guten Erinnerung, Wenn ich mich auf das konzentriere, was um mich herum passiert, dann erinnere ich mich später an jede Einzelheit, und ich vergesse sie nie wieder. Nicht viele Leute haben diese Fähigkeit. In unserem Dorf sind es nur mein Großonkel Professor und ich.“
Dann fügte sie fast ein bisschen sehnsüchtig hinzu: „Aber manchmal wünschte ich, ich hätte diese Fähigkeit nicht, und ich könnte einige Sachen vergessen.“
Du hast ein fotografisches Gedächtnis“, stellte David fest. „Ich habe gehört, dass das sowohl ein Segen als auch ein Fluch sein kann.“ David dachte dabei an einen bestimmten leicht gestörten Fernsehdetektiv.
Hope schüttelte entschieden den Kopf: „Nein, nein kein Fluch! Man bekommt seine Talente nicht als Fluch – immer nur als Segen. Du weißt nur nicht immer sofort, wie du sie richtig einsetzen sollst.“
David seufzte und fühlte wieder einmal den Graben zwischen ihnen. Er zuckte die Achseln und fragte stattdessen: „Aber wenn das deine Erinnerungen sind, warum kann ich dich selbst denn darin sehen, anstatt dass ich einfach nur durch deine Augen blicke?“
Ja, das ist schon merkwürdig“, stimmte Hope ihm zu. „Ich kann mich auch selbst in meinen Erinnerungen sehen. Vielleicht hat das etwas mit dem Deltawellen-Reisen zu tun. Ich kann dich hier auch ganz klar vor mir sehen, so als ob ich neben dir stehe oder gehe, obwohl ich eigentlich doch in deinem Gehirn bin und deine Zeit mit deinen Augen sehen sollte.
Vielleicht lassen die Delta-Wellen eine Barriere zwischen uns entstehen, so dass wir unsere Gehirne nicht verwechseln. Wir sind immer noch getrennt, du bist immer noch du und ich bin immer noch ich. Und es sieht so aus, als ob auch ein Unterschied bestände zwischen mir hier in deiner Zeit und mir in den Erinnerungen aus meiner Vergangenheit. Ich wünschte, ich könnte Großonkel Professor fragen, der wüsste das besser.“
Du machst das sehr gut“, versicherte ihr David. „Ich denke, ich würde es auch nicht besser verstehen, wenn dein Großonkel es mir erklären würde. Dieses Konzept vom Bewusstseinsreisen oder vom Zeitreisen, das ist mir immer noch so fremd. Es ist schwer für mich, es richtig zu begreifen.“
Für mich ist es auch das erste Mal. Ich lerne noch, “ sagte Hope mit einem entschuldigenden Lächeln.
David lächelte zurück. Trotz all ihrer Unterschiede fühlte er eine wachsende Zuneigung zu diesem kleinen Mädchen. Der Gedanke an eine fünfmal entfernte Urenkelin sollte eigentlich keine Familiengefühle in ihm erwecken. Und doch, die Wirklichkeit dieses Mädchens vor ihm, sie tat es. Der Kontrast von starken Emotionen und bereitwilliger Freundlichkeit war anziehend, und die Mischung von Intelligenz, Unschuld und Ehrlichkeit war herzerwärmend.
Ja, sie war wirklich Familie für ihn!
David fühlte, wie die Taubheit der letzten Wochen von ihm wich. Er hatte wieder Interesse am Leben, er hatte einen Grund zu leben: Er wollte jedes, auch das winzigste Detail von Hope's Zeit und Welt erfahren, ganz gleich wie unverständlich ihm diese Welt auch erschien. Und selbst wenn er die Richtung, in die sich die Dinge in der Zukunft entwickelt hatten, vielleicht nicht guthieß, er wollte trotzdem alles wissen. Denn Hope gehörte zur Familie, und er wollte sie verstehen.
So fragte er sie weiter aus: „Ist dein Lehrer ein Muslim? Ich habe gehört, wie er Incha'Allah gesagt hat, aber wenn ich mich Recht erinnere, dann trägt er dasselbe Symbol auf der Brust wie du.“
Sensei Thomsen ist ein Christ, so wie ich,“ erklärte Hope, „aber 'incha'Allah' bedeutet 'wenn Gott will'. Das ist Interlingua – alle Leute sagen das.“
Dann denke ich mal, das Wort Sensei ist auch aus der Interlingua-Sprache, denn dein Lehrer sieht mir auch nicht sehr japanisch aus“, vermutete David.
Hope nickte: „Wir benutzen viele Inerlingua Worte in der Schule. Sensei bedeutet Lehrer und Sempai heißt älterer Klassenkamerad und Chan bedeutet, jüngerer Schüler. Seit letztes Jahr bin ich ein Sempai und Cindy ist mein Chan.“
Dein Chan?“ fragte David
Ja, mein kleiner Schüler. In den ersten fünf Jahren deiner Schulzeit bist du ein Chan – aber im sechsten Jahr wirst du ein Sempai, und ein Schulkind aus dem ersten Jahr wird dir zugeteilt. Cindy wurde mir zugeteilt.“
Ich kümmere mich um ihr Lernen. Ich bringe ihr das Lesen, das Schreiben und das Rechnen bei. Ich habe ihr auch gezeigt, wie man im Hühnerstall arbeitet, wie man die Hühner füttert und wie man ganz vorsichtig die Eier einsammelt. Cindy ist eine wirklich gute Schülerin, die ganz schnell lernt“ erklärte Hope stolz.
Und weil Cindy keine älteren Geschwister hat, die sich um sie kümmern könnten und keine jüngeren, mit denen sie spielen könnte, darum folgt sie mir auch nach der Schule. Sie spielt mit Sissy und Lillebro, und ich muss ihr die ganz normalen Sachen im Leben beibringen. Wie zum Beispiel letztes Jahr, kurz nachdem sie mit der Schule angefangen hat...“
Eine neue Szene begann sich vor David's Augen zu formen.
Warte“, rief er. „Ich muss zuerst zu der Bank.“
Die Szene verblasste wieder, als er begann zur ersten Parkbank zu rennen. Er ließ sich auf sie fallen und schloss seine Augen.
Und wieder wurde David Zeuge von einer von Hope's Erinnerungen, eine dreidimensionale Projektion, die so klar war, als ob David selbst dort an der Tür zu der Bäckerei stand, gemeinsam mit Hope und der kleinen Cindy.
Der Ladenbesitzer, ein Mann um die sechzig, der eine weiße Schürze über dem -David schon gut bekannten- violett-glitzernden Anzug trug, stand hinter einer Glastheke, unter der durchsichtige Regale eine große Menge von unterschiedlichen Torten und Backwaren präsentierten. Beim zweiten Blick erkannte David jedoch, dass dies nur holografische Abbildungen waren und hinter jeder Sorte die ungefähre Zeit, die benötigt wurde um das Backwerk herzustellen, vermerkt war. Auf die Holzregale hinter dem Bäcker waren allerdings echte Brote und Brötchen gestapelt.
Assalamu alaikum, Mr. Wang,” begrüßte Hope den Ladenbesitzer. David hörte, wie die gegenwärtige Hope ihm ins Ohr flüsterte: „Das bedeutet 'Friede sei mit dir'“
Wa alaikum assalaam, Hope and Cindy,“ antortete der Bäcker. „Was kann ich euch anbieten?“
Er hat gesagt, 'und mit dir sei auch Friede',“ übersetzte Hope wieder, indem sie versuchte David's unausgesprochene Fragen vorherzusehen. Aber David kannte die Bedeutung der Worte bereits und dachte eigentlich über das Radsymbol nach, welches nur teilweise von der Schürze des Bäckers verdeckt wurde. Gemäß Hope's Erklärungen bedeutete es, dass der Mann ein Buddhist war.
Ich hätte gern zwei Pfund Mischbrot mit Sonnenblumenkernen“, antwortete Hope dem Bäcker.
Das ist das, was du immer nimmst, und es ist auch eine gute Wahl,“ antwortete die raue Stimme von Mr. Wang, die seine freundlichen Worte fast schon Lügen strafte.
Ich werde es für dich schneiden“, fügte er hinzu, während Hope ihm einen Stoffbeutel reichte, den sie mitgebracht hatte. Das Brot schien Sauerteig aus einer Mischung von Weizen- und Roggenmehl zu enthalten. Es war ein Brot, wie man es nur in einer deutschen Bäckerei bekam. David lächelte, er freute sich, dass zumindest bei Brot er und Hope denselben Geschmack hatten.
Welche Summe von Coin möchten Sie dafür haben, Mr. Wang?“ fragte Hope.
Nachdem er das Brot geschnitten und in den Beutel gefüllt hatte, antwortete der Bäcker: „Ich hätte gern vier Coin für das Brot, bitte.“
Aber das ist zu wenig für so ein gutes Brot“, antwortete Hope. „Ich gebe Ihnen fünf Coin.“
Aber das ist zu viel“, entgegnete der Bäcker.
Und ich bestehe darauf“, erklärte Hope mit fester Stimme.
Vielen Dank, das ist sehr großzügig,“ sagte der Bäcker und nahm von Hope eine goldene Münze entgegen, die er dann in eine altmodische Kasse steckte, die sich mit einem Glockenklang geöffnet hatte und aussah, als sei sie aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
David hörte die andere Hope in seinen Gedanken flüstern: „Alle Läden und Gaststätten in unserem Dorf haben so eine Kasse. Mr. Hennessy hat eine davon von einer Europareise mitgebracht. Und als er sie dann in seinem Laden benutzte, da waren alle Touristen, die unser Dorf besuchten, davon begeistert. Darum hat Mr. Allen die Kasse für alle anderen Kaufleute kopiert. Die sind jetzt eine Besonderheit unseres Dorfes. Die sehen doch aus, wie die Kassen, die in deiner Zeit benutzt wurden?“
Ein bisschen vor meiner Zeit“, murmelte David. Aber eigentlich dachte er viel mehr über dieses sonderbare Verkaufsgespräch nach, das der Bäcker mit der anderen Hope geführt hatte, während er nun beobachtete, wie Mr. Wang ihr die Münze wieder zurückgab.
Es schien sich also nicht um eine Bargeldkasse zu handeln. Und die Münze war anscheinend eher so etwas wie eine Kredit- oder eine Kontokarte.
Jetzt war die kleine Cindy an der Reihe. Sie zog ihre eigene Münze aus der Tasche und sagte: „Ich hätte gerne ein süßes Panini.“
Mr. Wang nahm ein Brötchen aus dem Regal und gab es Cindy; „Bitte schön.“
Welche Summe von Coin möchten Sie dafür?“ fragte Cindy, so wie es Hope zuvor gemacht hatte.
Zwei Coin, bitte“ antwortete Mr. Wang.
Aber das ist viel zu wenig für so ein gutes Panini. Ich gebe Ihnen fünf Coin,“ entgegnete Cindy mit vollem Mund, da sie von ihrem Brötchen bereits abgebissen hatte, wobei sie ihre Münze mit der anderen Hand hochhielt.
Nein, nein Cindy, das ist viel zu viel“, antwortete Mr. Wang mit strenger Stimme. „Du kannst mir zwei und ein halb Coin dafür geben.“
Aber ich bestehe darauf,“ sagte Cindy laut und klar, nachdem sie schnell ihren ersten Bissen heruntergeschluckt hatte. „Ich bin großzügig.“
Aber ich bestehe noch mehr darauf“, erwiderte Mr. Wang und nahm Cindy's Münze entgegen, um sie in die Kasse zu stecken. „Du bist großzügig, aber du kannst nicht gut genug rechnen. Hope, bist du nicht Cindy's Sempai, wäre es nicht deine Aufgabe, ihr das beizubringen?“
Aber Mr. Wang,“ versuchte sich Hope zu rechtfertigen, „Cindy hat doch erst gerade mit der Schule angefangen, Prozente auszurechnen ist noch zu schwierig für sie.
Sie hat aber auch schon angefangen im Hühnerstall zu arbeiten, oder nicht?“ Mr. Wang's Stimme war hart und herrisch. „Wenn sie Geld verdienen kann, dann muss sie auch lernen Handel zu treiben. Und es ist deine Aufgabe, es sie zu lehren!“ Dabei gab er Cindy ihre Münze zurück, während Hope, peinlich berührt, knallrot im Gesicht wurde.
David fühlte Ärger in sich aufsteigen, als er diese Szene beobachtete. War dieser Mr. Wang so etwas wie eine Mathe-Polizei. Wie konnte man nur so gemein zu den beiden kleinen Mädchen sein.
Gleich hinter Hope und Cindy hatten zwei ältere Frauen den Laden betreten, die das Ganze auch mit angesehen hatten und nun zu Mr. Wang's Worten nickten.
Eine der Frauen war wie Hope und die meisten anderen Leute gekleidet, die David bis jetzt gesehen hatte, die andere hatte zwar Kleidung in der gleichen Form aber nicht in der gleichen Farbe. Ihr Outfit war von einem schimmernden hellgrün.
In Ordnung, Mr. Wang, das werde ich tun,“ sagte Hope schnell und versuchte Cindy aus dem Laden zu ziehen, nur um von einer der Frauen aufgehalten zu werden: „Hope, wenn du später deine Großmutter siehst, kannst du ihr bitte ausrichten, dass der Frauenverein sich heute Abend bei Ms Alba trifft? Und wenn sie bitte ihre Spezial-Kekse mitbringen würde, dann wäre das wirklich schön.“
Ich werde das meiner Großmutter sofort ausrichten,“ versprach Hope. „Bless Ms Higgins! Bless Ms Alba,“ beendete sie schnell das Gespräch und war auch schon aus der Tür, um so schnell wie möglich eine größtmögliche Distanz zwischen sich und die Bäckerei zu legen.
David hatte erkannt, dass 'Bless' ein Ausdruck für 'Tschüss' in Interligua war. Aber er fragte sich, ob das wirklich aus dem Isländischen kam, wo er es so viele Male als Kind gehört hatte, schloss diese Möglichkeit dann aber aus. Warum sollten die Leute der Zukunft in ihrer Weltkommunikation Worte aus einer so wenig gesprochenen Sprache benutzen.
Hope und Cindy gingen jetzt einen langen und breiten Balkon entlang, der auf der obersten Etage in diesem zehnstöckigen Block gelegen war.
Die Bäckerei war nur eine von einer ganzen Reihe von kleinen Läden. Hope und Cindy begegneten mehreren Erwachsenen, die alle beim Einkaufen waren. Jeden von ihnen begrüßten die Mädchen mit einem 'Salaam', das mit einem Nicken und einem Lächeln beantwortet wurde. Nicht weit von der Bäckerei schien so etwas wie eine Apotheke zu sein, jedenfalls war dieses Wort auf das Schild über dem Eingang gemalt. Das Geschäft glich allerdings eher einem chinesischen Kräuterladen. So wie der Eingang der Bäckerei mit Wandmalereien von Kuchen und Torten dekoriert war, so war auch der Eingang dieses Ladens mit Wandmalereien geschmückt. Diesmal waren es exotische Pflanzen.
Durch die offene Tür konnte David entlang der Wand Regale voller Gläser gefüllt mit getrockneten Pflanzen erkennen. Und vor der Tür standen eine Reihe von Blumentöpfen, in denen die unterschiedlichsten Pflanzen wuchsen. Die meisten davon hatte David noch nie gesehen. Ein paar davon aber, wie beispielsweise die weiße Kamillenblume, erkannte er doch.
Ist das wirklich die Art, wie sie in der Zukunft ihre Medizin herstellen werden, fragte sich David, wie bei den Kräuterhexen im Mittelalter und den Quacksalbern des vorletzten Jahrhunderts?
Aber er hatte keine Zeit mehr darüber nachzudenken, denn Hope und Cindy waren längst an der sonderbaren Apotheke vorbeigelaufen. Sie gingen jetzt an einem kleinen Restaurant entlang, das ein älterer Mann gerade mit einem Tablett auf dem Arm verließ. Der Mann war wieder im selben Stil wie Hope bekleidet, die Farbe seines Anzugs war allerdings von einem dunklen Blau, dieselbe Farbe wie sie einige der Kinder in Hope's Klasse getragen hatten.
Mr. Jennings ist aus der Delphin-Hausgemeinschaft,“ flüsterte die andere Hope in David's Gedanken. „Er kauft sein Abendessen immer im Restaurant von Ms Daniel aus unserer Hausgemeinschaft. Aber Ms Higgins aus der Reh-Hausgemeinschaft kauft nur bei uns ein, wenn sie ihre Freundin Ms Alba besucht.“
Mr. Jennings stellt sein Tablett in eine Kiste mit zwei fetten kurzen Beinen, die vor der Tür gestanden hatte. Er drückte auf einen Knopf, und die Kiste begann langsam ein paar Schritte vorwärts zu watscheln, um sich dann selbst auf die Schiene zu hieven, die entlang des ganzen Balkons angebracht war. Die Beine der Kiste verwandelten sich nun in Stromnehmer, die sich um die Schiene schlossen, und sie begann langsam darüber zu schweben, so dass David erkannte, dass das ganze Konstrukt auf derselben Technik basierte, wie die Magnetbahnen, die er zuvor in Hope's Unterricht gesehen hatte.
Als Mr Jennings und seine schwebende Kiste an ihnen vorbei waren, stieg Hope selbst über die Schiene, um zum Rand des Balkons zu gelangen, wobei sie Cindy hinter sich herzog. Die Balkoneinfassung bestand aus einer Plastikwand, die höher war als Hope selbst, aber gleichzeitig auch völlig transparent, so dass sogar kleine Kinder eine perfekte Aussicht auf ihre Umgebung hatten.
Dort wo die Kinder jetzt standen, gab es eine kleine Einbuchtung mit einer Bank, die offensichtlich dazu gedacht war, dass Leute dort verweilen konnten, um die Aussicht zu genießen. David konnte von dort aus knapp ein Dutzend ähnlicher Wohnblocks sehen, die einen großen Platz einschlossen. Die Gebäude standen etwa 50 Meter auseinander, waren aber an ihren schmalen Seiten durch transparente Brücken verbunden, die vom obersten Stockwerk jedes Gebäudes abgingen.
Was David besonders faszinierte war die Leidenschaft, die diese Leute für Wandmalereien zu haben schienen. Nicht nur waren die Wände um jede Eingangstür herum mit solchen Bildern dekoriert, und zwar bei Privatwohnungen genau wie bei Geschäften, sondern es waren auch die schmalen Seiten der gesamten Gebäude mit riesigen Wandgemälden versehen.
Das Gebäude zur Linken von David aus gesehen, war mit dem Bild einer Berglandschaft bemalt, über die mehrere Adler kreisten. Das Gebäude rechts von ihm schmückte ein Abbild tosender Meereswellen, aus denen gleichzeitig zwei Delphine-große Tropfen um sich sprühend- hervorsprangen.
Außer durch die Brücken waren die Gebäude auch durch die Schienen des kleinen Maglev-Zugs verbunden, der auf der fünften Etage in der Mitte jedes Gebäudes eine hervorstehende Haltestelle hatte. Nach dem Kreis entlang der großen Gebäude, machte die Schiene einen weiteren Spiral-Kreis innerhalb des Platzes, auf dem eine ganze Reihe kleiner zeltartiger Gebäude standen, wo dann durchsichtige Aufzüge zu den Haltestellen über ihnen führten, bis die Schiene dann über dem Zentrum des Platzes endete.
Hier stand ein breites quadratisches, aber nur einstöckiges Gebäude, das von drei religiösen Häusern eingerahmt wurde: einer Kirche, einer Moschee und einem runden Gebäude mit einem gold-dekorierten Dach, das nach David's Vermutung ein Buddhistischer Tempel war.
Das Haus in der Mitte, ist das Gemeindezentrum“, lektorierte die andere Hope wieder flüsternd. „Hier werden Dorfrats-Versammlungen abgehalten, aber auch viele Feste. Und es ist der Ort für Musik- und Bildgeschichtenvorführungen.“
Die Kinder, die David vor sich sah, hatten allerdings zur Zeit keinerlei Interesse an der Aussicht auf die Umgebung um sie herum, als sie sich nun auf die Bank setzten.
Cindy hatte den ganzen Weg schon geschluchzt und schien untröstlich: „Aber ich war doch großzügig, genauso wie du. Warum hat er mich dann ausgeschimpft?“
Mr. Wang hat nicht wirklich dich ausgeschimpft“, erklärte Hope ihrem Schützling, während sie ihr die Tränen trocknete. „Er hat mich ausgeschimpft, weil ich dir nicht genug von den Zahlen beigebracht habe.“
Aber ich kenne doch viele Zahlen“, meinte Cindy, nicht mehr schluchzend aber immer noch verwirrt. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, alle Zahlen bis hundert. Und ich kann sie auch zusammen zählen 2 plus 2 sind 4 und 3 plus 4 sind 7. Du hast mir das gezeigt, Sempai.“
Ja, das habe ich, “ stimmte Hope ihr zu, „und du musst mich hier nicht Sempai nennen, nur wenn wir in der Schule sind. Außerhalb sagst du einfach nur Hope zu mir.“
Okey, Hope“, antwortete Cindy folgsam.
Ja und weißt du, wenn du Handel treibst,“ versuchte Hope jetzt zu erklären, „dann brauchst du noch andere Zahlen, kompliziertere. Wenn du von einem Verkäufer etwas kaufst, dann musst du ihm mehr anbieten, als er dafür verlangt, aber auch nicht zu viel, nur zwanzig bis dreißig Prozent mehr.“
Zwanzig bis dreißig Coin, aber ich hab doch nur fünf gehabt“, sagte Cindy enttäuscht und sah traurig die Münze in ihrer Hand an.
Nein, nein nicht zwanzig Coin, “ versuchte Hope noch einmal klarzustellen, „nur zwanzig Prozent, das ist einfach nur ein kleines bisschen mehr. Wenn du ein Panini kaufen willst, und Mr. Wang möchte zwei Coin dafür haben, dann bietest du ihm zwei und ein halb Coin an. Und wenn du Brot kaufst, und er sagt vier Coin, dann bietest du ihm fünf an. Kannst du dir das merken?“
Cindy nickte.
Und wenn du etwas anderes von Mr. Wang oder in einem anderen Geschäft kaufen willst, dann hältst du dich an mich, und ich flüstere dir das Richtige ins Ohr,“ gab Hope Cindy die Anweisung. „Und vielleicht im nächsten Jahr, dann bringe ich dir die komplizierte Prozentrechnung bei. Und danach kannst du ganz alleine Handel treiben gehen.
Cindy nickte noch einmal und biss dann breit lächelnd wieder von ihrem Panini ab. Daraufhin stellte sie eine weitere Frage, wobei Hope mit einem Schwall Brotkrümel bedacht wurde. Es war eine Frage, die David auch schon auf der Zunge lag, seit er die Szene in der Bäckerei beobachtet hatte, nur Cindy formulierte sie etwas höflicher, als er es selbst getan hätte: „Warum sagt uns Mr. Wang nicht gleich, wieviel Coin er haben will?“
Dummerchen,“ nannte Hope ihren Schützling mit einem nachsichtigen Lächeln. „Das ist natürlich deshalb, weil er ein anständiger Händler ist. Deshalb bietet er seine Ware nur für die Summe an, die er an Coin unbedingt braucht. Und weil du ein anständiger Käufer bist, da willst du ihm mehr geben. Und dann sagt er, 'das ist aber zu viel' und du sagst, 'aber ich bestehe darauf' und dann sagt er 'du bist sehr großzügig'. Auf diese Weise wird überall auf der Welt Handel getrieben, auch mit anderen Dörfern über das Friedensnetz.“
Cindy war jetzt dabei die letzten Reste ihres Panini zu verdrücken und murmelte so mit vollen Backen: „Aber das ist so schwierig.“
Ja, ein bisschen kompliziert ist es schon, “ stimmte Hope ihr zu, „ aber mein Großonkel hat mir erklärt, dass es etwas damit zu tun hat, wie wir den Frieden bewahren. Er hat gesagt: 'Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Ohne Gerechtigkeit, kann es keinen Frieden geben.“
Cindy schluckte ihren letzten Bissen herunter und sah dann völlig verwirrt aus.
Also seufzte Hope ein bisschen, während sie vom philosophischen auf ihr Sempai-Programm umschaltete: „Also das bedeutet, dass wir zu anderen Leuten fair sein müssen, damit sie nicht so wütend werden, dass sie uns verhauen wollen. Oder schlimmer noch, so wie in den Dunklen Zeiten, wo die Leute von einem Ort mit Gewehren oder so was auf die Leute in einem anderen Ort geschossen haben, wenn sie richtig wütend geworden sind.“
Cindy nickte, sie hatte es jetzt verstanden: „Fair bedeutet, dass man ein bisschen mehr gibt.“
Stimmt, “ antwortete Hope, „und es bedeutet auch, dass der Verkäufer nicht zu viel verlangt, so dass, wenn der Käufer arm ist, er dann trotzdem noch etwas kaufen kann. Denn weißt du, wenn du nur zwei Coin hättest, dann würde dir Mr. Wang immer noch ein Panini verkaufen.
Aber, wenn Mr. Wang arm wäre und nur ganz wenige Dinge zu verkaufen hätte, dann solltest du ihm sogar noch mehr geben als nur zwei und einhalb Coin. Aber Mr. Wang ist kein armer Mann, und deshalb musst du das nicht tun.
Stattdessen könntest du den Rest von deinen Coin deiner Mama geben.“
Aber meine Mama will meine Coin nicht“, erwiderte Cindy. „Sie hat gesagt, dass ich all das, was ich bei der Arbeit im Hühnerstall verdiene, selber behalten soll. Und ich bekomme fünf Coin jedes Mal, dreimal in der Woche.“
Das ist richtig“, stimmte Hope zu. „Ich bekomme auch Coin, wenn ich die Kühe melke. Aber weißt du was? Du könntest mit dem Rest deiner Coin ein Geschenk für deine Mama kaufen. Was glaubst du, würde sie sich wünschen?“
Cindy begann zu strahlen: „Meine Mama mag auch Panini.“
Sie sprang von der Bank und wollte sich sofort wieder in Richtung Bäckerei aufmachen. Aber Hope hielt sie ganz schnell am Arm fest und meinte: „Ich denke, wir haben für heute genug von Mr. Wang gesehen! Kennst du nicht etwas anderes, das deine Mama mag?“
Cindy hielt sich den Zeigefinger an den Mundwinkel und dachte einen Augenblick angestrengt nach, dann strahlte sie wieder: „Meine Mama mag Müsli mit Erdnüssen und getrockneten Äpfeln und Zimtzucker besonders gern.“
In Ordnung, dann gehen wir zum Müsli-Laden“, entschied Hope.
Sie berührte den Schirm ihres Armbandcontrollers ein paar Mal, daraufhin erschien über dem Gerät das holographische Gesicht einer Frau mit einer beigen Mütze.
Salaam,“ grüßte sie.
Salaam, Ms Denko,“ antwortete Hope. „Ich würde gern eine Bestellung für Cindy Lennox aufgeben, und zwar für einen Beutel Müsli mit Erdnüssen, getrockneten Äpfeln und Zimtzucker für insgesamt zwei Coin. Und weil Cindy keinen Beutel dabei hat, könnten Sie ihr bitte einen ausleihen?“
Natürlich“, war Ms Denko's Antwort „die Bestellung könnte in zwanzig Minuten bereit sein. Wollt ihr sie dann gleich abholen oder lieber etwas später?“
Wir können in zwanzig Minuten bei Ihnen sein“, erklärte Hope. „Vielen Dank, Ms Denko.“
Dann werde ich dich und Cindy bald sehen, Bless bis dann“ Damit verschwand Ms Denko's Gesicht, und Hope entschied, während sie von der Bank aufstand: „Bevor wir zur Kaninchen-Hausgemeinschaft gehen, will ich zuerst noch kurz bei meiner Großmutter vorbeilaufen, damit ich die Botschaft für sie nicht vergesse.“
Aber du vergisst doch gar nie etwas, Hope, “ widersprach Cindy, „das hat Sensei gesagt.“
Das stimmt schon, “ erklärte Hope, „ aber ganz oft erinnere ich mich erst, wenn es schon zu spät ist. Denn es gibt ja so viele Dinge, an die ich mich erinnern muss.“ Dabei öffnete sie ihre Arme weit und schüttelte seufzend ihren Kopf.
Cindy kicherte und fragte: „Können wir dann aber auch hinterher die Maglev nach da drüben benutzen?“
In Ordnung“, stimmte Hope zu. Dann schüttelte sie Cindy ein bisschen durch: „Du bist aber ein ganz schöner Faulpelz, der nicht laufen will.“
Cindy grinste und behauptete: „Laufen mag ich schon. Aber Maglev-Fahren macht so viel mehr Spaß!“
Damit verschwand die Szene mit Hope und Cindy aus dem 23. Jahrhundert, und als David die Augen öffnete, tauchte die andere Hope auf dem Hintergrund des New York des 21. Jahrhunderts wieder auf.

***
Dies ist jetzt das fünfte und letzte Venus Projekt, das ich mit meiner Kamera auskundschaften muss. Es gehört zum J.G. Konzern, dem Konzern meines Vaters. Jeder der fünf Konzerne besitzt ein eigenes Design für seine Venus Projekte. Und dieses Design wird in allen Projekten des jeweiligen Konzerns ganz genau kopiert, um die Konzern-Identität zu akzentuieren. So wurde es mir jedenfalls einmal erklärt. Die Bilder aus einem Projekt eines jeden Konzerns werden somit den Rettungsteams einen genauen Einblick in die Lage der Räumlichkeiten jedes anderen Projekts desselben Konzerns geben.
Und obwohl dies nicht das genaue Projekt ist, in dem meine Mutter und Luscinia gewesen sind, so sieht es doch ganz genauso aus.
Wir sind jetzt im dritten Stock. Der Geschäftsführer hat die Tür zu einem Raum geöffnet, in dessen Mitte ein riesiges Bett umrandet von Seidengardinen steht. Sanfte Musik durchflutet den Raum, um eine ganz bestimmte Atmosphäre zu erzeugen, die durch einen Duft von exotischen Blüten noch hervorgehoben werden soll. Die Wände und die Zimmerdecke sind von Spiegeln bedeckt, und dutzende von Venus Figürchen sind auf Regalen und Kommoden aufgestellt. Anstelle des Tageslichts wird dieser fensterlose Raum durch Wandleuchten an allen Ecken in ein rötliches Licht getaucht.
Unsere Luxus-Suite, “ verkündet der Geschäftsführer.
Plötzlich höre ich einen Schmerzensschrei durch die Tür aus dem nächsten Raum dringen. Ich zucke bei dem Laut zusammen, doch glücklicherweise hält der Geschäftsführer meine Reaktion für etwas anderes.
Jemand hat Spaß“, erklärt er mit einem schmierigen Grinsen.
Ganz automatisch formen sich meine Hände zu Fäusten. Aber dann mache ich eine bewusste Anstrengung sie wieder zu entspannen und mein Gesicht zu einer undurchdringlichen Maske werden zu lassen. Ich folge dem Geschäftsführer nach unten. Und um noch weiterhin keinen Verdacht zu erregen, habe ich beschlossen, noch etwas länger zu bleiben, um die Frauen beim Tanzen zu beobachten. Eine der Frauen nähert sich mir. Auf ihrem Gesicht ist dieses falsche Lächeln zu sehen, das typisch ist, für ihren Berufszweig.
Vielleicht beim nächsten Mal“, weise ich sie ab und drehe mich um, um zu gehen.
Auf dem Weg nach draußen bemerke ich dann eine ziemlich junge und blasse Frau, die langsam die Treppe herunterkommt. Ihre Seidenbluse ist zerrissen und ihr Make-up ist von den Tränen verschmiert worden, die ihr immer noch übers Gesicht laufen. Als sie ihren Arm hebt, um ihre Haare in Ordnung zu bringen, sehe ich es: Luscinia's Narben auf ihrem Arm und eine frische Wunde.
Ich fühle Übelkeit in mir hochsteigen und eine Wut, die mich beinahe erstickt. Alles, wonach ich mich jetzt sehne ist es, da rauf zu rennen und jemanden zusammen zu schlagen, ihn so lange zu schlagen bis er sich nicht mehr rühren kann. Aber gleichzeitig weiß ich, dass, wenn ich diesem Drang nachgäbe, dann alles verloren wäre.
Ich schaffe es nur mit größter Anstrengung, ganz ruhig das Gebäude zu verlassen und im Hof am Venusbrunnen vorbeizugehen, bis ich Darryl treffe, der wieder auf mich gewartet hat.
Haben Sie alle Bilder bekommen?“ flüstere ich.
Darryl nickt und fügt hinzu: „Ich habe den Arm dieser Frau gesehen.“
Ich bemerke Darryl's mitfühlenden Bick und erkenne, dass seine Effizienz nicht die einzige gute Eigenschaft des Texaners ist.
Heute Abend wird sie das Land verlassen“, versichert er mir.
Ich nicke meine Zustimmung, aber füge in Gedanken hinzu: 'Wenn alles so läuft, wie geplant...'

***



Comments

Popular posts from this blog

Teil 4

Teil 1