Teil 3

Darryl und ich sind jetzt wieder im Wagen. Wir haben unsere erste Aufgabe erfolgreich abgeschlossen und sind jetzt auf dem Weg zur nächsten. Ich muss mich konzentrieren, und doch kann ich meine Gedanken nicht unter Kontrolle bringen. Die schmerzhaften Erinnerungen steigen mir ins Bewusstsein, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.
Ich hatte diese Narben an Luscinia in den ersten beiden Wochen gar nicht bemerkt. Sie hatte immer versucht sie unter ihrer langärmeligen Seidenbluse zu verstecken.
Und dann, eines Tages kam ich ins Zimmer als meine Mutter eine Heilsalbe auf eine frische Wunde an Luscinia's Oberarm strich.
Wie ist das...“ begann ich schockiert, aber ich wusste sofort, dass dies eine Brandwunde war. Und ich hatte dieses Symbol, das dort eingebrannt war, auch schon oft gesehen, wenn auch nie zuvor auf menschlicher Haut. Es sah genau so aus, wie das Emblem, das einer der Freunde meines Vaters für seinen Konzern benutzt.
Eine Welle von Hass schwappte über mich. Und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich mich in dieses stille Mädchen verliebt hatte, das immer bei meiner Mutter zu sein schien, wenn ich sie besuchte. Alles, was ich jetzt wollte, war sie um jeden Preis zu beschützen.
Ich bringe den Kerl um“, zischte ich und drehte mich zur Tür.
Nein, das wirst du nicht tun“, hielt die entschiedene Stimme meiner Mutter mich auf. Sie hatte denselben Ton an sich, wie an dem ersten Tag, an dem ich sie wieder gesehen und ihr erklärt hatte, dass ich meinen Vater damit konfrontieren wollte.
Diesmal war sie sogar noch entschiedener und mit mehr Kraft als sie je zuvor gezeigt hatte:
Was du stattdessen tun wirst, ist ganz still zu sein und kein einziges Wort über das zu verlieren, was du hier gehört oder gesehen hast!“
Als ich meinen Kopf schüttelte und widersprechen wollte, fügte sie in einem viel sanfteren Ton hinzu:
...so lange bis du Orange Country verlassen hast, zusammen mit Luscinia.“
Das ist unmöglich“, protestierte ich. Ich war von dem, was sie von mir verlangte, wirklich überrascht: „Niemand kann von hier fort.“
Du wirst einen Weg finden, Thani“, widersprach meine Mutter. „Du bist immer schon ein einfallsreicher Junge gewesen.“

***

Langsam stand David auf und macht sich wieder auf den Weg, wobei er immer noch über die Szene nachdachte, die er gerade beobachtet hatte. Er hatte mindestens ein Dutzend Fragen, bezüglich der merkwürdigen Art und Weise wie man dort einkaufen ging, zum Beispiel, oder darüber, dass schon ein sechsjähriges Kind bereits eine bezahlte Arbeit hatte. Dann jedoch entschied er sich erst einmal über das zu reden, von dem er wusste, dass es Hope am meisten beschäftigt hatte.
Sie hatte ihre Erklärungen für Cindy fast schon in der professionellen Art eines richtigen Lehrers abgegeben. Aber David hatte doch gespürt, dass sie innerlich ziemlich wütend gewesen war, auch wenn sie das Cindy gegenüber gut verborgen hatte. Er war sich allerdings nicht ganz sicher, warum diese offensichtlich ungerechten Bemerkungen sie so mitgenommen hatten. Also sagte er jetzt einfach das, von dem er dachte, dass Hope es gern hören wollte:
Der Mr Wang ist nicht gerade ein freundlicher Zeitgenosse, so wie der Kinder behandelt.“
Na ja“, meinte Hope und biss sich auf die Unterlippe, „er ist halt anders als andere Leute. Und er behandelt jeden so, nicht nur Kinder. Ich meine er widerspricht allem und jedem.“
Es war aber doch ziemlich unfair, dass er von dir etwas Unmögliches erwartete. Und du warst auch ganz schön sauer, oder nicht?“ bemerkte David
Hope seufzte: „Ja, das war ich. Und am nächsten Tag wurde das noch schlimmer, als ich meine Oma traf. Sie hat mir dann erzählt, dass alle die alten Damen von ihrem Treffen auf meiner Seite gewesen waren. Und sie hatten alle gesagt, dass Mr Wang ein muffeliger alter Mann sei. Und Ms Higgins hat gemeint, dass sie nur nichts zu Mr Wang gesagt hätte, weil sie nicht mit ihm in Streit geraten wollte, denn der sei schon immer so ein streitsüchtiger Querulant gewesen, ein Grumpie, ein weniger als Fünf-Prozentiger. Ihr hätte das hinterher aber leid getan, dass sie mich nicht verteidigt habe, denn schließlich sei ich es gewesen, die kleine Hope, die er so behandelt hatte und nach all dem, was mit meinem Vater geschehen sei...“ Hope's Stimme wurde schwächer.
Also waren sie alle auf deiner Seite“, bemerkte David. „Warum hast du dich da nicht besser gefühlt?“
Hope schnitt eine Grimasse und zuckte die Achseln, und David erkannte, dass die Solidarität des Damenclubs Hope kein besonderer Trost gewesen war.
Magst du diese Damen nicht“, fragte er.
Nein, ich mag sie schon“, versicherte Hope. „Es war nur...ich...ich mag nicht, wenn sie über mich reden. Denn wenn sie anfangen zu reden, dann reden alle in unserer Hausgemeinschaft und am Ende das ganze Dorf, und sie reden und reden und schauen mich merkwürdig an.“
Hope schauderte: „Nachdem mein Vater gestorben war, da ging das so... endlos für Wochen und Wochen. Und wo immer wir hingegangen sind, Mama, meine Geschwister und ich, haben sie geflüstert und uns so mitleidig angesehen. Und einige sind gekommen und haben mir über den Kopf gestreichelt und dabei haben sie 'armes, armes Kind' gesagt,..und ich wollte doch nur, dass sie uns in Ruhe lassen und aufhören uns so anzuschauen... Und als das mit Mr Wang war, da dachte ich, das würde alles wieder von vorne anfangen.“
Hope seufzte.
David nickte, er verstand sie nur all zu gut. Er hatte es am eigenen Leib erlebt: die mitleidigen Blicke und das Gefühl, dass alle hinter seinem Rücken flüsterten, aber bei ihm war das kein Geflüster der Solidarität gewesen.
Er wechselte schnell das Thema: „Was ist ein weniger als Fünf-Prozentiger?“
Das wusste ich auch nicht“, gab Hope zu, „und darum habe ich Oma gefragt. Sie erklärte mir, das seien die Querulanten, also Leute, für die es die 95-Prozent-Regel gab. Meistens würden sie aber nur 'Grumpies' genannt.”
Wobei sie David's Frage zuvorkam, erklärte Hope weiter: „Also die 95 Prozent-Regel, die kannte ich bereits, von der hatte ich in der Schule gehört. In jeder Dorfrats-Versammlung müssen alle Mitglieder des Dorfrates über jeden Vorschlag so lange diskutieren, bis es eine 95 prozentige Zustimmung dafür gibt. Wenn mehr Leute einen Vorschlag ablehnen, dann bedeutet das, dass irgendetwas damit nicht in Ordnung ist. Und dann müssen Alternativen dazu gefunden werden. Es wird daraufhin so lange weiter diskutiert, bis der Dorfrat zu diesen 95 Prozent Zustimmung gekommen ist. Erst dann fällt die endgültige Entscheidung.
Aber Oma meint, dass die 'Weniger-als-Fünfprozentigen' die Grumpies sind, Leute, die niemals mit irgendetwas einverstanden seien, gleichgültig wie lange diskutiert wird. Solche Leute seien immer gegen alles, genau wie Mr Wang.
Aber danach hat Oma wieder mit den Damen von der Versammlung angefangen und mit dem, was sie über mich gesagt haben, und da wollte ich nicht mehr zuhören. Ich war so sauer über alles und jeden, ganz besonders über Mr Wang. Da habe ich dann meiner Großmutter gesagt, ich müsste schnell mal weg.
Ich wusste, es gibt nur einen Menschen, der mich verstehen würde, und das war Großonkel Professor. Und er hat gesagt... Nein, eigentlich hat er mir etwas gezeigt.“
Hope hielt einen Augenblick inne, nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich denke, ich will dir das auch zeigen. Also am besten setzt du dich wieder hin.“
Hope zeigte auf die nächste Bank an ihrem Weg. David gehorchte und setzte sich hin. Er konzentrierte sich, schloss seine Augen und wartete gespannt auf eine weitere Szene aus Hope's Welt.
Er sah wie sie auf einem Balkon eines Häuserblocks entlanglief. Dieser lag offensichtlich auf einem niedrigeren Stockwerk als zuvor, vielleicht auf dem dritten oder vierten. David konnte das nicht ganz genau erkennen, denn Hope hatte ihr Ziel bereits erreicht. Sie riss die Wohnungstür auf ohne zu klingeln oder zu klopfen, und platzte dann ohne Umschweife in den Raum hinein.
An der Wand gegenüber der Tür saß Hope's Großonkel an einem riesigen Bildschirm, der in der Mitte ein dreidimensionales Koordinatensystem zeigte, eingekreist von komplexen Gleichungen. Darunter konnte man das holographische Bild einer sich drehenden Röhre erkennen, die mit Goedel Zylinder beschriftet war. Rechts und links der Graphik und neben den Gleichungen waren holographische Projektionen von einer Frau und zwei Männern zu sehen. Diese Leute kamen offensichtlich nicht aus Hope's Dorf.
Einer der Männer hatte einen kahlgeschorenen Kopf und trug die rote Robe eines buddhistischen Mönches, die einen Arm und eine Schulter unbedeckt ließ. Der zweite Mann trug weiße Kleidung und ein weißes Scheitelkäppchen, während die Frau ein weißes Kopftuch über einem grauen Mantel trug. Letztere redete gerade, während sie gleichzeitig auf eine vor ihr liegende Tastatur eintippte. Ihre Sprache war David völlig fremd. Er vermutete, es war Interlingua.
Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter Hope ins Schloss. Als ihr Großonkel sich umdrehte, rannte Hope mit tränenverschmiertem Gesicht auf ihn zu.
Die holographische Frau sah von ihrer Arbeit hoch, lächelte und wechselte in die englische Sprache, wobei sie Hope mit einem starken Akzent begrüßte: „Salaam, kleine Hope, wirst du uns heute mit unseren Experimenten helfen?“
Hope antwortete nicht und schüttelte nur den Kopf, wobei sie sich zur Seite wandte, um ihre Tränen zu verbergen. Ihr Großonkel sah sie nur kurz an und traf eine Entscheidung. Er drehte sich zu seinen Kollegen um und sagte: „Es tut mir Leid Freunde, ich denke wir müssen unsere Konferenz auf morgen verschieben. Sie verstehen das doch?“
Die beiden Männer nickten. Der Buddhist fragte nur noch: „Morgen zur selben Zeit?“
Großonkel Professor antwortete: „Ja, zur selben Zeit.“
Ihre Projektionen verschwanden aus dem Raum. Bevor die Frau ihre Übertragung abbrach, lächelte sie Hope noch einmal zu und sagte: „Aber sicher Professor Morgan, wir verstehen das natürlich. Das hat Priorität. Vielleicht kannst du uns ja morgen helfen, kleine Hope.“
Als sie dann alleine waren, sah der Professor Hope, die immer noch ganz außer Atem war, fragend an. Diese war sich jetzt aber gar nicht mehr sicher, wie sie ihrem Großonkel erklären konnte, was sie bewegte.
Dann begann sie unvermittelt: „Warum hat Gott Leute zu Grumpies gemacht?“
Großonkel Professor nickte, und seine Lippen formten den Ansatz eines Lächelns: „Ich habe schon von dem Vorfall mit dir und Mr Wang gehört.“
Hope klang jetzt ziemlich zornig als es aus ihr herausbrach: „Natürlich hast du davon gehört. Alle haben es gehört und jetzt reden sie wieder und reden, genau wie...“ Zornes-Tränen flossen jetzt, obwohl Hope versuchte, sie zurückzuhalten.
Großonkel Professor begann Hope's Tränen mit einer Hand zu trocken. Er drehte sich ihr abgewandtes Gesicht sanft zu, so dass sie ihn nun ansehen musste.
Nein, es wird nicht so sein wie damals.“ Die Stimme des Professors hatte einen beruhigenden Ton.
Als dein Vater gestorben ist, da war das ein großer Schock für viele Leute hier. Sie empfanden so viel Mitgefühl für dich und deine Familie. Sie wollten euch helfen und wussten doch nicht wie. Und deshalb haben sie geredet...“
Großonkel Professor stoppte für einen Moment, dann sprach er bedächtig weiter: „Was gestern in Mr Wang's Laden geschehen ist, das ist eine Klatschgeschichte für einen einzigen Tag. Morgen wird das Ganze schon wieder vergessen sein. Und auch wenn du es nicht so schnell vergessen kannst, so wird es dir dann kaum noch etwas ausmachen. Schließlich waren es ja nur ein paar Worte, die dir nicht gefallen haben.“
Hope löste ihr Gesicht aus den Händen ihres Großonkels und sah zu Boden, ein wenig enttäuscht über seine Reaktion.
Sie murmelte: „Na ja, vielleicht hast du ja Recht, aber... aber...“ David konnte den inneren Kampf auf Hope's Gesicht erkennen, Logik gegen den Ärger, und die Logik hatte noch nicht ganz gewonnen.
Und deshalb bestand sie immer noch auf eine Antwort auf ihre Frage: „Warum hat der liebe Gott Leute zu Grumpies gemacht?“
Großonkel Professor lächelte und antwortete sanft: „Das ist eigentlich eine ganz gute Frage. Auch wenn ich nicht vorgeben will, die Weisheit Gottes zu verstehen, denke ich doch dass es darauf auch eine gute Antwort gibt. Ich glaube nämlich, dass Gott denjenigen, die von anderen Leuten Grumpies genannt werden, ein ganz besonderes Talent geschenkt hat.
Was für ein besonderes Talent?“ fragte Hope jetzt doch interessiert.
Lass uns mal sehen“, antwortete der Professor. „Hol dir einen Stuhl aus der Küche, und setzt dich zu mir. Ich möchte dir etwas zeigen.“
Als Hope mit ihrem Stuhl zurückgekommen war, hatte ihr Großonkel schon die groben Umrisse von einem Herz und von einem dreiblättrigen Kleeblatt auf den Schirm gezeichnet, wo kurz zuvor noch eine Menge Gleichungen zu sehen gewesen waren. Er zeigte auf die Zeichnungen: „Dies ist ein Herz, und das Symbol daneben wird ein Kreuz genannt. Das sind Spielkartensymbole.“
Spielkartensymbole?“ fragte Hope verwirrt.
Vor ein paar hundert Jahren kannten die Menschen in den meisten Ländern der Welt diese Symbole wirklich gut. Fast jedes Kind kannte solche Karten und hat häufig damit gespielt“, erklärte der Professor.
Diese und zwei andere Symbole wurden mit Zahlen und Bildern verbunden. Es gab viele verschiedene Spiele, die mit solchen Karten gespielt wurden. Jetzt zeige ich dir die Hälfte von so einem Kartenspiel mit nur diesen beiden Symbolen. Ich möchte, dass du die Bilder und Zahlen nicht beachtest und auch nicht wie oft diese Symbole auf einer Karte zu sehen sind. Wenn du mindestens ein Herz erkennst, dann nennst du die Karte ein Herz, und wenn ein oder mehr Kreuze zu sehen sind, nennst du sie ein Kreuz. In Ordnung?“
Hope nickte.
Ich zeige dir die Karten jetzt in ganz schneller Reihenfolge, und du versuchst sie trotzdem noch zu erkennen. Bist du bereit?“
Hope nickte wieder und konzentrierte sich auf den Bildschirm, ihre Hände fest um ihren Stuhlsitz gespannt. In Sekundenbruchteilen tauchten die Karten jetzt hintereinander auf und verschwanden wieder.
Hope rief dazu: „Herz, Kreuz, Kreuz, Kreuz, Herz, Herz, Kreuz, Herz, Herz, Kreuz, Kreuz...“
Das Ganze ging so schnell, dass David selbst kaum mitkam, Hope schaffte es aber fehlerfrei durch das halbe Spiel.
Der Professor hielt inne, er sah Hope an und sagte dann: „Das hast du wirklich gut gemacht, aber sag mir jetzt mal, welche Farbe hatten die Herzen und welche die Kreuze?“
Hope zuckten mit den Achseln und verkündete dann überraschenderweise: „Die Herzen waren natürlich schwarz und die Kreuze rot.“
Sofort murmelte David: „Nein, das ist andersherum.“
Da hörte er die gegenwärtige Hope kichern, während der Professor die Hope aus den Erinnerungen lobte: „Das hast du ganz richtig erkannt“.
Das halbe Kartenspiel erschien wieder auf dem holographischen Schirm, nur um diesmal still liegen zu bleiben, die Karten aufgedeckt nebeneinander. David sah hin, und dann starrte er noch einmal auf den Schirm, völlig überrascht von dem, was er sah.
