Teil 5
Unser Wagen fährt jetzt an dem roten Neon-Schild vorbei, das
Reklame für den 'Dalek Club' um die Ecke macht.
Dieses Schild hat keinerlei Bedeutung für meine Begleiter, den
Professor, Mr Wang, Ms Alba und Darryl, die alle still die Straße
mit grauen, eintönigen Häusern beobachten, den dichten Verkehr und
die wenigen Menschen, die dort entlang gehen.
Wie sollte es auch etwas für sie bedeuten...?
Aber ich erinnere mich nur zu gut an diesen ganz bestimmten Club-
an den sinnlosen Lärm, das Geschrei und den übelerregenden
Wahnsinn des absolut Bösen-
und in Mitten all dessen mein Vater, John Galt...
***
Wunder?... Da war es schon wieder – die religiöse Seite.
David fühlte sich in eine noch tiefere Traurigkeit sinken. Hope
hatte behauptet, dass David's Welt, die Welt seiner Zeit, durch ein
Wunder verändert werden würde. Und das konnte nur eines bedeuten:
Hope's Welt war nicht real... sie konnte es einfach nicht sein.
Und Hope selbst, das kleine Mädchen, das er so genau vor sich sah,
und für das er bereits eine so große Zuneigung empfand, sie war
nichts anderes als eine Illusion.
So etwas wie Wunder gab es nicht, das wusste David mit absoluter
Sicherheit.
Es gab nur Logik. Selbst in diesen wahnsinnigen Thesen, die er von Ed
gehört hatte, gab es eine gewisse Logik, falsche Ideen sicherlich
und unmoralische Schlüsse auch, aber doch eine Art Logik...
„Es
war ein Wunder“, unterbrach Hope David's Gedankenstrom mit sanfter
Stimme und ohne den leisesten Vorwurf, dass er gerade sogar an ihrer
eigenen Existenz zweifelte, „dass du genau an dem Ort warst, wo du
durch dein Schreiben 3000 Menschen davor bewahrt hast, getötet zu
werden.“
„Ich
habe diese Menschen nicht wirklich vor dem Tod bewahrt“, David
spürte eine leichte Verwirrung. Er hatte die Sache eigentlich nie so
gesehen. „Ich habe nicht... oder vielleicht doch... ich weiß
nicht, jedenfalls war es kein Wunder. Der Informant kam zu mir, weil
er einen meiner Artikel über bestimmte unethische
Rekrutierungs-Praktiken der Armee gelesen hatte...“
Hope schüttelte leicht den Kopf und fragte sanft: „Haben alle
Leute diesen Artikel gelesen?“
„Nein,
eigentlich nicht“, verneinte David nachdenklich. Tatsächlich hatte
er diesen bestimmten Artikel nicht für seine eigene Zeitung
geschrieben, sondern für ein kleines Magazin, das zwar demselben
Verlag gehörte, aber doch eine viel kleinere Auflage hatte.
„Dann
war es doch ein Wunder, dass dieser Informant deinen Artikel gelesen
hat“, behauptete Hope, „und dass er dir vertraut hat, und dass er
überhaupt genau dort war an diesem Ort. Obwohl er doch anfangs an so
einem teuflischen Plan beteiligt gewesen war, hat er dann irgendwann
sein Gewissen wieder gefunden und seine Meinung geändert. Wenn dein
Freund Ed dort gewesen wäre, der hätte das nicht getan... das
stimmt doch, oder?“
David nickte traurig: „Du hast ihn gehört. Ed hätte
wahrscheinlich seine Meinung nicht geändert.“
„Und
vor kurzer Zeit“, erinnerte Hope David, „da hast du selbst
gedacht, dass niemand irgendetwas Gutes tut, ohne dass er davon
selbst profitiert.
Was für einen Nutzen hatte dein Informant davon, dass er dir die
Wahrheit gesagt hat?“
„Keinen“,
musste David zugeben. „Er ist plötzlich verschwunden. Ich hoffe
immer noch, dass es ihm gut geht, aber ich bezweifle es.“
„Und
er hat doch bestimmt gewusst, dass es gefährlich war, mit dir zu
sprechen“, fragte Hope, und als David nickte, fuhr sie fort: „Und
trotzdem hat er es getan. Das war ein Wunder des Herzens. Und du
hattest doch auch keinen persönlichen Gewinn davon... du hast deinen
Job verloren.
Und du wusstest auch schon vorher, dass dich die Sache in
Schwierigkeiten bringen würde, stimmt's?“
Wieder nickte David und sie brachte ihre Argumentation zu Ende: „Und
trotzdem hast du das Richtige getan, genau wie dein Informant. War
das denn nicht auch ein Wunder? Es gab ein Wunder in dir drin.“
„Wenn
du das ein Wunder nennen möchtest, meinetwegen“, David zuckte mit
den Schultern. „Ich habe einfach nur meinen Job als Journalist
gemacht. Immerhin war das doch eine richtig gute Geschichte... Und
was für einen Unterschied macht das Ganze überhaupt? Diese Planer
werden einfach einen neuen Plan entwickeln und ein paar andere
Menschen umbringen. Abiffsen ist immer noch da, genau wie seine
Spezialeinheit, die kann man nicht stoppen.“
„Vielleicht
wird es ein anderes Wunder geben“, schlug Hope vor. „Und dann
wird jemand anders da sein, um die nächsten potentiellen Opfer zu
retten.
Und Onkel David, ich habe nicht gesagt, dass es ein einziges Wunder
war, das deine Welt verändert hat. In Wirklichkeit waren es bestimmt
tausend mal eine Million Wunder, die dafür nötig waren, um Herzen
aus Stein in lebendige Herzen aus Fleisch und Blut zu verwandeln.“
„So
wie das Herz von Ed“, fragte David sarkastisch. „Du hast ihn doch
gehört. Den konnte man von überhaupt nichts überzeugen. Er hat mir
ja nicht einmal die Zeit gelassen meine oder eher noch deine
Argumente vorzubringen. Und selbst wenn, dann hätte es nicht den
geringsten Unterschied gemacht. Und ich glaube nicht, dass Ed so
anders ist als alle anderen. Ich wünschte, er wäre es...
„Nein,
ich habe denselben Ausdruck, den ich in Ed's Augen gesehen habe, auch
in denen von so vielen anderen Leuten gesehen, immer dann, wenn ich
über etwas geredet habe, das ihrem Weltbild widersprach. Es war als
ob Jalousien hinter ihren Augen heruntergelassen würden. Da gibt es
kein 'Wahrheitslicht', das da hindurch dringen kann. Wenn diese
Jalousien einmal unten sind, dann ist der Geist verschlossen, wie
ein Safe.“
„Ich
weiß“, stimmte Hope ihm zu. „Einfache Worte können die
kognitive Dissonanz nicht überwinden. Was man braucht ist...“
„Ich
weiß, ich weiß“, unterbrach David. „Man braucht ein Wunder...
Aber weißt du, Hope, all diese Dinge, die du mir gezeigt hast, und
von denen du mir erzählt hast, das, was du in der Schule gelernt
hast oder von deinem Großonkel, das widerspricht all dem, was ich
gelernt habe, was uns allen hier beigebracht wurde und das seit so
langer Zeit... Und du sagst mir, dass trotz alle dem, die Menschen
ganz plötzlich 'das Licht' sehen werden?
Und sogar diejenigen in den höheren Positionen der Macht, die von
diesem ganzen System profitieren, die werden plötzlich aufhören,
mit dem, was sie tun um ihre eigenen Interessen zu schützen, und sie
werden es zulassen, dass es signifikante Veränderungen gibt? Und all
das wird geschehen, wegen einer göttlichen Intervention?“
Hope nickte: „Die Jalousien, wie du sie nennst, die konnten nicht
allein durch beweiskräftige Argumente geöffnet werden und auch
nicht durch Gewalt. Es war etwas anderes, es war...“
„Ein
Wunder“, beendete David ihren Satz und zuckte mit den Achseln.
„Vielleicht hast du ja sogar Recht. Von dem, was ich den letzten
Monaten gesehen habe, scheint es mir keine vernünftige
Wahrscheinlichkeit zu geben, dass wir Veränderungen zum Besseren
sehen werden. Die bösen Jungs, -dein Großonkel nannte sie 'die
Maroder', nicht wahr- die haben alles fest in ihrer Kontrolle.
Widerstand ist zwecklos, wie die Borg so schön sagten...“
„Die
Borg?“ fragte Hope.
„Nur
so ein paar fiktive Charaktere, nicht wichtig,“ antwortete David.
„Jedenfalls
hassen sich die unterschiedlichen Gruppen, die sich doch eigentlich
gegen die Kriegstreiber stellen wollten, ob sie nun religiös oder
atheistisch sind, links oder rechts, alle zusammen wie die Pest. Und
selbst innerhalb der eigenen Gruppe gehen sich die Leute ständig
gegenseitig an die Gurgel. Nirgendwo scheint es eine echte
Kooperation für gemeinsame Aufgaben und Ziele zu geben.
Manche Leute sagen, die wurden alle von Agenten infiltriert, und dass
allein sei der Grund, warum sie sich konstant selbst über auch nur
die geringsten Meinungsverschiedenheiten wie Straßenköter
zerfleischen.
Wenn nämlich die Machteliten etwas wirklich gut können, dann ist es
das Spiel von 'Teile und Herrsche'. Und sie gewinnen jedes einzelne
Mal.
Und was dein 'Wahrheitslicht' angeht, da gibt es eine so-genannte
'Wahrheitsbewegung'. Das sind Leute, die zwar das Spiel durchschauen,
aber dann persönlich so paranoid werden, dass sie das letzte Mal,
als ich nachgeschaut habe, Listen im Internet haben kursieren lassen,
in denen sie alle anderen innerhalb ihrer Bewegung als
Regierungsagenten diffamierten.
Ich weiß nicht wie viele es von diesen Listen gibt, aber die sind
meist so lang, dass es mir scheint, als ob der einzige, der auf einer
bestimmten Liste nicht drauf ist, derjenige ist der sie geschrieben
hat.
'Die Wahrheit wird dich frei machen', heißt es irgendwo. Es ist eher
so, als ob die Wahrheit paranoid macht.
Und jetzt kommen wir dann zurück zur einzigen Möglichkeit für eine
bessere Welt“, lamentierte David frustriert, „ein göttliches
Wunder. Schade nur, dass es Wunder in der Realität nicht gibt.“
„Doch
gibt es die“, bestand Hope auf ihrem Glauben, „die ganze Zeit.“
„Du
meinst wohl das Wunder eines Weltkriegs“, fragte David zynisch,
wobei er seine Stimme anhob, „wo die Welt zerstört wird, damit man
dann eine neue bauen kann?“
David tat sein Ausbruch sofort wieder Leid, nicht nur Hope's wegen,
sondern auch wegen der Japaner am nächsten Tisch. Die hatten
inzwischen den merkwürdigen Mann bemerkt, der in unfreundlicher
Stimme mit sich selbst sprach, und beschlossen dann
vernünftigerweise, sich zurückzuziehen und irgendwo in der Stadt
einen sichereren Ort zu suchen.
„Gibt
es keine Wunder, weil es keinen Gott gibt“, fragte Hope und deutete
dann auf sich selbst, „genau wie es keine Hope gibt?“
„Tut
mir Leid, Hope, so habe ich es nicht gemeint“, entschuldigte sich
David. „Es fällt mir einfach nur so schwer, etwas zu akzeptieren,
was ich nicht erklären kann. Und dann werde ich auch immer fragen,
warum ein Gott, der Wunder wirken kann, all dies überhaupt zulassen
konnte: Menschen werden in einem Krieg nach dem anderen
abgeschlachtet, immer und immer wieder, manchmal Millionen von
Menschen...“
„Ich
weiß nicht, warum die Unschuldigen für die bösen Taten der
Schuldigen leiden müssen“, erwiderte Hope traurig. „Ich weiß es
einfach nicht.“
David erkannte, dass sie jetzt an ihren Vater dachte, und er bereute
seine harten Worte von zuvor, während Hope weitersprach: „Ich
wurde gelehrt, dass der Tod nicht das Ende ist, und dass
Gerechtigkeit über dieses Leben hinausreicht, und dass selbst das
schlimmste Leid einmal in der Ewigkeit einen Sinn ergeben wird. Aber
ich weiß, dass dir diese Antworten nicht ausreichen, und sie dich
auch nicht trösten, Onkel David, stimmt's?“
David musste nicht antworten, Hope kannte seine Gedanken, und so fuhr
sie fort: „Alles, was ich weiß ist, dass die Kriegstreiber am Ende
gestoppt wurden. Und es waren Wunder, die das bewirkten und kein
Weltkrieg. Denn Krieg mit Krieg und Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen
hätte nicht funktioniert.
Die Mächtigen in den Dunklen Zeiten kontrollierten riesige Armeen,
mit Waffen so destruktiv, dass sie das Potential hatten, alles Leben
auf der Erde zu zerstören.
Sie haben viele Kriege geführt in deiner Zeit, das weißt du doch,
Onkel David, sogar zwei Weltkriege. Und jeder in meiner Zeit weiß,
dass die Menschheit sehr nahe an einem weiteren Weltkrieg war, indem
genau diese furchtbaren Waffen verwendet worden wären. Und alle
Leute wissen auch, dass dies vermutlich das Ende der Menschheit
bedeutet hätte.“
„Du
hast Recht, Hope, vielleicht sind wir wirklich am Rande der
endgültigen Selbstzerstörung“, stimmte David ihr mit trauriger
Stimme zu. „Es gibt eine Menge Leute, die sagen, dass nur ein
Massenaufstand und eine neue blutige Revolution uns vor dieser
endgültigen Katastrophe bewahren könnte.“
Hope schüttelte den Kopf: „Das hätte auch nicht funktioniert.
Denn außer den Kriegsarmeen hatten die Mächtigen deiner Zeit auch
noch riesige Armeen von Sicherheitskräften zur Verfügung, die sie
gegen die eigene Bevölkerung richten konnten. Und die hatten auch
alle möglichen fürchterlichen Waffen, die sie gegen diejenigen
benutzen konnten, die gegen die Macht dieser Mächtigen rebellierten.
Einzelnen, die gefangen gehalten wurden, wurden furchtbare Schmerzen
und Erniedrigungen angetan. Und diejenigen, die sich in
Protestmärschen gegen die Mächtigen stellten, wurden mit
Massen-Kontroll-Waffen niedergemacht. Das waren zum Beispiel
Mikrowellen-Waffen, die auf mehrere Kilometer Entfernung eingesetzt,
tausenden von protestierenden Menschen gleichzeitig Schmerzen zufügen
konnten.
Und trotzdem haben viele mutige Menschen weiter protestiert. Aber sie
haben dabei keine Gewalt eingesetzt. Statt dessen haben sie zusammen
Lieder gesungen, Lieder für Frieden und Wahrheit. Denn sie wussten,
dass jeder Akt von Gewalt von der Seite der Protestierenden den
Sicherheitskräften einen Grund dafür liefern würde, weitere Gewalt
gegen diese Menschen anzuwenden. Und genau deshalb, weil die Menschen
friedlich protestierten und trotzdem so viele von ihnen verletzt
wurden, darum weigerten sich nach und nach immer mehr
Sicherheitskräfte noch mehr Gewalt gegen die protestierenden Leute
auszuüben, statt dessen schlossen sie sich diesen Menschen an.“
Jetzt schüttelte David wieder seinen Kopf: „Das ist unmöglich,
unsere Sicherheitskräfte, genau wie unsere Soldaten auch, sind dafür
ausgebildet Befehlen zu gehorchen, keine Fragen zu stellen -und wenn
es befohlen wird- auch unbewaffnete Menschen zu erschießen. Sie
würden niemals die Seiten wechseln, jedenfalls nicht genug von
ihnen, um einen Unterschied zu machen.“
David seufzte wieder: „Ja, ja ich weiß, das war schon wieder
einmal ein Wunder. Und ja, du hast Recht, nur ein Wunder könnte so
etwas bewirken. Und gerade jetzt würde ich mir wirklich wünschen,
an Wunder glauben zu können“, sagte David fast wehmütig, „aber
das kann ich nun einmal nicht. Da ist einfach zu viel, was absolut
keinen Sinn ergibt. Wenn da ein Gott für alle Menschen existiert,
warum gibt es dann so viele verschiedene Religionen?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr David fort, um zu erklären,
warum das in diesem Zusammenhang so relevant war:
„Als
ich dir von dem 'Teile und Herrsche' Spiel erzählt habe, da habe ich
eine wichtige Sache noch vergessen. Dass es nämlich die häufigste
Methode der Manipulatoren ist, sich auf die religiösen Unterschiede
zwischen bestimmten Gruppen zu konzentrieren, und die Gläubigen dann
als Schachfiguren gegeneinander einzusetzen.
Und das scheint wirklich die einfachste Art zu sein, Menschen dazu zu
bringen einander zu hassen. Du hast gehört wie mein Freund Ed
erklärt hat, dass die Leute, die er 'Freunde von Freunden' nennt,
Salafisten dafür anheuern, um ihre Drecksarbeit zu machen. In diesem
Fall bedeutet dies, dass CIA Spione -und auch Agenten anderer Länder-
fanatische Sunni Muslime ausrüsten und dazu bringen, terroristische
Anschläge gegen Shiitische Muslime oder Christen auszuführen.
Das Ziel ist es, ein Land, dessen Regierung man nicht mag, zu
destabilisieren und die richtige Atmosphäre für einen Regimewechsel
oder einen Bürgerkrieg zu schaffen.
Und hier in Amerika benutzen dieselben mächtigen Männer, die Ed
seine Freunde nennt, diese Gewalt der salafistischen Organisationen,
die von unseren eigenen Spionage Organisationen selbst geschaffen und
bewaffnet wurden, dazu einen endlosen 'Krieg gegen den Terrorismus'
zu rechtfertigen. Und obendrein muss die Notwendigkeit, uns vor
diesen gefährlichen Terroristen zu schützen, als Begründung dafür
herhalten, immer mehr Bürgerrechte abzubauen, und die Verfassung zu
unterminieren.
Wenn es keine Religionen gäbe, dann wäre zumindest dieses verrückte
Szenario nicht mehr möglich. Wenn ein Gott der Wunder existierte,
dann wäre es doch das mindeste, was er tun könnte, dafür zu
sorgen, dass die Menschen sich nicht mehr gegenseitig in seinem Namen
abschlachten.“
Da lag viel mehr Frustration in David's Worten als der Wunsch Recht
zu haben, und Hope erkannte das.
Und so antwortete sie sanft: „Du hast völlig Recht, es ist
Wahnsinn einander im Namen Gottes zu hassen. Aber es ist auch so,
dass alles, was du mir gerade erzählt hast, darauf hindeutet, dass
es eben nicht die Religion ist, die hinter dem ganzen Wahnsinn
steckt. Stattdessen ist es die Gier nach noch größerer Macht
bestimmter Gruppen von mächtigen Männern. Und religiöse
Unterschiede sind schließlich nicht die einzigen Werkzeuge, die die
Maroder benutzen, um den Rest der Menschheit zu teilen und zu
beherrschen...“
Hope hielt einen Moment inne, dachte nach und biss sich auf die
Lippe. David spürte, dass sie überlegte, ob sie etwas ganz
besonderes Persönliches mit ihm teilen sollte, etwas von dem es ihr
schwer fiel, es in Worte zu fassen. Und so wartete er.
„Ich
hatte auch einmal diese Fragen“, begann sie langsam, „ich meine
über die Unterschiede zwischen den Religionen. Und ich dachte, dass
nur ich Recht hatte, und deshalb alle anderen Unrecht.
Das war vor ein paar Jahren, als ich neun war, und ich fühlte mich
so... ich weiß nicht genau... und das war, als mein Großonkel
gesagt hat...“
Hope zögerte, und dann fragte sie: „Kann ich dir etwas zeigen? Es
ist sonst zu schwer, es zu erklären.“
David nickte: „Klar!“ Er war nur zu bereit, wieder in Hope's Welt
einzutauchen, und dabei seine eigene für eine kurze Zeit zu
vergessen. Trotzdem sah er noch schnell zum nächsten Tisch hinüber,
wo der Junge, der gerade den Tisch abräumte, ihn neugierig beäugte.
Dies war schließlich ein Fastfood-Restaurant, und David hatte die
sichere Vermutung, dass das bedeutete, dass man schnell essen sollte.
David umschloss seinen leeren Becher mit festem Griff als Zeichen
dafür, dass er noch nicht fertig war und deshalb noch sitzen bleiben
würde. Er schloss die Augen, und die Bilder aus Hope's Vergangenheit
durchfluteten seinen Geist.
Er sah eine jüngere Hope, die auf einem Balkon ihres Wohnungsblocks
stand, obwohl er sie kaum wiedererkannte. Denn diese Hope schien so
völlig anders zu sein, als das kleine Mädchen, das er aus früheren
Flashbacks kannte.
Ihr Gesicht erinnerte ihn an jemanden, den er vor kurzem gesehen
hatte. Er rätselte ein paar Sekunden, wer das sein konnte, und
erkannte dann: Natürlich, es war sein eigenes Gesicht im Spiegel
heut morgen. Wie er hatte die kleine Hope tiefe Schatten unter ihren
Augen, und ihre Wangen waren eingefallen, als hätte sie schon für
einige Zeit weder genug Schlaf noch Nahrung bekommen.
Obwohl ihr Körper und ihre Kleidung die des kleinen Mädchens waren,
an das er sich erinnerte, war das Gesicht das einer verbitterten
alten Frau. Ihre Lippen waren zusammen gepresst und ihre Fäuste
zorngeballt. Es war nicht die Art von Ärger, den David früher in
ihr gespürt hatte, ein Gefühl, das schnell ansetzte und sich dann
in kurzer Zeit in nichts auflöste. Nein, dies war eine anhaltende
Wut, die nicht nur die Hände zu Fäusten formte, sondern Körper und
Geist als Ganzes in sich verknotete. Sie gab das Bild einer Person
ab, die aus ihrem tiefsten Inneren alles und jeden ablehnte.
Hope war nicht allein. Nicht weit von ihr saß eine junge Frau, deren
Körper fast völlig in eine Decke gehüllt war, in einem Sessel.
Neben dem Sessel stand ein leerer Schemel. David nahm an, dass dies
Tabitha war, das behinderte Mädchen, das Hope früher schon einmal
erwähnt hatte.
Tabitha hatte die Augen geschlossen. Plötzlich öffneten sich ihre
Lider, und sie sah Hope direkt an. Sie machte eine leichte Bewegung
mit der einen Hand, die auf der Decke lag, als ob sie Hope einlud,
näher zu kommen und sich neben sie zu setzen. Hope jedoch wandte
ihre Augen ab. Sie war noch nicht bereit, sich hinzusetzen.
In diesem Moment waren leichtgewichtige Schritte zu hören, die sich
schnell näherten. Jemand rannte den Balkon entlang und eine helle
Stimme rief: „Salaam, Hope!“
Es war Ameenah, Hope's Freundin, die sofort begann überzusprudeln:
„Ich hab dich so lange nicht mehr gesehen. Du bist nicht in der
Schule gewesen und ich hab dich so vermisst. Und meine Mama hat
gesagt, dass du krank bist und keinen Besuch haben willst und...“
Ameenah hielt für einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen.
Währenddessen nahm sie die Gelegenheit wahr, ihre Freundin genauer
zu betrachten.
„Du
siehst wirklich krank aus“, stellte sie fest und fragte dann
mitfühlend: „Geht es dir jetzt ein bisschen besser?“
Hope gab einen unbestimmten Laut von sich, der ja oder nein bedeuten
konnte. Jetzt war ein vorsichtiges Zögern in Ameenah's Stimme zu
hören, während sie versuchte die richtigen Worte zu finden: „Ich
habe von deinem Papa gehört... Und das tut mir so schrecklich leid,
dass er gestorben ist...“
Der Laut, den Hope jetzt hervorwürgte, war noch unverständlicher
und ganz offensichtlich nicht freundlich.
Ameenah spürte die Ablehnung. Tränen schossen ihr in die Augen,
trotzdem wollte sie noch nicht aufgeben: „Vielleicht können wir
heute Nachmittag in den Wald gehen, in unsere geheime Höhle. Ich
habe noch eine andere Decke und zwei neue Kissen bekommen. Und ich
habe auch schon einen Platz gefunden, wo ganz viele abgesägte Äste
herumliegen, die wir zum Bauen benutzen könnten.
Und schau mal hier, das da hat mein Bruder für mich programmiert!“
Ameenah berührte ihren Armbandkontroller, danach erschien direkt
darüber eine kleine holographische Figur mit Flügeln, die große
Ähnlichkeiten mit Peter Pan's Tinker Bell hatte.
„Sie
leuchtet im Dunkeln“, erklärte Ameenah stolz.
Dann schlug sie vor: „Mein Bruder könnte so eine auch für dich
programmieren. Und dann können wir 'Feen in der Höhle' spielen.“
Jetzt antwortete Hope zum ersten Mal in richtigen Worten: „Ich will
nicht 'Feen in der Höhle' spielen.“
„Dann
spielen wir halt etwas Anderes etwas, was du willst“, bot Ameenah
an, die immer noch nicht aufgeben wollte.
Hope wollte gerade den Kopf schütteln, um abzulehnen, zögerte dann
jedoch, dachte für ein paar Sekunden nach und verlangte dann in
provokativem Ton: „In Ordnung, gehen wir in den Wald, aber nicht
heute Nachmittag, sondern jetzt sofort.“
„Aber
Hope, ich kann doch nicht jetzt gleich gehen“, erwiderte Ameenah,
überrascht von Hope's Forderung. „Du weißt doch, dass ich mit
meiner Familie um 12 Uhr in der Moschee sein muss, zum Freitagsgebet.
Es dauert eine halbe Stunde in den Wald zu gehen und eine halbe
Stunde zurück. Dann würden wir zu spät nach Hause kommen. Und wir
hätten auch gar keine Zeit zum Spielen.“
„Wir
gehen entweder jetzt oder gar nicht,“ verlangte Hope in hartem Ton
und zischte dann: „Warum musst du überhaupt zum Beten gehen in
deiner falschen Religion? Mit deinem falschen Propheten und all
diesen falschen Sachen, an die deine Leute glauben?“
Ameenah riss entsetzt Augen und Mund auf. Sie war erst mal völlig
sprachlos. Einen Moment später flüsterte sie: „Hope, du bist eine
Regelbrecherin, eine ernsthafte Regelbrecherin. Etwas Schlimmes über
die Religion anderer Leute zu sagen, ist ganz schrecklich falsch...“
„Es
ist überhaupt nicht falsch, die Wahrheit zu sagen“, Hope's Stimme
klang nun laut und zornig: „Es ist mir egal, ob ich eine
Regelbrecherin bin. Ich kenne die ganzen Unterschiede zwischen der
christlichen und der islamischen Religion. Und wenn es so viele
Unterschiede gibt, dann muss deine Religion falsch sein, das ist doch
völlig logisch. Und deshalb kannst du entweder hingehen und in
deiner falschen Religion beten, oder du kommst mit mir!“
David, der dieses Gespräch mit fast ebenso großem Erstaunen wie die
kleine Ameenah beobachtet hatte, erkannte nun, dass etwas Ernsthaftes
mit Hope nicht stimmte. Diese boshafte kleine Hexe war nicht die
Hope, die er kannte. Auch war sie offensichtlich nicht die Hope, die
Ameenah ihr ganzes Leben gekannt hatte. Allerdings war auch sie
inzwischen wütend geworden.
„Nein“,
stellte sie klar, „du hast Unrecht. Es ist deine Religion, die
fal...“
Ein Laut, der aus der Richtung des Sessels kam, war jetzt zu hören,
und Ameenah bremste sich selbst ab. Tabitha's Augen waren weit offen.
Sie sah die beiden kleinen Mädchen direkt an. Ameenah sah beschämt
aus.
„Warum
redest du so, wo doch Tabitha dich hören kann“, flüsterte sie.
„Es
ist mir egal, wer mich hört, wenn ich die Wahrheit sage“, zischte
Hope zurück, wandte aber doch ihre Augen ab.
Ameenah hatte jetzt erkannt, dass sie die Situation mit Hope nicht
selbst bewältigen konnte.
„Du
kannst mit mir kommen“, schlug sie vor. „Dann können wir mit dem
Imam sprechen, bevor das Gebet beginnt. Und er kann dir sagen, was
richtig ist“, schlug sie vor.
„Ich
geh nicht zu so einem Imam“, lehnte Hope ab, und wieder bemerkte
David, wie ungewohnt sie redete. „Dein Imam sagt alles nur auf die
islamische Art, und so was würde ich sowieso nicht glauben“,
stellte Hope klar.
Sie zögerte für eine Weile und brachte schließlich eine weitere
Forderung hervor: „Du kannst statt dessen mit mir zu meinem
Großonkel Professor gehen. Der wird dir dann sagen, was richtig
ist.“
Jetzt schlug Ameenah auf die gleiche Weise zurück: „Aber dein
Großonkel ist doch ein christlicher Mönch aus der... der Jesus
Gesellschaft, glaube ich, und der würde alles nur auf die
christliche Weise sagen.“
„Mein
Großonkel gehört zum Orden der Societas Jesu, und er weiß alles“,
prahlte Hope pompös.
Ameenah war nicht überzeugt. Sie dachte eine Sekunde nach und schlug
dann vor: „Vielleicht können wir zusammen zu Sensei gehen.“
„Nein“,
beharrte Hope in ihrer so ungewohnt zischenden Stimme, „wir gehen
zu meinem Großonkel oder zu überhaupt keinem Menschen, und zwar
ganz genau jetzt.“
Ameenah wandte sich ein wenig ab, und doch konnte David in ihrem
Gesicht, wie in einem Buch lesen. Sie war immer noch ein wenig wütend
über Hope's überraschende verbale Attacke und auch schockiert, weil
diese ein striktes Tabu ihrer Gesellschaft gebrochen hatte. Sie
wollte sich auch nicht von Hope zu etwas zwingen lassen, das war doch
nicht fair...
Andererseits hatte sie erkannt, dass irgendetwas heute mit Hope nicht
stimmte, etwas so Ernstes, dass sie, Ameenah, ihr nicht helfen
konnte. Hope brauchte einen Erwachsenen, irgendeinen Erwachsenen...
„In
Ordnung, gehen wir los!“ antwortete Ameenah Hope und begann
entschlossen in Richtung des Aufzugs zu gehen. Hope folgte ihr
schweigend.
Als sie an der Tür des Professor's angekommen waren, drehte Ameenah
sich zu Hope, doch die wartete darauf, dass Ameenah die Initiative
ergriff. Also läutete Ameenah die Klingel.
Es dauerte eine Weile, bevor der Professor zur Tür kam. Er schien
beschäftigt gewesen zu sein. Als er aufmachte, sah er seine beiden
jungen Besucher überrascht an.
“Assalamu
aleikum, Professor Morgan” begann Ameenah mit der traditionellen
und formellen Begrüßung, während Hope sich wieder auf ihr
vorheriges Gemurmel zurückgezogen hatte.
“Wa
aleikum assalam, kleine Ameenah und Hope”, erwiderte der Professor
ebenso formell. “Was kann ich für euch tun?“
Ameenah sah Hope an, weil sie erwartete, dass diese sich erklären
würde. Immerhin war ja der Professor Hope's Großonkel und nicht
ihrer. Und außerdem war Hope es gewesen, die verlangt hatte, dass
sie zu ihm gehen sollten. Aber Hope blieb stumm.
Als er keine Antwort bekam, fragte der Professor: „Möchtet ihr
vielleicht hereinkommen?“
„Ja
danke schön“, antwortete Ameenah höflich, und betrat das Büro
des Professor's, wobei sie sich schüchtern und vorsichtig umsah. Sie
war offensichtlich noch nie dort gewesen.
Hope folgte ihr stumm mit gebeugtem Kopf. Die Wohnung des Professor's
sah genau so aus, wie das letzte Mal, als David sie gesehen hatte,
mit den spartanischen Möbeln und der Monitorwand über dem
Schreibtisch, die von Diagrammen und Gleichungen bedeckt war.
Der Professor ging in die Küche, um einen Stuhl zu holen. Danach
holte er aus dem Raum, von dem David wusste, dass es sein Labor war,
einen zweiten Stuhl, bevor er die Tür dazu wieder schloss. Nachdem
er die Kinder aufgefordert hatte, sich hinzusetzen, widerholte er die
Frage: „Also, was kann ich nun für euch beide tun?“
Ameenah sah wieder zu Hope hin. Ihre Freundin hatte jedoch ihre Augen
abgewandt, und so begann Ameenah selbst: „Ich wollte mit Hope
später draußen spielen, aber die hat gesagt, wir sollen da jetzt
sofort hingehen, und ich hab gesagt, ich muss zuerst zum
Freitagsgebet, und sie hat gesagt, ich soll nicht beten, weil meine
Religion falsch ist und der Prophet... und...“
Ameenah hielt eine Sekunde inne und sah den Professor an, dann
flüsterte sie: „Sie sollte so etwas nicht sagen. Es ist...“ Sie
zögerte noch einmal.
Der Professor beendete ihren Satz:...sehr, sehr falsch, ein
schwerwiegender Fall von Regelbruch.“
Er ging hinüber zu Ameenah, wobei er Hope den Rücken zuwandte,
verbeugte er sich leicht und sagte: „Es tut mir zutiefst Leid, was
Hope zu dir gesagt hat, und ich entschuldige mich im Namen ihrer
Familie und aller Christen unserer Hausgemeinschaft, und ich spreche
die Hoffnung aus, dass du diese meine Entschuldigung annehmen
möchtest.“
Er bot der überraschten Ameenah seine Hand an. Als Ameenah zögerte
versprach er: „Hope wird sich auch entschuldigen“ und nach einem
seitwärts Blick auf sie, fügte er hinzu: „wahrscheinlich morgen.“
Hope sagte nichts, aber David spürte wie sie innerlich kochte vor
Wut. Doch zu David's Erstaunen konnte er auch in ihr lesen, dass sie
die Reaktion des Professors in keinster Weise überraschte. Sie hatte
schon vorher gewusst, dass er in dieser Sache nicht auf ihrer Seite
stehen würde.
Warum also war sie dann überhaupt gekommen?
Ameenah ergriff die ausgestreckte Hand des Professor's immer noch
nicht, stattdessen sagte sie schuldbewusst: „Ich hab so halb das
Gleiche zu Hope gesagt... also über... Ihre Religion.“
Der Professor nickte, ohne seine Hand zurückzuziehen erklärte er:
„Das ist genau der Grund, warum das Niedermachen der Religion eines
Nachbarn so eine schwerwiegende Verletzung der Regeln ist. Es führt
zu weiteren verletzenden Worten, und diesen Worten folgen andere
Worte, Wut nach Wut. Das ganze wird dann zu einem Teufelskreis mit
dem Ergebnis von Hass, Gewalt und der Zerstörung des Friedens...
solange der Kreis nicht durchbrochen ist.
Immer noch mit ausgestreckter Hand wiederholte der Professor seine
Frage:
„Willst
du, Ameenah, meine Entschuldigung im Namen aller Christen annehmen,
die die junge Hope eines besseren hätten belehren sollen, und in
diesem Fall völlig versagt haben.“
Ameenah stand von ihrem Stuhl auf. Sie legte ihre kleine Hand in die
große des Professors und sagte feierlich: „Ich nehme ihre
Entschuldigung an, Professor Morgan... und ich entschuldige mich auch
im Namen von... in meinem eigenen Namen.“
„Ich
nehme deine Entschuldung auch an“, erwiderte der Professor ebenso
feierlich und schüttelte ihre Hand noch einmal kräftig, bevor er
sie losließ und sich hinsetzte.
Auch Ameenah setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Der Professor sah
sie erwartungsvoll an und fragte dann: „Möchtest du noch etwas
sagen?“
Ameenah atmete tief und begann dann zu erzählen: „Eigentlich
wollte ich mit Hope zu unserem Imam gehen, damit er ihr das mit den
verschiedenen Religionen erklären kann, aber sie hat das nicht
gewollt. Sie wollte nur zu Ihnen und so...“
„Und
so“, beendete der Professor ihren Satz, „ist es jetzt an mir die
Sache zu erklären... Hmm, lass mich mal nachdenken“, begann er
dann.
Natürlich würde es euer Imam ein wenig anders erklären, und
vermutlich viel besser als ich, genau wie unser Pfarrer es wohl
anders machen würde, aber ich will es mal versuchen...
Du weißt doch, dass ich ein Wissenschaftler bin?“
Als Ameenah nickte, fuhr er fort: „Meine Spezialgebiete sind die
Mathematik und die Physik. Deshalb kann ich für meine Erklärungen
am ehesten die Werkzeuge meiner Wissenschaft nehmen.“
Mit diesen Worten drehte er sich zu seinem Schreibtisch und begann zu
tippen. Plötzlich schlossen sich die Jalousien in seinem Büro, so
dass kein Tageslicht mehr eindringen konnte. Stattdessen war der Raum
von einer Masse von tausenden holographischer Punkten beleuchtet, die
sich langsam unter der schwarzen Decke drehten.
Ameenah schnappte nach Luft, während der Professor weiter erklärte:
„Was
du hier siehst, ist eine Projektion der Milchstraße, unserer eigenen
Galaxie, eine von vielen Galaxien in unserem Universum. Jeder kleine
Punkt, den du hier siehst, repräsentiert eine Sonne, so wie unsere.
Viele dieser Sonnen haben auch Planeten, die sie umkreisen, solche
wie der Mars und die Venus und unsere Erde.“
„Das
ist wunderschön“, bemerkte Ameenah ehrfürchtig, „und es bewegt
sich.“
Der Professor nickte: „Die Milchstraße rotiert um ihr Zentrum
gemäß bestimmter unveränderlicher Gesetze. Seit tausenden von
Jahren haben sich die Menschen gefragt, was diese Gesetze, die das
Universum kontrollieren, wohl sind. Und Wissenschaftler haben
Antworten darauf gegeben. Aber sie mussten auch feststellen, dass aus
jeder Antwort neue Frage erwachsen ist.
Und manchmal mussten die Wissenschaftler sogar zugeben, dass die
Antworten, die sie lange für wahr gehalten hatten, in Wirklichkeit
stark fehlerhaft oder sogar völlig falsch waren.“
„Nur
Allah hat alles Wissen über das Universum,“ bemerkte Ameenah,
„denn er hat es erschaffen.“
„Du
hast Recht, Ameenah“, stimmte ihr der Professor zu, „nur der
allmächtige Schöpfer kennt alle Antworten.
Das hat den Wissenschaftlern zu allen Zeiten allerdings nicht
ausgereicht. Sie wollten ihre eigenen Antworten finden. Und sie waren
nicht nur an der Bewegung der Sterne und der Planeten interessiert.“
Der Professor presste einen Key, und die Projektion der Milchstraße
verschwand, um Raum zu machen für die eines sehr irdischen blauen
Himmels. Darunter lag eine Berglandschaft. Langsam zoomte das Bild
ein, um nur noch einen einzigen Berg zu zeigen. Es zoomte auf einen
Felsen und endlich auf ein Steinchen als Teil des Felsens.
„Sie
wollten wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält.“
Die Projektion zeigte jetzt ein Molekül und war immer noch dabei
weiter hinein zu zoomen.
„Sie
wollten wissen, was das Kleinste aller Teilchen sei. Und zuerst haben
sie sich darauf geeinigt, dass das ein Atom sein müsste. Jedoch
später erkannten sie, dass selbst das kleine Atom in Wahrheit ein
ganzes System noch kleinerer Teilchen enthielt.“
Die Projektion war nun die eines Atomkerns aus Protonen und
Neutronen, der von Elektronen umkreist wurde.
„Am
Ende erkannten die Wissenschaftler, dass selbst die kleinsten
Teilchen noch subatomare Partikel enthielten, die sonderbarerweise
nicht einmal wirkliche Teilchen waren.“
Ameenah schien jetzt ziemlich verwirrt über diese widersprüchliche
Aussage, doch der Professor fuhr fort: „Diese Teilchen hatte weder
Masse noch Energie, sie strahlten weder Licht noch Hitze ab. Sie
waren nur kleine Teilchen von nichts, und doch einem nichts, das
vibrierte, sich irgendwie bewegte, wie nach einer ewigen Melodie, die
wir nicht hören können und nach Gesetzen, die wir nicht verstehen.
Und aus dieser Nichts-Melodie wurde alles komponiert was ist, wie
eine gigantische Symphonie des ganzen Universum.
Denn obwohl sie nichts sind, so haben sie doch Einfluss auf einander
und ihre Umgebung. Sie bewirken etwas, weshalb einige Wissenschaftler
sie auch 'Wirks' nannten, und andere nannten sie Quarks.
Und durch dieses Bewirken bekommt das, was keine Masse hatte, eine
Masse, und was keine Energie hatte, wird zu Energie.
Und die kleinen Partikel von Atomen, die Elektronen genannt werden,
bewegen sich nicht in geraden Bahnen um den Kern, sondern sie
erscheinen und verschwinden hier und da aus ihrer Existenz.“
Die Projektion eines Atomkerns begann nun wieder aufzuleuchten, wobei
glitzerende Punkte um den Kern herum scheinbar völlig unberechenbar
auftauchten und wieder verschwanden.
Der Professor fuhr fort: „Manchmal tauchte dasselbe Teilchen auch
an zwei Orten gleichzeitig auf.
Die Wissenschaftler konnten keine Logik oder Ordnung darin erkennen,
nur eine Art Unschärfe, eine Unlogik. Und doch ist das, was
scheinbar so unverständlich, unordentlich chaotisch zu sein scheint
doch in Wirklichkeit, die Basis für all die wunderbar geordneten
Systeme, auf denen das gesamte Universum aufgebaut ist,
einschließlich aller lebenden und leblosen Dinge darin.“
Die Projektion zoomte aus, bis sie wieder die Landschaft zeigte, dann
die ganze Erde, dann das Sonnensystem und am Ende die Milchstraße
mit all ihren Sternen.
„Und
die Wissenschaftler erkannten, dass wenn der Fokus ihrer Sicht zu eng
auf ein einzelnes Ereignis eingestellt ist, dann ergibt dies oft
überhaupt keinen Sinn, gleichgültig wie konzentriert man dort nach
Antworten zu seinen Fragen sucht. Für die meisten Menschen, seien
sie nun Wissenschaftler oder nicht, kann diese Unfähigkeit
tatsächlich ziemlich frustrierend sein. Wir haben so ein tiefes
Verlangen in uns, zu verstehen, warum Dinge geschehen, wie sie es
tun.“
Obwohl der Professor seine Worte augenscheinlich an Ameenah richtete,
erkannte David doch, dass er eigentlich mehr zu Hope als zu ihrer
Freundin sprach.
„Nur
wenn man die kleinen Ereignisse als Teil eines Ganzen sieht, dann
kann man die Logik erkennen. Und doch müssen alle unsere
Beobachtungen immer noch durch den Filter unseres kleinen
menschlichen Verstands dringen. Und häufig können wir nichts
anderes tun als zuzugeben, dass einige Antworten dort“, der
Professor deutete auf seinen eigenen Kopf, „niemals gefunden werden
können.
Am Ende werden dann sogar die klügsten Wissenschaftler zu der
Erkenntnis gelangen, die unsere kleine Ameenah schon längst hatte.“
Jetzt lächelte Ameenah. Sie war nicht mehr verwirrt, sondern
wiederholte erfreut ihre eigenen Worte: „dass nur Allah, der das
ganze Universum und alles darin erschaffen hat, auch all die
Antworten kennt.“
Der Professor nickte.
„Ich
möchte dir gern ein anderes Bild zu den Unterschieden zwischen den
Religionen zeigen. Es ist nicht die volle Wahrheit, nur ein Bild, um
dir zu helfen, die Realität ein kleines bisschen besser zu
verstehen. Möchtest du es sehen?“
Ameenah nickte gespannt.
Mit einem Tastenschlag projektzierte der Professor eine X- und eine
Y-Achse auf dem Fußboden. Er tippte noch ein paar Mal und mehrere
Punkte innerhalb des Koordinatensystems waren markiert.
„Habt
ihr so etwas schon in der Schule behandelt“, fragte der Professor.
„Klar“,
antwortete Ameenah. „Jeder Punkt hat Koordinatenzahlen, die
anzeigen, wo er zwischen der X und Y-Achse liegt.“
„Und
hast du auch schon gelernt, dass zwei verschiedene Punkte niemals
dieselben Koordinaten haben können“, fragte der Professor weiter.
„Ja“,
Ameenah nickte, „aber nur wenn es ein flaches Koordinatensystem
ist, wie das, was du auf den Boden projektzierst hast. Aber wenn es
eine Z-Achse hat, dann..“ Ameenah begann langsam und betont ihr
Schulwissen zu zitieren, „dann kann eine unendliche Zahl von
Punkten dieselben X und Y Koordinaten haben.
„Du
hast in der Schule gut aufgepasst“, lobte sie der Professor.
„Es
ist die Z-Achse, die so ein Koordinatensystem 3-Dimensional macht.
Und mit nur diesen drei Dimensionen des Raums, kann unsere Realität
auch schon ziemlich realistisch beschrieben werden. Obwohl es da noch
eine andere Dimension gibt, eine die wir jeden Augenblick fühlen
können, und das ist die Zeit. In diesen vier Dimensionen von Raum
und Zeit erfahren wir unsere Welt.
Aber stell dir mal einen ganz anderen Ort vor, eine Welt, die sich
grundlegend von unserer unterscheidet, wo alles nicht mehr
dreidimensional ist, sondern flach, und wo die Leute so aussehen...“
Der Professor produzierte Bilder von kleinen gezeichneten Figuren mit
Augen und Nasen, die aus beiden Seiten ihrer leeren runden Gesichter
hervortraten, während Haarstriche oben herausragten. Er ließ die
Figuren sich auf dem Boden bewegen.
„Die
sehen aber komisch aus“, bemerkte Ameenah.
„Die
würden noch komischer denken und handeln“, erwiderte der
Professor. David bemerkte, dass Hope, obwohl sie alles daransetzte
uninteressiert zu wirken, trotzdem unter ihren halbgeschlossenen
Augenlidern intensiv zusah. Sie war fasziniert.
„Und
jetzt Ameenah“, forderte der Professor sie auf, „steh auf und
stell dich inmitten des Raumes der Flachleute.“
Ameenah stellte sich in die Mitte des Raums, und der Professor ließ
die kleinen Figuren auf dem Bode um sie herumtanzen.
„Die
können dich nicht sehen, weißt du. Alles, was sie sehen, sind die
Linien um deine Füße herum. Diese Linien sind für sie
unüberwindliche Hindernisse, um die sie sich herumbewegen müssen.
Sie können nicht nach oben schauen, um dein Gesicht zu sehen, oder
auch nur, um über deine Schuhe hinweg zu klettern. Für sie gibt es
kein oben.“
Ameenah nickte und kommentierte:“ Die Flachleute haben keine
Z-Achse.“
„Keine
Z-Achse“, stimmte der Professor zu. „Aber hast du schon erkannt,
Ameenah, dass für den allmächtigen Gott, wir auch nichts anderes
sind als Flachleute, obwohl wir eine Z-Achse haben?“
Die meisten Wissenschaftler heutzutage haben sich darauf geeinigt,
dass mindestens eine extra Dimension für den Raum und eine
zusätzliche für die Zeit existiert. In unserem täglichen Leben
erfahren wir die Zeit, wie sie von der Vergangenheit in die Gegenwart
und danach in die Zukunft übergeht.
Mit einer zweiten Zeitdimension würde jeder Moment der Vergangenheit
und jeder Moment der Zukunft gleichzeitig in diesem gegenwärtigen
Augenblick existieren, welcher der einzige ist, den wir Menschen
normalerweise erfahren können.
Jedoch der allmächtige Gott kann alles sehen, was existiert, in
jeder Zeit.
„Und
wegen dieser anderen Zeitdimension haben meine
Wissenschaftlerkollegen und ich entdeckt, dass Zeitreisen unter
bestimmten Umständen möglich sind, zumindest für den menschlichen
Geist. Und das ist das Projekt, an dem wir zurzeit arbeiten.
„Ja,
Hope hat mir davon erzählt“, erklärte Ameenah begeistert. „Da
kann jemand in der Zeit zurückgehen in den Kopf von seinem Bruder
von gestern. Das hört sich so toll an!“
„Ja,
das denken wir auch“, stimmte der Professor ihr zu. Obwohl die
andere Raumdimension sogar noch etwas Großartigeres ist.
Es ist eine Dimension, die wir weder hören, noch sehen, noch
berühren können und deshalb mit unserem Verstand nicht wirklich
begreifen können. Sie geht so weit über unser Denken hinaus, wie es
die dritte Dimension für die Flachleute tut.“
„Diese
andere Dimension, die ist das 'Oben' von Allah“, schlug Ameenah
vor.
Der Professor lächelte „So könntest du sie nennen. Aus der
Perspektive des Allmächtigen da sehen alle Dinge grundsätzlich
anders aus als für uns, denn Gott kann durch alle Dimensionen sehen.
Wenn man nur eine X- und eine Y-Achse hat, dann bedeuten zwei Punkte
mit denselben X/Y Koordinaten einen unmöglichen Widerspruch, wenn du
aber die Z-Achse mit einbeziehst, dann verschwindet der Widerspruch.
Und so sind vielleicht aus der göttlichen Perspektive, die Punkte,
die wir als Widersprüche zwischen unseren Religionen sehen, gar
keine.
Ameenah nickte, sie hatte verstanden: „Wir sind wie die Flachleute,
wir können zu Allah's oben nicht hinaufschauen.“
Der Professor nickte bedächtig: „Das stimmt, wir können es nicht
sehen. Und doch stelle ich mir manchmal unsere spirituelle Existenz
wie einen hohen Berg vor, der genau dort in dieser Dimension liegt,
in Gottes 'Oben'.“
Und wieder änderte der Professor die Projektion. Sie zeigte nun
einen holographischen Berg, von dunklen Gewässern umgeben, direkt in
der Mitte vom Büro des Professors.
Dann fuhr er mit seiner Geschichte fort: „Wir, alle Menschen auf
der Erde, leben auf diesem Berg. Und wir alle müssen ihn erklimmen,
damit wir unser Ziel erreichen, in die Heimat zu gelangen, wo wir
hingehören, zu dem Einen, nach dem wir uns sehnen.
Unser ganzes Leben lang müssen wir hoch klettern, denn wenn wir
still stünden, dann könnten uns die schweren Winde hinuntertreiben,
könnten uns abrutschen lassen, direkt in das Meer der
Trostlosigkeit, das den Berg von allen Seiten umschließt.
Doch der Aufstieg ist oft schwierig und führt manchmal durch eine
harsche Wildnis. Deshalb wurden an verschiedenen Stellen Pfade über
den Berg hinauf gelegt. Diese Pfade wurden für uns durch besondere
Personen erschlossen, die der Allmächtige dazu berufen hat.“
„Durch
die Propheten“, warf Ameenah ein.
Der Professor nickte: „Und für uns Christen besonders durch
Jesus.“
„Haben
Sie gewusst, dass euer Jesus für uns auch ein Prophet ist“, fragte
Ameenah.
Der Professor lächelte: „Ja, das habe ich tatsächlich gewusst.“
Ameenah deutete auf das bestickte Oberteil des Professors. „Aber
wir machen ihn nicht ans Kreuz“, kommentierte sie.
Hope sah auf und sah ihren Großonkel direkt an.
Und zum ersten Mal bemerkte David, dass der bestickte Streifen, den
der Professor auf dem Oberteil seines Anzugs trug, kein abstraktes
Muster zeigte, wie er das bei den meisten anderen Leute aus Hope's
Dorf gesehen hatte.
Stattdessen zeigte er nicht nur ein Kruzifix, sondern eine ganze
Kreuzigungsszene, komplett mit den beiden Verbrechern rechts und
links von dem gekreuzigten Jesus, ebenso wie mit den trauernden unter
dem Kreuz und würfelspielenden Soldaten. An den Rändern waren
Menschengruppen zu sehen, die zusahen, einige mit erhobenen und
geballten Fäusten.
„Ja,
ich weiß“, antwortete der Professor, „unser Weg ist der des
Kreuzes. Und auf diesem Weg lernen wir viel über Gott, aber auch
über uns selbst.“
Ameenah hatte einen zweifelnden Gesichtsausdruck, drehte sich dann
aber zurück zu dem holographischen Berg. Leuchtende Pfade führten
dort durch waldige und felsige Gegenden, die dann den ganzen Weg
hinauf zur Grenze der Wolken führten, die die Spitze des Berges
bedeckten. Kleine Figuren wanderten in Gruppen entlang dieser Pfade.
Es gab aber auch Vereinzelte, die einsam an anderen Orten kletterten.
Der Professor fuhr fort: „Auf unseren Pfaden ist es einfacher zu
gehen, als es dort in den unerschlossenen Gebieten wäre. Dort
müssten wir allein gehen.
Aber solange wir auf unserem Pfad gehen, da sind wir immer in
Gesellschaft anderer Menschen. Sie können uns helfen, wenn wir mal
stolpern und fallen. Wir können uns aneinander festhalten, wenn
harsche Winde zu stark zu werden scheinen, oder wenn wir durch einen
besonders dunklen Streckenabschnitt auf dem Berg wandern müssen.“
Ameenah hatte inzwischen etwas Beunruhigendes an der Projektion
entdeckt: „Führen denn alle Wege zu Allah“, fragte sie. „Der
da dort drüben hinten am Berg, der sieht so krumm aus, als ob der
überhaupt nirgendwo hinführt.“
„Du
hast Recht, Ameenah“, stimmte der Professor ihr zu, „einige Wege
sind nicht gut, sie führen nicht nach oben. Sie führen nirgendwo
hin oder manchmal sogar direkt in das Meer der Trostlosigkeit.“
„Aber
wie weiß ich, ob ich auf einem guten Weg bin oder einem schlechten“,
fragte Ameenah
„Wenn
du auf deinem Weg lernst, freundlicher zu sein und liebevoller
gegenüber deinen Mitmenschen, hilfsbereiter, bereit zu vergeben und
erfüllt von Mitgefühl, dann bist du auf dem richtigen Weg“,
antwortete der Professor, „denn das ist es doch, was der
allmächtige Gott von uns erwartet, stimmt's? Wenn du hingegen
bösartig wirst, hasserfüllt, eifersüchtig und rachedurstig, dann
bist du mit Sicherheit nicht auf dem Weg nach oben.“
Ameenah dachte eine Weile darüber nach, während sie
gedankenverloren Hope ansah, die wieder ihre Augen abgewandt hatte,
obwohl David genau wusste wie konzentriert sie ihre Freundin und
ihren Großonkel hinter ihren halbgesenkten Lidern beobachtete.
Ameenah flüsterte dem Professor zu: „Hope geht doch nicht hinunter
zum Meer der Trostlosigkeit?“
”Zumindest
sieht sie gerade dort hinunter“, erwiderte der Professor.
„Aber
es ist doch nur wegen ihrem Papa, dass sie so schrecklich traurig
ist“, versuchte Ameenah das Verhalten ihrer Freundin zu erklären.
„Ich
weiß“ sagte der Professor.
„Ich
wünschte, sie würde auf unseren Pfad kommen“, sagte Ameenah.
„Wir, also ich und meine Eltern und mein großer Bruder und unser
Imam und all die Leute aus der Moschee, wir könnten ihr helfen
wieder nach oben zu gehen.“
„Da
bin ich mir ganz sicher, dass ihr ihr helfen wollt“, erwiderte der
Professor. „Aber Hope war schon ihr ganzes Leben lang auf ihrem
Weg. Sie hat ihre ersten Gebete gelernt, da war sie kaum älter als
ein Baby. Und sie hat christliche Lieder schon gehört, da war sie
noch im Bauch ihrer Mutter.
Um auf euren Pfad zu gelangen, müsste sie durch die unerschlossenen
Gebiete gehen. Sie könnte stolpern und abrutschen, bevor ihr sie
noch erreichen könnt. Das würdest du doch nicht wollen?“
„Nein,
würd ich nicht“, lenkte Ameenah ein, wenn auch etwas zögerlich.
„Aber
gibt es denn nicht einen Weg, der besser ist als die anderen, gerader
und richtiger?“
„Ja,
das glaube ich schon“, antwortete der Professor mit sanfter Stimme.
„Und
welcher ist es“, fragte Ameenah.
„Was
würde euer Imam sagen, welcher Weg es ist?“ erwiderte der
Professor die Frage.
„Der
Weg des Islam natürlich“, antwortete Ameenah ohne Zögern.
„Und
was denkst du, was ich sagen würde“, fragte der Professor dann.
Jetzt zögerte Ameenah für eine ganze Weile, bevor sie endlich mit
leiser Stimme antwortete: „Ich denke mal, der christliche Weg.“
Ein bisschen traurig fügte sie hinzu: „Aber Hope ist meine beste
Freundin, ich würde mir trotzdem wünschen, dass wir unseren Weg
zusammen gehen würden, und dass ich ihr helfen könnte.“
„Es
gibt Menschen, die ihr auf ihrem Weg auch helfen können“,
erwiderte der Professor sanft, „ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre
Großeltern und sogar ich ein bisschen.“
„Ja
ich weiß das ja“, sagte Ameenah und fügte wehmütig hinzu, „aber
trotzdem...“
„Aber
du gehst ja den Weg mit ihr zusammen“, stellte der Professor fest,
„hier in den drei Dimensionen, die wir sehen, hören und berühren
können, hier in unserer Hausgemeinschaft. Und aus der Perspektive
des Allmächtigen, besteht da überhaupt kein Widerspruch.“
Als Ameenah ein wenig verwirrt aussah, erklärte der Professor: „Du
bist doch mit Hope hier her gekommen, oder nicht?“
Mit einem einzigen Tastenschlag beendete der Professor die Projektion
und sagte: „Aber jetzt musst du ganz schnell nach Hause gehen, oder
du und deine Familie werden zu spät sein für das Freitagsgebet. Sie
warten bestimmt schon auf dich.“
„Oh
ja“, rief Ameenah und beeilte sich aufzustehen.
„Bitte
richte deinen Eltern die allerherzlichsten Grüße von mir aus, und
eine Entschuldigung dafür, dass ich dich so lange hier aufgehalten
habe.
Ameenah nickte und drehte sich dann zu Hope um und fragte: „Willst
du heute Nachmittag mit mir spielen?“
Ohne ihr die Gelegenheit für eine Antwort zu geben, lehnte der
Professor das Angebot an Hope's Stelle ab: „Nicht heute Ameenah,
vielleicht morgen. Heute Nachmittag wird Hope damit beschäftigt
sein, mir dabei zu helfen, die Kirche zu putzen.“
„Oh“,
erwiderte Ameenah überrascht, „wir müssen unsere Moschee nicht
sauber machen. Wir haben eine robotische Reinigungsmaschine.
Vielleicht könnte der Imam sie Ihnen ausleihen.“
„Vielen
Dank für das Angebot“, lehnte der Professor es ab. „Aber das ist
nicht notwendig. Das Putzen der Kirche ist eine besondere spirituelle
Übung in meinem Orden. Es muss von Hand getan werden.“
„Ach
so“, sagte Ameenah, die bereits an der Tür war. Sie drehte sich
noch einmal um und verabschiedete sich.
„Bless,
Professor Morgan, bless Hope. Incha' Allah, seh
ich dich morgen.”
Hope antwortete mit einem weiteren Brummen, das Ameenah schon nicht
mehr hörte. Diese rannte bereits so schnell ihre Füße sie tragen
konnten hinüber zum Aufzug, der sie nach oben auf ihr eigenes
Stockwerk bringen würde.
Der Professor wandte sich zum ersten Mal nun Hope direkt zu: „Also
los Hope, komm jetzt mit. Wir müssen jetzt auch gehen!“
„Ich
habe aber gar nicht gesagt, dass ich dir beim Putzen helfen will“,
knurrte sie bockig.
Der Professor verließ seine Wohnung, und Hope folgte ihm
widerstrebend.
Als sie am Aufzug angekommen waren, drückte der Professor den Knopf
nach unten statt nach oben und Hope protestierte: „Warum können
wir nicht den Maglev nehmen?“
„Die
frische Luft wird uns gut tun“, antwortete der Professor geduldig.
Hope war noch nicht fertig mit ihrem Widerstand: „Warum musst du
überhaupt dieses doofe Putzen übernehmen? Ameenah hat Recht – es
ist blöd, wenn man doch ebenso gut eine robotische Maschine benutzen
könnte. Wenn ich einmal Wissenschaftlerin bin, dann werde ich
niemals so was Blödes tun, wie Putzen.“
„Mit
dieser Einstellung wirst du niemals Wissenschaftlerin werden“,
stellte ihr Großonkel klar, diesmal mit weit weniger Geduld als
zuvor.
Jetzt war Hope's Stimme völlig zu einem Knurren verkommen: „Was
hat das Putzen der Kirche mit irgendeiner Form von Wissenschaft zu
tun?“
Der Professor antwortete: „Wie ich dir bereits gesagt habe, und ich
hätte gedacht das wüsstest du schon, so ist das Putzen der Kirche
eine spirituelle Übung, die von meinem Orden verlangt wird.
Nur diejenigen Männer und Frauen, die sich zu bestimmten Ordnungen
von spirituellen Übungen verpflichten, werden von anderen
Wissenschaftlern in ihre Projekte aufgenommen.“
Dann fragte er Hope: „Weißt du, womit ich meinen Lebensunterhalt
verdiene?“
Hope zuckte mit den Achseln: „Du bist ein Gesundheitsunterstützer.“
„Ich
massiere Füße und schneide die Zehennägel von den Menschen, die zu
alt oder zu krank sind, um dies selbst zu tun“, erklärte der
Professor krass und fügte hinzu: „Diese Art meinen Lebensunterhalt
zu verdienen, ist auch eine spirituelle Übung, und zwar eine
speziell für mich.
Es gab eine Zeit, da war ein Wissenschaftler zu sein, eine
Vollzeitbeschäftigung, die für die Leute sehr gut mit den Coins
ihrer Zeit bezahlt wurden.
Heutzutage allerdings muss jeder Wissenschaftler seinen
Lebensunterhalt hauptsächlich mit etwas anderem verdienen. Und dafür
gibt es gute Gründe.
Wissenschaftler in früheren Zeiten sind oft zu Zerstörern ihrer
Welt geworden. Der Großteil ihrer wissenschaftlichen Anstrengungen
waren daraufhin ausgerichtet, mehr und mehr destruktive Waffen zu
erfinden...
„Aber
das war doch nur in den Dunklen Zeiten. Das hat gar nichts mit heute
zu tun!“ protestierte Hope.
„Nein,
meine Kleine, da liegst du völlig falsch“, widersprach ihr der
Professor. „Die Dunklen Zeiten sind uns viel näher als du denkst;
sie sind ein Teil von uns, gleichgültig wie sehr wir das auch
bestreiten. Ich weiß es, weil ich es gesehen habe.“
Hope schüttelte ungläubig den Kopf, doch der Professor fuhr fort:
„Den Verstand eines Wissenschaftlers zu haben ist ein ganz
spezielles Talent, aber fast immer folgen diesem auch spezielle
Schwächen. Einige von uns Männern der Zahlen haben die Schwäche
die ganze Welt nur noch in Zahlen zu sehen, unfähig eine Beziehung
zur irgendetwas anderem zu entwickeln als zu Zahlen.
Und während alle Menschen die Fähigkeit gut von böse zu
unterscheiden besitzen, schließlich ist diese in unsere DNA
geschrieben, ist doch bei manchen die Verbindung zu diesem Wissen
schwach, denn sie haben eine geringere Fähigkeit zur Empathie und
zum Mitgefühl.
Während die meisten Menschen rein instinktiv das natürliche Muster
erkennen, dass wenn man zerstörerisch zum Nachteil anderer handelt,
dass das am Ende zur Selbstzerstörung führt, so haben viele von uns
Wissenschaftlern, die wir die Fähigkeit besitzen künstliche Muster
herzustellen, während wir oft unfähig sind Mitgefühl zu empfinden,
dieses natürliche Muster durch gefühllose Algoritmen ersetzt.
In der Vergangenheit haben wir dann diese künstlichen Zahlen über
die ganze Welt verbreitet, bis die Menschen ihr eigenes Wissen und
ihre eigenen Gefühle von richtig und falsch ausradiert und neu
geschrieben hatten. Das Ergebnis wurde dann zur Kultur der Dunklen
Zeiten.
Es gibt allerdings auch solche Menschen mit einem wissenschaftlichen
Verstand, die doch sehr starke Gefühle beherbergen, und die
Schmerzen oft sogar stärker empfinden als die meisten anderen
Menschen. Doch häufig dreht sich ihre ganze innere Welt nur um sie
selbst und um ihren eigenen Schmerz, bis zu dem Punkt, wo sie sich
von allen anderen um sie herum entfernen und für die Schmerzen der
anderen keinerlei Gefühl mehr besitzen.
Der Professor hielt einen Moment inne und sah nach hinten, wo Hope
immer noch lustlos hinter ihm herzottelte, und doch folgte sie seinen
Schritten und seinen Worten.
Der Ton des Professors wurde intensiver und persönlicher:
„Das
ist keine Theorie, meine Kleine, und auch nicht etwas, das mir
gelehrt wurde, stattdessen ist es etwas, das ich weiß. Ich weiß
wirklich, worüber ich rede.“
„Vor
langer Zeit, als ich ungefähr in deinem Alter war, Hope, da
freundete ich mich mit einem Jungen meines Alters an. Sein Name ist
John Galt. Obwohl er nicht in unserem Dorf lebte, war sein Dorf doch
so nah von uns gelegen, dass wir uns regelmäßig persönlich treffen
konnten.
Aber an jedem einzelnen Tag trafen wir uns auf dem Friedensnetz, dort
wo wir uns auch zuerst gefunden hatten. Wir redeten zusammen über
unsere gemeinsamen Träume, und wir redeten die ganze Zeit, malten
diese Träume uns gegenseitig in unsere Gedanken und zwar in den
leuchtensten Farben.
Die Gegenstände unserer Träume war immer dieselben: die anderen
Sterne der Milchstraße. Wir träumten davon durch den Weltraum zu
diesen Sternen zu reisen, vielleicht durch Wurmlöcher oder sogar
durch Überwinden der Lichtgeschwindigkeit.“
„Was
sind Wurmlöcher“, fragte Hope, die jetzt neben dem Professor
herging.
„Wurmlöcher“,
antwortete er, „sind hypothetische Punkte, in denen sich die
Raumzeit faltet und ein Spalt entsteht, der es dann erlaubt in einem
Augenblick zu einem anderen Ort im Universum zu gelangen, der
vielleicht Millionen von Lichtjahren entfernt sein könnte.“
Das faszinierte Hope nun wirklich und David spürte, dass sich etwas
in ihr öffnete.
Der Professor fuhr fort: „Als mein Freund John und ich älter
wurden, da wurden wir beide Wissenschaftler. Wir waren nicht einmal
20 Jahre alt, als wir ernsthaft unsere Kindheitsträume in Angriff
nahmen.
Wir erkannten jedoch bald, dass eine Raumfahrt selbst zu so einem
nahen Ort, wie dem Mond, enorme Ressourcen benötigte, Ressourcen,
die keines unserer beiden Dörfer aufbringen konnte. Und nicht einmal
100 Dörfer zusammen wären dafür genug.
Also gingen wir vor den Internationalen Hilfskongress und forderten
ihn auf, einen Projekttopf für uns zu eröffnen.
Die Repräsentanten weigerten sich. Mehrere Jahre lang gingen wir
immer wieder dorthin, um zu versuchen immer wieder neue
Repräsentanten mit neuen Argumenten zu überzeugen. Doch jedes Mal
war die Antwort: Nein.“
„Aber
warum denn?“ unterbrach Hope. „Das wäre doch so ein geniales
Projekt gewesen!“
„Die
Repräsentanten diskutierten über die Argumente. Und trotzdem kamen
sie immer wieder zum selben Schluss: Das Raumfahrtprogramm der
Dunklen Zeiten wieder zu eröffnen, nur um eine nutzlose Neugier zu
befriedigen, wäre eine enorme Verschwendung von Ressourcen gewesen,
denn es hätte keinerlei Nutzen für die Menschheit. Es würde
Ressourcen von anderen Projekten wegnehmen, die wirklich nützlich
seien, wie die Erdbeben- und die Vulkanismus-Forschung.“
„Oh“,
machte Hope ihrer Enttäuschung Luft, „es wäre doch so großartig
gewesen, durchs Weltall zu reisen. Wen interessiert das, ob diese
blöden Repräsentanten das nützlich finden.“
Um den Mund des Professors zuckte es, und doch wusste David, dass es
dem Professor keineswegs zum Lachen zu Mute war .
„Mein
Freund John und ich dachten dasselbe. Aber es waren ja nicht nur die
Repräsentanten, die das Projekt ablehnten. Jedes Mal, wenn wir uns
mit ihnen getroffen hatten, dann gingen sie zurück in ihre Dörfer,
um unsere Ideen dort auszudiskutieren.
Sie gingen auch ins Friedensnetz, wo tausende von Menschen sich an
der Diskussion beteiligten, einschließlich John und mir. Je mehr die
Leute darüber redeten, um so klarer wurde es, dass fast alle Leute
unserer Zeit glaubten, dass ein Raumfahrtprogramm ein nutzloser und
vielleicht sogar gefährlicher Rückfall in die Dunklen Zeiten sei,
und unsere Sturheit die Sache aufzugeben, sei einfach nur das
Resultat von unreifem jugendlichen Denken.“
Der Professor seufzte: „Und das war das Ende unseres Traums. Und
wie du dir vorstellen kannst, war das extrem frustrierend für uns.
John und ich redeten darüber, wie wenig die Leute um uns, den wahren
Sinn von Wissenschaft überhaupt begriffen.
John kam zu dem Schluss, dass wenn die Menschen unserer Welt
intellektuell zu unterentwickelt seien, um wirklich etwas zu
verstehen, dass man dann eine neue Sorte Menschen brauchte, Leute,
die nicht denselben Beschränkungen unterlägen. Er schlug vor, dass
wir an der Evolution der Menschheit arbeiten sollten. Was er meinte,
war natürlich die genetische Veränderung ungeborener
Menschenkinder, um so Kinder mit größerer mentaler Kapazität zu
erschaffen.
Aber ich, genau wie jeder andere Wissenschaftler, wusste genau, dass
die genetische Manipulation lebender Wesen und besonders die von
Menschen, eine der schlimmsten Regelbrüche waren, die es gab. Denn
sie wären Verbrechen gegen das Erste Prinzip, den Respekt vor der
Würde des Menschen gewesen. Wenn wir erwischt würden, dann würden
wir mit Sicherheit in Orange Country landen.
Wir standen inzwischen kurz vor unseren 25. Geburtstagen, und das
hieße dann kein temporäres Exil für uns. John wusste das, genau
wie ich, aber erklärte mir, dass ihm die Regeln egal seien, wenn es
um etwas so wichtiges ginge, wie den Fortschritt der Menschheit. Er
schlug mir vor, heimlich mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber ich
weigerte mich; das Risiko erwischt zu werden, schien mir zu groß zu
sein.
John nannte mich einen Feigling ohne das geringste Rückgrat. Und von
jenem Tag an trennten sich unsere Wege, und wir haben nie wieder
miteinander gesprochen.
Ich schloss mich anderen wissenschaftlichen Projekten an, und John
bildete sich als Arzt aus. Jahre später erfuhr ich, dass er seine
Idee nicht aufgegeben hatte. Er hatte seine Position als Arzt in
seinem Dorf dazu ausgenutzt genetische Experimente durchzuführen.
Da war eine junge Frau in seinem Dorf, die keine Kinder bekommen
konnte. John Galt versprach ihr eine Wunderkur zur Heilung ihres
Zustands, aber sie müsste über die Methoden, die er anwandte,
Stillschweigen bewahren.
In den nächsten fünf Jahren wurde diese Frau mit seiner Methode
zehn Mal schwanger. Keine dieser Schwangerschaften hielt die gesamten
9 Monate an. Nach 5 bis 8 Monaten leitete John eine künstliche
Fehlgeburt ein, indem er Chemikalien mit den Vitaminpräparaten
mischte, die er der Frau gab.
Die Frau wurde dann so müde, dass sie während der Fehlgeburt nicht
mitbekam, was mit ihr geschah. John erzählte ihr dann, dass das Baby
bereits im Mutterleib gestorben sei. Er erlaubte ihr nie, das Baby zu
sehen.
Beim letzten Mal allerdings wachte die Frau auf und sah nur für
einen Augenblick das Kind, das sie geboren hatte. Als John ihr danach
nicht mehr erlaubte, das Kind noch einmal zu sehen, ging sie zum
Vorsitzenden des Dorfrats.
Und als der Vorsitzende und andere aus dem Dorfrat in John Galt's
Wohnung kamen, da fanden sie dort in zehn Glasbehältern -eingelegt
in Formaldehyd- die Überreste von schwer deformierten menschlichen
Föten, Babies mit viel zu großen Köpfen, und einige hatten Flügel,
die ihnen aus den Schulterblättern wuchsen.“
„Er
wollte Engel machen“, fragte Hope irgendwie fasziniert.
„Nein,
sicherlich keine Engel“, antwortete der Professor. „Aber er
dachte wohl, dass seine hochfliegenden Ideen vielleicht von Leuten
besser verstanden würden, die selbst fliegen konnten.“
Eine Untersuchung durch andere Ärzte aus seinem Dorf brachte ans
Licht, dass ein paar der merkwürdigen Babies noch am Leben gewesen
waren, als sie geboren wurden. John hatte sie mit einer Gift-
Injektion kurze Zeit nach ihrer Geburt getötet, um sie dann besser
untersuchen zu können.“
Jetzt war Hope wirklich schockiert: „Und der war einmal dein
Freund“, fragte sie.
Der Professor nickte traurig: „Nachdem diese Ereignisse
veröffentlicht wurden, waren die meisten Dorfräte zur Überzeugung
gelangt, dass man Wissenschaftlern nicht trauen konnte. Was auch
immer sie für eine Forschung betrieben, die musste streng von
Nicht-Wissenschaftlern überwacht werden, die vom Dorfrat bestimmt
würden, genau wie Ärzte von Krankenschwestern überwacht werden
mussten.
Und sie hatten völlig Recht damit, dass Wissenschaftlern nicht mehr
zu trauen war.
Der Professor blieb jetzt stehen und drehte sich zu Hope und sah ihr
direkt in die Augen.
„Weißt
du, meine kleine Hope, was ich empfunden habe, als das Dorf von John
Galt seine Untersuchungen der Verbrechen veröffentlichte, zusammen
mit den Bildern von den Glaskontainern?“
„Du
warst schockiert“, riet Hope.
„Nein,
das war ich nicht“, erwiderte der Professor. „Stattdessen war ich
fasziniert davon, wie weit John in seiner Forschung gekommen war, und
es tat mir leid, dass er erwischt worden war. Da war nicht ein Funken
von Mitleid für die Frau, die er als Inkubator für seine
rücksichtslosen Experimente benutzt hatte. Und auch kein Mitgefühl
für die deformierten Babies, die Resultate der Experimente. Ich war
nicht einmal schockiert darüber, dass er sie gnadenlos getötet
hatte.“
Jetzt war Hope schockiert. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr
Großonkel jemals so gewesen sein konnte.
Der Professor nickte: „Ja, das war meine Reaktion. Und erst als ich
diese mit der aller anderen Leute um mich herum verglich, da bemerkte
ich wie weit entfernt ich von ihnen war.
Zu der Zeit war ich bereits ein Mitglied meines Ordens. Nachdem ich
diese Gefühle vor meinen Ordensbrüdern eingestanden hatte, wurde
beschlossen, dass ich ganz besondere spirituelle Übungen benötigte,
etwas im Zusammenhang mit der Art, wie ich meinen Lebensunterhalt
verdienen sollte.“
Der Professor begann wieder weiterzugehen. „Seit dieser Zeit putze
ich den Boden einmal die Woche, und an vier Tagen in der Woche
kümmere ich mich um die Füße derer, die auf diesem Boden gehen.
Jedes Mal bevor ich als Gesundheitsunterstützer durch eine Tür
gehe, bete ich: 'Herr, lass meine Talente für die Person, die hier
wohnt, ein Segen sein und auch für all die anderen, die von meiner
Arbeit berührt werden. Denn diese Talente wurden mir gegeben, um
Menschen zu dienen, und nicht um sie zu beherrschen'.
Und während ich den Boden in der Kirche putze und wachse, da spreche
ich viele Gebete. Eines davon ist ein Gebet um Demut, damit ich
täglich daran erinnert werde, dass ich zwar die Fähigkeit habe, ein
Feuer zu entzünden, aber nicht das Recht das Haus niederzubrennen.“
„Das
Haus niederbrennen“, fragte Hope. „Das verstehe ich nicht.“
„Über
die Zeiten“, antwortete der Professor, „da haben Wissenschaftler
viele Häuser niedergebrannt, Häuser von Menschen, oft mit diesen
Menschen noch darin, Häuser der Natur, und jetzt auch das Haus des
menschlichen Körpers.“
„Was
ist dann mit deinem Freund John Galt geschehen“, fragte Hope mit
leiser Stimme.
„Er
wurde natürlich zum Exilanten erklärt und nach Orange Country
geschickt. Ich habe nie wieder von ihm gehört.“
Hope und ihr Großonkel waren jetzt an der Kirche angekommen. Bevor
er die Tür öffnete, zögerte der Professor einen Moment.
Er sah Hope in die Augen: „Ich war nicht anders als er, kein
bisschen anders. Wenn ich nicht die Angst gehabt hätte, entdeckt und
bestraft zu werden, dann hätte ich genau dasselbe getan. Ich fühlte
weder Mitleid noch Schuld in meinem Herzen.“
„Aber
jetzt tust du es“, fragte Hope und berührte vorsichtig die Hand
ihres Großonkels.
„Ja,
irgendwie schon“, antwortete dieser. „Aber immer noch nicht genau
so wie andere Leute. Wie ein Kind, das seine ersten Zahlen langsam
und Schritt für Schritt lernen muss, musste ich lernen, die tieferen
Muster des Ersten Prinzip's zu erkennen, Muster die so viel komplexer
sind, als alles, was ich je zuvor gewusst habe.
Und als mein Verstand es begriffen hatte, da wurde ein Herz aus Stein
zu einem Herzen aus Fleisch und Blut. In meinem Orden nennen wir das
ein Wunder des Herzens.“
Als sie jetzt die Kirche betraten, ging Hope ohne einen weiteren
Protest zur Besenkammer, um Schrubber, Bürsten und Wischlappen zu
holen. Der Professor füllte einen Eimer mit Wasser und fügte ein
paar Tropfen Seife hinzu. Bevor sie mit der Arbeit begannen, hatte
Hope noch eine Frage: „Der Explosionskörper, der meinen Vater
getötet hat, der wurde doch auch von einem Wissenschaftler gemacht?“
Der Professor antwortete bedächtig: „Der wurde wahrscheinlich in
einem großen Produktionsbetrieb hergestellt, aber ja, wie alle
großen Waffen, wurde er von Wissenschaftlern entwickelt und für die
maximale Tötungskapazität ausgerichtet.“
Wortlos ging Hope in die Knie und begann mit wilden und hektischen
Bewegungen den Boden mit einer Bürste und dem Seifenwasser zu
bearbeiten, immer schneller und schneller, bis sie völlig außer
Atem war.
Der Professor kniete sich jetzt neben sie, ergriff ihre Hand und
begann sie nun in langsamen gleichmäßigen Kreisen zu bewegen. Dann
nahm er seine eigene Bürste und sie arbeiteten jetzt Seite an Seite.
Sie schrubbten den Boden, während der Professor mit leiser Stimme
seine Gebete rezitierte und Hope's Tränen sich mit dem Seifenwasser
vermischten.
Die Szene löste sich vor David's inneren Augen auf, und so öffnete
er seine äußeren. Die ältere Hope hatte auch Tränen in ihren
Augen.
David fühlte eine körperliche Übelkeit. Es war allerdings nicht so
schlimm, wie beim letzten Mal, trotzdem wusste er, dass er dringend
frische Luft brauchte.
Er stand auf und ging auf die Treppe zu, wobei es ihm plötzlich
schwarz vor Augen wurde. Beinahe wäre er hingefallen, wenn derselbe
Junge, den David schon vorher bemerkt hatte, und der gerade wieder
dabei war einen Tisch abzuwischen, sich nicht ganz schnell neben ihn
gestellt hätte, um ihn zu stützen.
„Möchten
Sie sich wieder hinsetzen, Sir“, fragte der Junge. „Oder soll ich
Ihnen vielleicht einen Krankenwagen rufen?“
„Nein,
nein“, lehnte David schnell ab, „ich brauche nur ein bisschen
frische Luft.“ Er warf einen Blick auf das Namensschild des Jungen
und fügte hinzu: „Vielen Dank, Fahmi.“
Aber weil David immer noch etwas wackelig auf den Beinen war, half
ihm Fahmi die Treppe hinunter und bis vor die Tür.
„Sind
Sie sicher, dass Sie keine medizinische Hilfe benötigen“, fragte
der Junge dann noch besorgt.
„Ja,
ganz sicher“, antwortete David entschieden, während er schnell in
seiner Hosentasche nach ein bisschen Trinkgeld suchte.
„Nein,
das ist nicht notwendig“, wehrte Fahmi ab. „Allah erwartet von
uns, dass wir denen helfen, die Hilfe benötigen.“
David sah überrascht aus und dankte dem Jungen noch einmal. Während
Hope beobachtete wie dieser wieder an seine Arbeit zurückkehrte,
kommentierte sie: „Fahmi sieht fast wie Ameenah aus, denkst du
nicht auch? Meinst du, er ist ihr Ur-ur-ur-ur-groß...“
David, der zugeben musste, dass die Ähnlichkeit wirklich frappierend
war, schüttelte den Kopf: „Das hat gar nichts zu bedeuten. Es gibt
eine Menge Leute, die einander ähnlich sehen, ohne miteinander
verwandt zu sein. Über 8 Millionen Menschen leben hier in New York,
das wäre ein viel zu großer Zufall...“
David's Stimme wurde leiser. Hope's Dorf war irgendwo in diesem
Gebiet gebaut worden. Einige New Yorker seiner Zeit mussten doch mit
Sicherheit die Vorfahren dieser Kinder von morgen sein, genau wie er
es selbst war...
Hope lächelte David an, und er antwortete mit einem sanften
Kopfnicken; vielleicht... man konnte da nicht sicher sein, und doch
vielleicht, es könnte sein...
„Wie
wär's wenn ich dir ein wenig mehr von meiner Stadt zeige,
irgendetwas Schönes“, schlug David vor.
„Das
würde ich gerne sehen“, antwortete Hope mit aufsteigender
Begeisterung.
Schweigend gingen sie nun ein Stück die Straße hinunter. David
konnte sich selbst nicht daran hindern, noch einmal über die Szene
nachzudenken, die er gerade beobachtet hatte, das Bild von der
kleinen verzweifelten Hope, ihrer liebevollen Freundin und ihrem
Großonkel.
Der Professor, ein Soziopath..., als David in Hope's Erinnerungen
gesehen hatte, wie dieser das Kind in die Zeitmaschine hinein
manipuliert hatte, da hatte David so etwas fast vermutet.
Es war schon sonderbar wie Ed, der sicherlich nicht so geboren wurde,
sich in einer soziopathischen Welt in so jemanden entwickelt hatte,
während dem Professor, der in einer so merkwürdig anderen Welt
lebte, irgendwie ein menschliches Herz gewachsen war.
Ein Wunder hatte er es genannt. Und vielleicht war es genau das, was
es war. David konnte nicht leugnen, dass der Professor ihn
beeindruckt hatte. Seine radikale Ehrlichkeit über sich selbst,
hatte seinen Geschichten und Meinungen mehr Glaubwürdigkeit
verliehen, als David erwartet hatte.
Er hatte einmal gelesen, dass der Unterschied zwischen einer Religion
und einer Philosophie der war, dass eine Religion ein Konstrukt war,
das auf willkürlichen Behauptungen beruhte, die nur durch Doktrinen
gestützt wurden, während eine Philosophie andererseits eine
zusammenhängendes Gedankenkonstrukt sei, basierend auf Beobachtungen
und weiter entwickelt durch logische Argumente.
Aber der Professor hatte seine religiösen Standpunkte durch
Argumente untermauert, die aus menschlicher Beobachtung und
wissenschaftlicher Theorie ausgebildet worden waren. Nicht dass es
dem Professor gelungen wäre, David irgendwie zu überzeugen. Wenn er
sich ein paar Minuten Zeit nähme, dann würde er mit Sicherheit die
Fehler in dem Gedankenkonstrukt des Professors aufzeigen können.
Doch im Augenblick wollte David das nicht tun, nicht während Hope
seinen Gedanken zuhörte.
Schließlich war sie immer noch ein kleines Mädchen, das ihren Vater
verloren hatte. Sie brauchte ihren Glauben, um damit fertig zu
werden. Vielleicht, dachte David ein bisschen wehmütig, wenn er so
einen Großonkel gehabt hätte wie Hope, nachdem er seine Mutter
verloren hatte, statt eines Großvaters, der ihn hasste, dann würden
die Dinge heute vielleicht auch anders aussehen.
Er war 14 Jahre alt gewesen, als seine Mutter an Krebs gestorben war.
Sie war schon länger krank gewesen. Im letzten Jahr ihres Lebens war
es ein ständiges auf und ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung
gewesen.
Es war nur wenige Wochen vor ihrem Tod, als David's Mutter ihre
Eltern kontaktiert hatte, die Eltern, die sie verstoßen hatten, als
sie sich für David entschieden hatte und für dessen Vater. Sie
hatte ihre Eltern David's wegen angerufen, nur seinetwegen.
Aber David wünschte sich später, sie hätte es nicht getan. Denn
seine Großeltern hatten ihrer Tochter niemals vergeben, dass sie
gegen ihren Rat gehandelt hatte, oder zumindest sein Großvater hatte
das nie getan. David's Großmutter war immer zu schwach gewesen, um
sich gegenüber ihrem dominierenden Ehemann durchzusetzen.
Und er hatte natürlich Recht behalten, hatte David's Großvater kurz
nach der Beerdigung erklärt. Der 'Kerl' wie sein Großvater seinen
Vater nannte, war schon immer ein Verlierer gewesen, ein
Möchte-gern-Musiker und ein Alkohol- und Drogen-Abhängiger. Alles,
was solche Drecksäcke tun können, ist ein Mädchen zu schwängern
und ihr Leben zu zerstören.
Bei einer anderen Gelegenheit, als Beschwerden und
Rausschmiss-Drohungen aus seinem teuren Internat, in den ihn sein
Großvater kurz nach der Beerdigung abgeschoben hatte, ins Haus
geflattert kamen, da meinte dieser, dass Dreck sich vermehren kann,
aber das Ergebnis wäre immer noch Dreck. David würde sein Leben
lang ein Verlierer bleiben, und keine Sorte von Schule könnte etwas
gegen schlechte Gene tun.
Mit dieser Art von 'Ermutigung' hatte David sich nicht die Mühe
gemacht, sich um irgendwelche Schulnoten zu kümmern. Lieber hatte er
seine Freunde mit immer mehr ausgeklügelten Streichen beeindruckt.
Das ging so bis zum zweiten Semester seines vorletzten Jahres, als Mr
Aristes von der Schule als Physik- und Englisch-Lehrer angestellt
worden war, und als sich David erfolgreich ins Schul-Computer-System
eingehackt hatte. Bei der Gelegenheit hatte er dann den Rechner des
Vize-Rektors durch eine App übernommen hatte und die Noten aller
Schüler in ein A umgeschrieben. Beim Versuch seine Spuren im Netz zu
verwischen, war er allerdings weniger erfolgreich gewesen, was ihn
dann in Mr Ariste's Büro brachte.
Wenn es nicht für die großzügige Spende seines Großvaters an das
Physiklabor der Schule gewesen wäre, dann wäre David bereits längst
von der Schule verwiesen worden. Aber jetzt, wo der Vize-Rektor sein
Erzfeind geworden war, da hätte auch das kaum das Unvermeidliche
verhindern können.
David erinnerte sich an den Tag, als sei es gestern gewesen. Als er
Mr Aristes Büro betrat, wies dieser ihn wortlos an, sich zu setzen.
Für eine Weile saßen sie sich nur stumm gegenüber. David,
provokativ in den Stuhl gelümmelt, versuchte den Eindruck zu
erwecken, dass es ihm völlig egal war, was jetzt kommen sollte.
„Warum
verschwendest du eigentlich das Geld deiner Großeltern“, fragte Mr
Aristes endlich.
Diese Frage hatte David nicht erwartet, und in seiner Überraschung
brüllte er die Antwort heraus: „Weil sie es verdienen, dass man
ihr Geld verschwendet.“
Und damit war ein Damm gebrochen. Während Mr Aristes David nur still
beobachtete, kotzte David seine ganze Wut aus... und alles andere.
Er redete von seiner Mutter, die obwohl sein Vater sie beide ohne
jede Unterstützung verlassen hatte, doch alles daran gesetzt hatte,
dass sie trotzdem ein normales Leben führen konnten. Sie war ein
guter Mensch gewesen, die beste Mutter, die man sich wünschen
konnte, und sie hatte es nicht verdient zu sterben.
Er redete über seinen Vater, der die Enttäuschungen seines Lebens
in Alkohol ertränkt hatte, neben dem gelegentlichen Joint. Und als
sein Alkoholismus alle anderen Gefühle überwältigt hatte, da hatte
er das Land verlassen, ohne eine Adresse zu hinterlassen.
Obwohl das Sozialamt versucht hatte ihn dort in Island ausfindig zu
machen, hatte sein Vater sich nicht die Mühe gemacht, zur Beerdigung
seiner Ex-Frau zu erscheinen oder seinen Sohn zu sich zu holen.
Und schließlich redete David über seinen Großvater. Der alte Mann
hasste ihn zutiefst, und er gab Davids Vater die Schuld an der
Krankheit und dem Tod von Davids Mutter.
Er hatte David erklärt, er sei das genaue Abbild seines Vaters, und
er würde genau wie sein Vater enden, als Versager.
Nachdem er Davids Klagerede stumm zugehört hatte, stellte Mr Aristes
ihm nur eine Frage: „Und du denkst, dass es die beste Rache an
deinem Großvater sei, wenn du ihm beweist, dass er Recht hat?“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wenn ich du wäre, und
das wäre mein Großvater, dann würde ich ihn für jeden Cent
nehmen, den ich bekommen könnte. Ich würde mir die beste Ausbildung
besorgen, die für Geld zu haben ist, und ich würde die größte
Befriedigung darin finden, ihm zu beweisen, dass er falsch liegt, und
zwar immer und immer wieder.
Das wäre meine Rache. Aber ich bin natürlich ein Mann der Logik.
Wie ist das mit dir?“
Mit diesem Gedankenanstoß schickte Mr Aristes David aus seinem Büro.
Das war der Tag, an dem David den Entschluss gefasst hatte, auch ein
Mann der Logik zu werden. Und von diesem Zeitpunkt an, änderte er
sein Verhalten um 180 Grad. Mr Aristes lehrte ihn weiter Physik und
Englisch, ebenso wie die Kunst die Instrumente der Logik zu benutzen
und die Kunst des Zuhörens und Menschen zum Sprechen zu bringen.
Am Ende seines Abschlussjahres hatten sich David's Noten so stark
verbessert, dass er von seinem Schuldirektor, sogar gegen den
Widerstand des Vizedirektors, ein so hervorragendes
Empfehlungsschreiben bekommen hatte, dass es ihn an die Harvard
Universität in Boston gebracht hatte. Nach seinem Abschluss dort,
kam er zurück nach New York für sein Masters Studium an der Elite
Columbia Schule für Journalismus.
Nach so viel schulischem Erfolg hatte sich David's Verhältnis zu
seinem Großvater etwas verbessert. Und David vermutete, dass es
genau der Einfluss seines Großvaters war, der ihm seinen Posten an
der angesehensten Zeitung des Landes beschert hatte.
Die Ironie dabei war, dass David genau deshalb Journalismus als seine
Berufung angesehen hatte, weil er damit hoffte korrupte politische
Akteure und Finanz-Akteure zu überführen, genau solche wie, nach
David's Überzeugung, sein Großvater einer war.
Aber das Schicksal war ihm zuvorgekommen, und der Finanz-Crash von
2008 hatte praktisch das gesamte Vermögen seines Großvaters
ausradiert und ihn mit einem Berg Schulden zurückgelassen. Diesmal
hatte er nicht Recht gehabt, und sein Glück auf das falsche
finanzielle Pferd gesetzt.
Diesen Verlust hatte Davids Großvater nicht verkraftet. Seine
Gesundheit verschlechterte sich rapide, bis er dann ziemlich bald
einem tödlichen Schlaganfall erlag.
Davids Großmutter war drei Jahre später gestorben, nachdem eine
Krebserkrankung, die jahrelang besiegt schien, nach dem Tod ihres
Mannes wieder ausbrach. In den letzten Monaten ihres Lebens hatte
David sie regelmäßig im Krankenhaus besucht, ein paar Mal hatte er
sogar Mikey mit dabei. Das hatte sie glücklich gemacht.
Da waren immer noch Dinge unausgesprochen geblieben. Doch David hatte
erkannt, dass bei einem Menschen, der so von Angst und Unsicherheit
erfüllt war, die wirklichen Entschuldigungen nur in den Augen
gelesen werden konnten und in den zitterten Händen, die seine
eigenen umklammerten.
David hatte sich mit seiner Großmutter in einer Weise versöhnt, wie
es ihm mit seinem dominanten Großvater nicht möglich gewesen war.
Und jetzt hatte sein Großvater nach all dem trotzdem Recht behalten,
dachte David in einer defätistischen Stimmung; er war ein Verlierer
und ein Trinker geworden, obwohl keiner seiner Großeltern lange
genug gelebt hatten, um das zu sehen.
„Dein
Großvater hat nicht Recht behalten“, unterbrach Hope. Wieder
einmal hatte sie seinen Gedanken zugehört. „Du bist kein -wie hat
er dich noch genannt?- Verlierer. Du bist ein Mensch, der etwas
richtig, richtig Gutes getan hat.“
„Du
meinst, ich bin ein Held, weil ich 3000 Leute gerettet habe?“
fragte David mit einem etwas zynischen Unterton. „Das Problem ist
nur, dass niemand das weiß, und dass es auch allen egal ist.“
„Macht
es wirklich einen Unterschied, ob es jemand weiß“, fragte Hope
sanft.
David blieb einen Moment stehen und sah sie an. Zum ersten Mal
erkannte er wirklich, dass er in der Tat etwas Besonderes geleistet
hatte.
Er hatte das Leben von vielleicht 3000 Menschen gerettet, und dabei
war es vollkommen gleichgültig, ob die Falsch-Flaggen Planer das
vielleicht irgendwo anders noch einmal versuchen würden. Jetzt im
Augenblick konnten 3000 Menschen ihr Leben weiterleben, weil er
dieses eine Mal das Richtige getan hatte.
Und es war auch egal, was ihn das selbst gekostet hatte.
„Du
hast Recht“, beantwortete David Hope's Frage. „Es macht keinen
Unterschied, wer es weiß, überhaupt nicht den geringsten.
David drehte sich wieder nach vorn und begann seinen Weg
fortzusetzen.
„Es
tut mir so leid für dich, dass du deine Mama verloren hast als du
noch ein Kind warst“, bemerkte Hope mitfühlend. „Und ich finde
es auch traurig, dass deine Großeltern nicht so waren wie meine, und
dass du niemanden wie meinen Großonkel Professor hattest, der dir
damals helfen konnte.“
David nickte, sie verstanden einander und so gab er zurück: „Es
tut mir auch Leid für dich, dass du deinen Vater verloren hast, als
du noch so klein warst. Und ich bin froh, dass du deinen Großonkel
hast.“
Hope kommentierte lächelnd: „Weißt du was, Onkel David, dein
Sensei, Mr Aristes, der hört sich genau wie mein Sensei an.“
David lächelte zurück: „Meinst du wirklich?“
„Mhm,
ganz genauso“, behauptete Hope, „er ist nämlich auch ein Mann
der Logik.“
„Schau
mal da drüben, Hope“, bemerkte David nun und deutete die Straße
hinunter. „Das ist eines der höchsten Gebäude der Welt. Einmal
war es sogar das allerhöchste. Und jetzt ist dies immer noch der
Ort, von wo du die spektakulärste Aussicht über die ganze Stadt
hast. Wollen wir da rauf?“
„Natürlich“,
dafür war Hope gleich zu begeistern. „Ich liebe die Aussicht von
ganz weit oben.“
***
Wieder einmal kommen in mir unerwünschte Erinnerungen hoch.
Ich war 16 als mein Vater nach einem der unterbrochenen
Filmabenden mit mir ein paar Blocks weiter die Straße
hinuntergefahren war und dann um die Ecke zu dem Dalek Club, einem
Musik-Club, der zu seinem Konzern gehört.
Als wir uns dem Eingang näherten, bemerkte ich einen
überwältigenden Gestank von Urin und Erbrochenem. Ein Mann war
gerade dabei seinen Kopf immer und immer wieder gegen die Wand gleich
neben dem Eingang zu schlagen. Er blutete bereits aus einer offenen
Wunde. Der Sicherheitsvollstrecker, der den Eingang bewachte, sah dem
Mann dabei gelangweilt zu.
Als Antwort auf meine unausgesprochene Frage erklärte mein Vater:
„Wir verkaufen hier im Club unsere neueste bewusstseinsverändernde
Substanz. Sie soll die Männer aggressiver und wacher machen, und
gleichzeitig ihre Kampffähigkeit erhöhen und den Schlafbedarf
senken.
Leider hat diese Substanz immer noch ein paar unerwünschte
Nebenwirkungen für einige Benutzer... aber“, fügte er mit einem
hämischen Grinsen hinzu, „unsere Kunden zahlen ganz schöne Summen
für die Ehre Versuchskaninchen für uns zu spielen.“
Als wir einmal im Club waren, beobachteten wir die Vorstellung
einer Gruppe, von der ich wusste dass sie in ganz Nephilim City
ziemlich berühmt war, obwohl ihre Musik nicht gerade meine
Kragenweite hatte.
Der Hauptsänger trug einen schwarzen Lederanzug unter einem
schwarzen Umhang. Blaue Flammen schienen seinem Umhang zu
entspringen. Seine Stimme war rau, heiser und extrem tief- mehr wie
ein unheimlich verstärktes Flüstern.
Die Musik selbst hatte eine metallisch, schrille Vibration. Der
einzige Vers, an den ich mich noch erinnere ging so:
„Die
Welt ist ein Loch – in einem Scheißhaufen Bach – regiert wird
sie doch – von denen, die schwach.“
Der anschließende Refrain wurde von den hoch-quietschenden
Computer-gleichen Stimmen der Hintergrundsänger herausgebrüllt.
Diese Männer waren in silbrig-metallische Kegel gehüllt, die ihre
gesamten Körper bedeckten, außer den Mündern. In einer Art
visueller Illusion sah es aus als schwebten diese Kegel über der
Bühne.
Aus der Mitte eines jeden Kegelmannes ragte ein langer Stab, mit
einer Kugel an der Spitze, die sich in regelmäßigen Abständen
öffnete und rote oder blaue Lichtstrahlen über die Köpfe der
Zuschauer schoss. Die in den Kegeln eingeschlossenen Männer schrien
mehr als sie sangen, und zwar immer denselben Spruch:
„Rottet
sie aus! Rottet sie aus! Bekriegt und besiegt die Schwachen, die
Schwa...a...a...achen!“
Und das ganze Publikum rief als Echo: „Rottet sie aus! Rottet
sie aus!“
Mit jeder Wiederholung des Refrains wurde das Echo der Zuschauer
ekstatischer. Sie hoben ihre Fäuste in die Luft und schüttelten
sie, während sie mit den Füßen auf den Boden stampften. Ich wusste
nicht, ob die Ekstase der Menge von der Musik kam oder von den
Substanzen, von denen mein Vater gesprochen hatte.
Dieses Mal war ich mehr als froh, als mein Vater mich nach draußen
führte.
„Wenn
die Vorstellung hier vorbei ist, dann wird das Publikum hier nach
draußen strömen direkt in die Projekte. Und dort werden sie die
Schwachen sehen, wie sie kriechen, wimmern und winseln“, erklärte
mir John Galt.
Und um mir dies genauer zu erklären, nahm er einmal wieder den
feierlichen Ton an, der normalerweise nur dafür reserviert war, wenn
er seinen Lieblingsphilosophen, einen Mann namens Friedrich Nietzsche
zitierte, der vor über 300 Jahren gelebt hatte:
„Was
die Frauen betrifft, so ist die eine Hälfte der Menschheit schwach,
chronisch krank, wechselhaft, verschlagen. Die Frau benötigt... eine
Religion der Schwachen, die Schwäche, Liebe und Bescheidenheit als
göttlich verherrlicht, oder mehr noch, indem sie die Starken schwach
macht, gelingt es ihr die Stärke zu besiegen.
Frauen haben sich immer mit den dekadenten Typen verschworen, den
Priestern zum Beispiel, gegen die Mächtigen, gegen die Starken,
gegen die Männer.
Das Wesen der Frau ist natürlich-das heißt primitiver, als das
des Mannes. Sie ist erfüllt von der echten Gerissenheit eines
Raubtieres und einem naiven Egoismus, und sie kann nicht kultiviert
werden.“
Dann fügte John Galt in seiner normalen Stimme hinzu:
„In
den letzten 200 Jahren wurde die ganze Welt von weiblichen Bestien
regiert. Die Männer dort in der äußeren Welt wurden geistig
kastriert und in ihrer Entwicklung zurückgehalten, nur damit die
Frauen mit ihrem Frieden-Frieden Gewimmere sich sicher fühlen
können.
Und
da man Frauen nicht beibringen kann, Logik zu benutzen, so wie man
das mit Männern tut, darum wurde die Schaffung von Venus Projekten
notwendig, und auch sehr hilfreich.
Endlich können Frauen wieder ihrer wahren Bestimmung zugeführt
werden, nämlich die Lust der Männer zu wecken und zu befriedigen.
Auf diese Weise wird unsere männliche Bevölkerung zu hungrigen und
scharfen Werkzeugen geformt. Sie werden jetzt zu Kriegern werden für
den Fortschritt der Menschheit.“
Wieder bekam seine Stimme den Zitierton: „Die
Verehrung von Phallus führt am Ende zur Herrschaft von Mars.“
Dieses eine Mal wagte ich sogar einen schwachen Protest: „Aber
die Frauen sind doch dieselbe Spezies wie wir.“
„Kaum,
nur gerade einmal“, behauptete mein Vater und erklärte weiter:
„In
der Vergangenheit wurden die Frauen für die Reproduktion von Männern
benötigt. Jedoch wie du und ich wissen, da ist das heute nicht mehr
nötig. In ein paar Jahren werden alle Männer außerhalb einer
weiblichen Gebärmutter geschaffen und entwickelt werden.
Selbst die Venus-Funktionen werden eines Tages ganz einfach durch
holographischen Programme und weiblich aussehenden Androiden ersetzt
werden. Von diesem Zeitpunkt an, werden Frauen für überhaupt nichts
mehr benötigt werden.“
„Was
wird mit den Frauen dann geschehen“, fragte ich.
Mein Vater zuckte mit den Achseln: „Sie werden einfach aufhören
zu existieren...“
Dies war das erste Mal, dass ich ganz klar erkannte, dass etwas
mit dem Verstand meines Vaters nicht stimmen konnte.
Ich hätte das gern mit Mr Tanner besprochen. Aber der war bereits
seit einem Jahr nicht mehr mein Lehrer. Und ich wusste auch nicht, wo
ich ihn finden konnte. Deshalb unterdrückte ich den Gedanken für
weitere vier Jahre.
***
In den Aufzug zur Aussichtsplattform im 86.Stock des Vampire State
Building drängten sich, wie zu erwarten, ganze Massen von Menschen.
Einmal drin wurden die Besucher in einem halben Dutzend
unterschiedlicher Sprachen begrüßt. Als sie den Aufzug verlassen
und die glaseingefasste Plattform betreten hatten, fühlte sich David
sogar noch mehr wie auf dem Turm von Babel, denn die meisten Besucher
waren, auch wie erwartet, Touristen aus aller Welt.
Als David es aber dann endlich geschafft hatte, einen günstigen Ort
am Geländer zu finden, da bemerkte er etwas Unerwartetes: Hope
schien irgendwie enttäuscht zu sein.
Dies war wiederum eine ziemliche Enttäuschung für David, der
immerhin 25$ ausgegeben hatte, Geld das er zur Zeit eigentlich nur
schwer entbehren konnte.
„Dir
gefällt diese Aussicht nicht“, fragte er Hope.
Wie immer war Hope zu ehrlich für eine höfliche, weise Lüge,
obwohl sie Davids Gefühle auch nicht verletzen wollte.
„Na
ja“, meinte sie zögernd, „ es sieht halt alles so grau aus, wie
ein Meer von grauen Steinen... oder vielleicht eher wie eine graue
Wüste.“
David musste zugeben, dass da ein Körnchen Wahrheit in Hope's
Beschreibung lag.
Teilweise konnte dieser graue Charakter der Stadt
heute auf das Wetter zurückgeführt werden. Die Wolken lagen dicht
über dem Himmel, und ein grauer Nebel hinderte eine weite Sicht. Es
war bereits Spätnachmittag, und wenn es auch nur eine kleine Öffnung
in der Wolkendecke gegeben hätte, dann hätte Hope von hier aus
einen phantastisch farbenreichen Sonnenuntergang beobachten können.
Leider gab es diese Öffnung nicht und trotzdem...
„Es
ist nicht alles grau“, verteidigte David seine geliebte Stadt. „Es
gibt auch sehr viel Grün hier, zum Beispiel da drüben im Central
Park.“ David deutete auf eine häuserlose Fläche in der Ferne.
Von hier aus sieht er zwar klein aus, aber eigentlich ist das ein
richtig großer Park mit zwei Seen darin. Und wenn du dort hingehen
würdest, da könntest du zu dieser Jahreszeit viele bunte Blumen und
blühende Bäume sehen und auch farbenfrohe Menschen so wie Künstler
und Akrobaten.“
„Ich
glaube dir das“, lenkte Hope ein. „Aber von hier oben sieht alles
so klein aus. Selbst wenn man da direkt nach unten schaut, dann sieht
man da eigentlich keine Leute, und sogar die Fahrzeuge sind so klein
wie Ameisen.“
„Natürlich
erscheint alles dort unten klein zu sein“, erwiderte David. „Wir
sind schließlich ziemlich weit oben. Ich nehme mal an, dass es hier
in der Gegend in deiner Zeit keine Wolkenkratzer mehr gibt?“
„Jedenfalls
keine in meinem Distrikt“, erwiderte Hope. „Es gibt jedoch schon
noch ein paar in asiatischen Ländern.
Allerdings sagt man auf dem Friedensnetz, dass Wolkenkratzer
ziemlich unpraktische Gebäude sind und gar nicht Energie-effizient.
Die Dörfer, die in solchen Häusern wohnen, die haben echt große
Probleme damit Energie-souverän zu werden. Sie haben nicht einmal
die Möglichkeit autark zu werden, stattdessen brauchen sie immer
viel extra Energie von ihren Distrikten. Und um ihren Lebensunterhalt
zu verdienen, müssen sich diese Dörfer auf Touristen verlassen,
denen sie Zimmer vermieten.
Hope's Stimme enthielt einen leichten Ton von Missbilligung ob dieser
wirtschaftlichen Abhängigkeit von Außenstehenden. Um fair zu sein
fügte sie jedoch hinzu: „Allerdings haben dieser
Wolkenkratzer-Dörfer auch immer ziemlich viele Besucher.“
„Ich
habe auch schon gehört“, gab David zu, „dass solche riesigen
Hochhäuser sehr teuer sind, in Energiekosten und anderem
Betriebsaufwand. Manchmal sind die Mieten dort bei weitem nicht
kostendeckend, und sie erwirtschaften nichts als Defizite.
Aber ich finde es trotzdem ein bisschen traurig, dass die berühmte
Skyline von New York in deiner Zeit verschwunden sein wird.“
David sah sich um und stellte sich vor, dass dieses Häusermeer durch
etwas ganz anderes ersetzt sein würde, vielleicht durch grüne
Wiesen und weite Wälder.
„Vielleicht
mussten die Menschen diese Häuser abtragen, weil sie das Material
benötigten, um neue Häuser zu bauen“, schlug Hope als Erklärung
vor. „Aber es könnte auch sein, dass die Menschen nicht mehr an
die Monumente der Vergangenheit erinnert werden wollten. Schließlich
wurde New York als Machtzentrum der Dunklen Zeiten angesehen.“
David seufzte. Er fuhr fort, auf ein paar andere Orte zu deuten:
„Dort hinter dem Central Park, da ist die Bronx. Von dort sind wir
heute Morgen gekommen. Und wenn wir ein Fernglas hätten, dann
könnten wir dort das Yankee Stadium sehen. Und das ist ein ziemlich
eindrucksvolles Bauwerk und überhaupt nicht grau.
Spielen sie eigentlich noch Baseball in deiner Zeit?“ fragte er
dann.
„Ist
es ein Gewinn-Verlier-Spiel?“ fragte Hope zurück.
„Du
meinst ein Spiel, bei dem die Teilnehmer entweder gewinnen oder
verlieren können?“ fragte David zurück, wartete dann aber nicht
auf die Antwort sondern erklärte: „Natürlich ist es das. Das ist
schließlich der Sinn eines jeden Spiels: die Herausforderung, der
Kampf und die Möglichkeit zu gewinnen... oder zu verlieren.“
„Nein“,
widersprach Hope, „das ist es nicht. Wir haben keine solchen
Spiele. Wir wollen nicht, dass Menschen zu Verlierern werden. Ist das
nicht das Wort, das hier benutzt wird, um jemanden zu demütigen?“
„Manchmal“,
gab David zu, „aber beim Baseball oder Football, da ist das ganz
anders. Spieler, die ein Spiel verlieren, können das nächste
gewinnen. Und wenn du mal verlierst, dann kannst du lernen, ein guter
Verlierer zu sein, nicht neidisch oder gehässig. Das macht dich zu
einem besseren Menschen.“
„Das
verstehe ich nicht“, kommentierte Hope kopfschüttelnd. „Kann man
nicht ein besserer Mensch werden, ohne zuerst ein Verlierer zu sein.“
David seufzte: „Das kann schon sein. Aber trotzdem verpasst ihr
eine Menge, wenn ihr niemals an einem Spiel teilgenommen habt.“
Hope sah ihn zweifelnd an, und so fragte David sie: „Treibt ihr
denn überhaupt keinen Sport in eurer Zeit, ich meine irgendetwas, um
euch körperlich fit zu halten?“
„Aber
sicher tun wir das. Wir rennen und wir tanzen und wir schwimmen“,
zählte Hope auf. „Die Delfin-Hausgemeinschaft besitzt das beste
Schwimmbad des ganzen Distrikts. Es ist ziemlich groß, und täglich
installieren sie einen neuen virtuellen Hintergrund um den Pool
herum, so dass die Leute in dieser virtuellen Landschaft schwimmen
können, so als ob sie an einem See, oder einem Fluss, oder einem
Meeresstrand irgendwo auf der Welt wären.
Aus dem ganzen Distrikt kommen Besucher zum Pool der
Delfin-Hausgemeinschaft. Und natürlich benutzen ihn alle aus unserem
Dorf. Ich gehe mit Mama, Sissy und Lillebro dort jede Woche
schwimmen. Das heißt“, fügte sie ein bisschen traurig hinzu. „Wir
sind zusammen dorthin gegangen bevor Mama auf ihre Kampfmission
gegangen ist. In den letzten paar Wochen waren wir dort mit Oma und
Opa.“
Dann erklärte sie weiter: „Mama ist früher jeden Tag mit Tante
Susie gerannt. Der Fußboden in ihrem Schlafzimmer ist ein
Renn-Brett. Schau mal!“
Eine Szene erschien, die zeigte Hope's Mutter, wie sie in einem
kleinen Raum auf einen Knopf neben dem Bett drückte. Dieser ließ
dann das Bett hochklappen und in der Wand verschwinden. Im selben
Augenblick verwandelte sich der kleine Raum in eine weite
Küstenlandschaft. Man konnte Schreie von Möwen und das Rauschen der
Wellen hören. Die holographische Projektion einer Frau sah gerade
auf das Meer hinunter. Sie drehte sich um, und lächelte Hope's
Mutter zu.
„Salaam
Sissy“, rief sie. „Wie geht es dir heute? Du bist ein bisschen
spät dran. Ich habe schon seit zehn Minuten auf dich gewartet. Also
komm, lass uns loslegen!“ Hope's Mutter drehte sich zu ihrer
Tochter um, die an der Eingangstür stand: „Spielst du bitte ein
bisschen draußen mit deinen Geschwistern? Ich muss mal mit Tante
Susie alleine sprechen.“
Die Szene verschwand und Hope fuhr fort: „Meine Tante Susie hat
ganz verschiedene Landschaften programmiert, durch die man rennen
kann, immer eine andere für jeden Tag der Woche, mit all den
dazugehörigen Geräuschen. Sie hat Mama sogar die dazugehörigen
Aromen geschickt, zum Einfüllen in die Klimaanlage, so dass der
Geruch auch zur Landschaft passt. Virtuelle Landschaften zu
entwerfen, ist das, womit Tante Susie ihren Lebensunterhalt verdient.
Manchmal rennen meine Geschwister und ich auch mit ihnen, meistens
rennen sie aber nur zu zweit.
Wir haben aber auch körperliches Training in der Schule. Manchmal
rennen wir, aber meistens tanzen wir. Schau mal!“
Eine neue Szene erschien: Die Kinder aus Hope's Klasse standen
nebeneinander in einer Reihe. Der erste in der Reihe, ein kleiner
Junge namens Peter, ging nach vorne und drehte sich zu den andern um.
Dann drückte er auf seinen Armbandkontroller, und plötzlich ertönte
laute Musik aus den unsichtbaren Lautsprechern an den Wänden. Peter
begann einige nicht besonders elegante Tanz-Bewegungen vorzuführen,
und alle anderen imitierten seine Bewegungen so gut sie konnten.
Eine Minute später war Cindy an der Reihe. Mit einem Tippen auf
ihren Armbandkontroller veränderte sich die Musik zu einer sanfteren
Melodie. Ihre Bewegungen waren graziös, und für ein Kind ihres
Alters, wirklich überraschend gut koordiniert.
Nach einer Minute war Tommy an der Reihe und dann Marcella. Ein Kind
nach dem anderen tanzte zu einer anderen Melodie, jedes mit anderen
Bewegungen, die von allen anderen imitiert wurden. Nach einer Weile
wurde die ausgewählte Musik immer schneller und die Bewegungen immer
wilder. Am Ende stolperten die Kinder übereinander und fielen im
Haufen unter schallendem Gelächter auf den Boden.
„Das
Tanzen macht uns Kindern großen Spaß“, erklärte Hope das
Offensichtliche, nachdem sich die Szene aufgelöst hatte.
„Die
Erwachsenen und die Jugendlichen haben andere Tänze, meist solche
mit vorgeschriebenen Bewegungen. Manchmal tanzen sie zu zweit und
manchmal in der Reihe, und manchmal tanzen sie alte Geschichten nach
alter Musik. Das wird Ballet genannt. Sie sagen, dass sie diese Tänze
wirklich mögen. Aber ich denke, dass es viel mehr Spaß macht, sich
die Bewegungen selbst auszudenken, und auch die Musik, und wenn alle
anderen dir dann folgen.“
„So
wie ihr tanzt, das sieht richtig lustig aus“, stimmte David zu.
„Ich kann schon sehen, dass es euch Freude bereitet.“
Mit Wehmut in der Stimme fügte er dann hinzu: „Ich finde es aber
trotzdem ein wenig schade, dass ihr die Mannschafts-Sportarten, wie
Baseball, Football oder Fußball alle abgeschafft habt. Eure Welt
verpasst da eine ganze Menge. So ein Sport bringt einem eine ganz
andere Art von Spaß. Aber ich nehme mal an, dass du das nicht
verstehen kannst, wenn du nie selbst an so etwas teilgenommen hast.
Selbst wenn man in einem Stadium nur zuschaut, gemeinsam mit 50.000
anderen Fans deiner Mannschaft, die alle jubeln und ihre Spieler
anfeuern, das ist berauschend. In dem Moment, wenn das Adrenalin dir
durch die Venen rauscht, dann spürst du eine solche Begeisterung und
eine innere Verbindung zu allen anderen um dich herum, wie ihr alle
gemeinsam mit tiefer Sehnsucht auf nur das Eine hofft, und wie ihr
euch mit den Spielern auf dem Platz auf dieses Eine konzentriert, den
Sieg am Ende.“
„Ich
weiß, wie sich das anfühlt, wenn man in einer 'Mannschaft
zusammenspielt', wie du das nennst“, verteidigte Hope sich und ihre
Kultur.
„Wir
entwerfen Geschichten zusammen, und hinterher spielen wir sie. Man
braucht große Gruppen von Kindern und Jugendlichen dafür, und
manchmal sogar Erwachsene, um eine richtig gute Geschichte zu
schaffen.
Und außerdem machen wir noch Himmelsmalerei. Unsere Spiele sind
einfach nur anders als eure.“
Dann hatte sie einen Gedanken: „Gab es denn die Spiele, von denen
du mir erzählt hast, dieses Baseball, Football oder Fußball, auch
bereits 200 Jahre vor deiner Zeit?“
David dachte eine Sekunde nach und versuchte sich an das zu erinnern,
was er von der Geschichte des Sports wusste. Am Ende musste er
zugeben: „Nein, die gab es damals nicht, jedenfalls nicht in ihrer
heutigen Form. Es gibt immer noch ein paar olympische Sportarten, in
denen Leute schon vor mehr als 2000 Jahren gegeneinander angetreten
sind, aber das waren keine Mannschafts-Sportarten. Die Sportarten von
heute sind nur etwas über hundert Jahre alt, glaube ich.“
Irgendwie hatte David sich nie die Frage gestellt, ob seine
Lieblings-Sportarten etwas Dauerhaftes seien. Sie waren so wichtig
für seine Gesellschaft. Sie erlaubten es Männern, sich miteinander
zu verbinden, machten es möglich, dass Fremde miteinander reden
konnten, selbst wenn man sich sonst nichts zu sagen hatte.
David
seufzte, während er in das diesige und irgendwie triste Panorama um
die grauen Gebäude sah.
Hope redete nun fast entschuldigend: „Die Zeiten ändern sich. Das
weißt du doch, Onkel David, du hast das selbst gesagt wie über den
Kleidungsstil.“
David nickte: „Ich denke du hast Recht. Manchmal ist es einfach ein
wenig schwierig, sich vorzustellen, wie sehr sich unsere Kultur
ändern wird. Aber erzähl mir doch ein bisschen mehr von der
Himmelsmalerei, die du erwähnt hast, das hört sich interessant an.
„Das
ist sogar mehr als das“, antwortete Hope begeistert, „es kann
bestimmt mit allem mithalten, das sie dort in dem Yankee Stadium
spielen. Auch wenn bein uns keine 50.000 Leute zuschauen und jubeln,
sondern nur die Leute aus unserem Dorf... meistens unsere Eltern.
Aber als wir die Video-Show von unserem Himmelsbild, das wir letzten
Monat gemalt haben, auf dem Friedensnetz veröffentlicht hatten, da
bekamen wir auch noch fast eine Million Clicks von Leuten aus der
ganzen Welt“, erklärte sie stolz.
„Ihr
zählt also Clicks? Das ist auch eine Art, Erfolg zu messen“,
kommentierte David.
„Da
hast du wohl Recht“, gab Hope zu. „Wir sehen uns auch die
Himmelsbilder von anderen Dörfern an, und die zählen auch ihre
Clicks.“
Dann erklärte sie: „Also Himmelsmalerei funktioniert so: Es gibt
ein elektro-magnetisches Netz zwischen den obersten Etagen aller
Hausgemeinschaften in unserem Dorf. Und da ist auch eine Rampe auf
jedem Dach. Von diesen Rampen aus starten wir, um mit unseren
Schwebebrettern, die mit farbigem Gas gefüllt sind, in der Luft zu
fliegen.
Wir müssen unsere Bewegungen koordinieren, und indem wir dabei
farbiges Gas ablassen, malen wir Muster und Bilder in den Himmel über
unserem Dorf. Wenn wir wollen, dass das ganze Bild auf einmal
erscheint, müssen wir die Bewegungen genau koordinieren und dabei
ganz schnell sein, denn die Farbenspur löst sich in kurzer Zeit auf.
Willst du das Himmelsbild sehen, das wir letzten Monat gemalt haben?“
„Natürlich“,
antwortete David.
Die Dämmerung war nun über New York eingebrochen, und es war so
dunkel und diesig um ihn herum, dass selbst von einem so hohen Turm
wie diesem, kaum noch etwas zu sehen war. In Hope's Welt würde es
zur Zeit sicherlich eine bessere Aussicht sein. David schloss seine
Augen.
Eine Gruppe von etwa dreißig Kindern, alle in Hope's Alter, standen
zusammen auf dem Dach eines Gebäudes. David erkannte, dass dies
nicht das Gebäude von Hope's Hausgemeinschaft war.
Die Kinder schienen aus allen Hausgemeinschaften des Dorfes zu
kommen, denn David zählte zehn verschiedene Farben auf den
Kleidungsstücken der Kinder.
Hope war eines der Kinder in der Gruppe, und David konnte nun ihre
Gedanken ganz genau lesen. Sie war irgendwie besorgt, während sie
einem Jungen namens Danny zuhörte.
Er schien eine Anfeuerungsrede für die Gruppe zu halten: „Ihr
wisst alle, wie lange wir uns auf das hier vorbereitet haben. Wir
haben drei Monate gebraucht, um die Musik zusammenzustellen und die
Choreographie, und haben jede einzelne Bewegung immer und immer
wieder geübt.
Dies ist jetzt das vierte Mal, dass wir das volle Programm
durchgehen. Und ich bin sicher, dieses Mal wird es klappen!
Aber ich bitte euch alle, eure Kappen gut zu befestigen. Nancy, du
hast deine letztes Mal fast verloren, und Terrence, deine Kappe ist
ganz weggeflogen. Ich bin mir sicher, dass deine Eltern darüber
nicht sehr glücklich waren. Ich habe gehört, dass einige der
Mikrochips ersetzt werden mussten?“
„Da
ist nicht viel kaputt gegangen“, verteidigte sich Terrence und
fügte rebellisch hinzu: „Ich versteh überhaupt nicht, warum wir
unsere Kappen überhaupt tragen müssen. Es macht viel mehr Spaß,
wenn man den Wind fühlen kann, wie er durch das Haar weht.“
„Aber
das ist jetzt wirklich eine dumme Frage“, rief Danny. „Wir wollen
unsere Show auf dem Friedensnetz veröffentlichen. Das weißt du
doch. Willst du wirklich, dass alle in der Welt glauben, dass wir
eine Bande Unanständiger sind, hier in Spesaeterna, die unbedeckt in
der Öffentlichkeit rumlaufen?“
Terrence war es offensichtlich recht egal, was der Rest der Welt
dachte. Er brummte vor sich hin, tat dann aber doch, was ihm gesagt
wurde, und befestigte wie alle anderen seine Kappe fest unter dem
Kinn.
Es gab aber noch einen Einwand. Hope's Freundin Marcella begann
schüchtern etwas zu sagen: „Danny, bitte, ich kann das nicht. Ich
habe dir doch schon beim letzten Mal gesagt, dass ich das nicht kann.
Es geht einfach nicht.“
„Und
ich habe dir gesagt, dass du es doch kannst“, widersprach Danny
unerbittlich. „Wenn du genug übst, dann kannst die Bewegungen zur
richtigen Zeit ausführen, genau wie alle anderen. Wir haben auf dem
Netz angekündigt, dass alle Sempai aus dem zweiten Jahr unseres
Dorfes an diesem Projekt teilnehmen würden. Und du bist doch eine
Sempai aus dem zweiten Jahr... oder nicht?“
Marcella wandte den Blick ab. Tränen begannen ihr unter den
Augenlidern hervorzuquellen. Sie sagte mit leiser Stimme: „Ich will
es doch nur nicht für euch alle anderen verderben...“
„Das
wirst du nicht“, antwortete Danny in einem Ton, der keinen
Widerspruch duldete. „Und wenn ich persönlich mit dir Tag und
Nacht üben muss, dann werde ich das tun. Jeder kann Himmelsmalerei
lernen, auch du!“
Schon eine Weile lang hatte Hope versucht, Marcella auf sich
aufmerksam zu machen, jedoch ohne Erfolg. Sie nahm Marcella jetzt am
Arm, führte sie ein paar Schritte von der Gruppe weg und flüsterte
ihr ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen, dieses Mal wirst du keine
Fehler machen. Ich habe letzte Nacht an deinem Schwebebrett
gearbeitet und es hiermit verbunden...“
Hope öffnete ihre Faust und zeigte Marcella ein kleines Gerät.
„Dies
ist eine Fernbedienung. Ich habe ein paar Tage gebraucht, um sie
richtig einzustellen. Aber jetzt funktioniert sie, und ich kann dein
Brett damit kontrollieren. Alles, was du jetzt noch tun musst, ist
deine Balance zu halten, während ich die Bewegungen kontrolliere.“
„Das
kannst du wirklich?“ fragte Marcella ungläubig.
„Ja,
das kann ich“, flüsterte Hope zurück. „Ich habe letzte Nacht
geübt, als es dunkel war, und mich niemand beobachten konnte. Ich
habe jede Bewegung mit deinem und meinem Brett durchgeführt,
zusammen mit der Musik.“
„Aber
warum hast du mir das nicht schon früher erzählt“, fragte
Marcella flüsternd. Sie schien bereits sichtlich entspannter zu
sein, und ihre Tränen waren getrocknet.
„Ich
wollte sicher gehen, dass es funktioniert, bevor ich dir zu viel
Hoffnung mache,“ antwortete Hope. Und voller Zuversicht in der
Stimme fügte sie hinzu: „Letzte Nacht hat es geklappt, dann wird
es auch heute klappen. