Teil 5


Unser Wagen fährt jetzt an dem roten Neon-Schild vorbei, das Reklame für den 'Dalek Club' um die Ecke macht.
Dieses Schild hat keinerlei Bedeutung für meine Begleiter, den Professor, Mr Wang, Ms Alba und Darryl, die alle still die Straße mit grauen, eintönigen Häusern beobachten, den dichten Verkehr und die wenigen Menschen, die dort entlang gehen.
Wie sollte es auch etwas für sie bedeuten...?
Aber ich erinnere mich nur zu gut an diesen ganz bestimmten Club-
an den sinnlosen Lärm, das Geschrei und den übelerregenden Wahnsinn des absolut Bösen-
und in Mitten all dessen mein Vater, John Galt...

***

Wunder?... Da war es schon wieder – die religiöse Seite.
David fühlte sich in eine noch tiefere Traurigkeit sinken. Hope hatte behauptet, dass David's Welt, die Welt seiner Zeit, durch ein Wunder verändert werden würde. Und das konnte nur eines bedeuten: Hope's Welt war nicht real... sie konnte es einfach nicht sein.
Und Hope selbst, das kleine Mädchen, das er so genau vor sich sah, und für das er bereits eine so große Zuneigung empfand, sie war nichts anderes als eine Illusion.
So etwas wie Wunder gab es nicht, das wusste David mit absoluter Sicherheit.
Es gab nur Logik. Selbst in diesen wahnsinnigen Thesen, die er von Ed gehört hatte, gab es eine gewisse Logik, falsche Ideen sicherlich und unmoralische Schlüsse auch, aber doch eine Art Logik...
Es war ein Wunder“, unterbrach Hope David's Gedankenstrom mit sanfter Stimme und ohne den leisesten Vorwurf, dass er gerade sogar an ihrer eigenen Existenz zweifelte, „dass du genau an dem Ort warst, wo du durch dein Schreiben 3000 Menschen davor bewahrt hast, getötet zu werden.“
Ich habe diese Menschen nicht wirklich vor dem Tod bewahrt“, David spürte eine leichte Verwirrung. Er hatte die Sache eigentlich nie so gesehen. „Ich habe nicht... oder vielleicht doch... ich weiß nicht, jedenfalls war es kein Wunder. Der Informant kam zu mir, weil er einen meiner Artikel über bestimmte unethische Rekrutierungs-Praktiken der Armee gelesen hatte...“
Hope schüttelte leicht den Kopf und fragte sanft: „Haben alle Leute diesen Artikel gelesen?“
Nein, eigentlich nicht“, verneinte David nachdenklich. Tatsächlich hatte er diesen bestimmten Artikel nicht für seine eigene Zeitung geschrieben, sondern für ein kleines Magazin, das zwar demselben Verlag gehörte, aber doch eine viel kleinere Auflage hatte.
Dann war es doch ein Wunder, dass dieser Informant deinen Artikel gelesen hat“, behauptete Hope, „und dass er dir vertraut hat, und dass er überhaupt genau dort war an diesem Ort. Obwohl er doch anfangs an so einem teuflischen Plan beteiligt gewesen war, hat er dann irgendwann sein Gewissen wieder gefunden und seine Meinung geändert. Wenn dein Freund Ed dort gewesen wäre, der hätte das nicht getan... das stimmt doch, oder?“
David nickte traurig: „Du hast ihn gehört. Ed hätte wahrscheinlich seine Meinung nicht geändert.“
Und vor kurzer Zeit“, erinnerte Hope David, „da hast du selbst gedacht, dass niemand irgendetwas Gutes tut, ohne dass er davon selbst profitiert.
Was für einen Nutzen hatte dein Informant davon, dass er dir die Wahrheit gesagt hat?“
Keinen“, musste David zugeben. „Er ist plötzlich verschwunden. Ich hoffe immer noch, dass es ihm gut geht, aber ich bezweifle es.“
Und er hat doch bestimmt gewusst, dass es gefährlich war, mit dir zu sprechen“, fragte Hope, und als David nickte, fuhr sie fort: „Und trotzdem hat er es getan. Das war ein Wunder des Herzens. Und du hattest doch auch keinen persönlichen Gewinn davon... du hast deinen Job verloren.
Und du wusstest auch schon vorher, dass dich die Sache in Schwierigkeiten bringen würde, stimmt's?“
Wieder nickte David und sie brachte ihre Argumentation zu Ende: „Und trotzdem hast du das Richtige getan, genau wie dein Informant. War das denn nicht auch ein Wunder? Es gab ein Wunder in dir drin.“
Wenn du das ein Wunder nennen möchtest, meinetwegen“, David zuckte mit den Schultern. „Ich habe einfach nur meinen Job als Journalist gemacht. Immerhin war das doch eine richtig gute Geschichte... Und was für einen Unterschied macht das Ganze überhaupt? Diese Planer werden einfach einen neuen Plan entwickeln und ein paar andere Menschen umbringen. Abiffsen ist immer noch da, genau wie seine Spezialeinheit, die kann man nicht stoppen.“
Vielleicht wird es ein anderes Wunder geben“, schlug Hope vor. „Und dann wird jemand anders da sein, um die nächsten potentiellen Opfer zu retten.
Und Onkel David, ich habe nicht gesagt, dass es ein einziges Wunder war, das deine Welt verändert hat. In Wirklichkeit waren es bestimmt tausend mal eine Million Wunder, die dafür nötig waren, um Herzen aus Stein in lebendige Herzen aus Fleisch und Blut zu verwandeln.“
So wie das Herz von Ed“, fragte David sarkastisch. „Du hast ihn doch gehört. Den konnte man von überhaupt nichts überzeugen. Er hat mir ja nicht einmal die Zeit gelassen meine oder eher noch deine Argumente vorzubringen. Und selbst wenn, dann hätte es nicht den geringsten Unterschied gemacht. Und ich glaube nicht, dass Ed so anders ist als alle anderen. Ich wünschte, er wäre es...
Nein, ich habe denselben Ausdruck, den ich in Ed's Augen gesehen habe, auch in denen von so vielen anderen Leuten gesehen, immer dann, wenn ich über etwas geredet habe, das ihrem Weltbild widersprach. Es war als ob Jalousien hinter ihren Augen heruntergelassen würden. Da gibt es kein 'Wahrheitslicht', das da hindurch dringen kann. Wenn diese Jalousien einmal unten sind, dann ist der Geist verschlossen, wie ein Safe.“
Ich weiß“, stimmte Hope ihm zu. „Einfache Worte können die kognitive Dissonanz nicht überwinden. Was man braucht ist...“
Ich weiß, ich weiß“, unterbrach David. „Man braucht ein Wunder...
Aber weißt du, Hope, all diese Dinge, die du mir gezeigt hast, und von denen du mir erzählt hast, das, was du in der Schule gelernt hast oder von deinem Großonkel, das widerspricht all dem, was ich gelernt habe, was uns allen hier beigebracht wurde und das seit so langer Zeit... Und du sagst mir, dass trotz alle dem, die Menschen ganz plötzlich 'das Licht' sehen werden?
Und sogar diejenigen in den höheren Positionen der Macht, die von diesem ganzen System profitieren, die werden plötzlich aufhören, mit dem, was sie tun um ihre eigenen Interessen zu schützen, und sie werden es zulassen, dass es signifikante Veränderungen gibt? Und all das wird geschehen, wegen einer göttlichen Intervention?“
Hope nickte: „Die Jalousien, wie du sie nennst, die konnten nicht allein durch beweiskräftige Argumente geöffnet werden und auch nicht durch Gewalt. Es war etwas anderes, es war...“
Ein Wunder“, beendete David ihren Satz und zuckte mit den Achseln. „Vielleicht hast du ja sogar Recht. Von dem, was ich den letzten Monaten gesehen habe, scheint es mir keine vernünftige Wahrscheinlichkeit zu geben, dass wir Veränderungen zum Besseren sehen werden. Die bösen Jungs, -dein Großonkel nannte sie 'die Maroder', nicht wahr- die haben alles fest in ihrer Kontrolle. Widerstand ist zwecklos, wie die Borg so schön sagten...“
Die Borg?“ fragte Hope.
Nur so ein paar fiktive Charaktere, nicht wichtig,“ antwortete David.
Jedenfalls hassen sich die unterschiedlichen Gruppen, die sich doch eigentlich gegen die Kriegstreiber stellen wollten, ob sie nun religiös oder atheistisch sind, links oder rechts, alle zusammen wie die Pest. Und selbst innerhalb der eigenen Gruppe gehen sich die Leute ständig gegenseitig an die Gurgel. Nirgendwo scheint es eine echte Kooperation für gemeinsame Aufgaben und Ziele zu geben.
Manche Leute sagen, die wurden alle von Agenten infiltriert, und dass allein sei der Grund, warum sie sich konstant selbst über auch nur die geringsten Meinungsverschiedenheiten wie Straßenköter zerfleischen.
Wenn nämlich die Machteliten etwas wirklich gut können, dann ist es das Spiel von 'Teile und Herrsche'. Und sie gewinnen jedes einzelne Mal.
Und was dein 'Wahrheitslicht' angeht, da gibt es eine so-genannte 'Wahrheitsbewegung'. Das sind Leute, die zwar das Spiel durchschauen, aber dann persönlich so paranoid werden, dass sie das letzte Mal, als ich nachgeschaut habe, Listen im Internet haben kursieren lassen, in denen sie alle anderen innerhalb ihrer Bewegung als Regierungsagenten diffamierten.
Ich weiß nicht wie viele es von diesen Listen gibt, aber die sind meist so lang, dass es mir scheint, als ob der einzige, der auf einer bestimmten Liste nicht drauf ist, derjenige ist der sie geschrieben hat.
'Die Wahrheit wird dich frei machen', heißt es irgendwo. Es ist eher so, als ob die Wahrheit paranoid macht.
Und jetzt kommen wir dann zurück zur einzigen Möglichkeit für eine bessere Welt“, lamentierte David frustriert, „ein göttliches Wunder. Schade nur, dass es Wunder in der Realität nicht gibt.“
Doch gibt es die“, bestand Hope auf ihrem Glauben, „die ganze Zeit.“
Du meinst wohl das Wunder eines Weltkriegs“, fragte David zynisch, wobei er seine Stimme anhob, „wo die Welt zerstört wird, damit man dann eine neue bauen kann?“
David tat sein Ausbruch sofort wieder Leid, nicht nur Hope's wegen, sondern auch wegen der Japaner am nächsten Tisch. Die hatten inzwischen den merkwürdigen Mann bemerkt, der in unfreundlicher Stimme mit sich selbst sprach, und beschlossen dann vernünftigerweise, sich zurückzuziehen und irgendwo in der Stadt einen sichereren Ort zu suchen.
Gibt es keine Wunder, weil es keinen Gott gibt“, fragte Hope und deutete dann auf sich selbst, „genau wie es keine Hope gibt?“
Tut mir Leid, Hope, so habe ich es nicht gemeint“, entschuldigte sich David. „Es fällt mir einfach nur so schwer, etwas zu akzeptieren, was ich nicht erklären kann. Und dann werde ich auch immer fragen, warum ein Gott, der Wunder wirken kann, all dies überhaupt zulassen konnte: Menschen werden in einem Krieg nach dem anderen abgeschlachtet, immer und immer wieder, manchmal Millionen von Menschen...“
Ich weiß nicht, warum die Unschuldigen für die bösen Taten der Schuldigen leiden müssen“, erwiderte Hope traurig. „Ich weiß es einfach nicht.“
David erkannte, dass sie jetzt an ihren Vater dachte, und er bereute seine harten Worte von zuvor, während Hope weitersprach: „Ich wurde gelehrt, dass der Tod nicht das Ende ist, und dass Gerechtigkeit über dieses Leben hinausreicht, und dass selbst das schlimmste Leid einmal in der Ewigkeit einen Sinn ergeben wird. Aber ich weiß, dass dir diese Antworten nicht ausreichen, und sie dich auch nicht trösten, Onkel David, stimmt's?“
David musste nicht antworten, Hope kannte seine Gedanken, und so fuhr sie fort: „Alles, was ich weiß ist, dass die Kriegstreiber am Ende gestoppt wurden. Und es waren Wunder, die das bewirkten und kein Weltkrieg. Denn Krieg mit Krieg und Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen hätte nicht funktioniert.
Die Mächtigen in den Dunklen Zeiten kontrollierten riesige Armeen, mit Waffen so destruktiv, dass sie das Potential hatten, alles Leben auf der Erde zu zerstören.
Sie haben viele Kriege geführt in deiner Zeit, das weißt du doch, Onkel David, sogar zwei Weltkriege. Und jeder in meiner Zeit weiß, dass die Menschheit sehr nahe an einem weiteren Weltkrieg war, indem genau diese furchtbaren Waffen verwendet worden wären. Und alle Leute wissen auch, dass dies vermutlich das Ende der Menschheit bedeutet hätte.“
Du hast Recht, Hope, vielleicht sind wir wirklich am Rande der endgültigen Selbstzerstörung“, stimmte David ihr mit trauriger Stimme zu. „Es gibt eine Menge Leute, die sagen, dass nur ein Massenaufstand und eine neue blutige Revolution uns vor dieser endgültigen Katastrophe bewahren könnte.“
Hope schüttelte den Kopf: „Das hätte auch nicht funktioniert. Denn außer den Kriegsarmeen hatten die Mächtigen deiner Zeit auch noch riesige Armeen von Sicherheitskräften zur Verfügung, die sie gegen die eigene Bevölkerung richten konnten. Und die hatten auch alle möglichen fürchterlichen Waffen, die sie gegen diejenigen benutzen konnten, die gegen die Macht dieser Mächtigen rebellierten.
Einzelnen, die gefangen gehalten wurden, wurden furchtbare Schmerzen und Erniedrigungen angetan. Und diejenigen, die sich in Protestmärschen gegen die Mächtigen stellten, wurden mit Massen-Kontroll-Waffen niedergemacht. Das waren zum Beispiel Mikrowellen-Waffen, die auf mehrere Kilometer Entfernung eingesetzt, tausenden von protestierenden Menschen gleichzeitig Schmerzen zufügen konnten.
Und trotzdem haben viele mutige Menschen weiter protestiert. Aber sie haben dabei keine Gewalt eingesetzt. Statt dessen haben sie zusammen Lieder gesungen, Lieder für Frieden und Wahrheit. Denn sie wussten, dass jeder Akt von Gewalt von der Seite der Protestierenden den Sicherheitskräften einen Grund dafür liefern würde, weitere Gewalt gegen diese Menschen anzuwenden. Und genau deshalb, weil die Menschen friedlich protestierten und trotzdem so viele von ihnen verletzt wurden, darum weigerten sich nach und nach immer mehr Sicherheitskräfte noch mehr Gewalt gegen die protestierenden Leute auszuüben, statt dessen schlossen sie sich diesen Menschen an.“
Jetzt schüttelte David wieder seinen Kopf: „Das ist unmöglich, unsere Sicherheitskräfte, genau wie unsere Soldaten auch, sind dafür ausgebildet Befehlen zu gehorchen, keine Fragen zu stellen -und wenn es befohlen wird- auch unbewaffnete Menschen zu erschießen. Sie würden niemals die Seiten wechseln, jedenfalls nicht genug von ihnen, um einen Unterschied zu machen.“
David seufzte wieder: „Ja, ja ich weiß, das war schon wieder einmal ein Wunder. Und ja, du hast Recht, nur ein Wunder könnte so etwas bewirken. Und gerade jetzt würde ich mir wirklich wünschen, an Wunder glauben zu können“, sagte David fast wehmütig, „aber das kann ich nun einmal nicht. Da ist einfach zu viel, was absolut keinen Sinn ergibt. Wenn da ein Gott für alle Menschen existiert, warum gibt es dann so viele verschiedene Religionen?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr David fort, um zu erklären, warum das in diesem Zusammenhang so relevant war:
Als ich dir von dem 'Teile und Herrsche' Spiel erzählt habe, da habe ich eine wichtige Sache noch vergessen. Dass es nämlich die häufigste Methode der Manipulatoren ist, sich auf die religiösen Unterschiede zwischen bestimmten Gruppen zu konzentrieren, und die Gläubigen dann als Schachfiguren gegeneinander einzusetzen.
Und das scheint wirklich die einfachste Art zu sein, Menschen dazu zu bringen einander zu hassen. Du hast gehört wie mein Freund Ed erklärt hat, dass die Leute, die er 'Freunde von Freunden' nennt, Salafisten dafür anheuern, um ihre Drecksarbeit zu machen. In diesem Fall bedeutet dies, dass CIA Spione -und auch Agenten anderer Länder- fanatische Sunni Muslime ausrüsten und dazu bringen, terroristische Anschläge gegen Shiitische Muslime oder Christen auszuführen.
Das Ziel ist es, ein Land, dessen Regierung man nicht mag, zu destabilisieren und die richtige Atmosphäre für einen Regimewechsel oder einen Bürgerkrieg zu schaffen.
Und hier in Amerika benutzen dieselben mächtigen Männer, die Ed seine Freunde nennt, diese Gewalt der salafistischen Organisationen, die von unseren eigenen Spionage Organisationen selbst geschaffen und bewaffnet wurden, dazu einen endlosen 'Krieg gegen den Terrorismus' zu rechtfertigen. Und obendrein muss die Notwendigkeit, uns vor diesen gefährlichen Terroristen zu schützen, als Begründung dafür herhalten, immer mehr Bürgerrechte abzubauen, und die Verfassung zu unterminieren.
Wenn es keine Religionen gäbe, dann wäre zumindest dieses verrückte Szenario nicht mehr möglich. Wenn ein Gott der Wunder existierte, dann wäre es doch das mindeste, was er tun könnte, dafür zu sorgen, dass die Menschen sich nicht mehr gegenseitig in seinem Namen abschlachten.“
Da lag viel mehr Frustration in David's Worten als der Wunsch Recht zu haben, und Hope erkannte das.
Und so antwortete sie sanft: „Du hast völlig Recht, es ist Wahnsinn einander im Namen Gottes zu hassen. Aber es ist auch so, dass alles, was du mir gerade erzählt hast, darauf hindeutet, dass es eben nicht die Religion ist, die hinter dem ganzen Wahnsinn steckt. Stattdessen ist es die Gier nach noch größerer Macht bestimmter Gruppen von mächtigen Männern. Und religiöse Unterschiede sind schließlich nicht die einzigen Werkzeuge, die die Maroder benutzen, um den Rest der Menschheit zu teilen und zu beherrschen...“
Hope hielt einen Moment inne, dachte nach und biss sich auf die Lippe. David spürte, dass sie überlegte, ob sie etwas ganz besonderes Persönliches mit ihm teilen sollte, etwas von dem es ihr schwer fiel, es in Worte zu fassen. Und so wartete er.
Ich hatte auch einmal diese Fragen“, begann sie langsam, „ich meine über die Unterschiede zwischen den Religionen. Und ich dachte, dass nur ich Recht hatte, und deshalb alle anderen Unrecht.
Das war vor ein paar Jahren, als ich neun war, und ich fühlte mich so... ich weiß nicht genau... und das war, als mein Großonkel gesagt hat...“
Hope zögerte, und dann fragte sie: „Kann ich dir etwas zeigen? Es ist sonst zu schwer, es zu erklären.“
David nickte: „Klar!“ Er war nur zu bereit, wieder in Hope's Welt einzutauchen, und dabei seine eigene für eine kurze Zeit zu vergessen. Trotzdem sah er noch schnell zum nächsten Tisch hinüber, wo der Junge, der gerade den Tisch abräumte, ihn neugierig beäugte. Dies war schließlich ein Fastfood-Restaurant, und David hatte die sichere Vermutung, dass das bedeutete, dass man schnell essen sollte.
David umschloss seinen leeren Becher mit festem Griff als Zeichen dafür, dass er noch nicht fertig war und deshalb noch sitzen bleiben würde. Er schloss die Augen, und die Bilder aus Hope's Vergangenheit durchfluteten seinen Geist.
Er sah eine jüngere Hope, die auf einem Balkon ihres Wohnungsblocks stand, obwohl er sie kaum wiedererkannte. Denn diese Hope schien so völlig anders zu sein, als das kleine Mädchen, das er aus früheren Flashbacks kannte.
Ihr Gesicht erinnerte ihn an jemanden, den er vor kurzem gesehen hatte. Er rätselte ein paar Sekunden, wer das sein konnte, und erkannte dann: Natürlich, es war sein eigenes Gesicht im Spiegel heut morgen. Wie er hatte die kleine Hope tiefe Schatten unter ihren Augen, und ihre Wangen waren eingefallen, als hätte sie schon für einige Zeit weder genug Schlaf noch Nahrung bekommen.
Obwohl ihr Körper und ihre Kleidung die des kleinen Mädchens waren, an das er sich erinnerte, war das Gesicht das einer verbitterten alten Frau. Ihre Lippen waren zusammen gepresst und ihre Fäuste zorngeballt. Es war nicht die Art von Ärger, den David früher in ihr gespürt hatte, ein Gefühl, das schnell ansetzte und sich dann in kurzer Zeit in nichts auflöste. Nein, dies war eine anhaltende Wut, die nicht nur die Hände zu Fäusten formte, sondern Körper und Geist als Ganzes in sich verknotete. Sie gab das Bild einer Person ab, die aus ihrem tiefsten Inneren alles und jeden ablehnte.
Hope war nicht allein. Nicht weit von ihr saß eine junge Frau, deren Körper fast völlig in eine Decke gehüllt war, in einem Sessel. Neben dem Sessel stand ein leerer Schemel. David nahm an, dass dies Tabitha war, das behinderte Mädchen, das Hope früher schon einmal erwähnt hatte.
Tabitha hatte die Augen geschlossen. Plötzlich öffneten sich ihre Lider, und sie sah Hope direkt an. Sie machte eine leichte Bewegung mit der einen Hand, die auf der Decke lag, als ob sie Hope einlud, näher zu kommen und sich neben sie zu setzen. Hope jedoch wandte ihre Augen ab. Sie war noch nicht bereit, sich hinzusetzen.
In diesem Moment waren leichtgewichtige Schritte zu hören, die sich schnell näherten. Jemand rannte den Balkon entlang und eine helle Stimme rief: „Salaam, Hope!“
Es war Ameenah, Hope's Freundin, die sofort begann überzusprudeln: „Ich hab dich so lange nicht mehr gesehen. Du bist nicht in der Schule gewesen und ich hab dich so vermisst. Und meine Mama hat gesagt, dass du krank bist und keinen Besuch haben willst und...“
Ameenah hielt für einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Währenddessen nahm sie die Gelegenheit wahr, ihre Freundin genauer zu betrachten.
Du siehst wirklich krank aus“, stellte sie fest und fragte dann mitfühlend: „Geht es dir jetzt ein bisschen besser?“
Hope gab einen unbestimmten Laut von sich, der ja oder nein bedeuten konnte. Jetzt war ein vorsichtiges Zögern in Ameenah's Stimme zu hören, während sie versuchte die richtigen Worte zu finden: „Ich habe von deinem Papa gehört... Und das tut mir so schrecklich leid, dass er gestorben ist...“
Der Laut, den Hope jetzt hervorwürgte, war noch unverständlicher und ganz offensichtlich nicht freundlich.
Ameenah spürte die Ablehnung. Tränen schossen ihr in die Augen, trotzdem wollte sie noch nicht aufgeben: „Vielleicht können wir heute Nachmittag in den Wald gehen, in unsere geheime Höhle. Ich habe noch eine andere Decke und zwei neue Kissen bekommen. Und ich habe auch schon einen Platz gefunden, wo ganz viele abgesägte Äste herumliegen, die wir zum Bauen benutzen könnten.
Und schau mal hier, das da hat mein Bruder für mich programmiert!“ Ameenah berührte ihren Armbandkontroller, danach erschien direkt darüber eine kleine holographische Figur mit Flügeln, die große Ähnlichkeiten mit Peter Pan's Tinker Bell hatte.
Sie leuchtet im Dunkeln“, erklärte Ameenah stolz.
Dann schlug sie vor: „Mein Bruder könnte so eine auch für dich programmieren. Und dann können wir 'Feen in der Höhle' spielen.“
Jetzt antwortete Hope zum ersten Mal in richtigen Worten: „Ich will nicht 'Feen in der Höhle' spielen.“
Dann spielen wir halt etwas Anderes etwas, was du willst“, bot Ameenah an, die immer noch nicht aufgeben wollte.
Hope wollte gerade den Kopf schütteln, um abzulehnen, zögerte dann jedoch, dachte für ein paar Sekunden nach und verlangte dann in provokativem Ton: „In Ordnung, gehen wir in den Wald, aber nicht heute Nachmittag, sondern jetzt sofort.“
Aber Hope, ich kann doch nicht jetzt gleich gehen“, erwiderte Ameenah, überrascht von Hope's Forderung. „Du weißt doch, dass ich mit meiner Familie um 12 Uhr in der Moschee sein muss, zum Freitagsgebet. Es dauert eine halbe Stunde in den Wald zu gehen und eine halbe Stunde zurück. Dann würden wir zu spät nach Hause kommen. Und wir hätten auch gar keine Zeit zum Spielen.“
Wir gehen entweder jetzt oder gar nicht,“ verlangte Hope in hartem Ton und zischte dann: „Warum musst du überhaupt zum Beten gehen in deiner falschen Religion? Mit deinem falschen Propheten und all diesen falschen Sachen, an die deine Leute glauben?“
Ameenah riss entsetzt Augen und Mund auf. Sie war erst mal völlig sprachlos. Einen Moment später flüsterte sie: „Hope, du bist eine Regelbrecherin, eine ernsthafte Regelbrecherin. Etwas Schlimmes über die Religion anderer Leute zu sagen, ist ganz schrecklich falsch...“
Es ist überhaupt nicht falsch, die Wahrheit zu sagen“, Hope's Stimme klang nun laut und zornig: „Es ist mir egal, ob ich eine Regelbrecherin bin. Ich kenne die ganzen Unterschiede zwischen der christlichen und der islamischen Religion. Und wenn es so viele Unterschiede gibt, dann muss deine Religion falsch sein, das ist doch völlig logisch. Und deshalb kannst du entweder hingehen und in deiner falschen Religion beten, oder du kommst mit mir!“
David, der dieses Gespräch mit fast ebenso großem Erstaunen wie die kleine Ameenah beobachtet hatte, erkannte nun, dass etwas Ernsthaftes mit Hope nicht stimmte. Diese boshafte kleine Hexe war nicht die Hope, die er kannte. Auch war sie offensichtlich nicht die Hope, die Ameenah ihr ganzes Leben gekannt hatte. Allerdings war auch sie inzwischen wütend geworden.
Nein“, stellte sie klar, „du hast Unrecht. Es ist deine Religion, die fal...“
Ein Laut, der aus der Richtung des Sessels kam, war jetzt zu hören, und Ameenah bremste sich selbst ab. Tabitha's Augen waren weit offen. Sie sah die beiden kleinen Mädchen direkt an. Ameenah sah beschämt aus.
Warum redest du so, wo doch Tabitha dich hören kann“, flüsterte sie.
Es ist mir egal, wer mich hört, wenn ich die Wahrheit sage“, zischte Hope zurück, wandte aber doch ihre Augen ab.
Ameenah hatte jetzt erkannt, dass sie die Situation mit Hope nicht selbst bewältigen konnte.
Du kannst mit mir kommen“, schlug sie vor. „Dann können wir mit dem Imam sprechen, bevor das Gebet beginnt. Und er kann dir sagen, was richtig ist“, schlug sie vor.
Ich geh nicht zu so einem Imam“, lehnte Hope ab, und wieder bemerkte David, wie ungewohnt sie redete. „Dein Imam sagt alles nur auf die islamische Art, und so was würde ich sowieso nicht glauben“, stellte Hope klar.
Sie zögerte für eine Weile und brachte schließlich eine weitere Forderung hervor: „Du kannst statt dessen mit mir zu meinem Großonkel Professor gehen. Der wird dir dann sagen, was richtig ist.“
Jetzt schlug Ameenah auf die gleiche Weise zurück: „Aber dein Großonkel ist doch ein christlicher Mönch aus der... der Jesus Gesellschaft, glaube ich, und der würde alles nur auf die christliche Weise sagen.“
Mein Großonkel gehört zum Orden der Societas Jesu, und er weiß alles“, prahlte Hope pompös.
Ameenah war nicht überzeugt. Sie dachte eine Sekunde nach und schlug dann vor: „Vielleicht können wir zusammen zu Sensei gehen.“
Nein“, beharrte Hope in ihrer so ungewohnt zischenden Stimme, „wir gehen zu meinem Großonkel oder zu überhaupt keinem Menschen, und zwar ganz genau jetzt.“
Ameenah wandte sich ein wenig ab, und doch konnte David in ihrem Gesicht, wie in einem Buch lesen. Sie war immer noch ein wenig wütend über Hope's überraschende verbale Attacke und auch schockiert, weil diese ein striktes Tabu ihrer Gesellschaft gebrochen hatte. Sie wollte sich auch nicht von Hope zu etwas zwingen lassen, das war doch nicht fair...
Andererseits hatte sie erkannt, dass irgendetwas heute mit Hope nicht stimmte, etwas so Ernstes, dass sie, Ameenah, ihr nicht helfen konnte. Hope brauchte einen Erwachsenen, irgendeinen Erwachsenen...
In Ordnung, gehen wir los!“ antwortete Ameenah Hope und begann entschlossen in Richtung des Aufzugs zu gehen. Hope folgte ihr schweigend.
Als sie an der Tür des Professor's angekommen waren, drehte Ameenah sich zu Hope, doch die wartete darauf, dass Ameenah die Initiative ergriff. Also läutete Ameenah die Klingel.
Es dauerte eine Weile, bevor der Professor zur Tür kam. Er schien beschäftigt gewesen zu sein. Als er aufmachte, sah er seine beiden jungen Besucher überrascht an.
Assalamu aleikum, Professor Morgan” begann Ameenah mit der traditionellen und formellen Begrüßung, während Hope sich wieder auf ihr vorheriges Gemurmel zurückgezogen hatte.
Wa aleikum assalam, kleine Ameenah und Hope”, erwiderte der Professor ebenso formell. “Was kann ich für euch tun?“
Ameenah sah Hope an, weil sie erwartete, dass diese sich erklären würde. Immerhin war ja der Professor Hope's Großonkel und nicht ihrer. Und außerdem war Hope es gewesen, die verlangt hatte, dass sie zu ihm gehen sollten. Aber Hope blieb stumm.
Als er keine Antwort bekam, fragte der Professor: „Möchtet ihr vielleicht hereinkommen?“
Ja danke schön“, antwortete Ameenah höflich, und betrat das Büro des Professor's, wobei sie sich schüchtern und vorsichtig umsah. Sie war offensichtlich noch nie dort gewesen.
Hope folgte ihr stumm mit gebeugtem Kopf. Die Wohnung des Professor's sah genau so aus, wie das letzte Mal, als David sie gesehen hatte, mit den spartanischen Möbeln und der Monitorwand über dem Schreibtisch, die von Diagrammen und Gleichungen bedeckt war.
Der Professor ging in die Küche, um einen Stuhl zu holen. Danach holte er aus dem Raum, von dem David wusste, dass es sein Labor war, einen zweiten Stuhl, bevor er die Tür dazu wieder schloss. Nachdem er die Kinder aufgefordert hatte, sich hinzusetzen, widerholte er die Frage: „Also, was kann ich nun für euch beide tun?“
Ameenah sah wieder zu Hope hin. Ihre Freundin hatte jedoch ihre Augen abgewandt, und so begann Ameenah selbst: „Ich wollte mit Hope später draußen spielen, aber die hat gesagt, wir sollen da jetzt sofort hingehen, und ich hab gesagt, ich muss zuerst zum Freitagsgebet, und sie hat gesagt, ich soll nicht beten, weil meine Religion falsch ist und der Prophet... und...“
Ameenah hielt eine Sekunde inne und sah den Professor an, dann flüsterte sie: „Sie sollte so etwas nicht sagen. Es ist...“ Sie zögerte noch einmal.
Der Professor beendete ihren Satz:...sehr, sehr falsch, ein schwerwiegender Fall von Regelbruch.“
Er ging hinüber zu Ameenah, wobei er Hope den Rücken zuwandte, verbeugte er sich leicht und sagte: „Es tut mir zutiefst Leid, was Hope zu dir gesagt hat, und ich entschuldige mich im Namen ihrer Familie und aller Christen unserer Hausgemeinschaft, und ich spreche die Hoffnung aus, dass du diese meine Entschuldigung annehmen möchtest.“
Er bot der überraschten Ameenah seine Hand an. Als Ameenah zögerte versprach er: „Hope wird sich auch entschuldigen“ und nach einem seitwärts Blick auf sie, fügte er hinzu: „wahrscheinlich morgen.“
Hope sagte nichts, aber David spürte wie sie innerlich kochte vor Wut. Doch zu David's Erstaunen konnte er auch in ihr lesen, dass sie die Reaktion des Professors in keinster Weise überraschte. Sie hatte schon vorher gewusst, dass er in dieser Sache nicht auf ihrer Seite stehen würde.
Warum also war sie dann überhaupt gekommen?
Ameenah ergriff die ausgestreckte Hand des Professor's immer noch nicht, stattdessen sagte sie schuldbewusst: „Ich hab so halb das Gleiche zu Hope gesagt... also über... Ihre Religion.“
Der Professor nickte, ohne seine Hand zurückzuziehen erklärte er: „Das ist genau der Grund, warum das Niedermachen der Religion eines Nachbarn so eine schwerwiegende Verletzung der Regeln ist. Es führt zu weiteren verletzenden Worten, und diesen Worten folgen andere Worte, Wut nach Wut. Das ganze wird dann zu einem Teufelskreis mit dem Ergebnis von Hass, Gewalt und der Zerstörung des Friedens... solange der Kreis nicht durchbrochen ist.
Immer noch mit ausgestreckter Hand wiederholte der Professor seine Frage:
Willst du, Ameenah, meine Entschuldigung im Namen aller Christen annehmen, die die junge Hope eines besseren hätten belehren sollen, und in diesem Fall völlig versagt haben.“
Ameenah stand von ihrem Stuhl auf. Sie legte ihre kleine Hand in die große des Professors und sagte feierlich: „Ich nehme ihre Entschuldigung an, Professor Morgan... und ich entschuldige mich auch im Namen von... in meinem eigenen Namen.“
Ich nehme deine Entschuldung auch an“, erwiderte der Professor ebenso feierlich und schüttelte ihre Hand noch einmal kräftig, bevor er sie losließ und sich hinsetzte.
Auch Ameenah setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Der Professor sah sie erwartungsvoll an und fragte dann: „Möchtest du noch etwas sagen?“
Ameenah atmete tief und begann dann zu erzählen: „Eigentlich wollte ich mit Hope zu unserem Imam gehen, damit er ihr das mit den verschiedenen Religionen erklären kann, aber sie hat das nicht gewollt. Sie wollte nur zu Ihnen und so...“
Und so“, beendete der Professor ihren Satz, „ist es jetzt an mir die Sache zu erklären... Hmm, lass mich mal nachdenken“, begann er dann.
Natürlich würde es euer Imam ein wenig anders erklären, und vermutlich viel besser als ich, genau wie unser Pfarrer es wohl anders machen würde, aber ich will es mal versuchen...
Du weißt doch, dass ich ein Wissenschaftler bin?“
Als Ameenah nickte, fuhr er fort: „Meine Spezialgebiete sind die Mathematik und die Physik. Deshalb kann ich für meine Erklärungen am ehesten die Werkzeuge meiner Wissenschaft nehmen.“
Mit diesen Worten drehte er sich zu seinem Schreibtisch und begann zu tippen. Plötzlich schlossen sich die Jalousien in seinem Büro, so dass kein Tageslicht mehr eindringen konnte. Stattdessen war der Raum von einer Masse von tausenden holographischer Punkten beleuchtet, die sich langsam unter der schwarzen Decke drehten.
Ameenah schnappte nach Luft, während der Professor weiter erklärte:
Was du hier siehst, ist eine Projektion der Milchstraße, unserer eigenen Galaxie, eine von vielen Galaxien in unserem Universum. Jeder kleine Punkt, den du hier siehst, repräsentiert eine Sonne, so wie unsere. Viele dieser Sonnen haben auch Planeten, die sie umkreisen, solche wie der Mars und die Venus und unsere Erde.“
Das ist wunderschön“, bemerkte Ameenah ehrfürchtig, „und es bewegt sich.“
Der Professor nickte: „Die Milchstraße rotiert um ihr Zentrum gemäß bestimmter unveränderlicher Gesetze. Seit tausenden von Jahren haben sich die Menschen gefragt, was diese Gesetze, die das Universum kontrollieren, wohl sind. Und Wissenschaftler haben Antworten darauf gegeben. Aber sie mussten auch feststellen, dass aus jeder Antwort neue Frage erwachsen ist.
Und manchmal mussten die Wissenschaftler sogar zugeben, dass die Antworten, die sie lange für wahr gehalten hatten, in Wirklichkeit stark fehlerhaft oder sogar völlig falsch waren.“
Nur Allah hat alles Wissen über das Universum,“ bemerkte Ameenah, „denn er hat es erschaffen.“
Du hast Recht, Ameenah“, stimmte ihr der Professor zu, „nur der allmächtige Schöpfer kennt alle Antworten.
Das hat den Wissenschaftlern zu allen Zeiten allerdings nicht ausgereicht. Sie wollten ihre eigenen Antworten finden. Und sie waren nicht nur an der Bewegung der Sterne und der Planeten interessiert.“
Der Professor presste einen Key, und die Projektion der Milchstraße verschwand, um Raum zu machen für die eines sehr irdischen blauen Himmels. Darunter lag eine Berglandschaft. Langsam zoomte das Bild ein, um nur noch einen einzigen Berg zu zeigen. Es zoomte auf einen Felsen und endlich auf ein Steinchen als Teil des Felsens.
Sie wollten wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält.“
Die Projektion zeigte jetzt ein Molekül und war immer noch dabei weiter hinein zu zoomen.
Sie wollten wissen, was das Kleinste aller Teilchen sei. Und zuerst haben sie sich darauf geeinigt, dass das ein Atom sein müsste. Jedoch später erkannten sie, dass selbst das kleine Atom in Wahrheit ein ganzes System noch kleinerer Teilchen enthielt.“
Die Projektion war nun die eines Atomkerns aus Protonen und Neutronen, der von Elektronen umkreist wurde.
Am Ende erkannten die Wissenschaftler, dass selbst die kleinsten Teilchen noch subatomare Partikel enthielten, die sonderbarerweise nicht einmal wirkliche Teilchen waren.“
Ameenah schien jetzt ziemlich verwirrt über diese widersprüchliche Aussage, doch der Professor fuhr fort: „Diese Teilchen hatte weder Masse noch Energie, sie strahlten weder Licht noch Hitze ab. Sie waren nur kleine Teilchen von nichts, und doch einem nichts, das vibrierte, sich irgendwie bewegte, wie nach einer ewigen Melodie, die wir nicht hören können und nach Gesetzen, die wir nicht verstehen.
Und aus dieser Nichts-Melodie wurde alles komponiert was ist, wie eine gigantische Symphonie des ganzen Universum.
Denn obwohl sie nichts sind, so haben sie doch Einfluss auf einander und ihre Umgebung. Sie bewirken etwas, weshalb einige Wissenschaftler sie auch 'Wirks' nannten, und andere nannten sie Quarks.
Und durch dieses Bewirken bekommt das, was keine Masse hatte, eine Masse, und was keine Energie hatte, wird zu Energie.
Und die kleinen Partikel von Atomen, die Elektronen genannt werden, bewegen sich nicht in geraden Bahnen um den Kern, sondern sie erscheinen und verschwinden hier und da aus ihrer Existenz.“
Die Projektion eines Atomkerns begann nun wieder aufzuleuchten, wobei glitzerende Punkte um den Kern herum scheinbar völlig unberechenbar auftauchten und wieder verschwanden.
Der Professor fuhr fort: „Manchmal tauchte dasselbe Teilchen auch an zwei Orten gleichzeitig auf.
Die Wissenschaftler konnten keine Logik oder Ordnung darin erkennen, nur eine Art Unschärfe, eine Unlogik. Und doch ist das, was scheinbar so unverständlich, unordentlich chaotisch zu sein scheint doch in Wirklichkeit, die Basis für all die wunderbar geordneten Systeme, auf denen das gesamte Universum aufgebaut ist, einschließlich aller lebenden und leblosen Dinge darin.“
Die Projektion zoomte aus, bis sie wieder die Landschaft zeigte, dann die ganze Erde, dann das Sonnensystem und am Ende die Milchstraße mit all ihren Sternen.
Und die Wissenschaftler erkannten, dass wenn der Fokus ihrer Sicht zu eng auf ein einzelnes Ereignis eingestellt ist, dann ergibt dies oft überhaupt keinen Sinn, gleichgültig wie konzentriert man dort nach Antworten zu seinen Fragen sucht. Für die meisten Menschen, seien sie nun Wissenschaftler oder nicht, kann diese Unfähigkeit tatsächlich ziemlich frustrierend sein. Wir haben so ein tiefes Verlangen in uns, zu verstehen, warum Dinge geschehen, wie sie es tun.“
Obwohl der Professor seine Worte augenscheinlich an Ameenah richtete, erkannte David doch, dass er eigentlich mehr zu Hope als zu ihrer Freundin sprach.
Nur wenn man die kleinen Ereignisse als Teil eines Ganzen sieht, dann kann man die Logik erkennen. Und doch müssen alle unsere Beobachtungen immer noch durch den Filter unseres kleinen menschlichen Verstands dringen. Und häufig können wir nichts anderes tun als zuzugeben, dass einige Antworten dort“, der Professor deutete auf seinen eigenen Kopf, „niemals gefunden werden können.
Am Ende werden dann sogar die klügsten Wissenschaftler zu der Erkenntnis gelangen, die unsere kleine Ameenah schon längst hatte.“
Jetzt lächelte Ameenah. Sie war nicht mehr verwirrt, sondern wiederholte erfreut ihre eigenen Worte: „dass nur Allah, der das ganze Universum und alles darin erschaffen hat, auch all die Antworten kennt.“
Der Professor nickte.
Ich möchte dir gern ein anderes Bild zu den Unterschieden zwischen den Religionen zeigen. Es ist nicht die volle Wahrheit, nur ein Bild, um dir zu helfen, die Realität ein kleines bisschen besser zu verstehen. Möchtest du es sehen?“
Ameenah nickte gespannt.
Mit einem Tastenschlag projektzierte der Professor eine X- und eine Y-Achse auf dem Fußboden. Er tippte noch ein paar Mal und mehrere Punkte innerhalb des Koordinatensystems waren markiert.
Habt ihr so etwas schon in der Schule behandelt“, fragte der Professor.
Klar“, antwortete Ameenah. „Jeder Punkt hat Koordinatenzahlen, die anzeigen, wo er zwischen der X und Y-Achse liegt.“
Und hast du auch schon gelernt, dass zwei verschiedene Punkte niemals dieselben Koordinaten haben können“, fragte der Professor weiter.
Ja“, Ameenah nickte, „aber nur wenn es ein flaches Koordinatensystem ist, wie das, was du auf den Boden projektzierst hast. Aber wenn es eine Z-Achse hat, dann..“ Ameenah begann langsam und betont ihr Schulwissen zu zitieren, „dann kann eine unendliche Zahl von Punkten dieselben X und Y Koordinaten haben.
Du hast in der Schule gut aufgepasst“, lobte sie der Professor.
Es ist die Z-Achse, die so ein Koordinatensystem 3-Dimensional macht. Und mit nur diesen drei Dimensionen des Raums, kann unsere Realität auch schon ziemlich realistisch beschrieben werden. Obwohl es da noch eine andere Dimension gibt, eine die wir jeden Augenblick fühlen können, und das ist die Zeit. In diesen vier Dimensionen von Raum und Zeit erfahren wir unsere Welt.
Aber stell dir mal einen ganz anderen Ort vor, eine Welt, die sich grundlegend von unserer unterscheidet, wo alles nicht mehr dreidimensional ist, sondern flach, und wo die Leute so aussehen...“ Der Professor produzierte Bilder von kleinen gezeichneten Figuren mit Augen und Nasen, die aus beiden Seiten ihrer leeren runden Gesichter hervortraten, während Haarstriche oben herausragten. Er ließ die Figuren sich auf dem Boden bewegen.
Die sehen aber komisch aus“, bemerkte Ameenah.
Die würden noch komischer denken und handeln“, erwiderte der Professor. David bemerkte, dass Hope, obwohl sie alles daransetzte uninteressiert zu wirken, trotzdem unter ihren halbgeschlossenen Augenlidern intensiv zusah. Sie war fasziniert.
Und jetzt Ameenah“, forderte der Professor sie auf, „steh auf und stell dich inmitten des Raumes der Flachleute.“
Ameenah stellte sich in die Mitte des Raums, und der Professor ließ die kleinen Figuren auf dem Bode um sie herumtanzen.
Die können dich nicht sehen, weißt du. Alles, was sie sehen, sind die Linien um deine Füße herum. Diese Linien sind für sie unüberwindliche Hindernisse, um die sie sich herumbewegen müssen. Sie können nicht nach oben schauen, um dein Gesicht zu sehen, oder auch nur, um über deine Schuhe hinweg zu klettern. Für sie gibt es kein oben.“
Ameenah nickte und kommentierte:“ Die Flachleute haben keine Z-Achse.“
Keine Z-Achse“, stimmte der Professor zu. „Aber hast du schon erkannt, Ameenah, dass für den allmächtigen Gott, wir auch nichts anderes sind als Flachleute, obwohl wir eine Z-Achse haben?“
Die meisten Wissenschaftler heutzutage haben sich darauf geeinigt, dass mindestens eine extra Dimension für den Raum und eine zusätzliche für die Zeit existiert. In unserem täglichen Leben erfahren wir die Zeit, wie sie von der Vergangenheit in die Gegenwart und danach in die Zukunft übergeht.
Mit einer zweiten Zeitdimension würde jeder Moment der Vergangenheit und jeder Moment der Zukunft gleichzeitig in diesem gegenwärtigen Augenblick existieren, welcher der einzige ist, den wir Menschen normalerweise erfahren können.
Jedoch der allmächtige Gott kann alles sehen, was existiert, in jeder Zeit.
Und wegen dieser anderen Zeitdimension haben meine Wissenschaftlerkollegen und ich entdeckt, dass Zeitreisen unter bestimmten Umständen möglich sind, zumindest für den menschlichen Geist. Und das ist das Projekt, an dem wir zurzeit arbeiten.
Ja, Hope hat mir davon erzählt“, erklärte Ameenah begeistert. „Da kann jemand in der Zeit zurückgehen in den Kopf von seinem Bruder von gestern. Das hört sich so toll an!“
Ja, das denken wir auch“, stimmte der Professor ihr zu. Obwohl die andere Raumdimension sogar noch etwas Großartigeres ist.
Es ist eine Dimension, die wir weder hören, noch sehen, noch berühren können und deshalb mit unserem Verstand nicht wirklich begreifen können. Sie geht so weit über unser Denken hinaus, wie es die dritte Dimension für die Flachleute tut.“
Diese andere Dimension, die ist das 'Oben' von Allah“, schlug Ameenah vor.
Der Professor lächelte „So könntest du sie nennen. Aus der Perspektive des Allmächtigen da sehen alle Dinge grundsätzlich anders aus als für uns, denn Gott kann durch alle Dimensionen sehen.
Wenn man nur eine X- und eine Y-Achse hat, dann bedeuten zwei Punkte mit denselben X/Y Koordinaten einen unmöglichen Widerspruch, wenn du aber die Z-Achse mit einbeziehst, dann verschwindet der Widerspruch. Und so sind vielleicht aus der göttlichen Perspektive, die Punkte, die wir als Widersprüche zwischen unseren Religionen sehen, gar keine.
Ameenah nickte, sie hatte verstanden: „Wir sind wie die Flachleute, wir können zu Allah's oben nicht hinaufschauen.“
Der Professor nickte bedächtig: „Das stimmt, wir können es nicht sehen. Und doch stelle ich mir manchmal unsere spirituelle Existenz wie einen hohen Berg vor, der genau dort in dieser Dimension liegt, in Gottes 'Oben'.“
Und wieder änderte der Professor die Projektion. Sie zeigte nun einen holographischen Berg, von dunklen Gewässern umgeben, direkt in der Mitte vom Büro des Professors.
Dann fuhr er mit seiner Geschichte fort: „Wir, alle Menschen auf der Erde, leben auf diesem Berg. Und wir alle müssen ihn erklimmen, damit wir unser Ziel erreichen, in die Heimat zu gelangen, wo wir hingehören, zu dem Einen, nach dem wir uns sehnen.
Unser ganzes Leben lang müssen wir hoch klettern, denn wenn wir still stünden, dann könnten uns die schweren Winde hinuntertreiben, könnten uns abrutschen lassen, direkt in das Meer der Trostlosigkeit, das den Berg von allen Seiten umschließt.
Doch der Aufstieg ist oft schwierig und führt manchmal durch eine harsche Wildnis. Deshalb wurden an verschiedenen Stellen Pfade über den Berg hinauf gelegt. Diese Pfade wurden für uns durch besondere Personen erschlossen, die der Allmächtige dazu berufen hat.“
Durch die Propheten“, warf Ameenah ein.
Der Professor nickte: „Und für uns Christen besonders durch Jesus.“
Haben Sie gewusst, dass euer Jesus für uns auch ein Prophet ist“, fragte Ameenah.
Der Professor lächelte: „Ja, das habe ich tatsächlich gewusst.“
Ameenah deutete auf das bestickte Oberteil des Professors. „Aber wir machen ihn nicht ans Kreuz“, kommentierte sie.
Hope sah auf und sah ihren Großonkel direkt an.
Und zum ersten Mal bemerkte David, dass der bestickte Streifen, den der Professor auf dem Oberteil seines Anzugs trug, kein abstraktes Muster zeigte, wie er das bei den meisten anderen Leute aus Hope's Dorf gesehen hatte.
Stattdessen zeigte er nicht nur ein Kruzifix, sondern eine ganze Kreuzigungsszene, komplett mit den beiden Verbrechern rechts und links von dem gekreuzigten Jesus, ebenso wie mit den trauernden unter dem Kreuz und würfelspielenden Soldaten. An den Rändern waren Menschengruppen zu sehen, die zusahen, einige mit erhobenen und geballten Fäusten.
Ja, ich weiß“, antwortete der Professor, „unser Weg ist der des Kreuzes. Und auf diesem Weg lernen wir viel über Gott, aber auch über uns selbst.“
Ameenah hatte einen zweifelnden Gesichtsausdruck, drehte sich dann aber zurück zu dem holographischen Berg. Leuchtende Pfade führten dort durch waldige und felsige Gegenden, die dann den ganzen Weg hinauf zur Grenze der Wolken führten, die die Spitze des Berges bedeckten. Kleine Figuren wanderten in Gruppen entlang dieser Pfade. Es gab aber auch Vereinzelte, die einsam an anderen Orten kletterten.
Der Professor fuhr fort: „Auf unseren Pfaden ist es einfacher zu gehen, als es dort in den unerschlossenen Gebieten wäre. Dort müssten wir allein gehen.
Aber solange wir auf unserem Pfad gehen, da sind wir immer in Gesellschaft anderer Menschen. Sie können uns helfen, wenn wir mal stolpern und fallen. Wir können uns aneinander festhalten, wenn harsche Winde zu stark zu werden scheinen, oder wenn wir durch einen besonders dunklen Streckenabschnitt auf dem Berg wandern müssen.“
Ameenah hatte inzwischen etwas Beunruhigendes an der Projektion entdeckt: „Führen denn alle Wege zu Allah“, fragte sie. „Der da dort drüben hinten am Berg, der sieht so krumm aus, als ob der überhaupt nirgendwo hinführt.“
Du hast Recht, Ameenah“, stimmte der Professor ihr zu, „einige Wege sind nicht gut, sie führen nicht nach oben. Sie führen nirgendwo hin oder manchmal sogar direkt in das Meer der Trostlosigkeit.“
Aber wie weiß ich, ob ich auf einem guten Weg bin oder einem schlechten“, fragte Ameenah
Wenn du auf deinem Weg lernst, freundlicher zu sein und liebevoller gegenüber deinen Mitmenschen, hilfsbereiter, bereit zu vergeben und erfüllt von Mitgefühl, dann bist du auf dem richtigen Weg“, antwortete der Professor, „denn das ist es doch, was der allmächtige Gott von uns erwartet, stimmt's? Wenn du hingegen bösartig wirst, hasserfüllt, eifersüchtig und rachedurstig, dann bist du mit Sicherheit nicht auf dem Weg nach oben.“
Ameenah dachte eine Weile darüber nach, während sie gedankenverloren Hope ansah, die wieder ihre Augen abgewandt hatte, obwohl David genau wusste wie konzentriert sie ihre Freundin und ihren Großonkel hinter ihren halbgesenkten Lidern beobachtete.
Ameenah flüsterte dem Professor zu: „Hope geht doch nicht hinunter zum Meer der Trostlosigkeit?“
Zumindest sieht sie gerade dort hinunter“, erwiderte der Professor.
Aber es ist doch nur wegen ihrem Papa, dass sie so schrecklich traurig ist“, versuchte Ameenah das Verhalten ihrer Freundin zu erklären.
Ich weiß“ sagte der Professor.
Ich wünschte, sie würde auf unseren Pfad kommen“, sagte Ameenah. „Wir, also ich und meine Eltern und mein großer Bruder und unser Imam und all die Leute aus der Moschee, wir könnten ihr helfen wieder nach oben zu gehen.“
Da bin ich mir ganz sicher, dass ihr ihr helfen wollt“, erwiderte der Professor. „Aber Hope war schon ihr ganzes Leben lang auf ihrem Weg. Sie hat ihre ersten Gebete gelernt, da war sie kaum älter als ein Baby. Und sie hat christliche Lieder schon gehört, da war sie noch im Bauch ihrer Mutter.
Um auf euren Pfad zu gelangen, müsste sie durch die unerschlossenen Gebiete gehen. Sie könnte stolpern und abrutschen, bevor ihr sie noch erreichen könnt. Das würdest du doch nicht wollen?“
Nein, würd ich nicht“, lenkte Ameenah ein, wenn auch etwas zögerlich.
Aber gibt es denn nicht einen Weg, der besser ist als die anderen, gerader und richtiger?“
Ja, das glaube ich schon“, antwortete der Professor mit sanfter Stimme.
Und welcher ist es“, fragte Ameenah.
Was würde euer Imam sagen, welcher Weg es ist?“ erwiderte der Professor die Frage.
Der Weg des Islam natürlich“, antwortete Ameenah ohne Zögern.
Und was denkst du, was ich sagen würde“, fragte der Professor dann.
Jetzt zögerte Ameenah für eine ganze Weile, bevor sie endlich mit leiser Stimme antwortete: „Ich denke mal, der christliche Weg.“
Ein bisschen traurig fügte sie hinzu: „Aber Hope ist meine beste Freundin, ich würde mir trotzdem wünschen, dass wir unseren Weg zusammen gehen würden, und dass ich ihr helfen könnte.“
Es gibt Menschen, die ihr auf ihrem Weg auch helfen können“, erwiderte der Professor sanft, „ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre Großeltern und sogar ich ein bisschen.“
Ja ich weiß das ja“, sagte Ameenah und fügte wehmütig hinzu, „aber trotzdem...“
Aber du gehst ja den Weg mit ihr zusammen“, stellte der Professor fest, „hier in den drei Dimensionen, die wir sehen, hören und berühren können, hier in unserer Hausgemeinschaft. Und aus der Perspektive des Allmächtigen, besteht da überhaupt kein Widerspruch.“
Als Ameenah ein wenig verwirrt aussah, erklärte der Professor: „Du bist doch mit Hope hier her gekommen, oder nicht?“
Mit einem einzigen Tastenschlag beendete der Professor die Projektion und sagte: „Aber jetzt musst du ganz schnell nach Hause gehen, oder du und deine Familie werden zu spät sein für das Freitagsgebet. Sie warten bestimmt schon auf dich.“
Oh ja“, rief Ameenah und beeilte sich aufzustehen.
Bitte richte deinen Eltern die allerherzlichsten Grüße von mir aus, und eine Entschuldigung dafür, dass ich dich so lange hier aufgehalten habe.
Ameenah nickte und drehte sich dann zu Hope um und fragte: „Willst du heute Nachmittag mit mir spielen?“
Ohne ihr die Gelegenheit für eine Antwort zu geben, lehnte der Professor das Angebot an Hope's Stelle ab: „Nicht heute Ameenah, vielleicht morgen. Heute Nachmittag wird Hope damit beschäftigt sein, mir dabei zu helfen, die Kirche zu putzen.“
Oh“, erwiderte Ameenah überrascht, „wir müssen unsere Moschee nicht sauber machen. Wir haben eine robotische Reinigungsmaschine. Vielleicht könnte der Imam sie Ihnen ausleihen.“
Vielen Dank für das Angebot“, lehnte der Professor es ab. „Aber das ist nicht notwendig. Das Putzen der Kirche ist eine besondere spirituelle Übung in meinem Orden. Es muss von Hand getan werden.“
Ach so“, sagte Ameenah, die bereits an der Tür war. Sie drehte sich noch einmal um und verabschiedete sich.
„Bless, Professor Morgan, bless Hope. Incha' Allah, seh ich dich morgen.”
Hope antwortete mit einem weiteren Brummen, das Ameenah schon nicht mehr hörte. Diese rannte bereits so schnell ihre Füße sie tragen konnten hinüber zum Aufzug, der sie nach oben auf ihr eigenes Stockwerk bringen würde.
Der Professor wandte sich zum ersten Mal nun Hope direkt zu: „Also los Hope, komm jetzt mit. Wir müssen jetzt auch gehen!“
Ich habe aber gar nicht gesagt, dass ich dir beim Putzen helfen will“, knurrte sie bockig.
Der Professor verließ seine Wohnung, und Hope folgte ihm widerstrebend.
Als sie am Aufzug angekommen waren, drückte der Professor den Knopf nach unten statt nach oben und Hope protestierte: „Warum können wir nicht den Maglev nehmen?“
Die frische Luft wird uns gut tun“, antwortete der Professor geduldig.
Hope war noch nicht fertig mit ihrem Widerstand: „Warum musst du überhaupt dieses doofe Putzen übernehmen? Ameenah hat Recht – es ist blöd, wenn man doch ebenso gut eine robotische Maschine benutzen könnte. Wenn ich einmal Wissenschaftlerin bin, dann werde ich niemals so was Blödes tun, wie Putzen.“
Mit dieser Einstellung wirst du niemals Wissenschaftlerin werden“, stellte ihr Großonkel klar, diesmal mit weit weniger Geduld als zuvor.
Jetzt war Hope's Stimme völlig zu einem Knurren verkommen: „Was hat das Putzen der Kirche mit irgendeiner Form von Wissenschaft zu tun?“
Der Professor antwortete: „Wie ich dir bereits gesagt habe, und ich hätte gedacht das wüsstest du schon, so ist das Putzen der Kirche eine spirituelle Übung, die von meinem Orden verlangt wird.
Nur diejenigen Männer und Frauen, die sich zu bestimmten Ordnungen von spirituellen Übungen verpflichten, werden von anderen Wissenschaftlern in ihre Projekte aufgenommen.“
Dann fragte er Hope: „Weißt du, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene?“
Hope zuckte mit den Achseln: „Du bist ein Gesundheitsunterstützer.“
Ich massiere Füße und schneide die Zehennägel von den Menschen, die zu alt oder zu krank sind, um dies selbst zu tun“, erklärte der Professor krass und fügte hinzu: „Diese Art meinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist auch eine spirituelle Übung, und zwar eine speziell für mich.
Es gab eine Zeit, da war ein Wissenschaftler zu sein, eine Vollzeitbeschäftigung, die für die Leute sehr gut mit den Coins ihrer Zeit bezahlt wurden.
Heutzutage allerdings muss jeder Wissenschaftler seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit etwas anderem verdienen. Und dafür gibt es gute Gründe.
Wissenschaftler in früheren Zeiten sind oft zu Zerstörern ihrer Welt geworden. Der Großteil ihrer wissenschaftlichen Anstrengungen waren daraufhin ausgerichtet, mehr und mehr destruktive Waffen zu erfinden...
Aber das war doch nur in den Dunklen Zeiten. Das hat gar nichts mit heute zu tun!“ protestierte Hope.
Nein, meine Kleine, da liegst du völlig falsch“, widersprach ihr der Professor. „Die Dunklen Zeiten sind uns viel näher als du denkst; sie sind ein Teil von uns, gleichgültig wie sehr wir das auch bestreiten. Ich weiß es, weil ich es gesehen habe.“
Hope schüttelte ungläubig den Kopf, doch der Professor fuhr fort: „Den Verstand eines Wissenschaftlers zu haben ist ein ganz spezielles Talent, aber fast immer folgen diesem auch spezielle Schwächen. Einige von uns Männern der Zahlen haben die Schwäche die ganze Welt nur noch in Zahlen zu sehen, unfähig eine Beziehung zur irgendetwas anderem zu entwickeln als zu Zahlen.
Und während alle Menschen die Fähigkeit gut von böse zu unterscheiden besitzen, schließlich ist diese in unsere DNA geschrieben, ist doch bei manchen die Verbindung zu diesem Wissen schwach, denn sie haben eine geringere Fähigkeit zur Empathie und zum Mitgefühl.
Während die meisten Menschen rein instinktiv das natürliche Muster erkennen, dass wenn man zerstörerisch zum Nachteil anderer handelt, dass das am Ende zur Selbstzerstörung führt, so haben viele von uns Wissenschaftlern, die wir die Fähigkeit besitzen künstliche Muster herzustellen, während wir oft unfähig sind Mitgefühl zu empfinden, dieses natürliche Muster durch gefühllose Algoritmen ersetzt.
In der Vergangenheit haben wir dann diese künstlichen Zahlen über die ganze Welt verbreitet, bis die Menschen ihr eigenes Wissen und ihre eigenen Gefühle von richtig und falsch ausradiert und neu geschrieben hatten. Das Ergebnis wurde dann zur Kultur der Dunklen Zeiten.
Es gibt allerdings auch solche Menschen mit einem wissenschaftlichen Verstand, die doch sehr starke Gefühle beherbergen, und die Schmerzen oft sogar stärker empfinden als die meisten anderen Menschen. Doch häufig dreht sich ihre ganze innere Welt nur um sie selbst und um ihren eigenen Schmerz, bis zu dem Punkt, wo sie sich von allen anderen um sie herum entfernen und für die Schmerzen der anderen keinerlei Gefühl mehr besitzen.
Der Professor hielt einen Moment inne und sah nach hinten, wo Hope immer noch lustlos hinter ihm herzottelte, und doch folgte sie seinen Schritten und seinen Worten.
Der Ton des Professors wurde intensiver und persönlicher:
Das ist keine Theorie, meine Kleine, und auch nicht etwas, das mir gelehrt wurde, stattdessen ist es etwas, das ich weiß. Ich weiß wirklich, worüber ich rede.“
Vor langer Zeit, als ich ungefähr in deinem Alter war, Hope, da freundete ich mich mit einem Jungen meines Alters an. Sein Name ist John Galt. Obwohl er nicht in unserem Dorf lebte, war sein Dorf doch so nah von uns gelegen, dass wir uns regelmäßig persönlich treffen konnten.
Aber an jedem einzelnen Tag trafen wir uns auf dem Friedensnetz, dort wo wir uns auch zuerst gefunden hatten. Wir redeten zusammen über unsere gemeinsamen Träume, und wir redeten die ganze Zeit, malten diese Träume uns gegenseitig in unsere Gedanken und zwar in den leuchtensten Farben.
Die Gegenstände unserer Träume war immer dieselben: die anderen Sterne der Milchstraße. Wir träumten davon durch den Weltraum zu diesen Sternen zu reisen, vielleicht durch Wurmlöcher oder sogar durch Überwinden der Lichtgeschwindigkeit.“
Was sind Wurmlöcher“, fragte Hope, die jetzt neben dem Professor herging.
Wurmlöcher“, antwortete er, „sind hypothetische Punkte, in denen sich die Raumzeit faltet und ein Spalt entsteht, der es dann erlaubt in einem Augenblick zu einem anderen Ort im Universum zu gelangen, der vielleicht Millionen von Lichtjahren entfernt sein könnte.“
Das faszinierte Hope nun wirklich und David spürte, dass sich etwas in ihr öffnete.
Der Professor fuhr fort: „Als mein Freund John und ich älter wurden, da wurden wir beide Wissenschaftler. Wir waren nicht einmal 20 Jahre alt, als wir ernsthaft unsere Kindheitsträume in Angriff nahmen.
Wir erkannten jedoch bald, dass eine Raumfahrt selbst zu so einem nahen Ort, wie dem Mond, enorme Ressourcen benötigte, Ressourcen, die keines unserer beiden Dörfer aufbringen konnte. Und nicht einmal 100 Dörfer zusammen wären dafür genug.
Also gingen wir vor den Internationalen Hilfskongress und forderten ihn auf, einen Projekttopf für uns zu eröffnen.
Die Repräsentanten weigerten sich. Mehrere Jahre lang gingen wir immer wieder dorthin, um zu versuchen immer wieder neue Repräsentanten mit neuen Argumenten zu überzeugen. Doch jedes Mal war die Antwort: Nein.“
Aber warum denn?“ unterbrach Hope. „Das wäre doch so ein geniales Projekt gewesen!“
Die Repräsentanten diskutierten über die Argumente. Und trotzdem kamen sie immer wieder zum selben Schluss: Das Raumfahrtprogramm der Dunklen Zeiten wieder zu eröffnen, nur um eine nutzlose Neugier zu befriedigen, wäre eine enorme Verschwendung von Ressourcen gewesen, denn es hätte keinerlei Nutzen für die Menschheit. Es würde Ressourcen von anderen Projekten wegnehmen, die wirklich nützlich seien, wie die Erdbeben- und die Vulkanismus-Forschung.“
Oh“, machte Hope ihrer Enttäuschung Luft, „es wäre doch so großartig gewesen, durchs Weltall zu reisen. Wen interessiert das, ob diese blöden Repräsentanten das nützlich finden.“
Um den Mund des Professors zuckte es, und doch wusste David, dass es dem Professor keineswegs zum Lachen zu Mute war .
Mein Freund John und ich dachten dasselbe. Aber es waren ja nicht nur die Repräsentanten, die das Projekt ablehnten. Jedes Mal, wenn wir uns mit ihnen getroffen hatten, dann gingen sie zurück in ihre Dörfer, um unsere Ideen dort auszudiskutieren.
Sie gingen auch ins Friedensnetz, wo tausende von Menschen sich an der Diskussion beteiligten, einschließlich John und mir. Je mehr die Leute darüber redeten, um so klarer wurde es, dass fast alle Leute unserer Zeit glaubten, dass ein Raumfahrtprogramm ein nutzloser und vielleicht sogar gefährlicher Rückfall in die Dunklen Zeiten sei, und unsere Sturheit die Sache aufzugeben, sei einfach nur das Resultat von unreifem jugendlichen Denken.“
Der Professor seufzte: „Und das war das Ende unseres Traums. Und wie du dir vorstellen kannst, war das extrem frustrierend für uns. John und ich redeten darüber, wie wenig die Leute um uns, den wahren Sinn von Wissenschaft überhaupt begriffen.
John kam zu dem Schluss, dass wenn die Menschen unserer Welt intellektuell zu unterentwickelt seien, um wirklich etwas zu verstehen, dass man dann eine neue Sorte Menschen brauchte, Leute, die nicht denselben Beschränkungen unterlägen. Er schlug vor, dass wir an der Evolution der Menschheit arbeiten sollten. Was er meinte, war natürlich die genetische Veränderung ungeborener Menschenkinder, um so Kinder mit größerer mentaler Kapazität zu erschaffen.
Aber ich, genau wie jeder andere Wissenschaftler, wusste genau, dass die genetische Manipulation lebender Wesen und besonders die von Menschen, eine der schlimmsten Regelbrüche waren, die es gab. Denn sie wären Verbrechen gegen das Erste Prinzip, den Respekt vor der Würde des Menschen gewesen. Wenn wir erwischt würden, dann würden wir mit Sicherheit in Orange Country landen.
Wir standen inzwischen kurz vor unseren 25. Geburtstagen, und das hieße dann kein temporäres Exil für uns. John wusste das, genau wie ich, aber erklärte mir, dass ihm die Regeln egal seien, wenn es um etwas so wichtiges ginge, wie den Fortschritt der Menschheit. Er schlug mir vor, heimlich mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber ich weigerte mich; das Risiko erwischt zu werden, schien mir zu groß zu sein.
John nannte mich einen Feigling ohne das geringste Rückgrat. Und von jenem Tag an trennten sich unsere Wege, und wir haben nie wieder miteinander gesprochen.
Ich schloss mich anderen wissenschaftlichen Projekten an, und John bildete sich als Arzt aus. Jahre später erfuhr ich, dass er seine Idee nicht aufgegeben hatte. Er hatte seine Position als Arzt in seinem Dorf dazu ausgenutzt genetische Experimente durchzuführen.
Da war eine junge Frau in seinem Dorf, die keine Kinder bekommen konnte. John Galt versprach ihr eine Wunderkur zur Heilung ihres Zustands, aber sie müsste über die Methoden, die er anwandte, Stillschweigen bewahren.
In den nächsten fünf Jahren wurde diese Frau mit seiner Methode zehn Mal schwanger. Keine dieser Schwangerschaften hielt die gesamten 9 Monate an. Nach 5 bis 8 Monaten leitete John eine künstliche Fehlgeburt ein, indem er Chemikalien mit den Vitaminpräparaten mischte, die er der Frau gab.
Die Frau wurde dann so müde, dass sie während der Fehlgeburt nicht mitbekam, was mit ihr geschah. John erzählte ihr dann, dass das Baby bereits im Mutterleib gestorben sei. Er erlaubte ihr nie, das Baby zu sehen.
Beim letzten Mal allerdings wachte die Frau auf und sah nur für einen Augenblick das Kind, das sie geboren hatte. Als John ihr danach nicht mehr erlaubte, das Kind noch einmal zu sehen, ging sie zum Vorsitzenden des Dorfrats.
Und als der Vorsitzende und andere aus dem Dorfrat in John Galt's Wohnung kamen, da fanden sie dort in zehn Glasbehältern -eingelegt in Formaldehyd- die Überreste von schwer deformierten menschlichen Föten, Babies mit viel zu großen Köpfen, und einige hatten Flügel, die ihnen aus den Schulterblättern wuchsen.“
Er wollte Engel machen“, fragte Hope irgendwie fasziniert.
Nein, sicherlich keine Engel“, antwortete der Professor. „Aber er dachte wohl, dass seine hochfliegenden Ideen vielleicht von Leuten besser verstanden würden, die selbst fliegen konnten.“
Eine Untersuchung durch andere Ärzte aus seinem Dorf brachte ans Licht, dass ein paar der merkwürdigen Babies noch am Leben gewesen waren, als sie geboren wurden. John hatte sie mit einer Gift- Injektion kurze Zeit nach ihrer Geburt getötet, um sie dann besser untersuchen zu können.“
Jetzt war Hope wirklich schockiert: „Und der war einmal dein Freund“, fragte sie.
Der Professor nickte traurig: „Nachdem diese Ereignisse veröffentlicht wurden, waren die meisten Dorfräte zur Überzeugung gelangt, dass man Wissenschaftlern nicht trauen konnte. Was auch immer sie für eine Forschung betrieben, die musste streng von Nicht-Wissenschaftlern überwacht werden, die vom Dorfrat bestimmt würden, genau wie Ärzte von Krankenschwestern überwacht werden mussten.
Und sie hatten völlig Recht damit, dass Wissenschaftlern nicht mehr zu trauen war.
Der Professor blieb jetzt stehen und drehte sich zu Hope und sah ihr direkt in die Augen.
Weißt du, meine kleine Hope, was ich empfunden habe, als das Dorf von John Galt seine Untersuchungen der Verbrechen veröffentlichte, zusammen mit den Bildern von den Glaskontainern?“
Du warst schockiert“, riet Hope.
Nein, das war ich nicht“, erwiderte der Professor. „Stattdessen war ich fasziniert davon, wie weit John in seiner Forschung gekommen war, und es tat mir leid, dass er erwischt worden war. Da war nicht ein Funken von Mitleid für die Frau, die er als Inkubator für seine rücksichtslosen Experimente benutzt hatte. Und auch kein Mitgefühl für die deformierten Babies, die Resultate der Experimente. Ich war nicht einmal schockiert darüber, dass er sie gnadenlos getötet hatte.“
Jetzt war Hope schockiert. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Großonkel jemals so gewesen sein konnte.
Der Professor nickte: „Ja, das war meine Reaktion. Und erst als ich diese mit der aller anderen Leute um mich herum verglich, da bemerkte ich wie weit entfernt ich von ihnen war.
Zu der Zeit war ich bereits ein Mitglied meines Ordens. Nachdem ich diese Gefühle vor meinen Ordensbrüdern eingestanden hatte, wurde beschlossen, dass ich ganz besondere spirituelle Übungen benötigte, etwas im Zusammenhang mit der Art, wie ich meinen Lebensunterhalt verdienen sollte.“
Der Professor begann wieder weiterzugehen. „Seit dieser Zeit putze ich den Boden einmal die Woche, und an vier Tagen in der Woche kümmere ich mich um die Füße derer, die auf diesem Boden gehen.
Jedes Mal bevor ich als Gesundheitsunterstützer durch eine Tür gehe, bete ich: 'Herr, lass meine Talente für die Person, die hier wohnt, ein Segen sein und auch für all die anderen, die von meiner Arbeit berührt werden. Denn diese Talente wurden mir gegeben, um Menschen zu dienen, und nicht um sie zu beherrschen'.
Und während ich den Boden in der Kirche putze und wachse, da spreche ich viele Gebete. Eines davon ist ein Gebet um Demut, damit ich täglich daran erinnert werde, dass ich zwar die Fähigkeit habe, ein Feuer zu entzünden, aber nicht das Recht das Haus niederzubrennen.“
Das Haus niederbrennen“, fragte Hope. „Das verstehe ich nicht.“
Über die Zeiten“, antwortete der Professor, „da haben Wissenschaftler viele Häuser niedergebrannt, Häuser von Menschen, oft mit diesen Menschen noch darin, Häuser der Natur, und jetzt auch das Haus des menschlichen Körpers.“
Was ist dann mit deinem Freund John Galt geschehen“, fragte Hope mit leiser Stimme.
Er wurde natürlich zum Exilanten erklärt und nach Orange Country geschickt. Ich habe nie wieder von ihm gehört.“
Hope und ihr Großonkel waren jetzt an der Kirche angekommen. Bevor er die Tür öffnete, zögerte der Professor einen Moment.
Er sah Hope in die Augen: „Ich war nicht anders als er, kein bisschen anders. Wenn ich nicht die Angst gehabt hätte, entdeckt und bestraft zu werden, dann hätte ich genau dasselbe getan. Ich fühlte weder Mitleid noch Schuld in meinem Herzen.“
Aber jetzt tust du es“, fragte Hope und berührte vorsichtig die Hand ihres Großonkels.
Ja, irgendwie schon“, antwortete dieser. „Aber immer noch nicht genau so wie andere Leute. Wie ein Kind, das seine ersten Zahlen langsam und Schritt für Schritt lernen muss, musste ich lernen, die tieferen Muster des Ersten Prinzip's zu erkennen, Muster die so viel komplexer sind, als alles, was ich je zuvor gewusst habe.
Und als mein Verstand es begriffen hatte, da wurde ein Herz aus Stein zu einem Herzen aus Fleisch und Blut. In meinem Orden nennen wir das ein Wunder des Herzens.“
Als sie jetzt die Kirche betraten, ging Hope ohne einen weiteren Protest zur Besenkammer, um Schrubber, Bürsten und Wischlappen zu holen. Der Professor füllte einen Eimer mit Wasser und fügte ein paar Tropfen Seife hinzu. Bevor sie mit der Arbeit begannen, hatte Hope noch eine Frage: „Der Explosionskörper, der meinen Vater getötet hat, der wurde doch auch von einem Wissenschaftler gemacht?“
Der Professor antwortete bedächtig: „Der wurde wahrscheinlich in einem großen Produktionsbetrieb hergestellt, aber ja, wie alle großen Waffen, wurde er von Wissenschaftlern entwickelt und für die maximale Tötungskapazität ausgerichtet.“
Wortlos ging Hope in die Knie und begann mit wilden und hektischen Bewegungen den Boden mit einer Bürste und dem Seifenwasser zu bearbeiten, immer schneller und schneller, bis sie völlig außer Atem war.
Der Professor kniete sich jetzt neben sie, ergriff ihre Hand und begann sie nun in langsamen gleichmäßigen Kreisen zu bewegen. Dann nahm er seine eigene Bürste und sie arbeiteten jetzt Seite an Seite. Sie schrubbten den Boden, während der Professor mit leiser Stimme seine Gebete rezitierte und Hope's Tränen sich mit dem Seifenwasser vermischten.
Die Szene löste sich vor David's inneren Augen auf, und so öffnete er seine äußeren. Die ältere Hope hatte auch Tränen in ihren Augen.
David fühlte eine körperliche Übelkeit. Es war allerdings nicht so schlimm, wie beim letzten Mal, trotzdem wusste er, dass er dringend frische Luft brauchte.
Er stand auf und ging auf die Treppe zu, wobei es ihm plötzlich schwarz vor Augen wurde. Beinahe wäre er hingefallen, wenn derselbe Junge, den David schon vorher bemerkt hatte, und der gerade wieder dabei war einen Tisch abzuwischen, sich nicht ganz schnell neben ihn gestellt hätte, um ihn zu stützen.
Möchten Sie sich wieder hinsetzen, Sir“, fragte der Junge. „Oder soll ich Ihnen vielleicht einen Krankenwagen rufen?“
Nein, nein“, lehnte David schnell ab, „ich brauche nur ein bisschen frische Luft.“ Er warf einen Blick auf das Namensschild des Jungen und fügte hinzu: „Vielen Dank, Fahmi.“
Aber weil David immer noch etwas wackelig auf den Beinen war, half ihm Fahmi die Treppe hinunter und bis vor die Tür.
Sind Sie sicher, dass Sie keine medizinische Hilfe benötigen“, fragte der Junge dann noch besorgt.
Ja, ganz sicher“, antwortete David entschieden, während er schnell in seiner Hosentasche nach ein bisschen Trinkgeld suchte.
Nein, das ist nicht notwendig“, wehrte Fahmi ab. „Allah erwartet von uns, dass wir denen helfen, die Hilfe benötigen.“
David sah überrascht aus und dankte dem Jungen noch einmal. Während Hope beobachtete wie dieser wieder an seine Arbeit zurückkehrte, kommentierte sie: „Fahmi sieht fast wie Ameenah aus, denkst du nicht auch? Meinst du, er ist ihr Ur-ur-ur-ur-groß...“
David, der zugeben musste, dass die Ähnlichkeit wirklich frappierend war, schüttelte den Kopf: „Das hat gar nichts zu bedeuten. Es gibt eine Menge Leute, die einander ähnlich sehen, ohne miteinander verwandt zu sein. Über 8 Millionen Menschen leben hier in New York, das wäre ein viel zu großer Zufall...“
David's Stimme wurde leiser. Hope's Dorf war irgendwo in diesem Gebiet gebaut worden. Einige New Yorker seiner Zeit mussten doch mit Sicherheit die Vorfahren dieser Kinder von morgen sein, genau wie er es selbst war...
Hope lächelte David an, und er antwortete mit einem sanften Kopfnicken; vielleicht... man konnte da nicht sicher sein, und doch vielleicht, es könnte sein...
Wie wär's wenn ich dir ein wenig mehr von meiner Stadt zeige, irgendetwas Schönes“, schlug David vor.
Das würde ich gerne sehen“, antwortete Hope mit aufsteigender Begeisterung.
Schweigend gingen sie nun ein Stück die Straße hinunter. David konnte sich selbst nicht daran hindern, noch einmal über die Szene nachzudenken, die er gerade beobachtet hatte, das Bild von der kleinen verzweifelten Hope, ihrer liebevollen Freundin und ihrem Großonkel.
Der Professor, ein Soziopath..., als David in Hope's Erinnerungen gesehen hatte, wie dieser das Kind in die Zeitmaschine hinein manipuliert hatte, da hatte David so etwas fast vermutet.
Es war schon sonderbar wie Ed, der sicherlich nicht so geboren wurde, sich in einer soziopathischen Welt in so jemanden entwickelt hatte, während dem Professor, der in einer so merkwürdig anderen Welt lebte, irgendwie ein menschliches Herz gewachsen war.
Ein Wunder hatte er es genannt. Und vielleicht war es genau das, was es war. David konnte nicht leugnen, dass der Professor ihn beeindruckt hatte. Seine radikale Ehrlichkeit über sich selbst, hatte seinen Geschichten und Meinungen mehr Glaubwürdigkeit verliehen, als David erwartet hatte.
Er hatte einmal gelesen, dass der Unterschied zwischen einer Religion und einer Philosophie der war, dass eine Religion ein Konstrukt war, das auf willkürlichen Behauptungen beruhte, die nur durch Doktrinen gestützt wurden, während eine Philosophie andererseits eine zusammenhängendes Gedankenkonstrukt sei, basierend auf Beobachtungen und weiter entwickelt durch logische Argumente.
Aber der Professor hatte seine religiösen Standpunkte durch Argumente untermauert, die aus menschlicher Beobachtung und wissenschaftlicher Theorie ausgebildet worden waren. Nicht dass es dem Professor gelungen wäre, David irgendwie zu überzeugen. Wenn er sich ein paar Minuten Zeit nähme, dann würde er mit Sicherheit die Fehler in dem Gedankenkonstrukt des Professors aufzeigen können. Doch im Augenblick wollte David das nicht tun, nicht während Hope seinen Gedanken zuhörte.
Schließlich war sie immer noch ein kleines Mädchen, das ihren Vater verloren hatte. Sie brauchte ihren Glauben, um damit fertig zu werden. Vielleicht, dachte David ein bisschen wehmütig, wenn er so einen Großonkel gehabt hätte wie Hope, nachdem er seine Mutter verloren hatte, statt eines Großvaters, der ihn hasste, dann würden die Dinge heute vielleicht auch anders aussehen.
Er war 14 Jahre alt gewesen, als seine Mutter an Krebs gestorben war. Sie war schon länger krank gewesen. Im letzten Jahr ihres Lebens war es ein ständiges auf und ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung gewesen.
Es war nur wenige Wochen vor ihrem Tod, als David's Mutter ihre Eltern kontaktiert hatte, die Eltern, die sie verstoßen hatten, als sie sich für David entschieden hatte und für dessen Vater. Sie hatte ihre Eltern David's wegen angerufen, nur seinetwegen.
Aber David wünschte sich später, sie hätte es nicht getan. Denn seine Großeltern hatten ihrer Tochter niemals vergeben, dass sie gegen ihren Rat gehandelt hatte, oder zumindest sein Großvater hatte das nie getan. David's Großmutter war immer zu schwach gewesen, um sich gegenüber ihrem dominierenden Ehemann durchzusetzen.
Und er hatte natürlich Recht behalten, hatte David's Großvater kurz nach der Beerdigung erklärt. Der 'Kerl' wie sein Großvater seinen Vater nannte, war schon immer ein Verlierer gewesen, ein Möchte-gern-Musiker und ein Alkohol- und Drogen-Abhängiger. Alles, was solche Drecksäcke tun können, ist ein Mädchen zu schwängern und ihr Leben zu zerstören.
Bei einer anderen Gelegenheit, als Beschwerden und Rausschmiss-Drohungen aus seinem teuren Internat, in den ihn sein Großvater kurz nach der Beerdigung abgeschoben hatte, ins Haus geflattert kamen, da meinte dieser, dass Dreck sich vermehren kann, aber das Ergebnis wäre immer noch Dreck. David würde sein Leben lang ein Verlierer bleiben, und keine Sorte von Schule könnte etwas gegen schlechte Gene tun.
Mit dieser Art von 'Ermutigung' hatte David sich nicht die Mühe gemacht, sich um irgendwelche Schulnoten zu kümmern. Lieber hatte er seine Freunde mit immer mehr ausgeklügelten Streichen beeindruckt.
Das ging so bis zum zweiten Semester seines vorletzten Jahres, als Mr Aristes von der Schule als Physik- und Englisch-Lehrer angestellt worden war, und als sich David erfolgreich ins Schul-Computer-System eingehackt hatte. Bei der Gelegenheit hatte er dann den Rechner des Vize-Rektors durch eine App übernommen hatte und die Noten aller Schüler in ein A umgeschrieben. Beim Versuch seine Spuren im Netz zu verwischen, war er allerdings weniger erfolgreich gewesen, was ihn dann in Mr Ariste's Büro brachte.
Wenn es nicht für die großzügige Spende seines Großvaters an das Physiklabor der Schule gewesen wäre, dann wäre David bereits längst von der Schule verwiesen worden. Aber jetzt, wo der Vize-Rektor sein Erzfeind geworden war, da hätte auch das kaum das Unvermeidliche verhindern können.
David erinnerte sich an den Tag, als sei es gestern gewesen. Als er Mr Aristes Büro betrat, wies dieser ihn wortlos an, sich zu setzen. Für eine Weile saßen sie sich nur stumm gegenüber. David, provokativ in den Stuhl gelümmelt, versuchte den Eindruck zu erwecken, dass es ihm völlig egal war, was jetzt kommen sollte.
Warum verschwendest du eigentlich das Geld deiner Großeltern“, fragte Mr Aristes endlich.
Diese Frage hatte David nicht erwartet, und in seiner Überraschung brüllte er die Antwort heraus: „Weil sie es verdienen, dass man ihr Geld verschwendet.“
Und damit war ein Damm gebrochen. Während Mr Aristes David nur still beobachtete, kotzte David seine ganze Wut aus... und alles andere.
Er redete von seiner Mutter, die obwohl sein Vater sie beide ohne jede Unterstützung verlassen hatte, doch alles daran gesetzt hatte, dass sie trotzdem ein normales Leben führen konnten. Sie war ein guter Mensch gewesen, die beste Mutter, die man sich wünschen konnte, und sie hatte es nicht verdient zu sterben.
Er redete über seinen Vater, der die Enttäuschungen seines Lebens in Alkohol ertränkt hatte, neben dem gelegentlichen Joint. Und als sein Alkoholismus alle anderen Gefühle überwältigt hatte, da hatte er das Land verlassen, ohne eine Adresse zu hinterlassen.
Obwohl das Sozialamt versucht hatte ihn dort in Island ausfindig zu machen, hatte sein Vater sich nicht die Mühe gemacht, zur Beerdigung seiner Ex-Frau zu erscheinen oder seinen Sohn zu sich zu holen.
Und schließlich redete David über seinen Großvater. Der alte Mann hasste ihn zutiefst, und er gab Davids Vater die Schuld an der Krankheit und dem Tod von Davids Mutter.
Er hatte David erklärt, er sei das genaue Abbild seines Vaters, und er würde genau wie sein Vater enden, als Versager.
Nachdem er Davids Klagerede stumm zugehört hatte, stellte Mr Aristes ihm nur eine Frage: „Und du denkst, dass es die beste Rache an deinem Großvater sei, wenn du ihm beweist, dass er Recht hat?“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wenn ich du wäre, und das wäre mein Großvater, dann würde ich ihn für jeden Cent nehmen, den ich bekommen könnte. Ich würde mir die beste Ausbildung besorgen, die für Geld zu haben ist, und ich würde die größte Befriedigung darin finden, ihm zu beweisen, dass er falsch liegt, und zwar immer und immer wieder.
Das wäre meine Rache. Aber ich bin natürlich ein Mann der Logik. Wie ist das mit dir?“
Mit diesem Gedankenanstoß schickte Mr Aristes David aus seinem Büro.
Das war der Tag, an dem David den Entschluss gefasst hatte, auch ein Mann der Logik zu werden. Und von diesem Zeitpunkt an, änderte er sein Verhalten um 180 Grad. Mr Aristes lehrte ihn weiter Physik und Englisch, ebenso wie die Kunst die Instrumente der Logik zu benutzen und die Kunst des Zuhörens und Menschen zum Sprechen zu bringen.
Am Ende seines Abschlussjahres hatten sich David's Noten so stark verbessert, dass er von seinem Schuldirektor, sogar gegen den Widerstand des Vizedirektors, ein so hervorragendes Empfehlungsschreiben bekommen hatte, dass es ihn an die Harvard Universität in Boston gebracht hatte. Nach seinem Abschluss dort, kam er zurück nach New York für sein Masters Studium an der Elite Columbia Schule für Journalismus.
Nach so viel schulischem Erfolg hatte sich David's Verhältnis zu seinem Großvater etwas verbessert. Und David vermutete, dass es genau der Einfluss seines Großvaters war, der ihm seinen Posten an der angesehensten Zeitung des Landes beschert hatte.
Die Ironie dabei war, dass David genau deshalb Journalismus als seine Berufung angesehen hatte, weil er damit hoffte korrupte politische Akteure und Finanz-Akteure zu überführen, genau solche wie, nach David's Überzeugung, sein Großvater einer war.
Aber das Schicksal war ihm zuvorgekommen, und der Finanz-Crash von 2008 hatte praktisch das gesamte Vermögen seines Großvaters ausradiert und ihn mit einem Berg Schulden zurückgelassen. Diesmal hatte er nicht Recht gehabt, und sein Glück auf das falsche finanzielle Pferd gesetzt.
Diesen Verlust hatte Davids Großvater nicht verkraftet. Seine Gesundheit verschlechterte sich rapide, bis er dann ziemlich bald einem tödlichen Schlaganfall erlag.
Davids Großmutter war drei Jahre später gestorben, nachdem eine Krebserkrankung, die jahrelang besiegt schien, nach dem Tod ihres Mannes wieder ausbrach. In den letzten Monaten ihres Lebens hatte David sie regelmäßig im Krankenhaus besucht, ein paar Mal hatte er sogar Mikey mit dabei. Das hatte sie glücklich gemacht.
Da waren immer noch Dinge unausgesprochen geblieben. Doch David hatte erkannt, dass bei einem Menschen, der so von Angst und Unsicherheit erfüllt war, die wirklichen Entschuldigungen nur in den Augen gelesen werden konnten und in den zitterten Händen, die seine eigenen umklammerten.
David hatte sich mit seiner Großmutter in einer Weise versöhnt, wie es ihm mit seinem dominanten Großvater nicht möglich gewesen war.
Und jetzt hatte sein Großvater nach all dem trotzdem Recht behalten, dachte David in einer defätistischen Stimmung; er war ein Verlierer und ein Trinker geworden, obwohl keiner seiner Großeltern lange genug gelebt hatten, um das zu sehen.
Dein Großvater hat nicht Recht behalten“, unterbrach Hope. Wieder einmal hatte sie seinen Gedanken zugehört. „Du bist kein -wie hat er dich noch genannt?- Verlierer. Du bist ein Mensch, der etwas richtig, richtig Gutes getan hat.“
Du meinst, ich bin ein Held, weil ich 3000 Leute gerettet habe?“ fragte David mit einem etwas zynischen Unterton. „Das Problem ist nur, dass niemand das weiß, und dass es auch allen egal ist.“
Macht es wirklich einen Unterschied, ob es jemand weiß“, fragte Hope sanft.
David blieb einen Moment stehen und sah sie an. Zum ersten Mal erkannte er wirklich, dass er in der Tat etwas Besonderes geleistet hatte.
Er hatte das Leben von vielleicht 3000 Menschen gerettet, und dabei war es vollkommen gleichgültig, ob die Falsch-Flaggen Planer das vielleicht irgendwo anders noch einmal versuchen würden. Jetzt im Augenblick konnten 3000 Menschen ihr Leben weiterleben, weil er dieses eine Mal das Richtige getan hatte.
Und es war auch egal, was ihn das selbst gekostet hatte.
Du hast Recht“, beantwortete David Hope's Frage. „Es macht keinen Unterschied, wer es weiß, überhaupt nicht den geringsten.
David drehte sich wieder nach vorn und begann seinen Weg fortzusetzen.
Es tut mir so leid für dich, dass du deine Mama verloren hast als du noch ein Kind warst“, bemerkte Hope mitfühlend. „Und ich finde es auch traurig, dass deine Großeltern nicht so waren wie meine, und dass du niemanden wie meinen Großonkel Professor hattest, der dir damals helfen konnte.“
David nickte, sie verstanden einander und so gab er zurück: „Es tut mir auch Leid für dich, dass du deinen Vater verloren hast, als du noch so klein warst. Und ich bin froh, dass du deinen Großonkel hast.“
Hope kommentierte lächelnd: „Weißt du was, Onkel David, dein Sensei, Mr Aristes, der hört sich genau wie mein Sensei an.“
David lächelte zurück: „Meinst du wirklich?“
Mhm, ganz genauso“, behauptete Hope, „er ist nämlich auch ein Mann der Logik.“
Schau mal da drüben, Hope“, bemerkte David nun und deutete die Straße hinunter. „Das ist eines der höchsten Gebäude der Welt. Einmal war es sogar das allerhöchste. Und jetzt ist dies immer noch der Ort, von wo du die spektakulärste Aussicht über die ganze Stadt hast. Wollen wir da rauf?“
Natürlich“, dafür war Hope gleich zu begeistern. „Ich liebe die Aussicht von ganz weit oben.“

***

Wieder einmal kommen in mir unerwünschte Erinnerungen hoch.
Ich war 16 als mein Vater nach einem der unterbrochenen Filmabenden mit mir ein paar Blocks weiter die Straße hinuntergefahren war und dann um die Ecke zu dem Dalek Club, einem Musik-Club, der zu seinem Konzern gehört.
Als wir uns dem Eingang näherten, bemerkte ich einen überwältigenden Gestank von Urin und Erbrochenem. Ein Mann war gerade dabei seinen Kopf immer und immer wieder gegen die Wand gleich neben dem Eingang zu schlagen. Er blutete bereits aus einer offenen Wunde. Der Sicherheitsvollstrecker, der den Eingang bewachte, sah dem Mann dabei gelangweilt zu.
Als Antwort auf meine unausgesprochene Frage erklärte mein Vater: „Wir verkaufen hier im Club unsere neueste bewusstseinsverändernde Substanz. Sie soll die Männer aggressiver und wacher machen, und gleichzeitig ihre Kampffähigkeit erhöhen und den Schlafbedarf senken.
Leider hat diese Substanz immer noch ein paar unerwünschte Nebenwirkungen für einige Benutzer... aber“, fügte er mit einem hämischen Grinsen hinzu, „unsere Kunden zahlen ganz schöne Summen für die Ehre Versuchskaninchen für uns zu spielen.“
Als wir einmal im Club waren, beobachteten wir die Vorstellung einer Gruppe, von der ich wusste dass sie in ganz Nephilim City ziemlich berühmt war, obwohl ihre Musik nicht gerade meine Kragenweite hatte.
Der Hauptsänger trug einen schwarzen Lederanzug unter einem schwarzen Umhang. Blaue Flammen schienen seinem Umhang zu entspringen. Seine Stimme war rau, heiser und extrem tief- mehr wie ein unheimlich verstärktes Flüstern.
Die Musik selbst hatte eine metallisch, schrille Vibration. Der einzige Vers, an den ich mich noch erinnere ging so:
Die Welt ist ein Loch – in einem Scheißhaufen Bach – regiert wird sie doch – von denen, die schwach.“
Der anschließende Refrain wurde von den hoch-quietschenden Computer-gleichen Stimmen der Hintergrundsänger herausgebrüllt. Diese Männer waren in silbrig-metallische Kegel gehüllt, die ihre gesamten Körper bedeckten, außer den Mündern. In einer Art visueller Illusion sah es aus als schwebten diese Kegel über der Bühne.
Aus der Mitte eines jeden Kegelmannes ragte ein langer Stab, mit einer Kugel an der Spitze, die sich in regelmäßigen Abständen öffnete und rote oder blaue Lichtstrahlen über die Köpfe der Zuschauer schoss. Die in den Kegeln eingeschlossenen Männer schrien mehr als sie sangen, und zwar immer denselben Spruch:
Rottet sie aus! Rottet sie aus! Bekriegt und besiegt die Schwachen, die Schwa...a...a...achen!“
Und das ganze Publikum rief als Echo: „Rottet sie aus! Rottet sie aus!“
Mit jeder Wiederholung des Refrains wurde das Echo der Zuschauer ekstatischer. Sie hoben ihre Fäuste in die Luft und schüttelten sie, während sie mit den Füßen auf den Boden stampften. Ich wusste nicht, ob die Ekstase der Menge von der Musik kam oder von den Substanzen, von denen mein Vater gesprochen hatte.
Dieses Mal war ich mehr als froh, als mein Vater mich nach draußen führte.
Wenn die Vorstellung hier vorbei ist, dann wird das Publikum hier nach draußen strömen direkt in die Projekte. Und dort werden sie die Schwachen sehen, wie sie kriechen, wimmern und winseln“, erklärte mir John Galt.
Und um mir dies genauer zu erklären, nahm er einmal wieder den feierlichen Ton an, der normalerweise nur dafür reserviert war, wenn er seinen Lieblingsphilosophen, einen Mann namens Friedrich Nietzsche zitierte, der vor über 300 Jahren gelebt hatte:
Was die Frauen betrifft, so ist die eine Hälfte der Menschheit schwach, chronisch krank, wechselhaft, verschlagen. Die Frau benötigt... eine Religion der Schwachen, die Schwäche, Liebe und Bescheidenheit als göttlich verherrlicht, oder mehr noch, indem sie die Starken schwach macht, gelingt es ihr die Stärke zu besiegen.
Frauen haben sich immer mit den dekadenten Typen verschworen, den Priestern zum Beispiel, gegen die Mächtigen, gegen die Starken, gegen die Männer.
Das Wesen der Frau ist natürlich-das heißt primitiver, als das des Mannes. Sie ist erfüllt von der echten Gerissenheit eines Raubtieres und einem naiven Egoismus, und sie kann nicht kultiviert werden.“
Dann fügte John Galt in seiner normalen Stimme hinzu:
In den letzten 200 Jahren wurde die ganze Welt von weiblichen Bestien regiert. Die Männer dort in der äußeren Welt wurden geistig kastriert und in ihrer Entwicklung zurückgehalten, nur damit die Frauen mit ihrem Frieden-Frieden Gewimmere sich sicher fühlen können.
Und da man Frauen nicht beibringen kann, Logik zu benutzen, so wie man das mit Männern tut, darum wurde die Schaffung von Venus Projekten notwendig, und auch sehr hilfreich.
Endlich können Frauen wieder ihrer wahren Bestimmung zugeführt werden, nämlich die Lust der Männer zu wecken und zu befriedigen. Auf diese Weise wird unsere männliche Bevölkerung zu hungrigen und scharfen Werkzeugen geformt. Sie werden jetzt zu Kriegern werden für den Fortschritt der Menschheit.“
Wieder bekam seine Stimme den Zitierton: „Die Verehrung von Phallus führt am Ende zur Herrschaft von Mars.“
Dieses eine Mal wagte ich sogar einen schwachen Protest: „Aber die Frauen sind doch dieselbe Spezies wie wir.“
Kaum, nur gerade einmal“, behauptete mein Vater und erklärte weiter:
In der Vergangenheit wurden die Frauen für die Reproduktion von Männern benötigt. Jedoch wie du und ich wissen, da ist das heute nicht mehr nötig. In ein paar Jahren werden alle Männer außerhalb einer weiblichen Gebärmutter geschaffen und entwickelt werden.
Selbst die Venus-Funktionen werden eines Tages ganz einfach durch holographischen Programme und weiblich aussehenden Androiden ersetzt werden. Von diesem Zeitpunkt an, werden Frauen für überhaupt nichts mehr benötigt werden.“
Was wird mit den Frauen dann geschehen“, fragte ich.
Mein Vater zuckte mit den Achseln: „Sie werden einfach aufhören zu existieren...“
Dies war das erste Mal, dass ich ganz klar erkannte, dass etwas mit dem Verstand meines Vaters nicht stimmen konnte.
Ich hätte das gern mit Mr Tanner besprochen. Aber der war bereits seit einem Jahr nicht mehr mein Lehrer. Und ich wusste auch nicht, wo ich ihn finden konnte. Deshalb unterdrückte ich den Gedanken für weitere vier Jahre.

***
In den Aufzug zur Aussichtsplattform im 86.Stock des Vampire State Building drängten sich, wie zu erwarten, ganze Massen von Menschen. Einmal drin wurden die Besucher in einem halben Dutzend unterschiedlicher Sprachen begrüßt. Als sie den Aufzug verlassen und die glaseingefasste Plattform betreten hatten, fühlte sich David sogar noch mehr wie auf dem Turm von Babel, denn die meisten Besucher waren, auch wie erwartet, Touristen aus aller Welt.
Als David es aber dann endlich geschafft hatte, einen günstigen Ort am Geländer zu finden, da bemerkte er etwas Unerwartetes: Hope schien irgendwie enttäuscht zu sein.
Dies war wiederum eine ziemliche Enttäuschung für David, der immerhin 25$ ausgegeben hatte, Geld das er zur Zeit eigentlich nur schwer entbehren konnte.
Dir gefällt diese Aussicht nicht“, fragte er Hope.
Wie immer war Hope zu ehrlich für eine höfliche, weise Lüge, obwohl sie Davids Gefühle auch nicht verletzen wollte.
Na ja“, meinte sie zögernd, „ es sieht halt alles so grau aus, wie ein Meer von grauen Steinen... oder vielleicht eher wie eine graue Wüste.“
David musste zugeben, dass da ein Körnchen Wahrheit in Hope's Beschreibung lag.
Teilweise konnte dieser graue Charakter der Stadt heute auf das Wetter zurückgeführt werden. Die Wolken lagen dicht über dem Himmel, und ein grauer Nebel hinderte eine weite Sicht. Es war bereits Spätnachmittag, und wenn es auch nur eine kleine Öffnung in der Wolkendecke gegeben hätte, dann hätte Hope von hier aus einen phantastisch farbenreichen Sonnenuntergang beobachten können. Leider gab es diese Öffnung nicht und trotzdem...
Es ist nicht alles grau“, verteidigte David seine geliebte Stadt. „Es gibt auch sehr viel Grün hier, zum Beispiel da drüben im Central Park.“ David deutete auf eine häuserlose Fläche in der Ferne.
Von hier aus sieht er zwar klein aus, aber eigentlich ist das ein richtig großer Park mit zwei Seen darin. Und wenn du dort hingehen würdest, da könntest du zu dieser Jahreszeit viele bunte Blumen und blühende Bäume sehen und auch farbenfrohe Menschen so wie Künstler und Akrobaten.“
Ich glaube dir das“, lenkte Hope ein. „Aber von hier oben sieht alles so klein aus. Selbst wenn man da direkt nach unten schaut, dann sieht man da eigentlich keine Leute, und sogar die Fahrzeuge sind so klein wie Ameisen.“
Natürlich erscheint alles dort unten klein zu sein“, erwiderte David. „Wir sind schließlich ziemlich weit oben. Ich nehme mal an, dass es hier in der Gegend in deiner Zeit keine Wolkenkratzer mehr gibt?“
Jedenfalls keine in meinem Distrikt“, erwiderte Hope. „Es gibt jedoch schon noch ein paar in asiatischen Ländern.
Allerdings sagt man auf dem Friedensnetz, dass Wolkenkratzer ziemlich unpraktische Gebäude sind und gar nicht Energie-effizient. Die Dörfer, die in solchen Häusern wohnen, die haben echt große Probleme damit Energie-souverän zu werden. Sie haben nicht einmal die Möglichkeit autark zu werden, stattdessen brauchen sie immer viel extra Energie von ihren Distrikten. Und um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, müssen sich diese Dörfer auf Touristen verlassen, denen sie Zimmer vermieten.
Hope's Stimme enthielt einen leichten Ton von Missbilligung ob dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit von Außenstehenden. Um fair zu sein fügte sie jedoch hinzu: „Allerdings haben dieser Wolkenkratzer-Dörfer auch immer ziemlich viele Besucher.“
Ich habe auch schon gehört“, gab David zu, „dass solche riesigen Hochhäuser sehr teuer sind, in Energiekosten und anderem Betriebsaufwand. Manchmal sind die Mieten dort bei weitem nicht kostendeckend, und sie erwirtschaften nichts als Defizite.
Aber ich finde es trotzdem ein bisschen traurig, dass die berühmte Skyline von New York in deiner Zeit verschwunden sein wird.“
David sah sich um und stellte sich vor, dass dieses Häusermeer durch etwas ganz anderes ersetzt sein würde, vielleicht durch grüne Wiesen und weite Wälder.
Vielleicht mussten die Menschen diese Häuser abtragen, weil sie das Material benötigten, um neue Häuser zu bauen“, schlug Hope als Erklärung vor. „Aber es könnte auch sein, dass die Menschen nicht mehr an die Monumente der Vergangenheit erinnert werden wollten. Schließlich wurde New York als Machtzentrum der Dunklen Zeiten angesehen.“
David seufzte. Er fuhr fort, auf ein paar andere Orte zu deuten: „Dort hinter dem Central Park, da ist die Bronx. Von dort sind wir heute Morgen gekommen. Und wenn wir ein Fernglas hätten, dann könnten wir dort das Yankee Stadium sehen. Und das ist ein ziemlich eindrucksvolles Bauwerk und überhaupt nicht grau.
Spielen sie eigentlich noch Baseball in deiner Zeit?“ fragte er dann.
Ist es ein Gewinn-Verlier-Spiel?“ fragte Hope zurück.
Du meinst ein Spiel, bei dem die Teilnehmer entweder gewinnen oder verlieren können?“ fragte David zurück, wartete dann aber nicht auf die Antwort sondern erklärte: „Natürlich ist es das. Das ist schließlich der Sinn eines jeden Spiels: die Herausforderung, der Kampf und die Möglichkeit zu gewinnen... oder zu verlieren.“
Nein“, widersprach Hope, „das ist es nicht. Wir haben keine solchen Spiele. Wir wollen nicht, dass Menschen zu Verlierern werden. Ist das nicht das Wort, das hier benutzt wird, um jemanden zu demütigen?“
Manchmal“, gab David zu, „aber beim Baseball oder Football, da ist das ganz anders. Spieler, die ein Spiel verlieren, können das nächste gewinnen. Und wenn du mal verlierst, dann kannst du lernen, ein guter Verlierer zu sein, nicht neidisch oder gehässig. Das macht dich zu einem besseren Menschen.“
Das verstehe ich nicht“, kommentierte Hope kopfschüttelnd. „Kann man nicht ein besserer Mensch werden, ohne zuerst ein Verlierer zu sein.“
David seufzte: „Das kann schon sein. Aber trotzdem verpasst ihr eine Menge, wenn ihr niemals an einem Spiel teilgenommen habt.“
Hope sah ihn zweifelnd an, und so fragte David sie: „Treibt ihr denn überhaupt keinen Sport in eurer Zeit, ich meine irgendetwas, um euch körperlich fit zu halten?“
Aber sicher tun wir das. Wir rennen und wir tanzen und wir schwimmen“, zählte Hope auf. „Die Delfin-Hausgemeinschaft besitzt das beste Schwimmbad des ganzen Distrikts. Es ist ziemlich groß, und täglich installieren sie einen neuen virtuellen Hintergrund um den Pool herum, so dass die Leute in dieser virtuellen Landschaft schwimmen können, so als ob sie an einem See, oder einem Fluss, oder einem Meeresstrand irgendwo auf der Welt wären.
Aus dem ganzen Distrikt kommen Besucher zum Pool der Delfin-Hausgemeinschaft. Und natürlich benutzen ihn alle aus unserem Dorf. Ich gehe mit Mama, Sissy und Lillebro dort jede Woche schwimmen. Das heißt“, fügte sie ein bisschen traurig hinzu. „Wir sind zusammen dorthin gegangen bevor Mama auf ihre Kampfmission gegangen ist. In den letzten paar Wochen waren wir dort mit Oma und Opa.“
Dann erklärte sie weiter: „Mama ist früher jeden Tag mit Tante Susie gerannt. Der Fußboden in ihrem Schlafzimmer ist ein Renn-Brett. Schau mal!“
Eine Szene erschien, die zeigte Hope's Mutter, wie sie in einem kleinen Raum auf einen Knopf neben dem Bett drückte. Dieser ließ dann das Bett hochklappen und in der Wand verschwinden. Im selben Augenblick verwandelte sich der kleine Raum in eine weite Küstenlandschaft. Man konnte Schreie von Möwen und das Rauschen der Wellen hören. Die holographische Projektion einer Frau sah gerade auf das Meer hinunter. Sie drehte sich um, und lächelte Hope's Mutter zu.
Salaam Sissy“, rief sie. „Wie geht es dir heute? Du bist ein bisschen spät dran. Ich habe schon seit zehn Minuten auf dich gewartet. Also komm, lass uns loslegen!“ Hope's Mutter drehte sich zu ihrer Tochter um, die an der Eingangstür stand: „Spielst du bitte ein bisschen draußen mit deinen Geschwistern? Ich muss mal mit Tante Susie alleine sprechen.“
Die Szene verschwand und Hope fuhr fort: „Meine Tante Susie hat ganz verschiedene Landschaften programmiert, durch die man rennen kann, immer eine andere für jeden Tag der Woche, mit all den dazugehörigen Geräuschen. Sie hat Mama sogar die dazugehörigen Aromen geschickt, zum Einfüllen in die Klimaanlage, so dass der Geruch auch zur Landschaft passt. Virtuelle Landschaften zu entwerfen, ist das, womit Tante Susie ihren Lebensunterhalt verdient.
Manchmal rennen meine Geschwister und ich auch mit ihnen, meistens rennen sie aber nur zu zweit.
Wir haben aber auch körperliches Training in der Schule. Manchmal rennen wir, aber meistens tanzen wir. Schau mal!“
Eine neue Szene erschien: Die Kinder aus Hope's Klasse standen nebeneinander in einer Reihe. Der erste in der Reihe, ein kleiner Junge namens Peter, ging nach vorne und drehte sich zu den andern um. Dann drückte er auf seinen Armbandkontroller, und plötzlich ertönte laute Musik aus den unsichtbaren Lautsprechern an den Wänden. Peter begann einige nicht besonders elegante Tanz-Bewegungen vorzuführen, und alle anderen imitierten seine Bewegungen so gut sie konnten.
Eine Minute später war Cindy an der Reihe. Mit einem Tippen auf ihren Armbandkontroller veränderte sich die Musik zu einer sanfteren Melodie. Ihre Bewegungen waren graziös, und für ein Kind ihres Alters, wirklich überraschend gut koordiniert.
Nach einer Minute war Tommy an der Reihe und dann Marcella. Ein Kind nach dem anderen tanzte zu einer anderen Melodie, jedes mit anderen Bewegungen, die von allen anderen imitiert wurden. Nach einer Weile wurde die ausgewählte Musik immer schneller und die Bewegungen immer wilder. Am Ende stolperten die Kinder übereinander und fielen im Haufen unter schallendem Gelächter auf den Boden.
Das Tanzen macht uns Kindern großen Spaß“, erklärte Hope das Offensichtliche, nachdem sich die Szene aufgelöst hatte.
Die Erwachsenen und die Jugendlichen haben andere Tänze, meist solche mit vorgeschriebenen Bewegungen. Manchmal tanzen sie zu zweit und manchmal in der Reihe, und manchmal tanzen sie alte Geschichten nach alter Musik. Das wird Ballet genannt. Sie sagen, dass sie diese Tänze wirklich mögen. Aber ich denke, dass es viel mehr Spaß macht, sich die Bewegungen selbst auszudenken, und auch die Musik, und wenn alle anderen dir dann folgen.“
So wie ihr tanzt, das sieht richtig lustig aus“, stimmte David zu. „Ich kann schon sehen, dass es euch Freude bereitet.“
Mit Wehmut in der Stimme fügte er dann hinzu: „Ich finde es aber trotzdem ein wenig schade, dass ihr die Mannschafts-Sportarten, wie Baseball, Football oder Fußball alle abgeschafft habt. Eure Welt verpasst da eine ganze Menge. So ein Sport bringt einem eine ganz andere Art von Spaß. Aber ich nehme mal an, dass du das nicht verstehen kannst, wenn du nie selbst an so etwas teilgenommen hast.
Selbst wenn man in einem Stadium nur zuschaut, gemeinsam mit 50.000 anderen Fans deiner Mannschaft, die alle jubeln und ihre Spieler anfeuern, das ist berauschend. In dem Moment, wenn das Adrenalin dir durch die Venen rauscht, dann spürst du eine solche Begeisterung und eine innere Verbindung zu allen anderen um dich herum, wie ihr alle gemeinsam mit tiefer Sehnsucht auf nur das Eine hofft, und wie ihr euch mit den Spielern auf dem Platz auf dieses Eine konzentriert, den Sieg am Ende.“
Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man in einer 'Mannschaft zusammenspielt', wie du das nennst“, verteidigte Hope sich und ihre Kultur.
Wir entwerfen Geschichten zusammen, und hinterher spielen wir sie. Man braucht große Gruppen von Kindern und Jugendlichen dafür, und manchmal sogar Erwachsene, um eine richtig gute Geschichte zu schaffen.
Und außerdem machen wir noch Himmelsmalerei. Unsere Spiele sind einfach nur anders als eure.“
Dann hatte sie einen Gedanken: „Gab es denn die Spiele, von denen du mir erzählt hast, dieses Baseball, Football oder Fußball, auch bereits 200 Jahre vor deiner Zeit?“
David dachte eine Sekunde nach und versuchte sich an das zu erinnern, was er von der Geschichte des Sports wusste. Am Ende musste er zugeben: „Nein, die gab es damals nicht, jedenfalls nicht in ihrer heutigen Form. Es gibt immer noch ein paar olympische Sportarten, in denen Leute schon vor mehr als 2000 Jahren gegeneinander angetreten sind, aber das waren keine Mannschafts-Sportarten. Die Sportarten von heute sind nur etwas über hundert Jahre alt, glaube ich.“
Irgendwie hatte David sich nie die Frage gestellt, ob seine Lieblings-Sportarten etwas Dauerhaftes seien. Sie waren so wichtig für seine Gesellschaft. Sie erlaubten es Männern, sich miteinander zu verbinden, machten es möglich, dass Fremde miteinander reden konnten, selbst wenn man sich sonst nichts zu sagen hatte.
David seufzte, während er in das diesige und irgendwie triste Panorama um die grauen Gebäude sah.
Hope redete nun fast entschuldigend: „Die Zeiten ändern sich. Das weißt du doch, Onkel David, du hast das selbst gesagt wie über den Kleidungsstil.“
David nickte: „Ich denke du hast Recht. Manchmal ist es einfach ein wenig schwierig, sich vorzustellen, wie sehr sich unsere Kultur ändern wird. Aber erzähl mir doch ein bisschen mehr von der Himmelsmalerei, die du erwähnt hast, das hört sich interessant an.
Das ist sogar mehr als das“, antwortete Hope begeistert, „es kann bestimmt mit allem mithalten, das sie dort in dem Yankee Stadium spielen. Auch wenn bein uns keine 50.000 Leute zuschauen und jubeln, sondern nur die Leute aus unserem Dorf... meistens unsere Eltern.
Aber als wir die Video-Show von unserem Himmelsbild, das wir letzten Monat gemalt haben, auf dem Friedensnetz veröffentlicht hatten, da bekamen wir auch noch fast eine Million Clicks von Leuten aus der ganzen Welt“, erklärte sie stolz.
Ihr zählt also Clicks? Das ist auch eine Art, Erfolg zu messen“, kommentierte David.
Da hast du wohl Recht“, gab Hope zu. „Wir sehen uns auch die Himmelsbilder von anderen Dörfern an, und die zählen auch ihre Clicks.“
Dann erklärte sie: „Also Himmelsmalerei funktioniert so: Es gibt ein elektro-magnetisches Netz zwischen den obersten Etagen aller Hausgemeinschaften in unserem Dorf. Und da ist auch eine Rampe auf jedem Dach. Von diesen Rampen aus starten wir, um mit unseren Schwebebrettern, die mit farbigem Gas gefüllt sind, in der Luft zu fliegen.
Wir müssen unsere Bewegungen koordinieren, und indem wir dabei farbiges Gas ablassen, malen wir Muster und Bilder in den Himmel über unserem Dorf. Wenn wir wollen, dass das ganze Bild auf einmal erscheint, müssen wir die Bewegungen genau koordinieren und dabei ganz schnell sein, denn die Farbenspur löst sich in kurzer Zeit auf.
Willst du das Himmelsbild sehen, das wir letzten Monat gemalt haben?“
Natürlich“, antwortete David.
Die Dämmerung war nun über New York eingebrochen, und es war so dunkel und diesig um ihn herum, dass selbst von einem so hohen Turm wie diesem, kaum noch etwas zu sehen war. In Hope's Welt würde es zur Zeit sicherlich eine bessere Aussicht sein. David schloss seine Augen.
Eine Gruppe von etwa dreißig Kindern, alle in Hope's Alter, standen zusammen auf dem Dach eines Gebäudes. David erkannte, dass dies nicht das Gebäude von Hope's Hausgemeinschaft war.
Die Kinder schienen aus allen Hausgemeinschaften des Dorfes zu kommen, denn David zählte zehn verschiedene Farben auf den Kleidungsstücken der Kinder.
Hope war eines der Kinder in der Gruppe, und David konnte nun ihre Gedanken ganz genau lesen. Sie war irgendwie besorgt, während sie einem Jungen namens Danny zuhörte.
Er schien eine Anfeuerungsrede für die Gruppe zu halten: „Ihr wisst alle, wie lange wir uns auf das hier vorbereitet haben. Wir haben drei Monate gebraucht, um die Musik zusammenzustellen und die Choreographie, und haben jede einzelne Bewegung immer und immer wieder geübt.
Dies ist jetzt das vierte Mal, dass wir das volle Programm durchgehen. Und ich bin sicher, dieses Mal wird es klappen!
Aber ich bitte euch alle, eure Kappen gut zu befestigen. Nancy, du hast deine letztes Mal fast verloren, und Terrence, deine Kappe ist ganz weggeflogen. Ich bin mir sicher, dass deine Eltern darüber nicht sehr glücklich waren. Ich habe gehört, dass einige der Mikrochips ersetzt werden mussten?“
Da ist nicht viel kaputt gegangen“, verteidigte sich Terrence und fügte rebellisch hinzu: „Ich versteh überhaupt nicht, warum wir unsere Kappen überhaupt tragen müssen. Es macht viel mehr Spaß, wenn man den Wind fühlen kann, wie er durch das Haar weht.“
Aber das ist jetzt wirklich eine dumme Frage“, rief Danny. „Wir wollen unsere Show auf dem Friedensnetz veröffentlichen. Das weißt du doch. Willst du wirklich, dass alle in der Welt glauben, dass wir eine Bande Unanständiger sind, hier in Spesaeterna, die unbedeckt in der Öffentlichkeit rumlaufen?“
Terrence war es offensichtlich recht egal, was der Rest der Welt dachte. Er brummte vor sich hin, tat dann aber doch, was ihm gesagt wurde, und befestigte wie alle anderen seine Kappe fest unter dem Kinn.
Es gab aber noch einen Einwand. Hope's Freundin Marcella begann schüchtern etwas zu sagen: „Danny, bitte, ich kann das nicht. Ich habe dir doch schon beim letzten Mal gesagt, dass ich das nicht kann. Es geht einfach nicht.“
Und ich habe dir gesagt, dass du es doch kannst“, widersprach Danny unerbittlich. „Wenn du genug übst, dann kannst die Bewegungen zur richtigen Zeit ausführen, genau wie alle anderen. Wir haben auf dem Netz angekündigt, dass alle Sempai aus dem zweiten Jahr unseres Dorfes an diesem Projekt teilnehmen würden. Und du bist doch eine Sempai aus dem zweiten Jahr... oder nicht?“
Marcella wandte den Blick ab. Tränen begannen ihr unter den Augenlidern hervorzuquellen. Sie sagte mit leiser Stimme: „Ich will es doch nur nicht für euch alle anderen verderben...“
Das wirst du nicht“, antwortete Danny in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Und wenn ich persönlich mit dir Tag und Nacht üben muss, dann werde ich das tun. Jeder kann Himmelsmalerei lernen, auch du!“
Schon eine Weile lang hatte Hope versucht, Marcella auf sich aufmerksam zu machen, jedoch ohne Erfolg. Sie nahm Marcella jetzt am Arm, führte sie ein paar Schritte von der Gruppe weg und flüsterte ihr ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen, dieses Mal wirst du keine Fehler machen. Ich habe letzte Nacht an deinem Schwebebrett gearbeitet und es hiermit verbunden...“
Hope öffnete ihre Faust und zeigte Marcella ein kleines Gerät.
Dies ist eine Fernbedienung. Ich habe ein paar Tage gebraucht, um sie richtig einzustellen. Aber jetzt funktioniert sie, und ich kann dein Brett damit kontrollieren. Alles, was du jetzt noch tun musst, ist deine Balance zu halten, während ich die Bewegungen kontrolliere.“
Das kannst du wirklich?“ fragte Marcella ungläubig.
Ja, das kann ich“, flüsterte Hope zurück. „Ich habe letzte Nacht geübt, als es dunkel war, und mich niemand beobachten konnte. Ich habe jede Bewegung mit deinem und meinem Brett durchgeführt, zusammen mit der Musik.“
Aber warum hast du mir das nicht schon früher erzählt“, fragte Marcella flüsternd. Sie schien bereits sichtlich entspannter zu sein, und ihre Tränen waren getrocknet.
Ich wollte sicher gehen, dass es funktioniert, bevor ich dir zu viel Hoffnung mache,“ antwortete Hope. Und voller Zuversicht in der Stimme fügte sie hinzu: „Letzte Nacht hat es geklappt, dann wird es auch heute klappen. Vertrau mir!“
Als Danny ihr erklärt hatte, dass sie es schaffen würde, konnte Marcella das nicht glauben, bei Hope aber war das anders. Als sie zusammen zur Gruppe zurückkehrten, hatte sie die Schultern gestrafft und war bereit.
Auf Danny's Anweisung surfte sie auf ihrem Brett hinüber auf das Dach eines anderen Gebäudes und stellte sich gemeinsam mit zwei anderen Kindern auf ihren Platz an der Rampe. Die anderen Sempais des zweiten Jahres, einschließlich Hope, taten dasselbe, so dass auf jedem Dach drei oder vier Kinder positioniert waren.
Die Musik begann. Hope, Ameenah und ein Junge namens Jason sprangen von der Rampe, einer nach dem anderen, genau wie sechs weitere Kinder von zwei gegenüberliegenden Dächern. Hope nahm eine große Kurve und flog dann über die Mitte des Platzes zwischen den Häusern. David bemerkte, dass ihr Brett weißen Rauch ausströmte und hinter sich herzog.
Jetzt war die zweite Gruppe von Kindern an der Reihe, unter ihnen Marcella. Diese surften nicht so weit von den Rampen weg, von denen sie abgesprungen waren, wie die erste Gruppe. Bei ihnen war der Rauch, den sie hinter sich herzogen, bunt gefärbt. Marcella's Farbe war ein dunkles Grün, während das Mädchen neben ihr ein helleres Grün versprühte.
Schließlich kam die letzte Gruppe, die ganz nah bei den Häusern blieb und hellere und dunklere Goldtöne versprühte. David sah das alles am Rande seines Sichtfelds, aber bemerkte, dass Hope sich ausschließlich auf sich selbst und Marcella konzentrierte. Sie kannte jede Bewegung auswendig, jede Wende, jeden Auf- und Abstieg, synchronisiert zu einer Musik, die aus den Lautsprechern der umliegenden Gebäude tönte.
Hope kannte auch Marcellas Bewegungen gut, und trotzdem war es wirklich schwierig sie zu koordinieren, denn bei jeder Bewegung der Fernbedienung, musste sie ihre eigene Position in Relation zu der von Marcella berücksichtigen.
David's Geist war jetzt dem von Hope so angeschlossen, dass er jede Bewegung und jede Drehung fühlen konnte. Er spürte wie der Wind um Hope's Nase strich. Und wenn sie im scharfen Sinkflug war, fühlte er den Absturz in seinem eigenen Magen so intensiv, als säße er in einer Achterbahn.
Er spürte, wie angespannt Hope's Nerven waren.
Wie sie wusste er, dass wenn sie dieses Mal versagte, es so viel schwieriger sein würde, Marcellas Selbstvertrauen wieder aufzubauen. Denn obwohl Marcella ihre Surf-Schwünge nicht selbst durchführen musste, so war es doch notwendig, dass sie die Balance auf ihrem Brett hielt, sonst würde es nicht funktionieren.
Jetzt kam der schwierigste Teil; die Zeiten mussten perfekt sein. Hope konzentrierte sich auf die Musik und zählte den Takt aus. Eine Drehung mit dem ganzen Körper und eine Sekunde später mit der Hand und der Fernbedienung, und das Ganze noch einmal wiederholt.
Dann kam der Schwung nach oben, bevor die Musik langsamer wurde. Und dann noch einmal ein tiefer Sinkflug, zuerst der von Hope und dann der von Marcella. Und zum Schluss noch einmal eine große Kurve zurück zur Rampe... Geschafft!
Hope begann wieder zu atmen. Erwartungsvoll sah sie hoch auf das, was sie gemeinsam geschaffen hatten.
Ja, ja, ja... es war perfekt! Das Bild war genau, wie sie es geplant hatten. Jeder von ihnen hatte seine Bewegungen exakt ausgeführt.
Lautes Klatschen und Jubelrufe konnten jetzt von all den Balkons der angrenzenden Gebäude vernommen werden. Es schien als hätte praktisch das gesamte Dorf zugeschaut.
David sah sich das Bild am Himmel genauer an, und er war wirklich beeindruckt. Das Bild zeigte das Gesicht eines Mannes in Weiß, umringt von einem farbigen Hintergrund von Wäldern und Wiesen, eingefasst in einen Rahmen mit einem komplexen Goldmuster.
Während das Bild sich langsam auflöste und die Farben sich ausbreiteten, vermischten und schwächer wurden, dachte David, dass er für eine Sekunde lang erkennen konnte, wen das Gesicht darstellen sollte... Es war...
Die Szene verschwand und Davids Geist kam wieder zum 86. Stockwerk eines Wolkenkratzers im 21. Jahrhundert zurück.
Thomas Jefferson”, sagte David laut.
Obwohl der Lärm, den die Menschen um ihn herum machten, fast ohrenbetäubend war, konnte Hope ihn trotzdem hören.
Wer“, fragte sie.
Das Gesicht von dem Mann, den ihr an den Himmel gemalt habt“, erklärte David genauer, „das war das von Thomas Jefferson, der die 'Bill of Rights', die Bürgerrechtszusätze zur Verfassung, geschrieben hat.“
Oh“, meinte Hope überrascht, „den Namen von dem Mann kannte ich nicht, auch nicht, dass er in deiner Zeit irgendwie berühmt war. Danny hat das Bild nur irgendwo auf dem Friedensnetz gefunden, unter der Rubrik: Gesichter von Leuten aus dem 18. Jahrhundert.“
David erkannte wieder einmal, dass Hope nicht mehr in den Vereinigten Staaten von Amerika lebte. Sie kam aus einer Gesellschaft, in der man Nationalstaaten praktisch kaum noch eine Bedeutung beimaß, jedenfalls im Vergleich zur Bedeutung des eigenen Dorfes. Und deshalb würde die Geschichte, die Hope gelehrt wurde, auch ganz andere Themen hervorheben.
Amerika's geliebte Verfassung war durch ein paar örtliche Regeln ersetzt worden. Und Thomas Jefferson, der Nationalheld, das Symbol für Freiheit und die amerikanische Unabhängigkeit, dessen Gedanken und Ideen in diese Verfassung eingegangen waren, dieser Mann, der jedem Amerikaner bekannt war, auch denen, die sonst nicht viel wussten, der war in Hope's Zeit zu nichts anderem geworden, als irgend so einem Gesicht des 18. Jahrhunderts.
Wieder einmal fühlte David den Schmerz des Verlustes.
Aber dann führte eine plötzliche Erkenntnis ihn ganz schnell aus diesem Nostalgiegefühl heraus:
Die amerikanische Verfassung war doch schon längst vor Hope's Zeit praktisch abgeschafft worden. Die wichtigsten Bürgerrechte, wie das Recht auf eine schnelle Gerichtsverhandlung durch eine Jury, das Recht jedes einzelnen Bürgers, sich vor Gericht gegen die Anklagen, die gegen einen vorgebracht wurden zu verteidigen, die gab es nicht mehr.
Heutzutage konnten Menschen auf unbegrenzte Zeit festgehalten werden, an Orten, die niemand kannte, ohne dass man auch nur erfuhr, weswegen man angeklagt wurde. Der Staat konnte Menschen jetzt für immer verschwinden lassen. Oder, wenn sie sich im Ausland aufhielten, konnten sie von Drohnen exekutiert werden, ohne eine Festnahme und ohne Gerichtsverhandlung, einfach nur durch einen Befehl des Präsidenten.
All das war jetzt legal geworden, genau so legal, wie gewisse Formen der Folter, wie das 'Water-Boarding' oder Schlafentzug oder extrem schmerzhafte Fesselungen in verkrampften Stress-Positionen.
Der Bürgerrechtszusatz zur Verfassung hatte die Menschen vor Machtmissbrauch und Übergriffen des Staates geschützt. Jetzt war dieser Verfassungsanteil durch den 'Patriot Act' und weitere Gesetze ausradiert und ersetzt worden.
Oh Thomas“, fragte David im Stillen seinen längst verstorbenen persönlichen Helden, „hättest du das je gedacht?“
Dieses eine Mal las Hope David's Gedanken nicht, denn sie war von der Aussicht auf David's Welt von so weit oben abgelenkt.
Jetzt sieht das aber wirklich ganz toll aus“, rief sie begeistert, und das zu David's freudiger Überraschung.„Du hattest Recht, das ist wunderschön hier oben!“
Während David seine Augen geschlossen gehalten hatte, und sein Geist in Hope's Welt eingetaucht war, da war die Dämmerung in seiner eigenen Welt in die Nacht übergegangen. Und in der umgebenden Dunkelheit hatte sich New York in ein Lichtermeer verwandelt, weiße Lichter, gelbe Lichter, orange Lichter, mit ein paar roten Punkten dazwischen.
Die Lichter von den anderen Wolkenkratzern schienen ihnen näher zu sein, als die auf der Erde. Sie formten interessante Muster aus Pyramiden und Kreisen, während die Straßenlampen wie Pünktchen erschienen, die in langen Linien bis zum Horizont liefen.
Es ist viel schöner hier, wenn es dunkel ist“, kommentierte Hope, und David war froh, dass er etwas in seiner Zeit gefunden hatte, das Hope gefiel. Sie gingen noch einmal eine Runde um die Plattform für die ganze Panorama-Aussicht von all den berühmten Sehenswürdigkeiten, auch wenn die meisten davon zur Zeit nicht kaum noch zu sehen waren. Dann nahmen sie den Aufzug wieder nach unten. David drehte sich noch einmal um, um Hope einen letzten Blick auf das aufgeleuchtete Gebäude zu erlauben.
Jetzt bin ich wirklich hungrig“, stellte er dann fest, „lass uns irgendwo hingehen, wo wir etwas essen können.“
Wir“, fragte Hope grinsend, „ich würde ja gerne, aber leider...“
Jetzt lachte David auch: „Das hätte ich fast vergessen. Aber weißt du was, lass uns zu einem Ort gehen, wo ich essen kann, und du genießt dafür die Aussicht.“
Zu einem Restaurant in einem anderen Wolkenkratzer“, fragte Hope.
Nein“, antwortete David, „ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mir nichts von dem leisten könnte, was die dort auf der Speisekarte haben. Aber ich gehe mit dir zu einem Platz, wo du weiter blicken kannst als von den höchsten Gebäuden New Yorks.“
Wirklich“, fragte Hope. „Wie ist denn das möglich?“
Du wirst schon sehen“, antwortete David geheimnisvoll. „Und nein, fang jetzt bloß nicht an, in meinem Kopf rum zu suchen, das würde die Überraschung total verderben.“
Um sie abzulenken, und weil es ihn wirklich interessierte, redete er jetzt noch einmal über die Szene, die er in Hope's Erinnerungen beobachtet hatte: „Du hast Recht mit der Himmelsmalerei, das ist schon ein eindrucksvoller Sport. Es sieht auch ziemlich gefährlich aus. Was passiert wenn ihr herunterfallt? Ihr seid ja doch ziemlich weit oben, wenn ihr so über den zehnten Stock hinweg fliegt. Könntet ihr da nicht abstürzen und euch den Hals brechen oder zumindest sämtliche Knochen?“
Nein, natürlich nicht“, Hope schüttelte den Kopf. „Es gibt zwei verschiedene EM-Netze, um einen aufzufangen. Die sind sogar an verschiedenen Stromnetzen, falls wirklich mal der Strom auf einem Netz ausfallen sollte. Ich habe noch nie gehört, dass ein Himmelsmaler auf den Erdboden gestürzt ist. Es ist schwierig die richtigen Bewegungen hinzukriegen, aber gefährlich ist es nicht.“
Inzwischen waren sie an der Bushaltestelle angekommen. Sie hatten Glück, denn der richtige Bus kam gerade in dieser Minute an. Genau wie auf dem Weg in die Stadtmitte, ging David auch diesmal ganz nach hinten im Bus, für eine bessere Aussicht auf dem Weg zur Bronx und für ein bisschen mehr Privatsphäre.
Er fuhr mit dem Gespräch fort: „Aber du hast doch ein bisschen geschummelt bei der Himmelsmalerei, oder nicht?“
Geschummelt“, fragte Hope verwirrt.
Schummeln bedeutet, wenn man die Regeln bei einem Sport oder einem Spiel bricht“, erklärte David.
Ich verstehe nicht“, Hope schüttelte den Kopf immer noch verwirrt. „Ich habe doch gar keine Regeln gebrochen...
Ach so, du meinst, weil ich Marcella's Brett verändert habe?“
David nickte: „Und weil du es kontrolliert hast und nicht sie. Ist das denn nicht gegen die Regeln?“
Hope schüttelte entschieden den Kopf: „Es gibt keine Regeln bei der Himmelsmalerei, außer denen, die Danny sich selbst ausgedacht hat. Er wollte aufs Friedensnetz schreiben, dass alle Sempais aus dem zweiten Jahr in unserem Dorf an diesem Projekt teilgenommen haben.
Er hätte schreiben können, dass die meisten teilgenommen haben oder so was Ähnliches. Aber er wollte das nicht...“
Hope schob die Unterlippe vor und erklärte: „Ich meine Danny ist wirklich gut bei der Himmelsmalerei. Keiner von uns hat so viel Talent wie er. Und im Organisieren ist er auch der Beste. Er hat die meiste Arbeit geleistet, die Musik angeglichen und das Bild, und er hat jedem von uns die richtigen Bewegungen zugeteilt. Und dann hat er uns in Gruppen aufgeteilt und mit den einzelnen Gruppen separat trainiert. Ohne ihn hätten wir das nie geschafft. Danny ist gut, aber er ist auch so ein Junge... so typisch männlich.
Manchmal versteht er einfach gar nichts.“
David lächelte: „Und das ist typisch männlich?“
Hope nickte, wobei sie dies eine Mal nur typisch weiblich war, mit den ganz typischen Beschwerden: „Jungen, die wollen einfach nur ihre Ziele erreichen, ganz egal wie, und die verstehen überhaupt nicht, wie andere Leute sich fühlen...
So wie Danny, er denkt, wenn Marcella nur genug übt, wird sie besser und besser. Aber Marcella hat kein Talent für koordinierte Bewegungen, egal wie hart sie trainiert. Sie bekommt einfach nur immer mehr Angst. Und weil sie sich fürchtet, wird sie noch steifer und sogar weniger koordiniert.“
Marcella hätte sich einfach auf die Hinterbeine stellen sollen“, schlug David vor. „Und dann hätte sie dem Tyrannen Danny, nein sagen sollen, dass sie nicht mitmachen will.“
Du verstehst auch nichts“, klagte Hope David an. „Es ist schwer, nein zu sagen, wenn alle anderen da sind. Wenn alle etwas tun können, und nur du allein kannst es nicht, auch wenn du so gerne genau wie alle anderen sein willst, dann ist das... na ja, da schämt man sich halt so in meiner Zeit.“
Ich weiß schon, was Gruppenzwang bedeutet“, verteidigte sich David. „So etwas gibt es bei uns auch.“
Ist es das, was man bei euren Gewinn- Verlier-Spielen lernt“, fragte Hope, „sich gegen die durchzusetzen, die kontrollieren wollen, was man tut?“
David dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf: „Eigentlich nicht, um ehrlich zu sein. Da gibt es in den meisten Sportarten Leute, die den Spielern ganz genau vorschreiben, was sie zu tun haben, die nennt man Trainer. Und kein Spieler würde es wagen, zu so jemandem nein zu sagen.“
Hmm“, sagte Hope. Und David wusste, sie dachte, dass wenn sie den Leuten nicht einmal beibrächten, nein zu sagen, wofür diese Gewinn-Verlier-Spiele dann überhaupt gut waren.
Aber“, fügte David hinzu, „nur diejenigen, die wirklich Talent für einen Sport haben, dürfen überhaupt mitmachen.“
Und was ist mit den anderen“, fragte Hope.
Die können zuschauen“, antwortete David.
Und wo ist da der Spaß“, fragte Hope.
Hat nicht der Großteil der Leute in deinem Dorf zugeschaut“, fragte David zurück. „Und hast du mir nicht gesagt, dass ihr die Vorstellung auf dem Netz veröffentlicht habt, und eine Million Leute dort zugeschaut haben?“
Hope grinste: „In Ordnung, du hast Recht, Zuschauen macht auch Spaß. Und vielleicht habt ihr genau so viel Spaß dabei, wenn ihr bei euren Spielen zuschaut, wie wir bei unseren.“
David grinste zurück. Es war schön einmal ein Streitgespräch gegen Hope zu gewinnen, dachte er.
Und damit schwiegen sie beide für eine Weile und konzentrierten sich auf die Welt außerhalb des Busses. Genau wie von hoch oben, so war auch hier auf dem Boden die Aussicht bei Nacht ganz anders als am Tag. Für Hope war es eine Lichter-Show, etwas das sie nie zuvor gesehen hatte, und sie genoss es in vollen Zügen.
Als sie endlich wieder am St.Francis Park ankamen, wusste David, dass Hope die Busfahrt Freude gemacht hatte.
Das Restaurant, zu dem David gehen wollte, war gleich um die Ecke.
'Bella Italia' war in leuchtenden Neonlichtern über den Eingang geschrieben. Eine sanfte alt-modische Musik begrüßte sie, als sie eintraten. Der ganze Ort hatte ein nostalgisches Flair. Jeder Tisch war mit einem rot-karierten Tischtuch gedeckt. Die Lampen darüber verströmten ein sanftes Licht, nicht heller als die Kerzen auf den Tischen. Die stärksten Lichtquellen erleuchteten nicht den Raum sondern waren gegen die Wände gerichtet.
Und um Hope diese Wände zu zeigen, das war der Hauptgrund, warum David hergekommen war. Alle vier Wände waren mit Wandmalereien bedeckt, die italienische Themen hatten, wie den schiefen Turm von Pisa, Gondeln auf dem Kanale Grande in Venedig, das Colosseum in Rom und der Vatikan Hügel. Und zwischen den berühmten Sehenswürdigkeiten, konnte man auch Bilder von kleinen Dörfern Flusstälern und bewaldeten Bergen sehen.
Jedes einzelne Bild wurde durch gemalte Weinranken eingerahmt. Ein Kunstkritiker hätte diese Szenen vielleicht als wenig originell beschrieben, doch David wusste ziemlich sicher, dass Hope eine völlig andere Ansicht dazu haben würde.
Das ist großartig“, rief sie aus. „Die sind ja fast genauso, wie das was unsere Leute an die Wände unserer Häuser malen. Vielleicht sind diese Bilder hier sogar noch schöner. Sind das reale Orte?“
Das sind Bilder von Orten in Italien“, erklärte David. „Ich habe dir doch gesagt, dass man von hier aus weiter sehen kann, als vom höchsten Wolkenkratzer. Und voila, hier ist sie, eine Aussicht, die den ganzen Weg nach Europa reicht!“
Die lächelnde Kellnerin, die David zu seinem Tisch führte, war extrem schwanger. Er hatte sich kaum hingesetzt, als ein Mann, den David als den Eigner des Restaurants erkannte, schon auf ihn zugestürzt kam.
Ich bediene Mr Ragnarsson selbst, Gina“, erklärte er entschieden und fügte hinzu: „Du solltest wirklich nach oben gehen, Liebes, und dich ausruhen. Du bist schon den ganzen Tag auf den Beinen.“
Dad“, protestierte Gina, „ich bin doch nicht krank, nur schwanger. Und ich habe mich den ganzen Nachmittag ausgeruht, aber Cary hat angerufen und sich für heute Abend krank gemeldet. Und sie hat auch für nächste Woche schon gekündigt. Sie zieht zurück nach Hause, nach South Carolina.“ Und damit drehte sich Gina einem Gast zu, der die Rechnung verlangte.
Ihr Vater -David war wieder eingefallen, dass sein Name Santini war- zuckte mit den Achseln. Entschuldigend sah er David an und sagte: „Sie ist doch alles, was ich noch habe, nachdem ihre Mutter im letzten Jahr gestorben ist, da ist da nur noch Gina... und das Baby, das bald kommt, natürlich.
Gina's Mann Carlos ist übrigens unser Koch, und ein richtig guter, das ist er, wie Sie wahrscheinlich schon gemerkt haben, obwohl er gar kein Italiener ist. Puerto Rico, da ist er her, aber trotzdem italienisch kochen, das kann er. Wenn da mal ein Wettbewerb wäre, da könnte er jedem 5 Sterne Koch mehr als nur das Wasser reichen, das muss ich schon sagen. Aber ich denke halt, dass er nicht genug Acht gibt auf meine Gina. Er sollte ihr nicht erlauben, abends so lange zu arbeiten. Auf mich hört sie natürlich nicht, ich bin ja schließlich nur ihr alter Dad. Aber auf ihn, da würde sie hören.“
Es überraschte David einigermaßen, dass ihm hier die ganze Santini Familien-Geschichte serviert wurde. Er war in dem Lokal nur drei oder vier Mal gewesen und hatte nie mehr als zwei Worte zu Mr Santini gesprochen, obwohl dieser sich ihm schon einmal vorgestellt hatte. Dabei hatte er aber doch bemerkt, dass Santini ihn dabei neugierig angesehen hatte. David selbst hatte dem Gastwirt seinen Namen nie genannt, und doch schien es nun, als ob dieser ihn trotzdem von irgendwoher kannte.
Beinahe tat es David schon leid, dass er überhaupt ins 'Bella Italia' gekommen war. Am Ende beschloss er dann doch, trotzdem das Beste daraus zu machen. Er nahm die Speisekarte von Mr Santini entgegen, lächelte ihn an und sagte:
Eltern machen sich immer Sorgen um ihre Kinder, das verstehe ich gut, besonders seitdem ich selbst ein Vater bin.“
Mr Sanitini's Mine verdüsterte sich, als er antwortete: „Das ist wahr, wir machen uns immer Sorgen. Wir versuchen unsere Kinder zu beschützen. Aber dann versagen wir... wir versagen so völlig. Wenn ich es doch nur gewusst hätte...“
Mr Sanitini seufzte traurig, verloren in seinen eigenen Gedanken. Am Ende kam er in die Gegenwart zurück und sagte zu David:
Ich bin so froh, dass Sie heute Abend hier sind, Mr Ragnarsson. Sie sind schon lange nicht mehr bei uns gewesen. Nur vor ein paar Tagen haben meine Freunde und ich über Sie geredet. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie hin- und wieder hier essen. Und meine Freunde haben gesagt, dass sie Sie wirklich gerne treffen und Ihnen einen Job anbieten würden, Sie wären nämlich der perfekte Mann für den Job.“
Diese Worte erschreckten David, und er dachte an die 'Freunde von Freunden', von denen Ed gesprochen hatte. Er war überhaupt nicht erfreut darüber, wohin dieses Gespräch gegangen war.
Mr Sanitini bemerkte David's veränderte Haltung nicht, und so fuhr er einfach fort: „Die Leute essen mehrmals die Woche hier bei uns. Natürlich gebe ich ihnen einen guten Rabatt. Diesen Monat wollen sie anfangen es professionell zu machen mit ihrer Webseite. Die ist in den letzten paar Monaten abgegangen wie eine Rakete, haben sie gesagt.
Als ich ihnen von Ihnen erzählt habe, da meinten sie Sie würden perfekt zu ihnen passen. So ein richtiger Profi würde ihnen noch mehr Glaubwürdigkeit verleihen, jemand mit Mut und Integrität. Sie haben natürlich Ihre Artikel gelesen und glauben Ihnen 100 Prozent, genau wie ich. Natürlich sind Sie reingelegt worden...
Während er dieser überraschenden Rede zuhörte, wusste David nicht, was er sagen oder auch nur denken sollte.
Er riss sich zusammen und erwiderte: „Ihre Freunde verstehen doch, dass meine Glaubwürdigkeit im Augenblick wirklich nicht als all zu hoch angesehen wird“
Mr Santini schüttelte den Kopf: „Das gilt doch nur für die Mainstream-Medien, im Internet ist sie hoch, wirklich hoch.“
Das waren überraschende Neuigkeiten für David. Er war immer noch nicht sicher, was er dazu sagen sollte, also fragte er nur: „Wie heißt denn die Webseite?
Truth-Research”, war Mr. Santinis kurze Antwort.
David war diese Seite schon ein paar Mal aufgefallen, als er im Netz gesurft hatte. Vor einem Jahr hätte er so eine Verschwörungs-Theoretiker-Seite nicht einmal mit einem zehn Fuß langen Stecken angefasst. Obwohl, eigentlich hatte der letzte Artikel, den er dort kürzlich gelesen hatte, David schon ein bisschen beeindruckt, wie gut dieser recherchiert worden war, und aus was für wirklich glaubwürdigen Quellen diese Recherche sich ableitete.
Natürlich können Sie Ihnen nicht das Gehalt bezahlen, dass Sie vorher hatten“, erklärte Mr. Santini vorsichtig, als er David's Zögern bemerkte.
Es hat nichts mit dem Gehalt zu tun“, erwiderte David. Er war selbst nicht ganz sicher, was der Grund für sein Zögern war. Vielleicht lag es daran, dass so ein Angebot so plötzlich aus heiterem Himmel, irgendwie unwirklich erschien.
Denken Sie einfach mal darüber nach“, schlug Mr. Santini vor. „Aber zuerst müssen Sie natürlich etwas essen. Dafür sind Sie schließlich gekommen. Haben Sie die Speisekarte schon studiert?“
David hatte das nicht getan, da Mr. Santini ihn ja ablenkt hatte, aber er wusste trotzdem bereits, was er wollte. Beim letzten Mal hatte er eine Tagliatelle Gorgonzola mit Knoblauchbrot gegessen und einen kleinen Salat dazu. Und Mr. Santini hatte Recht, sein Schwiegersohn war mit Sicherheit genauso gut wie jeder Chefkoch eines Mahattan Luxus Restaurants. David bestellte das Nudelgericht und dazu eine alkoholfreie Weinschorle.
Als Mr. Santini gegangen war, bemerkte Hope sanft: „Du könntest wieder Artikel schreiben. Das ist doch das, was du wolltest, zu schreiben, so dass viele Leute es lesen können?“
David nickte: „Ich würde fast alles dafür geben, wenn ich wieder Arbeit als Journalist finden könnte, selbst als so ein Internet-Journalist. Aber weißt du Hope, es scheint einfach zu gut, um wahr zu sein. Ich habe nur Mr. Santini's Wort dafür. Weiß er denn wirklich, wovon er redet? Vielleicht haben seine Gäste nur versucht, nett zu ihm zu sein.“
Du hast Angst davor, enttäuscht zu werden“, schloss Hope aus seinen Worten.
Ja, das habe ich“, gab David zu und drehte seinen Kopf zur Seite, um sich auf die italienischen Wandgemälde zu konzentrieren. Das war es, was Mr Santini bemerkte, als er mit David's Getränk, einem Salat und dem Knoblauchbrot zurückkehrte.
Ihnen gefallen diese Bilder“, fragte er. Und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: „Die hat mein Sohn Marco gemalt.“
Ihr Sohn hat ganz schön viel Talent“, erwiderte David, was höflich war, aber auch wahr. Der Künstler, der diese Wandgemälde gemalt hatte, zeigte dort zwar nicht unbedingt große Originalität, aber talentiert war er in jedem Fall auf seine Weise.
Ja, das hatte er wirklich“, sagte Mr. Santini in traurigem Ton. „Er wurde getötet... in Afghanistan... vor zwei Jahren.“
Er deutete auf ein schwarz-gerahmtes Bild an der Wand, gleich neben einem Gemälde, das ein kleines Dorf an einem Bach darstellte. Auf der anderen Seite des Gemäldes hing noch ein schwarzgerahmtes Bild, das einer Frau mittleren Alters, vermutlich die verstorbene Mrs. Santini.
Mein allerherzlichstes Beileid“, sagte David und meinte es wirklich. Er hatte echtes Mitgefühl für jemanden, der sowohl seine Frau als auch seinen Sohn in so kurzer Zeit verloren hatte.
Mr. Santini war David's Blick gefolgt, und er kommentierte nun: „Meine Martha, sie war wie ein Engel. Als sie von Marco's Tod erfuhr, da hat es ihr das Herz gebrochen. Sie war nie sehr stark, aber das war zu viel für sie. Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben. Das ist nicht natürlich.“
Mr. Santini hatte Tränen in den Augen. Er setzte sich hin und holte ein Taschentuch hervor.
Er trocknete sich die Augen und begann wieder zu reden: „Marco hätte nicht dort sein sollen. Und er wäre nicht dort gewesen, wenn ich ihn beschützt hätte, wenn ich ihm nur diese Spiele weggenommen hätte, ihm nicht erlaubt hätte, sie zu spielen, diese teuflischen Spiele. Sie wissen das, Mr. Ragnarsson, Sie wissen was die tun, mit diesen Spielen, Sie haben darüber berichtet.“
Jetzt dämmerte es David, was der Grund dafür war, dass Mr Santini so interessiert an ihm war und ihn behandelte als sei er ein alter Freund. Er hatte den Artikel gelesen, denselben Artikel, den auch sein Informant aus der Zugbomben-Verschwörung gelesen hatte.
Mr Santini redete weiter: „Sie haben genau im Detail beschrieben, wie das Pentagon Computerspiele so entwirft, dass sie damit Jungen zum Militärdienst verführen können. Wie die Leute von der Armee, die Jugendliche anwerben, mit den Jungen in Chat-Rooms reden, sie für ihre Spielerfolge loben und dafür wie gut sie sind als Kämpfer. Und so bekommen die Armee-Werber dann die Adressen der Jungen. Das ist genau so, wie es mit meinem Marco gewesen ist, ganz genau so. Sie haben die Wahrheit herausgefunden!“
Ich habe das nicht wirklich allein herausgefunden“, antwortete David, um keine falschen Lorbeeren einzuheimsen. „Es war ein anderer Journalist, der zuvor bereits darüber berichtete. Ich habe nur ein paar Fakten und Details ergänzt. Es war der investigative Journalist, der zuvor auch den CIA Kokain-Schmuggel aufgedeckt hatte.“
Ja, ich erinnere mich,“ sagte Mr Santini, „Sie haben seinen Artikel als eine ihrer Quellen angegeben. Und ich habe ihn gegoogelt. Es wird gesagt, er habe Selbstmord begangen... mit zwei Kugeln in den Kopf.“ Mr Santini hörte sich skeptisch an.
Das ist es, was der Gerichtsmediziner gesagt hat“, erwiderte David ohne einen weiteren Kommentar.
Die Armee hat behauptet, dass mein Marco von einem geflohenen Taliban Gefangenen erschossen wurde“, erwiderte Mr Santini in einem so merkwürdigen Ton, dass er David veranlasste zu fragen: „Sie glauben nicht, dass das die Wahrheit ist?“
Ich weiß, dass es nicht wahr ist“, antwortete Mr Santini bestimmt. „Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Sohnes kam Jack Peters, ein Armeekamerad von Marco, und erzählte mir, was wirklich geschehen war an diesem letzten Tag in Marcos Leben.
Danach gab er mir einen Brief, den Marco in der Nacht vor seinem Tod geschrieben hatte. Jack hatte den Brief zuvor nicht abschicken können. Die Zensoren hätten ihn nicht durchgelassen. Also hat er ihn versteckt und mitgebracht, als er selbst nach Hause gehen durfte.
Jack ist übrigens einer der Eigner und Editoren von 'Truth Research', zusammen mit einem anderen Veteranen und zwei jungen Frauen.“
Mr Santini zog einen Brief aus der Tasche der braunen Weste, die er über seinem rotkariertem Hemd trug. Nachdenklich hielt er den Brief in der Hand, als ob er etwas abwog: „Ich habe diesen Brief noch niemandem außerhalb der Familie gezeigt. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie ihn lesen sollten.“
David nahm den Brief fast widerstrebend aus Mr Santinis Hand entgegen. Als ein Journalist hatte er viele Briefe gelesen, die nicht an ihn adressiert waren. Sie waren ihm als Beweise für etwas überreicht worden, das er in seinen Artikeln untersucht hatte.
Aber dies war anders, es war keine Geschichte, an der er schrieb. David hatte eine vage Vorahnung, dass er sich von dem, was in dem Brief stand, nicht so einfach lösen würde, nachdem er ihn gelesen hatte, und auch nicht von den Menschen, die mit dem Briefschreiber verbunden waren.
Der Umschlag zeigte sichtbare Spuren davon, dass Mr Santini den Brief schon lange mit sich herumgetragen und immer und immer wieder gelesen hatte. Die Schrift war klar, ordentlich und fast kalligraphisch, die Schrift eines Künstlers. Der Brief begann ganz konventionell:

Liebe Mom, lieber Dad,
wenn ihr dieses lest, dann bin ich entweder tot oder im Gefängnis. Was auch immer die Armee euch darüber sagen wird, wird falsch sein. Vielleicht werden sie euch überhaupt nichts sagen, oder sie werden euch gegenüber behaupten, dass ich im Kampf gefallen bin, oder vielleicht sogar, dass ich ein Verräter sei, der größte Dreckskerl, den es gibt.
Was auch immer sie über mich sagen oder von mir denken, es ist mir egal. Aber ich möchte, dass ihr die Wahrheit kennt.
Das, was ich heute Nacht tun werde, ist das einzige, was ich tun kann. Anders könnte ich mit mir selbst nicht mehr leben. Was immer mit mir geschieht, ihr könnt sicher sein, dass es besser sein wird, als wenn ich anders gehandelt hätte.
Bevor ich hier her gekommen bin, da dachte ich, ich wüsste, was Krieg bedeutet. Ich hatte so viele Kriegsspiele gespielt. Ich weiß, Mom, dass du gegen diese Spiele warst, aber ich war verrückt nach ihnen.
Als sie mir geschrieben haben, dass ich der perfekte Soldat sein würde, da habe ich ihnen geglaubt, denn ich war ja so gut in diesen Spielen.
Aber digitales Blut ist nicht real, auch wenn es real aussieht. In einer digitalen Welt, da ist der Feind klar. Er ist böse. Er ist männlich, und er hat keine Frau und keine Kinder. Er fühlt keinen Schmerz, und er weint nicht. Und wenn er tot ist, da ist da kein Verlust. Und wenn du selbst in einer digitalen Welt getötet wirst, dann rebootest du einfach das Programm.
Aber es gibt keine Reboots in der realen Welt, und wer getötet wird, der bleibt tot.
Wir haben vier aus unserer Einheit, unsere Kameraden, im letzten Jahr sterben sehen, und zwei wurden so schwer verletzt, dass sie sich nie wieder erholen werden. Wir haben den Feind gehasst, der uns das angetan hat. Und wir haben ihn überall gesehen. Aber der Feind war nicht klar.
Vor einer Woche wurden wir zu einem abgelegenen Dorf geschickt, um dort nach Waffen und Talibankämpfern zu suchen.
Was wir dann den Menschen in diesem Dorf angetan haben, war unaussprechlich, unverzeihlich böse. Ich konnte das nicht gleich erkennen. Alles, was uns angetan wurde, unsere Toten, unsere Verletzten, die haben unseren Geist gefüllt, als wir in das Dorf eindrangen, um zu tun, was uns befohlen worden war, auf eine Weise, die über unsere Befehle hinausging.
Als die Menschen im Dorf sich wehrten, da war das, was wir dann taten sogar noch schlimmer.
Am Ende haben wir niemanden am Leben gelassen, außer einem. Wir fanden ihn, einen Jungen von elf oder zwölf Jahren, wie er wahnsinnig vor Verzweiflung zwischen den Leichen hin- und herlief und gequält wimmerte, ein Wimmern, das immer wieder zu durchdringendem Schreien wurde.
Wir haben ihn mitgenommen, und ich dachte, wir würden ihn einfach in irgendeinem Dorf abladen oder vielleicht in einem Waisenhaus.
Aber weil wir nicht gefunden hatten, was wir suchten, da haben unsere Vorgesetzten beschlossen, den Jungen zu einem feindlichen Kämpfer zu erklären, und ihn auf die Bagram Militärstation zu überführen, wo er verhört werden sollte.
Ich bin dort gewesen.
Ich weiß, was sie mit den Gefangenen in Bagram machen, mit den Männern und den Frauen, und sogar mit den Kindern, und was dann am Ende aus ihnen wird. Der Junge würde dort nicht überleben... niemals!
Ihr fragt euch vielleicht, was für einen Unterschied das jetzt noch macht, nach so vielen Toten, so vielen Opfern... noch ein Junge mehr, warum sollte es mir nicht egal sein.
Aber es ist mir nicht egal, für mich macht es einen Unterschied. Ja, ich weiß, dass einen Jungen zu beschützen, nicht all die zurückbringt, die getötet wurden. Es ist auch keine Wiedergutmachung für das, was wir getan haben...
Und doch bedeutet Leben oder Tod dieses einen Jungen, Leben oder Tod meiner Seele.
Morgen wird der Junge mit einem Gefangenen-Transport weggebracht. Heute Nacht bin ich zur Wache eingeteilt, und ich werde tun, was ich tun muss.
Mom, Dad, bitte versteht. Vergebt mir für das Leid, das ich euch bereiten werde.
All meine Liebe sende ich euch und Gina,
euer Sohn Marco”
David reichte Mr Santini den Brief zurück. Er war tief berührt
Wissen Sie, was geschehen ist“, fragte David.
Mr. Santini nickte: „Jack hat es mir erzählt, als er mir den Brief brachte. Marco hat den Jungen befreit, während er ihn eigentlich bewachen sollte. Er ist mit ihm in einem Armeewagen geflohen. Aber ihre Abwesenheit wurde schnell bemerkt.
Nachdem die beiden den Wagen, wegen irgendwelcher Probleme zurücklassen mussten, wurde ihre Spur bis zu einem verlassenen Haus hin verfolgt. Als sie Marco befahlen, sich zu ergeben, weigerte er sich und drohte das Feuer zu eröffnen. Nach einer Stunde stürmten sie das Haus. Marco wurde in diesem Kampf erschossen, aber keiner seiner Verfolger wurde von irgendwelchen Kugeln getroffen, offensichtlich, weil Marco auch niemanden treffen wollte.“
Was ist mit dem Jungen geschehen“, fragte David.
Er war verschwunden. Er war gar nie in diesem Haus gewesen. Marco hatte die ganze Belagerung nur provoziert, um dem Jungen Zeit zu geben, wegzulaufen und sich zu verstecken. Und das hat der Junge getan, und sie haben ihn nie gefunden.“
In diesem Augenblick kam Gina mit dem Nudelgericht. Sie sah, wie ihr Vater den Brief in der Hand hielt, stirnrunzelnd schaute sie von ihm zu David und zurück. Es war ihr offensichtlich gar nicht Recht, dass der Brief einem Fremden gezeigt wurde.
Aber Mr Santini sagte nichts dazu, stattdessen klagte er: „Gina, du bist immer noch hier. Es ist schon so spät, und du musst dich wirklich ausruhen. Morgen werde ich nach einer neuen Kellnerin für die Abendschicht inserieren. Für dich ist es genug, wenn du nur die ganze Büroarbeit und die Finanzen für uns machst.“
In Ordnung, Dad“, lenkte Gina ein. „Aber mach das für die Mittags- und Nachmittagsschicht. Lucia möchte zur Abendschicht wechseln, weil sie dort mehr an Trinkgeldern machen kann.“
Kannst du dann morgen früh die Zeitung anrufen, dass sie eine Stellen-Anzeige für uns reinsetzen“, fragte ihr Vater.
Klar, mach ich Dad“, antwortete Gina. „Oh, und Carlos lässt dir ausrichten, dass sie die Küche in einer halben Stunde schließen wollen. Sie haben schon angefangen aufzuräumen. Ist das in Ordnung?“
Sicherlich, heute Abend ist nicht viel los, und Reservierungen haben wir auch keine. Am Wochenende wird mehr los sein. Aber Gina, bitte nun!“
Ja, ja, ich geh ja schon nach oben...Gute Nacht, Dad!“
Gute Nacht, Liebes!“ Mr Santini hatte seine Tochter erfolgreich abgelenkt, so dass sie vergaß nach dem Brief zu fragen.
Nachdem diese gegangen war, wandte er sich wieder David zu: „Aber jetzt müssen Sie essen, Mr Ragnarsson. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, gleichgültig wie sehr wir uns das auch wünschen. Und auch ganz egal, was geschehen ist, wir müssen immer noch essen.“
David nickte und sah sich seine Nudeln an. Er biss erst einmal von dem Knoblauchtoast, bevor er anfing sich die Nudeln um die Gabel zu wickeln.
Als Mr Santini zur Küche hinausgegangen war, sah David fragend zu Hope hinüber. Schon eine ganze Zeit lang hatte er die schon vertraute Welle von tiefem Schmerz von ihr ausgehen gespürt. Das Schicksal von Marco Santini hatte Hope sogar noch mehr berührt als David. Und wieder einmal verschloss sie ihre Gedanken vor ihm.
David wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Es war eine schreckliche Geschichte gewesen. Er war froh, dass der Brief nicht noch mehr Einzelheiten enthalten hatte. Er versuchte nun, sich auf sein Essen zu konzentrieren, in der Hoffnung, dass er mit einem vollen Magen, vielleicht eine Idee bekommen würde, wie er Hope aufheitern konnte.
Er konnte sich selbst aber nicht davon abhalten, immer wieder zu ihr hinzusehen, zu ihrem blassen Gesicht und den abgewandten Augen. Irgendetwas beschäftigte sie, etwas das außerhalb der Ereignisse von David's Zeit lag, etwas aus ihrer eigenen Zeit. David wünschte sie würde ihn nicht ständig ausschließen. Wenn sie nur mit ihm reden würde, vielleicht könnte er ihr dann helfen.
Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, bat David den nun stillen Mr Santini um die Rechnung. Und nachdem diese bezahlt worden war, fragte Mr. Santini noch einmal: „Werden Sie darüber nachdenken und mit meinem Freund Jack über diesen Job sprechen?“
Das werde ich“, versprach David.
Mr Santini gab David seine Karte und sagte: „Wenn Sie mich morgen anrufen, dann habe ich ein Treffen arrangiert.“
Vielen Dank, Mr Santini“, antwortete David und fügte hinzu: „Bitte richten Sie Ihrem Schwiegersohn aus, dass mir das Essen sehr gut geschmeckt hat.“
David und eine sehr betrübte Hope verließen nun das 'Bella Italia' und gingen langsam am St. Francis Park entlang. David wusste, dass Hope beinahe bereit war, sich ihm anzuvertrauen, ihm etwas zu erzählen, das sehr wichtig für sie war. Und sonderbarerweise war sich David ziemlich sicher, dass es etwas mit dem Brief von Mr Santinis Sohn zu tun hatte.

***

Wieder einmal sitzen wir im Stau fest, ganz langsam bewegen wir uns an einem Kino vorbei, in dem gerade wieder einmal so ein 200 Jahre alter Film gezeigt wird.
'Wie wir die Welt gerettet haben' tönt es von der Plakatwand herunter, auf der fünf, bis zu den Zähnen bewaffnete, Männer vor einer Berglandschaft zu sehen sind
Mein Vater und seine Eliten-Freunde bereiten Nephilim City ganz offensichtlich auf einen Krieg vor. Ich habe seit Jahren keinen einzigen Film mehr gesehen, der nicht irgendeinen bewaffneten Kampf gegen irgendeinen Feind porträtiert hat.
Ich will mir dies Plakat nicht mehr ansehen, aber dann wird mein Blick fast gegen meinen Willen von der Landschaft hinter den Kämpfern angezogen. Und plötzlich erinnere ich mich daran, wo ich genau diese Berge schon einmal gesehen habe.
Das war ein ungewöhnlicher Tag gewesen. Mein Vater hatte mit mir gefrühstückt. Wir aßen meinen Geburtstagskuchen zusammen, Mr Tanner, mein Vater und ich. Ich war jetzt 8 Jahre alt.
Als mein Vater den Raum verlassen hatte, zog Mr Tanner ein ganz besonderes Geschenk aus seiner Tasche. Es war ein Stück Käse mit Löchern darin. Ich lachte, der sah so lustig aus.
Haben Mäuse diese Löcher gemacht“, fragte ich Mr Tanner.
Nein“, Mr Tanner lachte auch. „Das ist ein ganz besonderes Käserezept von einem ganz besonderen Ort.“
Danach legte er seinen Zeigefinger auf die Lippen, während er etwas anderes aus der Tasche zog. Es war ein sonderbares Gerät, das ein zischendes Geräusch von sich gab.
Das ist ein Verzerrer“, erklärte Mr Tanner. „Wenn man den einmal angeschaltet hat, dann kann kein Mikrofon aufzeichnen, was wir reden. Und dann können wir uns Geheimnisse erzählen.“
Was für Geheimnisse“, fragte ich.
Etwas über den Ort, weit, weit weg von hier, aus dem dieser Käse kommt, zum Beispiel,“ erklärte er.
Ist das ein Ort in der äußeren Welt“, fragte ich.
Mr Tanner nickte.
Mein Vater mag die äußere Welt nicht“, stellte ich fest.
Ich weiß“, sagte Mr Tanner.
Die Leute dort sind sehr, sehr böse“, sagte ich. „Sie hassen uns und sie hassen alle Wissenschaft.“
Das ist das, was dein Vater sagt, ich weiß das“, bestätigte Mr Tanner.
Dann fügte er hinzu: „Der Käse kommt von dem friedlichsten Ort der Welt.“
Woher weißt du das“, fragte ich.
Weil ich viele Male dort gewesen bin, als ich ein Kind war in deinem Alter,“ antwortete er.
Mr Tanner zog nun ein Bild aus seiner Tasche. Es zeigte eine Berglandschaft und darunter in einem Tal eine kleine Gruppe von Häusern.
Dies ist das Heimatdorf meiner Mutter“, erklärte er. „Bevor ich nach Nephilim City gekommen bin, habe ich jeden Sommer dort verbracht. Für mich ist dies der schönste Ort der Welt, meinst du nicht auch?“
Ich sah mir das Bild eine Zeit lang genau an. Ich hatte nie zuvor Berge und Dörfer wie diese auf dem Bild gesehen.
Der Ort ist in der äußeren Welt, wo die bösen Leute leben, wie kann er da schön sein“, sagte ich schließlich.
Mr Tanner steckte das Bild wieder in seine Tasche zurück.
Willst du wieder zu diesem Ort gehen“, fragte ich. Das Bild hatte mir Angst gemacht.
Ich würde alles darum geben, wenn ich das Dorf meiner Mutter wiedersehen könnte, und die Menschen dort, meine Eltern und meine Großeltern.“ Mr Tanners normalerweise so ruhige Stimme hörte sich traurig an.
Aber warum kannst du das nicht, Mr Tanner“, fragte ich, war aber doch innerlich erleichtert.
Du weißt warum die meisten Leute hier in Nephilim City sind, Jonathan, nicht wahr,“ fragte er zurück.
Weil die bösen Leute aus der äußeren Welt sie weggeschickt haben“, sagte ich.
Mr Tanner schüttelte ganz langsam den Kopf: „Es stimmt, ich wurde weggeschickt. Aber ich war es, der etwas Böses getan hat.“
Was hast du getan, Mr Tanner“fragte ich
Ich habe jemanden umgebracht,“sagte er.
Ich sah Mr Tanner an. Er war so ein alter Mann. Es schien merkwürdig, sich vorzustellen, dass er jemals etwas Gewalttätiges tun könnte.
Warum“, fragte ich.
Weil ich meinem Zorn erlaubt hatte, die Kontrolle über mich zu erlangen. Das darfst du niemals tun, Jonathan,“ sagte Mr Tanner in dringlichem Ton.
Warum warst du so zornig“, fragte ich.
Mr Tanner war nun wieder zu seinem ganz normalen ruhigen Selbst geworden: „Da war ein Mann, der hat jemanden, den ich sehr geliebt habe, schwer verletzt. Er hat ihr große Schmerzen zugefügt. Ich habe es herausgefunden, und dann wurde ich unkontrollierbar wütend, und so habe ich den Mann getötet.“
Er hatte es verdient“, stellte ich fest.
Nein“, widersprach Mr Tanner, „was ich getan habe, war falsch.“
Wir saßen eine Zeit lang ganz still da. Am Ende fragte ich: „Du wolltest nicht nach Nephilim City kommen, nicht wahr, Mr Tanner?“
Das stimmt“, antwortete Mr Tanner. „Aber ich bin froh, dass ich genau jetzt hier bin. Ich bin froh, dass ich dein Lehrer bin.“
Erleichtert atmete ich auf. „Ich werde meinem Vater nicht vom Dorf deiner Mutter erzählen, Mr Tanner. Ich denke, er würde es nicht mögen.“
Danke, Jonathan“, sagte Mr Tanner.
Und ich habe meinem Vater nie davon erzählt. Und auch nichts von irgendeinem anderen Thema, über das Mr Tanner und ich sprachen, wenn der Verzerrer eingeschaltet war.





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