Warum hatte er das nicht vorher gesehen? Waren das wirklich dieselben Karten?
Ja, Hope hatte Recht gehabt, die Herzen waren in der Tat schwarz und die Kreuze waren rot.
Du hast solche Karten noch nie gesehen. Wir spielen solche Spiele nicht“, stellte der Professor fest.
Das sind doch Gewinn-Verlier-Spiele, stimmts?“ fragte Hope ihren Großonkel.
Das sind es“, antwortete dieser. „Aber du kannst auch eine ganze Reihe anderer Dinge damit tun, Experimente zum Beispiel. Und das ist genau das, was einige Wissenschaftler vor ein paar hundert Jahren gemacht haben.
Sie haben den Leute, nachdem ihnen diese Karten hier sehr schnell hinter einander gezeigt wurden, die Frage gestellt, welche Farbe die Herzen und welche die Kreuze hatten. Und fast alle haben darauf geantwortet, dass die Herzen rot und die Kreuze schwarz seien.“
Waren die denn alle farbenblind in den Dunklen Zeiten?“ fragte Hope ganz logisch.
Nein, natürlich nicht“, antwortete der Professor kopfschüttelnd. „Es waren nicht ihre Augen, die das Problem hatten, es war ihr Verstand. Die Karten, die ihnen da gezeigt worden waren, waren keine echten Spielkarten. Echte Spielkarten sehen nämlich so aus.“
Ein ganzes Kartenspiel erschien jetzt auf dem Schirm unterhalb des halben Spiels. David sah zweimal hin, um sicher zu gehen, und diesmal waren es wirklich richtige Spielkarten.
Die jüngere Hope nahm sich auch Zeit, um zu vergleichen, und erklärte dann: „Die Herzen und die Kreuze haben die entgegengesetzte Farbe zu denen, die du mir zuerst gezeigt hast.“
Das ist richtig“, stimmte der Professor zu. „Und die Leute, die an solche Karten gewöhnt sind, werden immer erwarten, dass sie so sind wie sie normalerweise sind. Ihr Verstand vertraut auf das, was sie gelernt haben, und so werden sie die Unterschiede nicht erkennen, weil ihr Verstand es ihnen nicht erlaubt, außer man gibt ihnen genug Zeit dafür. In der Wissenschaft nennt man so eine Reaktion eine 'Kognitive Dissonanz', und die haben fast alle Leute mit nur ganz wenigen Ausnahmen und das wären die...“
Er sah Hope erwartungsvoll an. Dieser ging langsam ein Licht auf.
Ach du meinst die Grumpies, Großonkel! Die können die Unterschiede schneller erkennen?“
Richtig, das sind die Leute, die nicht sofort annehmen, dass das, was immer so gewesen ist, auch immer so sein wird, jetzt und in der Zukunft. Das ist ihr Talent, verstehst du?“
Ich denke schon“, meinte Hope. „Aber Großonkel, das ist nicht gerade ein sehr nützliches Talent, die Farbe, dieser Karten richtig aufsagen zu können.“
Der Professor seufzte: „Ich glaube, dass du es doch nicht verstanden hast, Hope. Siehst du, es war und wird immer von großer Wichtigkeit sein, die wirkliche Realität zu erkennen.“
Hope sah ein wenig beschämt aus, und der Professor fuhr fort: „Du musst das nicht missverstehen, Vertrauen in deine Erfahrungen und in das, was du gelernt hast ist auch sehr nützlich. Es kann keine Gemeinschaft ohne Vertrauen existieren.
Ich muss Mr Wang vertrauen, dass er sein Brot so herstellt, dass es mich nicht krank macht. Und genau so muss ich Ms Dowling vom Mittagessen-Restaurant oder Mr Bennet vom Abendessen-Restaurant vertrauen, oder ich müsste mein ganzes Essen alleine kochen und backen.
Ich muss auch darauf vertrauen, dass diejenigen, die unsere Nahrungsmittel anbauen und die die Bewässerungs- und Lufttausch-Maschinen bedienen, gut arbeiten, oder ich müsste alle meine Lebensmittel selbst anbauen. Und natürlich muss ich darauf vertrauen, dass ihr Kinder unsere Tiere gut versorgt und die Melkmaschinen gut anbringt und die Eier einsammelt, oder ich würde auch das alleine machen müssen.
Und dann sind da die Maglevs, unsere und die auf dem ganzen Kontinent. Wenn ich sie benutze, muss ich darauf vertrauen, dass sie in den Werkstätten von den Arbeitern dort gut gebaut wurden, und danach auch weiterhin gut in Stand gehalten werden, oder ich müsste auch das alles selber machen.“
Jetzt lachte Hope auf: „Oh, Großonkel, du könntest das gar nicht alles alleine machen, das ist viel zu viel Arbeit für eine Person.“
Ganz genau“, stimmte der Professor zu. „Das ist sogar viel zu viel Arbeit für eine Hausgemeinschaft. Sogar das Essen, das wir jeden Tag zu uns nehmen, kann nicht von einer einzigen Hausgemeinschaft produziert werden. Wir müssen mit den Gemeinschaften des ganzen Dorfes Handel treiben und außerdem auch noch mit unseren Partnerdörfern, oder wir hätten nur sehr wenige Lebensmittel zur Auswahl. Das wäre doch ziemlich langweilig.“
Ich denke“, erwiderte Hope, „wenn das nur mein Lieblingsessen wäre, dann wäre mir das egal“,
Der Professor lachte: „Dir vielleicht, aber mir nicht und deiner Mutter wohl auch nicht. Und was ist mit den ganzen Maschinen, die wir brauchen, um unsere Lebensmittel, unsere Kleidung und unsere Energie herzustellen? Wir können die nicht in einer Hausgemeinschaft herstellen und auch nicht in einem einzigen Dorf.
Wir können die Teile der Maschinen zwar in Mr Dalim's und Mrs Angros Werkstätten zusammensetzen, aber die Teile selber müssen wir doch aus anderen Dörfern kaufen, manchmal sogar aus weit entfernt liegenden Dörfern, aus ganz anderen Nationen. Selbst stellen wir nur ein einziges Maschinenteil in unserem Dorf her. Weißt du, was das ist?“
Klar“, antwortete Hope sofort. „In der Produktionsanlage von Mr Rondell, Ms Talim und Ms Dariel da produzieren sie Mikro-Chips. Die sind das wichtigste Handelsgut für unser Dorf, hat Sensei gesagt.“
Ja, das sind sie“, stimmte der Professor zu. „Diese Chips können aber nur in wenigen bestimmten elektronischen Maschinen benutzt werden. Bei anderen Maschinen braucht man andere Chips, die in anderen Dörfern überall auf der Welt hergestellt werden.
Ja, ich weiß“, sagte Hope. „Und deshalb brauchen wir ja den Handel im Friedensnetz.“
Dann fuhr sie nachdenklich fort: „Ich weiß was du meinst, in diesem Handel braucht man auch Vertrauen. Wir müssen vertrauen, dass die Dinge, die wir kaufen eine gute Qualität haben, und wenn wir etwas verkaufen, dass der Käufer die abgemachte Summe von Intercoin auf unser Konto transferiert.“
Und,“ fügte der Professor hinzu, „wir müssen darauf vertrauen, dass wir mit den Coin wirklich etwas anderes kaufen können, Dinge, die wir für unser Leben hier in Spesaeterna dringend benötigen oder auch irgendwelche Luxusgüter, die wir gerne hätten. Denn immerhin kann man die Coin ja nicht essen.“
Hope lachte auf: „Die sind doch digital, etwas digitales kannst du nicht essen!“
Der Professor lächelte zurück: „Du könntest die Coin nicht einmal essen, wenn sie nicht digital wären. In alten Zeiten wurden die Handels-Münzen aus Gold und Silber hergestellt. Und Gold und Silber kann man genau so wenig essen.
Coin sind eine Maßeinheit, die uns dabei hilft reale Waren und Dienstleistungen, wie Lebensmittel und die Zubereitung von Lebensmitteln unter uns Menschen je nach unserem Bedarf einzutauschen. Coin sind eine Übereinkunft zwischen den Menschen, die sie benutzen, eine Übereinkunft auf die diese Menschen vertrauen müssen, oder sie könnten keinen Handel damit treiben.
Hope nickte: „Das verstehe ich,“ während David dachte, wenn nur die Sache mit dem Geld in seiner Zeit auch so einfach wäre...Aber zur Zeit war er von der Unterhaltung, die er gerade belauschte ziemlich fasziniert, obwohl er nicht erkennen konnte, worauf Hope's Großonkel eigentlich hinauswollte.
Dann kannst du auch sehen“, nahm der Professor seine Erklärung wieder auf, „dass wenn deine Hausgemeinschaft oder dein Dorf oder die ganze menschliche Gesellschaft funktionieren soll, dann ist dafür eine ganze Menge Vertrauen notwendig. Ohne Vertrauen könnten wir nur schwerlich allein überleben, und mit Sicherheit hätten wir keine Welt mit Handel und Hochtechnologie aufbauen können. Und es ist ja nicht nur im Handel, wo wir Vertrauen benötigen. Dasselbe können wir für jegliche Art von Wissensvermehrung voraussetzen.
Du vertraust darauf, dass was dein Sensei dich lehrt, korrekt ist. Und dein Sensei vertraut darauf, dass er selbst korrekte Fakten gelernt hat, erst von seinem eigenen Sensei und dann aus dem Friedensnetz, so dass er dann ein Sensei für dich und die anderen Schüler werden konnte. Die Gesundheitsunterstützer, die zu dir nach Hause kommen, wenn du krank bist, die haben auch alles über die verschiedenen Krankheiten aus dem Friedensnetz gelernt, so dass sie dir helfen können, damit du wieder gesund wirst.“
Oh, aber Dr Welby benutzt den Körper-Scanner, um herauszufinden, was für eine Krankheit ich habe. Sie muss gar nichts selber wissen“, behauptete Hope.
Der Professor lächelte wieder: „Ganz so einfach, wie du denkst, ist das nun wirklich nicht. Und selbst der Körper-Scanner muss immer wieder mit Informationen aus dem Friedensnetz neu programmiert werden.
Und dann ist da noch der Apotheker, Mr Derrick. Er kultiviert seinen Kräutergarten nach den Informationen aus dem Friedensnetz. Und wenn die Pflanzen gewachsen sind, dann kann er daraus die Medizin herstellen, die du benötigst, um dein Immunsystem zu stärken, damit du all das, was dich krank macht, überwinden kannst. Und Mr Derrick muss wie alle anderen darauf vertrauen, dass die Informationen, die er aus dem Friedensnetz erhält gut und richtig sind. Und wenn du dich von ihnen behandeln lässt, dann musst du Mr Derrick und Dr Welby vertrauen.“
Und ich vertraue dem Körper-Scanner“, warf Hope ein.
Und du vertraust dem Körper-Scanner“, wiederholte der Professor mit einem Lächeln. „Und das Ganze funktioniert genau so bei uns Wissenschaftlern.
Genau wie alle anderen vertraue ich darauf, dass die Informationen, die über tausende von Jahren gesammelt wurden und jetzt auf dem Friedensnetz zu finden sind, hilfreich für mich sind. Meine Freunde und ich, wir verlassen uns auf diese Informationen, sonst müssten wir, wie man so schön sagt, das Rad aufs Neue erfinden.“
Ja ich weiß“, warf Hope ein, „Sensei benutzt dieses Sprichwort auch immer, wenn er uns dazu anhält, alle Dinge auf dem Friedensnetz nachzuprüfen, und uns nicht nur auf den eigenen Winzlings-Verstand zu verlassen. Er sagt immer Winzlings-Verstand.“
Hope schien nicht ganz mit dieser Bezeichnung ihrer grauen Zellen einverstanden zu sein.
Ich stimme deinem Sensei da ganz bei“, sagte der Professor. „Wenn ich das Wissen, das über tausende von Generationen über Zeit und Raum hinweg angesammelt wurde, mit meinem eigenen vergleiche, dann ist mein Gehirn wahrlich nicht größer als das einer Ameise.“ Er zeigte die Ameisengröße zwischen Daumen und Zeigefinger auf.
Also ja,“ fuhr der Professor mit seinen Erklärungen fort, “in der Lage zu sein anderen Menschen zu vertrauen, in dem was sie für uns tun oder in dem was sie wissen und können, genau wie den Gegebenheiten unserer Welt zu vertrauen, dass alles so ist wie es sein soll und du es gewohnt bist, das ist ein sehr wichtiges Talent. Diese Fähigkeit ist notwendig, damit wir unsere Welt aufbauen und erhalten können. Und die meisten Menschen haben diese Fähigkeit. Aber einige Menschen haben eine andere, nämlich das Talent zum Misstrauen.
Aber Großonkel,“ warf Hope erstaunt ein, „du hast doch gerade erklärt, wie unheimlich wichtig Vertrauen ist, wie kannst du Misstrauen dann ein Talent nennen. Ist das dann nicht einfach nur der Mangel von einem Talent oder eine Krankheit oder so was?“
Der Professor antwortete nicht direkt; stattdessen begann er rasant auf seine Tastatur einzutippen.
Hope erkannte, was der da machte: „Was suchst du denn in deiner Datenbank?“
Eine Geschichte“, erklärte der Professor, „eine Bildergeschichte, die ich vor einiger Zeit programmiert habe...Oh, hier habe ich sie schon gefunden.“
Eine Gruppe holographischer Komikfiguren erschien in der Mitte des Raumes. Mit einem Tastenschlag, begannen diese sich in der Landschaft, die inzwischen um sie herum aufgetaucht war, zu bewegen.
Großonkel, hast du die wirklich selbst gemacht? Deine Bilder von dem Berg und den Flaties, die du mir und Ameenah mal gezeigt hast, die waren auch nicht schlecht. Aber diese hier sind noch viel realistischer“, komplimentierte Hope ihren Großonkel enthusiastisch.
Jetzt schau nicht so überrascht. Natürlich weiß ich, wie man Bildergeschichten programmiert“, winkte der Professor ab, „ich war schließlich auch einmal ein Kind, genau wie alle anderen Leute.“
Ich habe nicht gemeint, dass du so was nicht kannst, Großonkel“, verteidigte sich Hope. „Ich dachte nur, dass du vielleicht deine Zeit für so etwas wie eine Bildergeschichte nicht vergeuden würdest.
Der Professor lächelte und erwiderte: „Weißt du, Wissenschaft und Geschichten sind gar nicht so verschieden von einander. Jede wissenschaftliche Erkenntnis beginnt normalerweise mit Geschichten, Ideen davon, was vielleicht sein könnte... Aber lass mir dir jetzt eine Geschichte erzählen, nicht von etwas was einmal sein könnte, sondern von etwas, das vielleicht einmal gewesen ist... vor langer, langer Zeit.“
Eine Geschichte aus den Dunklen Zeiten?“ fragte Hope gern bereit zuzuhören, während sie die Comic-Figuren beobachtete, die sich in einem Dorf, das aus vielen Zelten bestand, hin und her bewegten.
Nein, nicht aus den Dunklen Zeiten“, antwortete der Professor. „Meine Geschichte spielt in einem Zeitalter weit, weit früher, in einer Zeit, die wir die Steinzeit nennen. Weißt du warum wir das tun?“
Wie gewöhnlich kannte Hope die Antwort: „Weil die Werkzeuge in dieser Zeit alle aus Stein hergestellt wurden.“
Das war für die meisten der Werkzeuge, die später gefunden wurden, der Fall“, erwiderte der Professor, um da ganz präzise zu sein. „Andere Werkzeuge wurden jedoch aus Holz oder Tierknochen hergestellt, schau mal dort!“
Vor einem der Zelte saß eine Frau, die dabei war etwas aus einem Tierfell zu nähen, entweder ein Kleidungsstück oder eine Zeltplane. Dabei benutzte sie etwas, das wie eine Fischgräte aussah.
Der Professor fuhr mit seiner Geschichte fort: „In der Zeit und in der Gegend, von der wir reden, haben die Menschen schon nicht mehr in Höhlen gelebt, wie noch ihre Vorfahren, sondern in Zelten, die aus Tierhäuten genäht wurden. Sie haben zwar noch kein Getreide angepflanzt, aber sie hatten schon begonnen Beeren, Früchte und andere Lebensmittel zu trocken, um sie genau wie Nüsse, Wurzeln und Gräser als Vorrat für den Winter aufbewahren zu können. Sie hatten ebenfalls bereits gelernt, einige Tiere zu zähmen und so Viehzucht zu betreiben.”
Eine kleine Herde magerer Kühe graste nicht weit vom Dorf entfernt, wo sie von ein paar kleinen Jungen gehütet wurde.
Die Dörfler aus unserer Geschichte waren ein ziemlich glückliches Völkchen. Sie hatten genug zu essen. Und weil sie inzwischen bereits zu einem ziemlich großen Stamm von über zweihundert Menschen angewachsen waren, waren sie gemeinsam auch ganz schön stark, und so hatten sie von wilden Tieren oder feindlichen Stämmen nichts zu befürchten.
Zur Zeit unserer Geschichte jedoch, hatten die Dörfler begonnen, sich vor etwas anderem zu fürchten.“
Mit einem Tastenschlag des Professors vergrößerte sich die holographische Projektion und zoomte sich auf die Zelte in der Mitte des Dorfes ein. Neue, anders gekleidete Figuren, waren nun aufgetaucht und redeten lautlos auf die Leute des Stammes ein, wobei sie wild gestikulierten, während Hope's Großonkel die Geschichte weiter erzählte:
Händler waren ins Dorf gekommen und brachten Geschichten mit, furchterregende Geschichten von einem Tier, das niemand je zuvor gesehen hatte. Das Tier, so wurde erzählt, sah wie ein riesiger weißer Tiger aus, jedoch kein gewöhnlicher Tiger. Eigentlich war es ein Monster, das nicht getötet werden konnte, weder durch Pfeile noch durch Speere oder Steine, mit denen man es bewarf. Jeder, der versucht hatte es zu jagen oder sich gegen das Tier zu verteidigen, war getötet worden.
Anders als alle anderen Tiere, so erzählten die Händler, fürchtete sich dieses Monster nicht vor Menschen. Ohne jegliche Scheu würde es die Dörfer überfallen und alles auf seinem Wege niedermachen, die Zelte zerreißen und die Menschen darin töten, Frauen und Kinder und sogar die stärksten Männer. Die einzige Waffe, die man je wirksam gegen das grausame Monster eingesetzt hätte, wäre Feuer gewesen.
Und jetzt hätte man Berichte davon gehört, dass das Monster nicht mehr weit entfernt von der Gegend dieses Dorfes sei. Es hätte bereits ein Dorf nach dem anderen in der näheren Umgebung überfallen und würde bald in dem Dorf unserer Geschichte ankommen.
Was konnten sie nur tun, fragten sich die Dörfler. Wie konnten sie ihr Dorf beschützen? Wäre es vielleicht besser die Zelte abzubrechen und in Richtung der Winterquartiere loszuziehen? Aber vielleicht würde das Monster ihnen folgen?“
Die Projektion des Professors änderte sich nun in die vom Innern des größten Zeltes, wo eine Gruppe Männer um ein Feuer herumsaßen, während einer stand und redete.
Der Professor fuhr fort: „Und so wurde im Dorfrat ein junger Mann gehört, der eine geniale Idee hatte.
'Wenn Feuer uns vor diesem Monster beschützen kann', sagte er, 'Dann werden wir alle Leute im Dorf durch Feuer retten.'
'Du meinst, wir sollten einen Feuerring um das ganze Dorf herum schlagen?“ fragte einer der Ältesten.
'Nein, das wäre unpraktisch', sagte der junge Mann. 'Das Feuer könnte so außer Kontrolle geraten und uns alle verbrennen. Stattdessen könnten wir einen Ring aus trockenem Holz und Büschen weit um die kleine Berghöhle im Osten verteilen. Dort gibt es sonst keine Pflanzen, und ein Feuer dort würde sich nicht ausbreiten. Und wenn das Monster kommt, dann ziehen wir mit allen Mann hinauf zur Berghöhle. Dort zünden wir den Feuerkreis an und so werden wir alle vor dem Monster sicher sein.“
'Aber was ist mit unseren Kühen', fragte ein anderer aus dem Dorfrat. 'Die Höhle ist so klein, da passen kaum alle Menschen hinein. Und wenn unsere Tiere außerhalb zu nahe am Feuer sind, werden sie verrückt vor Angst.'
Der junge Mann erwiderte: 'Wir werden sie erst noch schnell auseinander treiben, bevor wir zur Höhle laufen. Das Monster wird dann ein oder zwei von ihnen erwischen. Und wenn es seinen Hunger gestillt und keine Menschen gefunden hat, dann wird es weiter ziehen. Das ist es, was es immer getan hat, es bleibt nie an einem Ort.'
'Aber haben wir denn genug Zeit um zu entkommen, bevor das Monster unser Dorf erreicht hat', fragte einer aus dem Dorfrat‘, zusammen mit den alten Leuten und den kleinen Kindern? Es ist schließlich ein ziemlich weiter Weg zur Berghöhle.'
Der junge Mann hatte wieder einen Vorschlag: „Meine beiden Freunde und ich werden dort in den Hügeln im Norden Wache halten. Von dort soll das Monster ja kommen. Da können wir es von weitem schon sehen. Wir können das Dorf warnen, und dann haben wir alle zusammen genug Zeit, um zur Höhle zu gelangen und zu entkommen.
Der Plan wurde von allen angenommen, außer von einem Ältesten, auf den niemand hörte.“
'Das war ein Grumpie, stimmst?“ fragte Hope, die von der Geschichte ganz fasziniert war.
Der Professor nickte und redete weiter: „Und so gingen die drei jungen Männer zu den Hügeln über dem Dorf. Viele Tage lang hielten sie dort Wache, manchmal allein, manchmal alle drei zusammen. Jemand anders, aber folgte ihnen, um dort auch zu wachen. Kannst du dir denken, wer das war?“
Es war der Grumpie Älteste, nicht wahr“, antwortete Hope.
Der Professor nickte: „Stimmt, er war es. Er beobachtete die drei jungen Männer, wo immer sie hingingen. Was Seit einer Weile schon hatte er bemerkt, wenn immer jemand in ihre Nähe kam, hörten sie auf zu reden. Es war nun eigentlich nichts Ungewöhnliches, das Leute hinter seinem eigenen Rücken flüsterten. Er wusste, dass die meisten Leute ihn nicht leiden konnten. Aber das Geflüster und die Blicke dieser drei Männer schienen ihm irgendwie anders zu sein. Ihr Benehmen war ihm schon sonderbar erschienen, bevor die drei mit ihren Monster-Wachen begonnen hatten.
Und wie erwartet, kamen eines Tages die drei jungen Männer abgehetzt von den Hügeln herunter und schrien ganz außer Atem: „Der Monster-Tiger! Wir haben ihn gesehen. Er ist riesig, er ist gigantisch, und er läuft direkt auf unser Dorf zu.
Angst verbreitete sich im ganzen Dorf, aber keine Panik, denn alle wussten ja ganz genau, was sie zu tun hatten. Eltern nahmen ihre kleinen Kinder auf den Arm, ältere Geschwister schoben ihre jüngeren vorwärts. Die Hirtenjungen verjagten die Kühe und einige Männer nahmen Fackeln mit. Und so gingen sie alle los.
Endlich kam auch der Grumpie Älteste aus den Hügeln herunter. Aber weil er so alt war, war er viel langsamer gewesen und auch noch weit mehr außer Atem.
Er versuchte zu schreien: „Da war kein Tiger, kein Monster, da war nur ein Reh! Ihr müsst nicht weglaufen!“
Mit diesen Worten tippte der Professor wieder auf seine Tastatur, und die Szene mit den rennenden Menschen und dem verzweifelt gestikulierenden Ältesten fror ein.
Nun sag mir mal Hope“, fragte der Professor, „wenn du in diesem Dorf gewesen wärst und den alten Mann gehört hättest, was hättest du getan?“
Zum ersten Mal antwortete Hope nicht sofort. Sie biss sich auf die Unterlippe und gab sich eine gute Zeit zum Nachdenken.
Ich glaube“, sagte sie dann, „wenn ich einer von den Menschen im Dorf gewesen wäre, dann hätte ich nicht auf den alten Mann gehört, weil er vielleicht nicht mehr so gut sehen konnte. Die Augen von alten Leuten werden manchmal schlechter, und dann brauchen sie eine Laseroperation, und die gab es in der Steinzeit doch wohl noch nicht. Er hat vielleicht den Monster-Tiger mit einem Reh verwechselt.
Und dann waren da drei Männer, die gesagt haben, sie hätten einen Tiger gesehen, und nur einer hat ein Reh gesehen. Und sechs Augen sind doch besser als zwei? Genau wie du sonst immer sagst, dass wenn mehr Leute ihren Verstand gemeinsam benutzen, dann kommen sie alle zusammen viel besser an die Wahrheit. Das sagst du doch immer, Großonkel?“
Ja, genau“, stimmte der Professor zu, aber er machte immer noch keine Anstalten die Szene weiterlaufen zu lassen. Und deshalb hatte Hope eine Vermutung:
Du erzählst mir die Geschichte aber aus einem bestimmten Grund, und es war irgendetwas nicht in Ordnung mit den drei jungen Männern. Wahrscheinlich haben sie gelogen. Es wäre dann besser gewesen, wenn die Dörfler auf den alten Mann gehört hätten. Obwohl ich immer noch nicht verstehe, warum diese Männer lügen sollten. Es wäre doch so ein gemeiner Streich gewesen, den sie ihren eigenen Leuten gespielt hätten.
Der Professor ließ die Projektion weiterlaufen, und Hope konnte die Dörfler wieder in Richtung der Berghöhle rennen sehen. Niemand beachtete den Ältesten, der immer noch verzweifelt versuchte, die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger zu bekommen.
Du hast völlig Recht, Hope, all die Leute hörten nur auf die drei jungen Männer, weil sechs Augen mehr sehen als zwei, und weil niemand sich vorstellen konnte, dass irgendjemand eine so große Lüge von sich geben konnte. Die Menschen vertrauten einander in ihrem Dorf. Vielleicht würden Leute hin und wieder mal ein ganz klein wenig schwindeln, aber so eine riesige Lüge, die war einfach undenkbar.
Und als die Dörfler die Höhle erreicht hatten, und alle anderen hineingegangen waren, da zündeten die Männer den Feuerring an. Es war jetzt Abend, und die Sonne war untergegangen. Die Dörfler warteten und beobachteten das Feuer bis es heruntergebrannt war. Das dauerte die ganze Nacht.
Bei Sonnenaufgang machten sich die Leute wieder auf zurückzukehren. Ganz vorsichtig gingen sie los, immer nach verdächtigen Lauten und Zeichen Ausschau haltend, näherten sie sich ihrem Dorf. Sie hörten und sahen nichts.
Das Dorf aber, war völlig zerstört worden. Alle Zelte waren auseinander gerissen, die Tierhaut-Planen, mit denen sie bedeckt gewesen waren, waren verschwunden, einige Tontöpfe waren zerbrochen. Aber bald bemerkten die Frauen, dass die meisten Töpfe ohne jegliche Spur verschwunden waren, vor allem die mit Vorräten an getrockneten Lebensmitteln. Auch verschwunden waren die Kühe, nicht eine einzige von ihnen konnte irgendwo gefunden werden. Merkwürdigerweise gab es auch keine Blutspuren oder Knochen oder sonstige Überreste von Kadavern.
Langsam wurde es den Dörflern klar, dass dies überhaupt kein Tierangriff gewesen sein konnte.
'Maroder' riefen die Leute, 'Maroder waren hier!'
Maroder waren kleine, extrem gewalttätige Stämme, die lieber andere Menschen ausraubten, als selbst zu jagen, Vorräte zu sammeln oder Tiere zu züchten. Ihre Opfer waren normalerweise nur kleine Gruppen oder Leute die alleine unterwegs waren. Das Dorf aus unserer Geschichte war zu groß, um von einer kleinen Bande Maroder überfallen und ausgeraubt zu werden.
Das hatten die Maroder nur geschafft, weil das Dorf verlassen und ungeschützt gewesen war. Aber wie hatten sie das wissen können?
Und dann wurde den Dörflern mit einem Schlag noch etwas klar: Die drei jungen Männer, die sie vor dem Monster gewarnt hatten, waren verschwunden. Niemand hatte sie mehr gesehen, nachdem sie die Höhle verlassen hatten. Die Männer waren einfach weg. Und die Dörfler wussten jetzt, dass sie das Undenkbare getan hatten: Sie hatten das Dorf an die Maroder verraten.'
Der Professor hörte auf zu reden und stellte die Projektion ab.
Aber was ist dann geschehen, Großonkel“, fragte Hope aufgeregt. „Haben die Dörfler am Ende die Maroder und die drei jungen Männer erwischt? Und warum haben diese Männer überhaupt so etwas Furchtbares getan, ihre eigene Dorf-Gemeinschaft verraten?“
Warum sie es getan haben“, der Professor zuckte mit den Achseln. „Sie hatten wohl ihre Gründe. Bei dem einen war es ein Mädchen, das er nicht bekommen hatte, bei dem zweiten war es ein alter Groll über irgendetwas. Und der dritte ist den anderen beiden einfach nur hinterher gelaufen;
Und dann haben sie eines Tages die Maroder getroffen und beschlossen, sich ihnen anzuschließen. Als Vorbedingung dafür sollten sie den Marodern jedoch helfen, die Vorräte und alles andere Eigentum der Dörfler, wie die Rinder, die Pelze, die irdenen Töpfe und die Werkzeuge zu erbeuten.
Gemeinsam dachten sie sich den Plan aus, wie sie das bewerkstelligen könnten: Ein paar Maroder sollten sich als Händler verkleiden und die Gerüchte von dem Monster verbreiten, und einer der jungen Männer sollte dann mit dem scheinbar genialen Überlebensplan ankommen.“
Und wurden sie gefasst?“ fragte Hope noch einmal.
Nein“, antwortete der Professor. „Die Dörfler haben die Maroder nie eingeholt.“
Und die Dörfler, was war dann mit ihnen?“ wollte Hope unbedingt wissen.
Viele von ihnen starben im nächsten Winter“, antwortete ihr Großonkel.
Weil sie all ihre Kühe und ihre Vorräte verloren hatten?“ fragte Hope traurig.
Zum Teil, aber der Hauptgrund war, dass sie etwas noch viel Wichtigeres verloren hatten“, erklärte der Professor.
Was war das denn?“ fragte Hope
Ihr Vertrauen“, antwortete ihr Großonkel. „Sie hatten das Vertrauen in einander verloren. Die Verwandten der drei jungen Männer wurden dafür verantwortlich gemacht, so furchtbare Kinder großgezogen zu haben, und es kam der Verdacht auf, dass sie vielleicht von deren Plänen gewusst haben könnten. Nach und nach kamen auch andere Leute noch unter Verdacht. Und anstatt zusammen zu arbeiten, um ihre Vorräte vor dem nächsten Winter wieder aufzufüllen durch Jagen und Fischen und das Sammeln von Pflanzen, kämpften die Leute stattdessen miteinander. Ein paar wurden sogar bei diesen Kämpfen getötet.
An diesem Punkt angekommen, brach der Stamm auseinander. Kleine Gruppen gingen nun in unterschiedliche Richtungen. Einige schlossen sich anderen Stämmen an und überlebten, andere aber nicht.“
Der Professor schwieg.
Das ist ein schreckliche Geschichte“, protestierte Hope. „Die hat mir überhaupt nicht gefallen. Und außerdem habe ich sie nicht verstanden.
Du hast gesagt, dass Vertrauen unheimlich wichtig ist. Aber die Dörfler hätten den Überfall nur verhindern können, wenn sie den drei jungen Männern nicht vertraut hätten. Und der Grumpie Älteste hat ihnen misstraut, aber keiner hat ihm geglaubt. Was für einen Nutzen hatte dann so ein Talent?
Was hätte denn überhaupt etwas geändert?“
Hope hatte jetzt trotzig die Augen zu Boden gewandt. Der Professor legte seine Hand unter ihr Kinn und hob es an.
Die Antwort dafür“, sagte er, „ist Zeit, meine Kleine, Zeit.“
***
Nachdem wir das letzte Venus-Projekt ausgekundschaftet haben, sind wir jetzt auf dem Weg zu Nanami und Pedro Allegri. Nanami ist die Frau, die ihr Kind weggeben hat, weil sie es mehr liebt, als alles andere auf der Welt.
Im dichten Verkehr kommen wir nur langsam voran. Darryl und meine Gefährten aus Spesaeterna schweigen. Während Darryl mit Hilfe seines Armbandkontrollers mit seinen Männern kommuniziert, bereiten wir anderen uns mental für die nächsten Schritte vor.
Wir machen Fortschritte“, informiert der Texaner uns andere. „In Kürze wird jeder der Männer auf seinem designierten Posten sein.“
Mr Wang brummt seine Zustimmung, während der Rest von uns nur schweigend nickt. Die Stille um mich herum treibt mich wieder in die dunklen Abgründe meiner Gedanken.
Wenn alles gut geht, dann wird Nanami heute Abend ihr Kind wiedersehen, und sie werden dann für immer zusammen bleiben. Aber ich, ich hatte nicht einmal drei Wochen mit meiner Mutter...
***
Hope schüttelte den Kopf und sah ihren Großonkel fragend an: „Ich verstehe nicht, welche Zeit?“
Es kam die Zeit“, antwortete der Professor, „als die Welt der Steinzeitmenschen sich völlig verändert hatte, und sie am Ende so aussah:“ Mit einem einzigen Tastendruck verschwanden alle Graphen und Gleichungen vom großen Schirm des Professors und wurden von einem überdimensionalen Gemälde ersetzt, das mit dem Titel „Die Pyramide der Macht“ versehen war.
Aber das ist doch gar keine Pyramide“, kommentierte Hope.
Richtig, das ist nicht wirklich eine“, stimmte der Professor ihr zu.
Hast du das Bild gemalt“, fragte sie nun.
Der Professor schüttelte den Kopf: „Das war ein Künstler vor über 200 Jahren.“
Hope seufzte erleichtert, denn nun konnte sie ihre ehrliche Meinung dazu sagen: „Das Bild ist wirklich hässlich.“
Der Professor lächelte und meinte dann: „Aber es ist trotzdem ziemlich interessant, oder?“
Hope musste zugeben, dass das Gemälde in all seiner Hässlichkeit eine gewisse Faszination auf sie ausübte.
Die untersten drei Stufen der Konstruktion, die dort abgebildet war, schienen wirklich das Fundament einer Pyramide zu bilden, die graduell schmaler wurde, während sie an Höhe gewann.
Gebaut war die Struktur jedoch nicht auf einem soliden Erd-Fundament, sondern auf einer Grube von in einander gewundenen Schlangen. Einige von ihnen bedrohten den Betrachter mit ihrem aus einem weit offenen Schlund herausragenden spitzigen Zähnen, die von giftigem Geifer trieften. Dutzende Schlangen krochen auch auf den Fußböden innerhalb des Gebäudes oder wanden sich um dessen tragende Säulen.
Als sie jedoch genauer hinsah, erkannte Hope, dass auch die Fußböden, die Wände und die Säulen selbst nichts anderes waren als aneinander gereihte Schlangen, die sich gegenseitig in die Schwänze bissen.
Eingeschlossen in diese Schlangenstruktur waren Menschen. Einige von ihnen saßen allein und apathisch auf dem Boden. Ein Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung sprach aus ihnen. Andere hatten sich eng zusammengedrängt, während ihre Gesichter nur Furcht und Schmerz zeigten.
Wieder andere waren dabei mit Wut verzerrten Gesichtern, Pistolen und Messer oder auch nur spitzige Ellbogen dazu zu benutzen, um ihre Leidensgenossen aus dem Weg zu drängen, und diejenigen, die bereits am Boden lagen als Hocker und Leitern zu benutzen, um ein höheres Stockwerk zu erreichen.
Von der zweiten Ebene aufwärts hatten die Menschen Schlingen um ihre Hälse, deren Seil-Enden manchmal von anderen Leuten auf höheren Ebenen gehalten wurden. Oft aber waren diese Seile auch direkt mit der Schlangenstruktur des sonderbaren Gebäudes verbunden.
Alle diejenigen, die solche Seilenden in den Händen hielten, wurden wiederum selbst beinahe von den Schlingen stranguliert, die um ihre eigenen Hälse gelegt waren. Und genau wie die gesamte restliche Struktur, so waren die Seile, die die Menschen strangulierten, nichts anderes als Schlangen, die sich in sich selbst oder in die Schwänze anderer Schlangen verbissen hatten.
Komischerweise waren diese Schlangenseile im Grunde absolut notwendig für den strukturellen Zusammenhalt des ganzen Gebäudes. Ab der vierten Ebene nämlich, war dieses Gebäude nicht mehr eine feste Einheit, sondern nur noch eine Masse von Dutzenden und Aber-Dutzenden kleinerer pyramidenartiger Strukturen, die durch den Raum schwebten und sich in alle Richtungen drehten, ohne irgendwie von einer Schwerkraft festgehalten zu werden. Was diese schwebenden Gebilde noch irgendwie miteinander und mit den unteren Ebenen verband, waren allein diese ineinander gewundenen Schlangenseile.
Während einige der kleineren Strukturen eine echte Pyramidenform aufwiesen, besonders diejenigen, in denen die Eingeschlossenen Uniformen trugen, sahen andere verzerrt und verdreht aus. Wieder andere hatten die Form eines altmodischen Korsetts, eingeschnürt in der Mitte.
Und genau wie auf den unteren Ebenen, so waren auch einige der Menschen, die in diesen kleineren Strukturen eingesperrt waren, dabei mit allen Mitteln zu versuchen auf eine höhere Ebene innerhalb ihrer Struktur zu gelangen. Einige hatten sogar Messer in die Rücken ihrer Nachbarn gebohrt, um diese Messer dann als Leitern zu benutzen, auf denen sie hochkletterten.
Einige hatten es geschafft ihr eigenes Gebilde zu verlassen und waren nun dabei an den Schlangenseilen entlang zu klettern, ohne in ihrer Schwerelosigkeit zu bemerken, dass sie eigentlich gar nicht nach oben, sondern nach unten kletterten. Und genau wie die Leute innerhalb der einzelnen Gebilde, so hatten auch die Kletterer Schlingen um den Hals gewunden.
Um das Ganze herum flogen verschiedene Waffensysteme wie Panzer, Raketen, Bomber und Drohnen. Jedes dieser Rüstungsprodukte war auch wiederum durch Schlangenseile mit bestimmten Männern innerhalb der schwebenden falschen Pyramidenstruktur verbunden.
In der Mitte dieser chaotischen Ansammlung von verschrobenen Gebäuden und Waffen war das Bild eines riesigen Auges zu erkennen, in dessen Innern einige Leute um die Iris herum versammelt waren. Und genau wie alles andere in diesem Gemälde, war auch dieses Auge irgendwie verzerrt. Es schien selbst ein Spiegelbild derer zu sein, die sich in seinem Inneren aufhielten, deren Gesichter nicht allein von Angst und Hass, sondern -genau wie bei den anderen Menschen- von einem Erstickungs-Gefühl gezeichnet waren. Auch ihnen waren Schlangenseile um ihre Hälse gelegt, die direkt mit den Schlangenwänden der Gebäude-Struktur um sie herum verbunden waren.
Das ganze Gemälde auf dem großen Bildschirm des Professors vermittelte dem Betrachter eine Aura der völligen Hoffnungslosigkeit. Alle waren sie dort eingesperrt und dem Ersticken nahe. Es gab keinen Ausweg, und selbst der Hintergrund war in einem tristen dunklen Grau gehalten.
Hope spürte, dass das Betrachten des Bildes sie noch mehr deprimierte, als die Geschichte von den betrogenen Dörflern.
Das macht überhaupt keinen Sinn“, protestierte sie. „Keine Welt kann so aussehen, mit schwebenden Gebäuden, die alle aus Schlangen gemacht sind.“
Künstler sehen die Welt oft anders als andere Leute“, erwiderte der Professor. „Und dieser bestimmte Künstler, der gegen Ende der Dunklen Zeiten lebte, sah seine Welt nun einmal auf diese Weise.“
Aber lass uns erst zu den Dörflern zurückkehren, die in einer Zeit weit, weit früher als die Dunklen Zeiten gelebt haben.
Mit diesen Worten tippte der Professor wieder auf seiner Tastatur, und das hässliche Gemälde verschwand, um wieder für die Gleichungen und Graphen des Professors Platz zu machen.
Dann fuhr er mit seiner Geschichte fort:
Mit der Zeit passten sich die Überlebenden des Dorfes an ihre neuen Gemeinden an, und sie lernten wieder zu vertrauen. Sie hatten Kinder und Kindeskinder.
Die Maroder, aber hatten auch Kinder, und sie lehrten ihre Kinder andere Menschen anzugreifen, sie auszuplündern und alle umzubringen, die sich ihnen widersetzten.
Mit der Zeit jedoch lernten die Nachfahren der Maroder, dass es viel effektiver und profitabler sein kann, andere Dörfer nicht zu zerstören, sondern ihnen einfach nur mit Gewalt zu drohen, und dann eine Tributzahlung aus Nahrungsmitteln, Fellen und Werkzeugen zu verlangen. Und die Nachfahren der Dörfler entschieden, dass es weniger Leben kostete und weniger zerstört wurde, wenn man die Angreifer einfach nur auszahlte.
Mit der Zeit sahen die Maroder dann dieses eigentliche Erpressungs-Arrangement als die göttliche Ordnung der Dinge an. Und während die Menschen zu allen Zeiten auf der Suche nach Gott waren, und sie Seine Macht meist in den Naturgewalten erkannten, da verdrehten die religiösen Führer der Maroder-Stämme nach und nach ihre Religionen auf die Weise, dass sie zu den Taten der Maroder passten.
Mit der Zeit nannten die Stammesführer der Maroder sich Könige und ihre Stammesmitglieder nannten sich Nobelmänner, während die Bauern und alle anderen, die durch diese systematischen Ausplünderungen unterdrückt wurden, in diesem System zu Sklaven und Leibeigenen wurden, zu Mitgliedern der tieferen Stände oder Kasten. Ein Teil der unter der Maroder-Herrschaft lebenden Menschen wurde von den Maroder-Religionen als kaum noch menschlich bezeichnet, als Wesen, die von niedrigerem Wert waren als Tiere.“
Aber Großonkel“, protestierte Hope, „du hast doch mir und Ameenah erklärt, dass Religionen etwas Gutes seien, auch die Religionen von anderen Leuten, weißt du noch?“ Dann hielt sie für einen Augenblick inne, um danach hinzuzufügen: „Ach ich erinnere mich, da war der Abrutsch in das Meer der Verzweiflung, da hast du die Maroder-Religion damit gemeint, stimmts?“
Ihr Großonkel nickte und erklärte weiter: „Aber es war nicht nur eine einzige Religion. Jeder Maroder-Stamm hatte eine eigene Religion, wobei unterschiedliche Gottheiten verehrt wurden. Manchen dieser Götter mussten sogar Menschenopfer gebracht werden. In Wahrheit waren all diese Götter aber nichts anderes als überhöhte Spiegelbilder der Maroder selbst, brutal, selbstgefällig und rachsüchtig. Eines aber hatten diese verschiedenen Religionen gemeinsam: Es war der feste Glaube, dass Menschen von unterschiedlichem Wert seien.
Und auch wenn eine gewisses Maß an Niederträchtigkeit und Aggressivität schon immer ein Teil der menschlichen Natur gewesen war, so hatten die Maroder es doch nach und nach geschafft, diese negativen Eigenschaften als noble Tugenden darzustellen.
So wurde mit der Zeit die gesamte Kultur all derer transformiert, die von den Marodern erobert und unter ihre Knute gezwungen worden waren. Purer Egoismus war nun akzeptabel geworden, und Altruismus gegenüber dem Nachbarn wurde als verwerflich angesehen, wenn dieser Nachbar auf einer niedrigeren Stufe der Hierarchie stand als man selbst.
Der Professor nahm sich eine Atempause und sah Hope dabei fragend an: „Weißt du was geschieht, wenn große Gruppen von Menschen in Unterdrückung leben?“
Natürlich wusste Hope das: „Ja, Sensei hat es uns das schon genau erklärt“, dann zitierte sie:
Menschen, die schlimme Naturkatastrophen überleben oder unter Bedingungen von Hunger, Armut und Unterdrückung leben, die werden daraufhin unweigerlich mehr Kinder haben als diejenigen, die unter guten Verhältnissen leben. Das ist nämlich, genau wie das Erste Prinzip, in unserer DNA verankert. Denn unter schlechten Bedingungen da liegt die einzige Hoffnung für eine bessere Zukunft allein in den Kindern.“
Sensei Thomsen hat das wirklich gut gesagt“ lobte der Professor. „Und hat er euch auch erklärt, was geschieht, wenn mehr und mehr Menschen immer enger zusammen leben?“
Hope nickte: „Ja das hat er. Wenn das geschieht, dann wächst das Wissen. Denn mehr Menschen bedeutet, mehr Hirnkraft, mehr Intelligenz.“
Wieder stimmte der Professor zu: „Das Wissen wuchs. Jedoch genau wie die Maroder beschlossen hatten, dass alle Menschen, die in ihren Königreichen lebten, ihnen als Untertanen gehörten, so wurde auch das Wissen dieser Untertanen zum Eigentum der Herrscher.
Wissen wurde zu einem Besitz, der konzentriert und gehortet werden und von denen fern gehalten werden musste, über die man herrschen wollte.
Und mit der Zeit haben dann die Stammeszauberer Wege gefunden, um Wissen in geheimen und geheiligten Zeichen zu kodieren. Und nur den Auserwählten wurden diese Codes gelehrt. Das war übrigens der Beginn des Lesens und Schreibens.“
Der Professor lächelte und fügt hinzu: „Und da siehst du wieder einmal, dass sogar aus den schlimmsten Umständen manchmal etwas ganz Gutes entstehen kann.
Auf diese Weise konnten somit die Kenntnisse der Menschen über die Welt um sie herum dokumentiert werden. Mehr und mehr Wissen konnte nun gesammelt und weitergegeben werden. Viel von dem, was in den Aufzeichnungen angesammelt worden war, wurde allerdings dann vor allem dazu benutzt, neue Waffen zu erfinden. Aber bald waren es dann nicht nur physische Dinge, wie Pfeile, Speerspitzen und Schwerter, die nun aus immer härteren Metallen hergestellt werden konnten, nein, es war das Wissen an sich, das zur Waffe gemacht wurde, eine Waffe, die nur der Machtvermehrung diente.“
Wer beispielsweise das Wissen über die Bewegungen von Sonne und Mond zueinander hatte, der konnte eine Sonnen- oder eine Mondfinsternis voraussagen, und deshalb wurden ihm furchteinflößende magische Kräfte zugesprochen.“
Mit ein paar Tastenschlägen produzierte der Professor eine holographische Sonnenfinsternis vor Hope's Augen.
Ja, das sieht wirklich furchterregend aus“, kommentierte Hope, während sie beobachtete wie der Raum sich verdunkelte, „wenn man nicht weiß, dass die Sonne doch bald wiederkommt.“
In der Tat“, gab der Professor seine Zustimmung, als er nach einer Weile die Projektion wieder abstellte.
Ein Mangel an Wissen führt oft dazu, dass man Dinge fürchtet, die man nicht wirklich zu fürchten braucht. Und zu allen Zeiten wurde Furcht als Waffe benutzt, und immer von denen, die ein bestimmtes Wissen hatten, gegen die, die es nicht hatten.
Mit der Zeit konnten sich dann die Maroder-Königreiche wegen ihrer überlegenen Waffentechnologie und ihres überlegenen Wissens durch Eroberungen immer weiter vergrößern. Und so wurden Königreiche zu Imperien. Das angewachsene Wissen wurde unter anderem dann dazu benutzt, riesige Gebäude als Symbole für die Macht des Imperiums und seiner Herrscher zu errichten. Im Laufe der Zeit jedoch, brach jedes dieser Imperien letztendlich wieder in sich zusammen oder es wurde von außen zerstört.
Denn was geschieht, wenn Macht zu stark konzentriert wird?“
Hope hatte ihre eigene Antwort dafür: „Dann kommt das fette Machtmonster. Und das treibt dich in den Wahnsinn“. Sie hob ihre Hände und formte sie zu Klauen, die den unsichtbaren Kopf eines undglücklichen Opfers seiner eigenen Macht umschlossen.
Der Professor lächelte: „Wird diese Bildgeschichte in der Schule immer noch benutzt. Die habe ich schon gesehen als ich selbst noch ein Kind war.
Dann wurde er wieder ernst: „Das ist auch ein wirklich gutes Bild. Zu viel Macht, wenn sie auf eine zu kleine Gruppe von Leuten konzentriert ist, korrumpiert zum einen deren Gedanken, so dass diese zu Unehrlichkeit und Rücksichtslosigkeit verleitet werden. Aber mehr noch löst diese Machtkonzentration meist auch ein Verhalten in den Mächtigen aus, dass an puren Wahnsinn grenzt. Die Mächtigen beginnen irrsinnige Risiken einzugehen, wobei sie dann leichtsinnig das eigene System zerstören, das ihre Vorfahren über lange Zeiten hindurch aufgebaut haben.
Trauriger weise verging dann praktisch überhaupt keine Zeit, bis ein zerfallendes Imperium von einem neuen, aufsteigendem ersetzt wurde. In den meisten Zeiten haben unterschiedliche Imperien an verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig regiert. Und genau so oft haben diese Imperien sich gegenseitig bekriegt, um die eigene Macht und das eigene Territorium zu vergrößern.
Zur Zeit des römischen Imperiums aber, da kam jemand zu seiner eigenen Zeit.“
Die Stimme des Professors wurde jetzt sanft und voller Wärme, eine Wärme, die auch Hope mit einschloss, als er sagte: „Es war der Eine, dessen Kommen vor Zeiten vorhergesagt wurde. Er war es, der die Menschheit mit Gott versöhnen würde. Und Er war es, der die Menschen wieder mit dem verbinden sollte, was in der Tiefe ihrer Seele vom Finger Gottes selbst geschrieben worden war. Seine Botschaft war anders, als die der Maroder-Religionen. Sie sprach von Demut anstatt Selbstüberhöhung, von Liebe statt von Macht, von einem Gott, der sich nicht als herrisch oder rachsüchtig gibt, sondern der selbst leidet und stirbt für sein Volk. Und diese Botschaft resonierte in den Herzen vieler Menschen.
Und so geschah es, dass das Christentum unter den vielen Völkern des römischen Reiches immer größeren Zulauf bekam. Mit der Zeit waren dann die Christen, die kurz zuvor noch verfolgt und getötet worden waren, so viele an der Zahl geworden, dass selbst die Mächtigen, die Nachfahren der Verfolger, dem Christentum nicht mehr widerstehen konnten.
Stattdessen“, und hier wurde die Stimme des Professors wieder zu der eines nüchternen Dokumentators von Fakten, „wurden mit der Zeit die christlichen Lehren uminterpretiert, um besser den Zielen der Herrschenden zu dienen. Gelegentlich war diese Strategie auch erfolgreich. Aber jedes Mal wurde dann zu seiner Zeit erkannt, dass diese neuen Interpretationen falsch waren. Und so wurden sie wieder revidiert. Denn das Christentum ist von seiner tiefsten Natur her eine egalitäre und universelle Religion, und das wird es im Grunde immer bleiben.
Du weißt doch, was das ist?“
Hope schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht.
Der Professor erklärte daraufhin: „Eine egalitäre Religion ist eine, in der alle Menschen vor Gott gleich sind, und eine universelle Religion ist eine, der jeder Mensch beitreten darf, der es will.“
Danach fuhr er mit seiner Reise durch die Geschichte fort: „Eine andere elitäre und universelle Religion entstand ein paar Jahrhunderte später, und das war der Islam.
Für diejenigen aber, die sich anderen Menschen von Grund auf überlegen fühlten, schien die Idee von der Gleichheit aller Menschen, selbst wenn das allein eine spirituelle Gleichheit sein sollte, einfach unerträglich zu sein.
Nachdem dann mächtige Individuen es erreicht hatten, die Christen Europas in einen Krieg gegen die angrenzenden islamischen Länder zu führen, da entdeckten die Anführer dieser Krieger dort in den Ländern des Ostens einige längst vergessene alte Schriften, die das Wissen und die religiösen Traditionen verschiedener Maroder-Kulturen enthielten. Und diese Kriegs- und machtlüsternen Männer fanden diese alten Religionen weit attraktiver als ihre eigene christliche Religion.
Und aus den Teilen der unterschiedlichen alten Religionen bastelten sie sich eine neue. Es war eine Religion des Machtstrebens und des Größenwahns. Es war eine geschlossene Gesellschaft, beschränkt auf wenige, auf die Ambitionierten, die 'Auserwählten'. Diese neue Maroder-Religion würde vorerst die anderen Religionen nicht ersetzen, stattdessen bekannten sich ihre Mitglieder öffentlich zur Religion der Mehrheit der Menschen, während sie privat eine völlig andere praktizierten.“
Die haben über ihre Religion gelogen?“ fragte Hope voller Entrüstung, „Das ist ja, als ob man über Gott lügt, warum haben die denn so etwas getan?“
Nun ja“, erwiderte der Professor bedächtig, „diese Männer dachten, sie hätten keine Wahl. Denn es war schließlich verboten und wurde mit schweren Strafen belegt, wenn man eine andere Religion hatte, als die meisten Menschen.“
Diese neuen Maroder, die hatten total Unrecht mit ihrer Religion der Macht“, erklärte Hope entschieden. „Also warum sollte die dann nicht verboten sein?“
Der Professor gab keine direkte Antwort und forderte sie stattdessen auf: „Lass uns einfach sehen, was zu der Zeit geschehen ist.
Die Notwendigkeit zur Geheimhaltung hielt Leute nicht davon ab, dieser neuen Religion beizutreten. Im Gegenteil, viele junge Männer fanden es äußerst faszinierend sich an verschlossenen Orten zu geheimen Treffen zu versammeln. Sie glaubten, dass das Wissen über geheime Symbole und deren Bedeutung ihnen eine distinktive Aura verlieh, eine Berechtigung, sich überlegen zu fühlen und sich von all denjenigen abzuheben, die sie als minderwertig ansahen.
Mit der Zeit wurden diese Männer extrem reich. Zuerst geschah das durch die Kriegsbeute aus den muslimischen Ländern. Nach einiger Zeit jedoch kehrten die Maroder nach Europa zurück. Sie waren zwar im großen Krieg gegen die Muslime besiegt worden, nun jedoch, begannen sie ihre eigenen kleinen Kriege überall in den christlichen Ländern anzuzetteln, wobei sie Nachbarstädte und Dörfer gegeneinander aufhetzten und sie so in endlose Kämpfe gegeneinander verwickelten. Sie liehen dann jeweils beiden Kriegsparteien das aus, was sie benötigten, um die Kriegskosten zu finanzieren, um dann von der Kriegsbeute des Gewinners bezahlt zu werden. Der Gewinner konnte daraufhin den Verlierer endlos bluten lassen.
Durch die Praxis des Gold-Verleihens wurde der religiöse Orden der neuen Maroder zur größten Organisation von Wucherern im Europa der damaligen Zeit, obwohl Wucherei sowohl in der christlichen als auch in der islamischen Religion immer noch verboten war.
Du weißt doch, was Wucherei bedeutet, Hope, oder nicht?“ unterbrach sich der Professor selbst, um sicher zu gehen, dass Hope ihn verstand.
Sie wusste es nicht und schüttelte den Kopf.
Wucherei ist ein altes Wort, das du bereits in der Bibel finden kannst“, begann der Professor zu erklären, während er sich umdrehte und auf ein Ledergebundes Exemplar deutete, das neben seiner Tastatur lag. Hope wusste, dass dies eines von nur einer Handvoll von nicht-elektronischen Büchern in ihrem Dorf war, sogar Pater Maximilian benutzte die Bibel aus dem Friedensnetz.
Der Professor drehte sich Hope wieder zu und fuhr mit seiner Erklärung fort: „Wucherei bedeutet, dass, wenn du jemandem eine Summe von Coin ausleihst, dann verlangst du, dass er einen Prozentsatz mehr zurück bezahlt als du ihm geliehen hast. Während der Dunklen Zeiten wurde so etwas eine Zinsforderung genannt.
Und obwohl die Maroder offiziell Christen waren, waren sie inzwischen bereits so reich und mächtig geworden, mächtiger als alle Kirchenfürsten und alle Könige Europas, so dass sie offen und ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, das Kirchenverbot gegen die Wucherei übertreten konnten. Die Wucherei zusammen mit den Kriegsprofiten wurde zur Basis eines immer mehr anwachsenden Reichtums.
Dieses Vermögen wurde aber auch zur Grundlage einer immer wachsenden Arroganz. Genau wie die meisten Leute, die an korrumpierender Machtbesessenheit leiden, so wurden auch die Maroder nicht nur immer rücksichtsloser sondern auch immer leichtsinniger. Am Ende hatten sie sich ein paar zu viele Feinde gemacht.
Als schließlich Gerüchte bezüglich ihrer absonderlichen religiösen Rituale aufkamen, da packte ein französischer König die Gelegenheit beim Schopf und verbot die Organisation. Er ließ ihre Führer gefangen nehmen. Und nachdem diese gefoltert worden waren, wurden sie dann auf brutalste Weise hingerichtet.
Der Professor schwieg nun für einen Augenblick.
Aus Hope, die mit einer entrüsteten Miene interessiert zugehört hatte, platzte es heraus: „Es waren aber auch richtig böse Leute, diese Maroder, die haben Menschen in Kriege getrieben, nur damit sie selbst dadurch reich werden konnten. Die waren wirklich, wirklich böse.“
Also, du glaubst, sie hatten es verdient?“ fragte der Professor und wartete ein paar Sekunden auf die Antwort.
Als Hope aber nur ihre Augen abwandte, fuhr er fort: „Die Führer und einige der gewöhnlichen Mitglieder wurden auf eine Weise gefoltert, die furchtbare Schmerzen erzeugt, und danach wurden sie bei lebendigem Leib in Stücke gerissen oder an einen Pfahl gebunden und dort verbrannt.“
Mit diesen Worten drehte der Professor sich wieder seinem Computer zu, und mit ein paar Tastenschlägen erschien eine mittelalterliche Zeichnung von der Verbrennung eines Häretikers.
Hope sah sie nur für eine Sekunde an und wandte dann schnell ihre Augen davon ab, wobei sie mit leiser, zögerlicher Stimme protestierte:
Nein, ich glaube nicht, dass sie es verdient haben. Das war auch falsch... es... es war auch böse.“
Der Professor nickte wieder: „Wenn eine verwerfliche Handlung mit einer anderen gekontert wird, da kann daraus nichts Gutes erwachsen. Das Verbrennen dieser Männer, die Häretiker genannt wurden, führte zur Verbrennung vieler anderer Menschen. Es waren unschuldige Männer, die auch der Häresie beschuldigt wurden, und unschuldige Frauen, die als Hexen bezeichnet wurden. Die meisten dieser Unglücklichen hatten nichts von dem getan, was ihnen zur Last gelegt wurde. Sie waren einfach nur Opfer schlimmer Gerüchte geworden.
Die überlebenden Mitglieder der Maroder Religion jedoch, gingen einfach noch tiefer in den Untergrund und agierten wie zuvor im Geheimen. Und weil sie ihre getöteten Führer als Märtyrer betrachteten, fühlten sie sich in ihrem Glauben bestärkt, und sie entwickelten einen großen Hass gegen die Kirche und einen Durst nach Rache.
Im Untergrund entwickelte sich die Maroder Religion sogar noch besser als zuvor, wobei sie eine ständig wachsende Anhängerschaft unter jungen Männern mit Überlegenheitskomplexen gewann. Ihre Tradition der Geheimniskrämerei und der Täuschung erlaubte es ihnen, sich in die höchsten Positionen am Hofe von Königen und Kaisern einzuschleichen, wobei sie deren engste Vertraute wurden. Sie wurden zu Gouverneuren und Administratoren, und natürlich wurden sie zu den Kriegs-Finanziers aller Länder. Mit der Zeit wurden die Maroder dann zu den wirklichen Machthabern dieser Staaten, zu den sogenannten Mächten hinter dem Thron.
Bevor ihre Organisation verboten worden war, da hatte der Einfluss der Maroder in der Kirche eine Welle von Korruption unter deren Würdenträgern ausgelöst. Danach konnten die heimlichen Maroder die Entrüstung vieler Menschen über genau diese Korruption dazu nutzen, die Kritiker und Reformer darin zu bestärken, sich von der Mehrheits-Kirche abzuspalten, indem sie diese Abspaltungsbewegungen finanziell und militärisch unterstützten.“
Hope's Gesicht zeigte jetzt den Ausdruck von Frustration, während ihr Großonkel seine Geschichtslektion in einem neutralen und emotionslosen Ton fortführte.
Als dann die Dunklen Zeiten begannen, da hatte sich auch die Maroder-Religion in unterschiedliche Abteilungen gespalten, die einander manchmal bekämpften. Öfter aber kooperierten sie miteinander. Zusammengenommen waren die Mitglieder der diversen Maroder-Organisationen nun zu den mächtigsten Männern der Welt aufgestiegen.
Ihr Glaube sah vor, dass am Ende die gesamte menschliche Gesellschaft in einer einzigen eine Pyramide ähnlichen Macht-Hierarchie eingeschlossen werden sollte. Pyramiden waren einmal vor tausenden von Jahren als riesige Grabmäler gebaut worden für ägyptische Herrscher, die von sich selbst geglaubt hatten, sie seien Götter.”
Der Professor drehte sich wieder um. Und nach ein paar Tastenschlägen erschien vor Hope's Augen das Bild einer Pyramide, mit einem allsehenden Auge an der Spitze, wie es auf der amerikanischen Dollarnote abgebildet ist.
Danach fuhr der Professor fort: „Das Auge an der Spitze dieser Pyramide symbolisiert eine Gruppe von weisen Männern, den Führern der Zukunft, die zu diesem Zeitpunkt dann das Wissen der ganzen Welt in sich vereinigt haben würden, wodurch sie dann in der Lage wären, diese Welt zu regieren. Und all die wertlosen Menschen am unteren Ende der Pyramide würden dann von den loyalen Dienern dieser weisen Männer kontrolliert werden. Diese Diener wären dann selbst in untereinander liegenden Schichten organisiert, geformt wie die Steinklötze der Pyramide.
Von oben nach unten würde diesen Dienern je nach ihrer Position in der Macht-Pyramide das für ihre Stellung notwendige Wissen nur in kleinen Portionen zugeteilt werden. Diese Diener könnten dann zwar zu höheren Positionen aufsteigen, aber nur gemäß ihres bedingungslosen Gehorsams und des Nutzens den diejenigen, die über ihnen platziert waren, aus ihnen ziehen konnten.
Genau wie die ersten Maroder, so waren auch die Mitglieder der neuen Maroder-Religion überzeugt davon, dass es ihre von Gott zugeteilte Aufgabe sei, zu Herrschern über die Menschen zu werden, und dass es ihre wahre Bestimmung im Leben sei, in einem ewigen Kampf allen Widerstand zu ihrer Herrschaft auszumerzen. Sie glaubten, das Universum selbst, sei aus einem ursprünglichen Chaos durch den immerwährenden Kampf entgegengesetzter Kräfte hervorgebracht worden.
Und aus den Grundsätzen des Maroder-Glaubens entwickelten sich die Maroder-Philosophien und die Maroder-Wissenschaft.
Weißt du, was eine Philosophie ist, Kleines?“ fragte der Professor dann.
Als Hope den Kopf schüttelte, gab er ihr die Erklärung: „Es ist ein Glaubenssystem, das die Welt ohne eine himmlische Kraft erklärt, eigentlich eine Religion ohne einen Gott.“
Wie sonderbar“, meinte Hope und sah den Professor kopfschüttelnd an.
Sonderbar für dich und mich“, stimmte der Professor zu, „aber nicht für diese Maroder. Für sie schien es ganz logisch zu sein, dass wenn das Wissen der Menschheit weit genug angewachsen war, sie dann keinen Gott mehr brauchte, denn die Menschen konnten nun für sich selbst zu Göttern werden.
Und da die Mitglieder der Maroder-Religion sich für die Hüter allen Wissens hielten, so sahen sich Maroder-Philosophen als die Urheber aller Wissenschaft. Deshalb wurde in den Dunklen Zeiten die ganze Welt einschließlich der Naturgesetze in der Terminologie der Maroder-Philosophie als gegeneinander kämpfende Kräfte beschrieben.
Der grundsätzliche Glaube der Maroder Wissenschaftler war, dass alles Leben, einschließlich des menschlichen, als Resultat eines Kampfes von jedem gegen jeden entstanden war. Überleben war nur den Stärkeren vorbehalten, während die Schwächeren den Tod verdienten.
Und wegen des großen Einflusses, den die Maroder auf die Staaten der Welt ausüben konnten, deshalb wurden ihre Glaubenssätze von den wissenschaftlichen und den Bildungs-Instituten der Welt als universelle Wahrheiten deklariert.
Aber Großonkel, das ist doch alles ganz falsch“, regte Hope sich auf. „Wie konnten irgendwelche Wissenschaftler so etwas glauben, dass Leben das Resultat von Kämpfen ist?
Die Grundlage des Lebens ist Kooperation, das haben wir in der Schule gelernt. Aber das braucht man doch gar nicht zu lernen. Das kann man doch sehen.
Atome kombinieren sich zu Molekülen und Moleküle zu Aminosäuren, die dann wieder komplexe Proteine formen. So dass sie Baupläne bilden, die als DNA in jeder lebenden Zelle gespeichert sind...und nach diesen DNA Informationen reproduzieren sich auch die Zellen... und einzelne Zellen kooperieren um vielzellige Organismen zu formen... und innerhalb dieser Organismen spezialisieren sich einige Zellen zu Hirnzellen und andere zu Organzellen und noch andere zu Haut- und Knochenzellen und all diese Zellen kooperieren miteinander, und kleine Organismen kooperieren sogar mit großen, wie die Bakterien in unserem Verdauungstrakt, die unsere Nahrung aufbrechen, damit daraus Energieträger werden können und...und sogar innerhalb der kleinsten Einzeller da kooperieren die einzelnen Teile, um winzige Maschinen zu bilden, durch die die Zelle sich fortbewegen kann...und... Pater Maximilian hat gesagt, dass wir genau daran die große Macht Gottes erkennen können, der nun einmal der Urheber all dieser wunderbaren Naturgesetze ist, und in seinem Geist der Liebe der Designer der ganzen Komplexität des Lebens...
Jetzt ging Hope die Luft aus und der Professor nickte: „Natürlich hast du Recht, wir wissen, dass alle Materie und Energie des Universums und ganz besonders die Existenz des Lebens selbst, das Resultat von einer endlosen Folge von Kooperationen ist. Wir wissen auch, dass in einer sich immer verändernden Welt, sowohl der Starke als auch der Schwache in Kooperation miteinander überleben müssen.
Denn was in einem Augenblick eine Schwäche zu sein scheint, das wird im nächsten bereits zur Stärke, wenn plötzlich alles anders ist. So dass die Kooperation von jedem mit jedem das Überleben aller sichert. In dem Maße jedoch, in dem du die Welt durch das Prisma der Maroder-Philosophie siehst, wirst du immer unfähiger, diese Wirklichkeit zu erkennen.
Hope schüttelte den Kopf: „Das verstehe ich nicht, warum konnten die Leute die Wirklichkeit nicht erkennen, und was ist ein Prisma?“
Der Professor formte seine Hände zu einem Dreieck und antwortete: „Ein Prisma ist ein Glas, das in zwei Winkel geschnitten wurde. Das Licht, das durch dieses Glas fällt wird nun gebrochen, so dass du es nur noch in Teilen siehst. Es scheint dann nicht mehr klar zu sein, stattdessen hat es nun all die Farben eines Regenbogens.
So ein Regenbogen ist zwar ein wunderschöner Anblick, und einige Leute betrachten genau diese Teile des Lichts als die wahre Realität. Und doch ist es eigentlich nur ein verzerrtes Bild von ihr, denn die ultimative Wahrheit ist nicht die Aufteilung sondern die Kombination aller Farben des Spektrums, die sich zum hellen Licht der Sonne vereinen.
Das Denken der dunkel-zeitigen Wissenschaftler war von dem Glauben beschnitten worden, dass Krieg und Kampf der wahre Sinn des Lebens seien. Und mit derselben Einstellung betrachteten sie dann auch die Natur. Und ihre Augen konnten nur erkennen, was ihr Sinn ihnen erlaubte zu sehen: eine Welt voll von Feindseligkeit.
Verstehst du das jetzt?“
Hope nickte, wenn auch zögerlich. Der Professor war damit zufrieden und fuhr fort: „In einer Welt, in der es um ständige Kämpfe und Rivalitäten geht, da wird jeder deiner Nachbarn zu einem potentiellen Feind und all deine Anstrengungen werden darauf ausgerichtet sein, bessere Waffen gegen ihn und alle anderen potentiellen Feinde zu entwickeln.
Die extremsten Anhänger der Maroder-Philosophie sahen sogar in der gesamten Menschheit den wahren Feind für das Leben auf der Erde. Für sie waren Menschen nichts anderes als Parasiten auf diesem Planeten, die sich zu weit ausgebreitet hatten und unbedingt reduziert werden mussten.
Andere Maroder-Philosophen sahen sich selbst als Wesen höherer Intelligenz, die ersten einer neuen Spezies von Übermenschen, die um den Fortschritt des intelligenten Lebens voranbringen zu können, die Untermenschenrasse einsperren oder gar nach und nach ausrotten mussten.“
Hope schauderte, während sie sich ein Bild von Menschen in Käfigen vorstellte. Die Geschichte des Professors erschien ihr wie ein gruseliges Märchen, und doch wusste sie, dass sie ein gutes Ende haben würde, aber jetzt noch nicht...
Und so“, erklärte der Professor weiter, „während Menschen mit dieser Einstellung die größte Macht ausübten, wurden die Dunklen Zeiten das Zeitalter mit den Kriegen, die die meisten Menschenleben in der Geschichte der Menschheit vernichteten.
Das konzentrierte Wissen der Menschen der Welt wurde dazu verwendet, immer zerstörerischere Waffen zu produzieren. Und wieder einmal war es das Wissen selbst, das zur effektivsten Waffe wurde, eine Waffe die gegen den menschlichen Geist eingesetzt wurde.
Die Imperien der Maroder wurden durch Eroberungskriege gebildet, aber durch Täuschung regiert. Eine dieser Waffen der Täuschung war das Coin-System der Dunklen Zeiten. Du weißt doch, warum es Coin gibt?“
Hope antwortete sofort: „Klar weiß ich das, um den Handel zu ermöglichen!“
Dann zitierte sie in ihrer Schulstimme: „Der Rubel muss rollen und Coin müssen fließen, immer von dort wo es viele Coin gibt, dahin wo es wenige gibt. Wenn du nach etwas suchst, das in deinem Dorf nicht hergestellt wird, dann musst du einen Verkäufer in einem Dorf mit einer niedrigen Summe auf dessen Intercoin-Konto finden. Nur so werden die Coin wieder fließen, und mehr Handel wird ermöglicht.“
Der Professor nickte: „So funktioniert unser System, es basiert auf Logik. Das System der Maroder-Wirtschaft war anders, es basierte auf Komplexität, Schulden und Wucher.
Sein wahres, wenn auch geheimes Ziel, war es nicht Handel zu ermöglichen, sondern das Vermögen von Land und Ressourcen von den vielen Menschen auf die wenigen zu transferieren, die das Coin-System kontrollierten.
In alten Zeiten wurden Coin-Münzen meist aus Gold oder Silber hergestellt, auf die dann die Bildnisse von Königen und Kaisern eingepresst wurden. Als die Imperien wuchsen und über große Landstriche der Erde herrschten, da wuchs auch das Handelsvolumen. Am Ende wurden Gold-Coin unpraktisch. Sie wurden von Papier-Coin ersetzt, die dann ebenfalls mit den Bildnissen der Mächtigen bedruckt waren.
Schließlich, in den Dunklen Zeiten, nachdem große Maschinen erfunden worden waren, da wurden immer mehr Coin benötigt, um Dinge produzieren zu können. Und die Leute, die etwas mit Maschinen herstellen wollten, die mussten erst einmal viele Coin ausleihen, denn Maschinen waren teuer. Und die Arbeiter mussten auch bezahlt werden, lange bevor die Produkte verkauft werden konnten.
Um das Ausleihen einfacher zu machen, wurden Konten erfunden, so wie wir sie auch heute haben, nur in den Dunklen Zeiten da wurden diese Konten von Banken kontrolliert. Wenn immer jemand Coin ausleihen musste, dann ging er zu einer Bank. Zu der Zeit dachten die meisten Menschen, dass die Banken die Coin, die sie verliehen von den Konten derjenigen Kunden nahmen, die ihre eigenen Coin dort auf der Bank für einen späteren Verbrauch aufbewahren ließen. Diese Kunden wurden Sparer genannt, und sie bekamen für das aufbewahrte Geld von der Bank ein klein wenig extra Geld dazu.
Aber so funktionierte das mit den Banken nicht. Stattdessen wurde den Kunden, die Coin ausleihen wollten, sie wurden Kreditnehmer genannt, die ausgeliehene Summe einfach in ihre Konten geschrieben, so dass sie mit diesen Coin das kaufen konnten, was sie brauchten.
Es ist in etwa so, wie es heutzutage geschieht, wenn die Distrikte oder die Nationen oder auch der Internationale Hilfskongress nicht genügend Intercoin für ihre Projekttöpfe sammeln können, dann wird der Rest der benötigten Summe in den jeweiligen Topf geschrieben. Unsere Repräsentanten versuchen das allerdings weit möglichst zu vermeiden. Weißt du auch warum?“
Sicher“, antwortete Hope. “Wenn mehr Coin im System sind, dann haben am Ende alle Coin weniger Kaufkraft.“
Ganz genau“, stimmte der Professor zu. „Und die Menschen in den Dunklen Zeiten wussten das auch.
Und deshalb haben sie es dann so gemacht, dass jedes Mal, wenn der Kreditnehmer seinen Kredit in kleinen Teilen zurückzahlte, dann verschwand diese zurückgezahlte Summe auch gleichzeitig aus dem System. Auf diese Weise vergrößerte sich die Coin-Summe im System nicht allzu viel.
Coin wurden geschaffen, wenn die Banken einen Kredit ausgaben, und sie verschwanden wieder, wenn dieser nach und nach zurückgezahlt wurde.
Da dies aber ein System war, das auf Wucherei basierte, da musste jeder Kreditnehmer Jahr für Jahr einen gewissen Prozentsatz mehr zurückzahlen, als er ausgeliehen hatte. Und das wurde damals Zins genannt und war der Profit der Bank.
Oh, aber Großonkel, das gibt überhaupt keinen Sinn. Wenn jemand Coin ausleiht, die gerade neu geschaffen in sein Konto hineingeschrieben wurden, und er benutzt diese Coin dafür, etwas von seinen Nachbarn zu kaufen, sollte das dann nicht heißen, dass er eigentlich seinen Nachbarn einen Prozentsatz mehr geben müsste.
Denn Coin haben ja gar keinen richtigen Wert, nur die Dinge die man benutzen oder essen kann, sind wirklich wertvoll. Und die Coin, die einfach in das Konto von jemandem geschrieben wurden, die wurden ja benutzt, um wirklich wertvolle Dinge damit zu kaufen. Das bedeutet doch, dass der Kreditnehmer in Wirklichkeit von seinen Nachbarn etwas borgt, von denen, die die Sachen gemacht haben, die er kaufen will.“
Hope hielt einen Augenblick inne und dachte nach, während sie sich auf die Unterlippe biss, dann fügte sie hinzu:
Der Verkäufer hat dann dieselben Coin auch weiter benutzt, um selbst etwas anderes zu kaufen, stimmt's? Und der nächste Verkäufer würde dasselbe tun und so weiter. Und alle benutzen dieselben Coin, die der Kreditnehmer einmal ausgeliehen hat. Es ist als ob jeder, der dasselbe Coin-System benutzt dem Kreditnehmer die Coin ausleiht, stimmt's Großonkel.
Also warum sollten die Banken die Erlaubnis haben, einen Prozentsatz mehr zu verlangen, warum nicht alle seine Nachbarn, sein ganzes Dorf oder seine ganze Nation?“ fragte Hope ganz logisch.
Der Professor erwiderte: „Weil sowohl der Kreditnehmer als auch die meisten anderen Leute keine Ahnung davon hatten. Nur wenige Menschen wussten, wie das System wirklich funktionierte. Die Wahrheit wurde hinter vielen Schichten von komplexen Gleichungen verborgen.“ Er deutete zur Projektion auf seiner Wand.
Aber das sind doch Zeitreise-Gleichungen“, kommentierte Hope perplex.
Die Gleichungen, die für das Coin-System der Dunklen Zeiten benutzt wurden, waren genau so kompliziert“, erklärte der Professor.
Nie gab es genügend Coin im System, um alle Schulden zurück zu zahlen, denn die Coin, um die Wucherzahlungen zu leisten, wurden ja niemals in irgendein Konto geschrieben. Stattdessen wurden mehr und mehr Schulden benötigt, um die alten Schulden zurückzahlen zu können.
Mit der Zeit waren alle Coin in den Systemen fast aller Nationen durch Schuld-Kredite entstanden, die man an Banken zurückzahlen musste. Und jeder Kredit war mit einer Wucherzahlung, genannt Zinsen, belastet.
Und die Schulden der Nationen und die der großen Produktionsstätten, die Konzerne genannt wurden, konnten niemals zurückgezahlt werden, denn diese Schulden waren ja nun die Coin, die alle Menschen brauchten, um Handel zu treiben und alles zu kaufen, was gebraucht wurde. Es war als ob die Coin im System alle nur negative Zahlen wären. Sie waren nichts, was Leute besaßen, stattdessen waren sie nur noch das, was sie schuldeten.
Immer wieder wurde dann die Last der Schulden zu schwer für die Regierungen der Nationen, für die Produktionsstätten, für die Lebensmittelproduzenten und für alle anderen Leute. Das geschah besonders, wenn die reichen Leute, die das Coin-System kontrollierten, die Coin horteten oder dort mit diesen Coin Wettspiele durchführten, wo gewöhnliche Menschen sie nicht bekommen konnten. Diese nicht-reicheb Menschen aber brauchten die Coin, um ihre Schulden bezahlen oder mit ihnen Handel zu treiben können. Diese Wett-Spiele wurden Spekulationen genannt, und sie konnten das Coin-System ganzer Nationen zerstören.
Dann würden die Banken nicht mehr genügend neue Kredite vergeben, und so waren dann nicht mehr genügend Coin im System. Als Konsequenz dafür verloren viele Kreditnehmer ihren Besitz. Denn sie hatten schließlich einen Vertrag unterschrieben, dass dieser Besitz der Bank gehören würde, falls sie die Kreditrückzahlung und die Wucherzahlungen nicht leisten konnten“
Aber das ist doch unfair“, unterbrach Hope. „Den Banken haben die Coin, die sie verliehen haben, doch gar nicht gehört. Sie haben sie nur in das Konto der Kreditnehmer hineingeschrieben. Das hast du doch gesagt, Großonkel. Warum sollten sie dann den Besitz bekommen?
Weil der Kreditnehmer diese Tatsache nicht kannte“, wiederholte der Professor seine vorherige Erklärung. „Auch die Polizisten, die oft dabei helfen mussten, den Besitz des Kreditnehmers zu beschlagnahmen wussten nicht, dass die Coin nur hineingeschrieben worden waren, und die Richter wussten es auch nicht, und nicht einmal die meisten Leute, die für die Banken arbeiteten, haben das gewusst. Und sogar einige der Leute, die von dem ganzen System enorm profitierten, wussten nicht wirklich, wie es funktionierte.
Für lange Zeit waren es nur diejenigen, die das Coin-System kontrollierten, die es wirklich durchschauten und am Ende auch am meisten von den Wucherzahlungen und den Spekulations-Spiel-Gewinnen profitierten. Und mit ihren Profiten konnten sie dann ganz billig Häuser, Land, Produktions- und Werkstätten aufkaufen, die einmal den Kreditnehmern gehört hatten und jetzt den Banken zugefallen waren.
Und dieselben Profiteure konnten sogar Wasser- und Energie-Ressourcen aufkaufen, die zuvor ganzen Nationen gehört hatten, wenn diese Nationen die Kredit- und die Wucherzins-Zahlungen nicht mehr leisten konnten. Danach konnten sie dann die Preise für alle Notwendigkeiten des Lebens, wie Wasser, Elektrizität, Wohnungen und Lebensmittel so weit anheben, dass viele Menschen sie nicht mehr bezahlen konnten.
Viele litten Not, einige verhungerten oder starben ganz unnötig an Krankheiten, die von Armut und Verzweiflung verursacht wurden. Und all das geschah in regelmäßigen Abständen. Dieses auf und ab in der Menge von Coin, die im Umlauf waren, wurde der Wirtschafts-Zyklus genannt. Die Mehrheit der Menschen war in einem System gefangen, dass sie unweigerlich immer wieder leiden ließ.“
Um seine Worte zu unterstreichen, formte der Professor einen Kreis aus seinen Händen, wobei die Finger zu horizontalen Gittern eines Käfigs wurden.
Es war ein Coin-System, das systematisch den Reichtum an wirklich nützlichen Dingen und Ressourcen den meisten Menschen immer mehr wegnahm, um ihn unter die Kontrolle der wenigen zu bringen, die nichts nützliches getan hatten, um diesen Reichtum zu verdienen. Es war ein System der Täuschung.
Wie die Maroder, die die Dörfler aus der Steinzeit-Geschichte beraubt hatten, so hatten auch die Maroder der Dunklen Zeiten verstanden, dass Täuschung eine weit bessere Waffe ist, um den Menschen ihre Besitztümer abzunehmen, als physische Gewalt.“
Aber warum hat die Mehrheit der Menschen damals ihr Coin-System nicht einfach in ein Besseres umgewandelt, eines wie unseres“, fragte Hope und schüttelte ihren Kopf.
Weil die meisten Menschen dieses System nicht verstanden“, wiederholte der Professor noch einmal. „Und diejenigen, die es verstanden, glaubten dass es keine Alternative dazu gab, jedenfalls keine bessere.
Aber warum denn?“ fragte Hope noch einmal
Weil ihnen das so erklärt worden war und zwar von Leuten, denen sie vertrauten, ihren Regierungen, ihren Lehrern, ihren Wissenschaftlern und ihren Informationsbüros, die sie Massenmedien nannten. Die größten dieser Medien, genannt Nachrichtenagenturen, versorgten -über die darunter arbeitenden Massenmedien- Milliarden von Menschen gleichzeitig mit exakt denselben Stückchen von Informationen über ihre Welt.
Und das erste, was die Maroder mit ihrer Macht und ihrem Reichtum getan hatten, war es diese Nachrichtenagenturen und die Massenmedien aufzukaufen oder diese auf andere Weise zu kontrollieren, genauso wie sie es in den Lehrer- und Wissenschaftler-Schulen getan hatten, die Universitäten genannt wurden. Die Maroder setzten dann die von ihnen ausgewählten Männer und Frauen in die Kontroll-Positionen von Massenmedien und Universitäten ein.
Es gab eine Zeit, in der in den von Marodern kontrollierten Nationen allen Bürgern nur Informationen gegeben werden durften, die von Marodern kontrollierten Regierungsvertretern abgesegnet waren. Das galt auch für das, was in Büchern geschrieben wurde oder die Worte, die jemand öffentlich zu einer Melodie singen durfte.
Wirklich?“ Hope grinste und fing an zu singen: „La-le-lu, ein Lied hörst du, Maroder sind gemein, darum hörst du sie schreien.“
Ihr Großonkel hörte zu und kommentierte mit einem Lächeln: „Die haben sich nicht wirklich Maroder genannt, das weißt du doch?“
Dann fügte er im ernsteren Ton hinzu: „Doch in der Tat, etwas so harmloses wie eine kleine Melodie des Protestes konnte solche Regierungsvertreter so wütend machen, dass sie den Sänger ins Gefängnis warfen.
Die Menschen, die in diesen Nationen lebten, die wussten das natürlich und sie fühlten sich von diesen Beschränkungen fast erdrückt. Und einige protestierten oder leisteten sogar Widerstand dagegen, trotz der Gefahr verhaftet zu werden. Mehr und mehr Menschen folgten dann diesen Protesten, und am Ende wurde so eine Regierung aus dem Amt gejagt.
Mit der Zeit aber hatten die meisten Maroder herausgefunden, dass wenn sie die Menschen wirklich zu willigen Werkzeugen und Untertanen machen wollten, da mussten sie eine viel schlauere Methode der Kontrolle benutzen.
Deshalb erschufen sie statt dessen ein System, in dem die Menschen glaubten, sie würden sich selbst regieren, weil sie zum einen ihre Regierungsvertreter wählen konnten, und zum anderen weil sie da sagen, singen und schreiben durften, was immer sie wollten. Die Maroder nannten dieses System eine Demokratie, eine Volksherrschaft, obwohl in Wirklichkeit sie, die wenigen, immer noch die beinahe totale Kontrolle über die vielen anderen Menschen ausübten. Denn genau wie in den Regierungsformen mit anderen Namen, so wurden auch in dieser sogenannten Demokratie die Kandidaten für Regierungsämter, bevor sie von der Mehrheit der Menschen gewählt werden konnten, zuerst einmal von den Marodern ausgewählt. Und das Gleiche galt für diejenigen, die in die höchsten Positionen der Massenmedien und der Universitäten berufen wurden.
Der Trick an der ganzen Sache war es, die Wahrheit nicht einfach zu verbieten, sondern sie statt dessen unter einem Berg unwichtiger Einzelheiten zu verstecken. Oder es wurden wahren Berichten sofort unwahre gegenüber gestellt, wobei dann gleichzeitig die Menschen lächerlich gemacht wurden, die die Wahrheit ausgesprochen hatten. Oder es wurde nicht zugelassen, dass wichtige Informationen öfters wiederholt wurden, oder dass diese in Zusammenhang zu anderen wichtigen Informationen gebracht wurden, bis dann alles zusammen ganz schnell aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt werden konnte.“
Hope schüttelte verächtlich ihren Kopf: „Wie konnten die Leute denn etwas, was wirklich wichtig ist, einfach so vergessen? Das würde ich nie tun!“
Der Professor lächelte: „Ja, vielleicht würdest du das nicht. Aber andererseits würdest du vielleicht diese Information niemals erhalten. Schau mal!“
Der Professor ließ die Projektion einer dicken Zeitung auf dem Schirm erscheinen. Die Seiten blätterten sich langsam von ganz alleine um.
Eine neue Zeitung wie diese wurde den Menschen jeden Tag ins Haus geliefert. Die meisten glaubten, dass die wirklich wichtigen Informationen auf der ersten Seite und in großen Buchstaben zu lesen waren. Aber lass uns annehmen, dass über die wichtigste Information nur auf Seite 23 oder Seite 39 und nur in einem kleinen Absatz berichtet wurde. Würdest du jeden Tag alle 48 Seiten mit all den unwichtigen Kleinigkeiten lesen, um dieses einzige kleine aber wichtige Informationsteilchen zu entdecken, das da in dieser Zeitung in einem halben Jahr zu finden war?
Hope meinte stur: „Also wenn ich das müsste, dann würde ich das auch tun.“
Vielleicht würdest du das wirklich tun“, lenkte der Professor ein, „aber die meisten Menschen wussten gar nicht, dass sie so etwas tun mussten. Sie vertrauten darauf, dass ihre Massenmedien sie gut informierten. Ganz besonders vertrauten sie den elektronischen Medien. Diese wurden mit der Zeit weit wichtiger als die gedruckten. Denn in ihnen konnten die Menschen die Gesichter derer sehen, die ihnen die Informationen brachten.
Und wenn sie Tag für Tag dieselben Gesichter sahen, da kannten die Menschen jede Sommersprosse und jede Falte in diesen Gesichtern, so als wären diese Medienleute Familienmitglieder, ein Teil der eigenen mentalen Gemeinschaft, Menschen, denen man am meisten vertrauen konnte. Auf diese Weise konnten diese Medienleute den anderen Menschen einreden, welchen Personen sie als politische Führer genug vertrauen konnten, um sie zu wählen. Und du erinnerst dich doch daran, was man benötigt, um eine Gemeinschaft aufrecht zu erhalten?“
Ja, ich weiß, Großonkel, du hast gesagt, es sei das Vertrauen“, erwiderte Hope und fragte dann: „Aber warum haben die Leute in den Dunklen Zeiten, dann nicht einfach über die Regeln abgestimmt, die sie haben wollten, so wie wir das tun?“
Weil das den Menschen in den Dunklen Zeiten nicht erlaubt war“, erklärte der Professor. „Medienleute überzeugten sie davon, dass es nur eine Form der Demokratie gab, und zwar ohne jegliche Alternative, nämlich die repräsentative Demokratie. Darin musste die Entscheidungsgewalt an gewählte Vertreter abgegeben werden, diese seien Leute von höherer Intelligenz und Kompetenz als andere.
Und während die meisten Menschen in den Dunklen Zeiten von sich selbst glaubten, dass sie ganz schön intelligent waren, da glaubten sie, dass ihre Nachbarn, das ganz bestimmt nicht waren.“
Hope grinste: „Das ist aber dumm.“
Der Professor nickte lächelnd: „Ganz schön dumm.“
Einen Augenblick später wurde er wieder ernst und fuhr fort: „Und so geschah es, dass die vom Volk gewählten, aber von den Marodern kontrollierten, Regierungen ihre Bevölkerung in einen Eroberungskrieg nach dem anderen schickten. Die von den Marodern kontrollierten Massenmedien verteufelten dann die Menschen und Regierungen der Nationen, die angegriffen werden sollten, als blutrünstige Monster. Oder sie erklärten der eigenen Bevölkerung, dass es den Leute in diesen anderen Nationen weit besser gehen würde, wenn deren gewählte Regierungen durch jedes Mittel, wenn es sein musste auch mit Hilfe eines Krieges, von anderen Regierungen ersetzt werden müssten.
Häufig verbreiteten die von Marodern kontrollierten Wissenschaftler auch Lügen über die Natur. Sie behaupteten, dass Ressourcen knapp seien, wenn sie in Wirklichkeit im Überfluss vorhanden waren. Sie erklärten den Menschen, dass kohlenstoffhaltige Brennstoffe wie Erdöl und Erdgas aus so etwas wie toten Dinosauriern entstanden sind, obwohl sie es schon längst besser wussten.
Wieder einmal schüttelte Hope den Kopf voll Unverständnis: „Warum würde irgendwer so etwas Dummes glauben? A-biotische Kohlenstoffverbindungen, die durch Druck und Hitze entstanden sind, kommen aus den tieferen Schichten des Erdmantels. Und sie steigen ständig in die höherer Regionen auf, um die Felder dort wieder zu füllen und sich mit biologischem Material zu vermischen. Das ist doch so klar.“
Ja, wir wissen das“, stimmte der Professor zu. „Und die Wissenschaftler aus den Dunklen Zeiten wussten es auch schon für eine ganze Weile, während sie immer noch etwas anderes behaupteten. Sie bezeichneten auch die meisten Menschen und deren Kinder als Parasiten auf der Erde. Sie bestanden darauf, dass wenn es zu viele Menschen auf der Erde gäbe, die hier lebten und atmeten, dann würde das Klima so aufgeheizt werden, dass die Erde sich in eine Wüste verwandeln würde.
Haben die Menschen das wirklich geglaubt“, fragte Hope entrüstet. „Haben sie denn nicht verstanden, dass wir die Kälte fürchten müssen und nicht die Wärme, denn wir leben ja in einer zwischen-eiszeitlichen Ära. Deshalb brauchen wir ja die Eisbrecher-Missionen und...und Papa...“, sie schluckte.
Wieder nickte der Professor: „Viele Wissenschaftler wussten das bereits, obwohl sie immer noch etwas anderes behaupteten, weil die Maroder Druck auf sie ausübten.“
Aber warum würde irgendjemand Lügen über die Natur verbreiten? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.“ Hope schüttelte den Kopf.
Der Professor antwortete: „Erinnere dich daran, dass es das höchste Ziel der Maroder war, alle Nationen der Erde unter ein einziges Regel-, Wirtschafts- und Coin-System zu bringen, um eine Welt zu erschaffen, in der die ganze Menschheit dann Teil einer riesigen Machtpyramide sein würde.
Die Ressourcen, die sie selbst kontrollierten, künstlich zu verknappen, sollte den Marodern helfen dieses Ziel zu erreichen, gleichfalls wenn sie die Menschen glauben machen konnten, dass es zu viele von ihnen auf der Welt gäbe, und dass Kinder zu haben, etwas Schlechtes sei.
Das würde dann den von Marodern kontrollierten Regierungen die Möglichkeit geben, Gesetze einzuführen, die genau kontrollieren würden, wer Kinder haben durfte und wie viele, und wer überhaupt keine bekommen durfte.
Diese Macht über die Menschenkinder zu erlangen, war bereits der Traum von einem Philosophen gewesen, der über zwei Jahrtausende früher gelebt hatte, und den die Maroder der Dunklen Zeiten immer noch verehrten. Niedergeschrieben war das in einem Schriftstück mit dem Namen 'Die Republik'.“
Die waren doch durch und durch böse, diese Maroder“, Hope spreizte ihre Finger in völliger Ablehnung. „Warum hat Gott sie nicht einfach tot umfallen lassen?“
Der Professor schüttelte den Kopf: „Du weißt doch, dass so etwas nicht die Art und Weise Gottes ist?“
Warum nicht“, fragte Hope trotzig, „diese Leute, die waren nicht nur ein bisschen böse, die waren durch und durch schlecht. Die haben Kinder gehasst...Kinder! Gott hätte sie mit einem Blitz treffen sollen oder mit einer tödlich Krankheit oder so. Also ich hätte...“
...wenn du Gott wärst“, beendete der Professor den Satz. Er hielt für eine Sekunde inne, während Hope ihre Augen abwandte und zu Boden sah, dann fuhr er in bedächtigem Ton fort:
Die Maroder glaubten auch, dass sie es besser wussten als Gott. Sie dachten, dass wenn sie einmal absolut alles und jeden kontrollieren konnten, dann würden sie endlich in der Lage sein, eine bessere und perfektere Welt zu erschaffen, mit besseren Menschen darin.
Hope protestierte, jedoch ein wenig kleinlaut: „Ich bin nicht wirklich wie die Maroder, ich würde nie solche schlimme Dinge tun, wie sie. In unserer Zeit würde das auch gar niemand, wirklich niemand.“
Der Professor wiegte seinen Kopf nachdenklich: „Da bin ich mir aber gar nicht so sicher. Erinnerst du dich, ich habe dir doch einmal von einem Freund von mir erzählt, der glaubte auch, dass wir eine perfektere Sorte von Menschen brauchten.“
Hope sah jetzt ziemlich verunsichert aus. „John Galt“, flüsterte sie. „Ich habe nicht an ihn gedacht.“
Der Professor nickte: „Die Ideen der Maroder sind gar nicht so weit von uns entfernt, wie wir es gerne glauben wollen... Aber jetzt zurück zu unserer Geschichte der Vergangenheit:
Gott hat keine Blitze gesandt, stattdessen ließ er die Sonne scheinen und den Regen auf alle Menschen fallen, wie Er es immer getan hat.
Mit der Zeit wurde das System das sich über hunderte von Jahren aus der Maroder Philosophie entwickelt hatte, immer instabiler, denn es war ja auf Täuschung aufgebaut.“
Der Professor drückte einen Knopf auf seiner Tastatur, und das hässliche Gemälde von dem Schlangengebäude, das 'Die Pyramide der Macht' genannt wurde, erschien wieder auf dem Schirm, und damit redete er weiter:
Und um dieses System aufrecht zu erhalten, bedurfte es immer unverschämterer Lügen, die den anderen hinzugefügt werden mussten. Und trotzdem konnten die meisten Menschen diese Lügen nicht für das erkennen, was sie waren, denn sie klammerten sich an ihre Gemeinschaft, eine riesige Gemeinschaft, in der alle Menschen auf irgendeiner Stufe ein Teil von ihr geworden waren.“
Hope war von der Hässlichkeit des Bildes fasziniert, aber instinktiv wusste sie, dass sie sich nicht hineinziehen lassen durfte. Also wandte sie ihre Augen davon ab. Sie drehte sogar ihren Stuhl ein wenig zur Seite, um das Gemälde nicht voll anstarren zu müssen. Denn der Professor machte keinerlei Anstalten die Projektion abzustellen.
Stattdessen redete er weiter: „Die Stufen der Pyramide waren die Gemeinschaften der Menschen geworden. Und während viele versuchten mit aller Macht auf eine höhere Stufe zu gelangen, und sie in ständiger Angst waren auf eine tiefere abzurutschen, waren sie doch genau so blind für die gesamte Struktur, wie die Testpersonen in dem Experiment mit den Spielkarten, von dem ich dir erzählt habe.
Du erinnerst dich doch an die Leute mit der kognitiven Dissonanz? Sie konnten die wahren Farben der Spielkarten nicht erkennen, die schwarzen Herzen und die blutig-roten Kreuze.“
Hope nickte, aber fragte verwirrt: „Ich verstehe es trotzdem nicht. Warum haben sie denn nicht einfach besser und länger hingeschaut?“ Sie murmelte jetzt nur noch, während sie immer noch versuchte, das hässliche Gemälde nicht anzuschauen.
Der Professor erwiderte: „Weil es für die meisten Menschen zu schmerzhaft und zu furchterregend gewesen wäre, die ganze Wahrheit auf einmal zu erkennen. Sie hätten alles Vertrauen in das verloren, worauf sie vorher so fest gebaut hatten. Es wäre so, als hätte sich der Boden unter ihren Füßen aufgetan, und sie wären ins Bodenlose gefallen.“
Aber aus welchem Grund sollte die Wahrheit denn noch schmerzhafter für die Menschen sein als all das, was die Maroder ihnen durch ihre Lügen angetan hatten“, fragte Hope zweifelnd. „Mit ihrem Coin-System haben die Maroder den Menschen ihre Besitztümer weggenommen, so dass sie nicht mehr ihre Grundbedürfnisse befriedigen konnten.
Sie haben die Ressourcen absichtlich rar gemacht, und haben die Menschen immer wieder in Kriege gegeneinander geschickt. Und sie haben ihnen gesagt, dass ihre Kinder Parasiten auf der Erde seien. Was kann denn noch schmerzhafter sein als all das?“
Der Professor nahm Hope's kleine Hände in seine großen und sah ihr tief in die Augen. Dann redete er mit beschwörender Stimme weiter:„Was würdest du fühlen, wenn ich dir sagen würde, dass alles, was dir deine Eltern erzählt haben nicht wahr wäre.
Alles, was dich dein Sensei gelehrt hat, und alles was du auf dem Friedensnetz gehört und gesehen hast wäre eine einzige Lüge gewesen. Nichts ist so wie du einmal gedacht hast, und nicht einmal ich habe dir je die Wahrheit gesagt, niemals...nicht ein einziges Mal...“
Der Professor sah Hope mit einem durchdringenden und beinahe hypnotischem Blick an. Hope versuchte ihre Augen abzuwenden, nur um dann vor sich mit dem hässlichen Gemälde konfrontiert zu sein. Furcht stieg in ihr auf. Hatte er wirklich gelogen...und die anderen, hatten die auch gelogen? Hope spürte, dass sie kaum noch atmen konnte. Sie fing an zu zittern.
Da löste der Professor seinen Blick von ihr, und Hope zog ihre Hände zurück, statt dessen legte sie ihre Arme ihrem Großonkel um den Hals, und sie drückte sich so fest sie konnte an ihn. „Du würdest mich niemals belügen, Großonkel, das würdest du einfach nicht tun.“
Der Professor löste ihre Arme von seinem Hals und hielt sie dann an den Schultern fest, wobei er sie wieder direkt ansah: „Du hast Recht, ich würde dich nie belügen, meine Kleine... Aber es macht schon Angst...so zu zweifeln, stimmt's?“
Hope nickte entschieden und setzte sich wieder hin, um weiter zuzuhören.
Der Professor fuhr fort: „Die meisten Menschen aus den Dunklen Zeiten belogen ihre Kinder, ihre Schüler, ihre Nachbarn, ihre Leser oder ihre Zuschauer gar nicht absichtlich. Sie wussten es einfach nicht besser. Sie wiederholten nur die Grundsätze, die ihnen selbst beigebracht worden waren, und auf deren Wahrheitsgehalt sie fest vertrauten. Wenn sie wirklich einmal logen, dann glaubten sie, dass dies notwendig sei, um irgendein höheres Gut zu verteidigen.
Und so wie jede andere Gemeinschaft, so wurde auch die Pyramide der Macht vor allem durch das Vertrauen der Menschen in sie stabilisiert. Aber auf Dauer da bilden Lügen aber einfach kein gutes Fundament.
Mehr und mehr neue Lügen wurden benötigt, um die alten am Leben zu halten. Mit der Zeit wurden die Täuschungen so offensichtlich, dass sie nicht mehr völlig verborgen bleiben konnten. Trotzdem konnten die meisten Menschen sie immer noch nicht erkennen, weil das Vertrauen in ihre Welt notwendiger für sie war, als die Wahrheit. Aber da gab es dann Leute mit einem ganz besonderen Talent...“
Ich weiß, ich weiß“, unterbrach Hope. „Die Grumpies, die hatten das Talent zum Misstrauen... aber... niemand hat ihnen geglaubt.“
Nun ja“, erwiderte der Professor, „niemand außer anderen Grumpies, zuerst jedenfalls.
Aber das waren auch die Zeiten, als der Vorläufer unseres Friedensnetzes erfunden worden war. Jetzt waren die Menschen in der Lage, miteinander über weite Entfernungen hinweg zu kommunizieren und Informationen auszutauschen, und zwar ohne die Hilfe von Massenmedien und außerhalb der kontrollierten Universitäten. Als dann die Grumpies der ganzen Welt miteinander reden konnten, da wuchs ihr Wissen immer weiter. Und die Wahrheit begann ihre ersten Strahlen auf die Masse der Lügen zu werfen.“
Jetzt wandte der Professor sich wieder dem hässlichen Gemälde zu. Er drückte ein paar Tasten, und das starre Bild verwandelte sich in eine lebendige Animation.
Die Projektion zoomte ein wenig aus. Jetzt konnte man sehen, dass das Grau der Umgebung, das dem Bild so eine deprimierende Aura gab, in Wirklichkeit dunkle Wolken war. Diese teilten sich plötzlich, so dass wenige Strahlen einer immer noch verborgenen Sonne durchbrechen und die Umgebung ein wenig erhellen konnten. Die Strahlen trafen zuerst auf den untersten Teil.“
Der Professor erklärte: „Langsam aber sicher begann die Wahrheit das Lügenfundament der Pyramide zu erschüttern.“
Die Schlangengrube verwandelte sich und wurde zu einem Sumpf. Und das Gebäude begann zu erzittern.
Jäää.“ rief Hope. „Das Wahrheitslicht ist Gift für die Schlangen.“
Der Professor lächelte und nickte: „Und die Kommunikation der Grumpies wurde von anderen bemerkt.“
Einige Menschen in dem Schlangengebäude, die zuvor völlig apathisch ausgesehen hatten, wurden von Sonnenstrahlen getroffen, und sie hoben ihre Köpfe.
Und der Professor fuhr fort: „Mit der Zeit begannen die Samen der Wahrheit in den Herzen derer Wurzeln zu schlagen, die sie vorher nicht glauben konnten. Und die Nicht-Grumpies begannen sich auch auf den Weg der Wahrheitssuche aufzumachen, weil sie plötzlich sehen konnten, was ihre eigene Furcht bislang vor ihnen verborgen gehalten hatte. Am Ende waren sie in der Lage den Käfig zu verlassen, der sie zuvor noch eingesperrt hatte.
Inzwischen hatte eine stetig wachsende Anzahl von Menschen das Schlangengebäude verlassen und hatte begonnen sich Häuser außerhalb zu bauen. Die Wolken wurden immer durchlässiger, und das Sonnenlicht wurde stärker. Inzwischen erreichte es bereits die oberen Bereiche dessen, was eine Pyramide sein sollte.
Der Professor fuhr fort: „Als mehr und mehr Wahrheiten an den Tag kam, da verlor sich das Vertrauen, das die Menschen in die Maroder-Struktur gehabt hatten und das diese so lange stabilisiert hatte, völlig. Langsam aber sicher begann die Pyramide zu zerbrechen.“
Die Animation zeigte jetzt den Verfall des Gebäudes. Die Schlangenwände und die Schlangenböden begannen sich in Staub aufzulösen. Die Menschen auf den höheren Ebenen ließen die Schlangenseile in ihren Händen los und benutzten ihre Hände stattdessen, um sich die Schlingen von den Hälsen abzunehmen.
Jedes Mal, wenn ein uniformierter Mann das Seil in seinen Händen los ließ, dann verwandelten sich ein Panzer in einen Traktor oder eine Rakete in einen Kran. Ein Maschinengewehr, das sich in den Händen eines Uniformierten auf den unteren Stufen befunden hatte, verwandelte sich, nachdem er das Schlangengebäude verlassen hatte, in einen Pflug, der von einem Ochsen gezogen wurde.
Die Schlangenseile, die verschiedene Teile des Schlangengebäudes miteinander verbunden hatten, verwandelten sich in schmierige Bahnen, die es manchen Leuten erlaubten, sicher zum Erdboden hinab zu gleiten. Schließlich aber lösten sie sich, genau wie der Rest der verfallenden Gebäude-Struktur, in Staub auf. Und diejenigen, die ihre Chance verpassten, hatten dann eine recht unsanfte Landung, als der Boden sich unter ihren Füßen auflöste. Denn mit dem Verschwinden des merkwürdigen Gebildes setzte dann auch die normale Schwerkraft wieder ein.
Der Professor fuhr mit seiner Geschichte fort: „Jedoch im Gegensatz zu all den vorherigen Ängsten, war dies nicht das Ende der Welt. Der Himmel war nicht eingefallen, und die Meere waren nicht angeschwollen und hatten das Land bedeckt. Nur eine Pyramide hatte sich aufgelöst und war vom Antlitz der Erde verschwunden. Die Menschen jedoch, die darin gefangen gewesen waren, sie lebten immer noch. Und das Land, um Nahrung anzubauen existierte auch noch, ebenso wie die Technologie und die Ressourcen, um Dinge zu produzieren und mit ihnen Handel zu treiben.
Und weil der Verfall der korrupten Struktur ein ziemlich langsamer Prozess gewesen war, da hatten die Menschen genug Zeit bekommen, um sich anzupassen und ihr Vertrauen wiederzuerlangen. Das konnten sie nun auf etwas Besseres richten als eine Pyramide der Macht.“
Der Professor sah zur Decke, während Hope seinem Blick folgte und verstehend nickte. Dann redete er weiter: „Und das Wissen, das sich die Menschen der Erde über so lange Zeiten hin erworben hatten, das wurde von jetzt an mit allen Menschen geteilt. Information wurde nicht mehr monopolisiert oder in kleinen Häppchen an wenige ausgeteilt. Und durch die Kooperation aller Menschen konnte dann das Wissen der Menschheit immer weiter wachsen.“
Die Projektion zoomte noch weiter aus und erlaubte jetzt den Blick auf Dörfer und kleine Städte, umrahmt von Feldern, Wiesen und Wäldern.
Der Professor beendete seine Geschichte: „Die Dunklen Zeiten waren beendet und in die Annalen eingegangen, und unser Zeitalter hatte seinen Anfang genommen.“
Die Projektion zoomte jetzt wieder auf einen Punkt ein: Dort, wo die Pyramide einmal gestanden hatte, und wo sie jetzt spurlos verschwunden war, hatte sie nun für eine Baustelle von etwas Platz gemacht, das ganz offensichtlich Hope's Dorf war, Spesaeterna.
Hat das jetzt deine Frage beantwortet?“ fragte der Professor unerwartet.
Welche Frage?“ Hope war für einen Augenblick ziemlich verwirrt, dann dämmerte es ihr: „Oh, du meinst die Frage, warum Gott manche Menschen zu Grumpies gemacht hat? Sicher tut es das.“
Dies war das Happy End, auf das Hope gewartet hatte, trotzdem war sie noch nicht ganz zufrieden. In allen guten Märchen, da darf der Held das Monster töten oder die Hexe, die vorgehabt hatte Hänsel und Gretel zu braten, wurde dann selbst in den Ofen geschoben.
Und so fragte Hope: „ Was war dann mit den Marodern? Was ist mit ihnen geschehen?“
Der Professor schüttelte den Kopf: „Du hast es doch noch nicht ganz verstanden.
Gegen Ende der Dunklen Zeiten waren die Maroder in praktisch allen Nationen und überall. Keine Stadt, kein Dorf, keine Nachbarschaft und kein Haus, nicht einmal eine einzige Familie war frei geblieben. Sie waren in den Köpfen der Menschen.
Alle Menschen innerhalb der Pyramide verließen sich auf sie in allem, was sie für ihr Leben benötigten, auch in ihrem Denken und Wissen.
Sicherlich, als die Pyramide dann zusammenbrach, da gab es einige vereinzelte Gerichtsverhandlungen gegen diejenigen, die am meisten Schuld auf sich geladen hatten, wie Kriegsverbrechen und andere Massenmorde. Die meisten Maroder jedoch, auch wenn sie fast ebenso schuldig waren wie die ersteren, wurden doch einfach nur dazu gebracht, als Zeugen auszusagen und die Lügen der Vergangenheit an den Tag zu bringen, damit das Gesamtbild mit den notwendigen Fakten aufgeleuchtet werden konnte.
Einigen Menschen erschien das unfair, dass die Anstifter so großer Unterdrückung so ungestraft davon kommen sollten. Doch die vernünftigeren Menschen erkannten, dass Rachedurst ein Hindernis für das Erforschen der ganzen Wahrheit darstellte.
Und als dann endlich das Gesamtbild in Fokus kam, da zeigte es einige Überraschungen auf. Denn das wirkliche Bild der Wahrheit hatte sich in einen Spiegel der Vergangenheit verwandelt. Und was dieser reflektierte war für die meisten Menschen ziemlich beunruhigend, wenn sie es überhaupt wagten genau hineinzusehen. Sicherlich zeigte ihnen dieser Spiegel, dass dort auf den höchsten Stufen in den Banken und den großen Produktionsstätten ein paar wenige Leute gesessen hatten, die unbeschreiblich viel Macht auf sich vereinigt hatten, so viel mehr als der Rest der Menschen, und trotzdem war da noch etwas mehr zu sehen.
Wenn die Menschen genau hinsahen, konnten sie auch ihr eigenes Bild erkennen, das dort im Spiegel der Vergangenheit reflektiert wurde. Und sie mussten sich eingestehen, dass sie, als sie sich selbst noch innerhalb der Pyramide befunden hatten, sich auch schuldig gemacht hatten.
Vielleicht verhielten sie sich einfach nur still und sahen weg, damit sie weiterhin ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Oder, geschlagen mit kognitiver Dissonanz, hatten sie sich auch nur ihren zerbrechlichen inneren Frieden bewahren wollen. Und deshalb waren sie blind und taub gewesen für die furchtbaren Verbrechen, die vor ihren Augen geschehen waren. Oft hatten sie diese Verbrechen geleugnet, sie manchmal sogar um jeden Preis gerechtfertigt. Und nur allzu oft hatten sie sogar eine aktive Rolle in ihnen gespielt.
Und schlussendlich erkannten die Menschen, dass sie irgendwie selbst beträchtliche Anteile eines Maroders in sich trugen, und dass es nur einen Weg gab, diese zu verkleinern.
Der Professor sah zur Decke und zitierte: „...und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir...“
Hope beendete das Zitat: „...vergeben unsern Schuldigern.“ Dann dachte sie eine Weile darüber nach und kommentierte schließlich: „Du hast verkleinern gesagt, Großonkel. Bedeutet das, dass diese Maroder-Anteile am Ende immer noch in den Menschen waren, nur kleiner?“
Natürlich,“ bestätigte der Professor. „Und sie werden auch für immer existieren solange wir Menschen auf der Erde leben: die Gier, der Stolz und das innere Verlangen die Welt und andere Menschen zu kontrollieren...Diese Potentiale stecken in uns allen, auch in dir und mir. Sie sind Bestandteile unserer fehlbaren menschlichen Natur. Und wenn diese Maroder-Eigenschaften dann von Neid, Wut oder Furcht genährt werden, dann wachsen sie heran und könnten schließlich eine neue Pyramide der Macht oder eine ähnliche Monstrosität der Zerstörung aufbauen.
Hope schauderte und kam dann zu dem Schluss: „Und deshalb brauchen wir immer noch Grumpies.“
Ja“, stimmte der Professor zu, „in jedem Zeitalter.“
Hope sprang von ihrem Stuhl auf. „Vielleicht sollte ich Oma diese Geschichte erzählen.“
Zum ersten Mal sah der Professor etwas verunsichert aus. „Na ja“, meinte er vorsichtig. „Ich weiß nicht, ob meine Schwester eine lange Antwort auf eine kurze Frage so richtig schätzt. Selbst als wir beide noch Kinder waren, da meinte sie immer ich rede zu viel.
Aber Großonkel“, widersprach Hope. „Ich glaube, sie mag deine Antworten jetzt schon, auch wenn sie lang sind. Sie schickt mich nämlich immer zu dir, wenn ich eine Frage habe, genau wie Mama das macht. Und das würde sie doch nicht tun, wenn sie deine Antworten nicht gut fände, denn sie hat mich ja schließlich lieb.“
Der Professor lächelte erfreut.
Aber Hope hatte dann doch einen anderen Vorschlag: „Vielleicht solltest du Oma die Geschichte lieber selbst erzählen. Ich gehe jetzt und kaufe mir ein Panini, und dann sage ich zu Mr Wang 'Assalamu aleikum'.“
Der Professor legte eine Hand auf Hope's Schulter während er ihr zur Tür folgte: „Das ist eine gute Idee, meine Kleine, eine wirklich gute.“

***

Es geschah zwanzig Tage nachdem ich meine Mutter wieder getroffen hatte.
Als ich in den Keller des Venus-Projekts kam, fand ich Luscinia tiefbesorgt vor dem Zimmer meiner Mutter stehen. Ich spürte, dass sie Tränen zurückhielt.
Sie hielt mich davon ab, sofort das Zimmer zu betreten und flüsterte mir zu: „Inessa ist es in den letzten Wochen so gut gegangen, seit du wieder in ihrem Leben bist. Ich dachte sie würde sich erholen. Ich dachte wir würden alle drei von hier weggehen...
Aber...“ die Tränen begannen nun zu fließen, „seit letzter Nacht ist sie immer schwächer geworden, schwächer als ich sie je gesehen habe. Sie hustet die ganze Zeit, sie kann nichts mehr essen, und sie kann kaum noch atmen. Ich befürchte, Jonathan, dass...“
Es wird ihr bald wieder besser gehen“, wies ich Luscinia's Andeutung zurück und umarmte sie, wobei ich versuchte uns beiden wieder Mut zu machen.
Als ich aber das Zimmer betrat, sah ich meine Mutter im selben Zustand, wie an dem ersten Tag, als ich sie wiedergesehen hatte, oder sogar noch in einem schlechteren.
Schwach hob sie eine Hand und deutete an, dass wir näher kommen sollten. Im nächsten Augenblick wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Luscinia nahm sie in den Arm und rieb ihr den Rücken, um ihr zu helfen wieder atmen zu können. Ich sah nur hilflos zu, wobei ich erkannte, was geschehen würde. Und doch weigerte sich alles in mir, das zu akzeptieren.
Ich muss dir noch etwas sagen“, flüsterte meine Mutter, nachdem der Anfall vorüber war. Ihre Stimme war nun fast unhörbar. Ich musste mich hinknien, um sie zu verstehen.
Du kennst die Gesellschaft deines Vaters?“ fragte sie
Ja, sicher“, antwortete ich und wunderte mich über diese zusammenhangslose Frage. „Er wird mich nächsten Monat an meinem Geburtstag in sie einführen. Aber das ist doch jetzt ganz unwichtig. Du solltest dich nun nur ausruhen.“
Nein, Thani, es ist wichtig“, flüsterte sie in einem dringlichen Ton. „Es ist genau wegen dieser Gesellschaft, dass ich hier bin. Ich bin zu einer ihrer Versammlung gegangen.“
Ich sah sie ungläubig an: „Aber sie lassen dort doch keine Frauen zu.“
Ganz genau“, stimmte meine Mutter mir zu. „Und trotzdem habe ich es einmal geschafft mich dort einzuschleichen. Ich habe mich versteckt. Aber irgendwann wurde ich erwischt. Doch zuvor habe ich etwas gehört... etwas Schreckliches...“
Ein neuer Hustenanfall unterbrach sie. Und als der beendet war, da bekam ihre Stimme, schwach wie sie war, trotzdem einen noch dringlicheren Ton: „Du musst eine Aufnahme von so einer Versammlung machen, und du musst diese Aufnahme in die äußere Welt mitnehmen.“
Warum denn?“ fragte ich
Aber meine Mutter konnte mir nicht antworten. Sie begann wieder zu husten, ein Erstickungsanfall.
Luscinia,” rief ich, “tu doch etwas! Bitte tu etwas!”
Zusammen hoben wir meine Mutter in eine sitzende Position. Sie hörte auf zu husten und schenkte uns ein schwaches, dankbares Lächeln. Sie versuchte noch etwas zu sagen, konnte es aber nicht. Sie atmete aus, wobei sie noch einmal lächelte. Es war ein Lächeln voller Wärme und einer großen Liebe, die sie uns hinterließ. Und dann brach das Licht in ihren Augen.
Nein“, rief ich, „das kann nicht sein!“
Ich hielt sie fest: „Nein Mama, bitte. Bitte Mama, komm zurück. Das ist nicht fair, wir brauchen mehr Zeit, mehr Zeit...“
Aber unsere gemeinsame Zeit war vorüber, und sie kam nicht zurück. Da war nur Luscinia, die neben mir kniete und genauso heftig weinte, wie ich selbst.

***

Comments

Popular posts from this blog

Teil 4

Teil 1

Teil 2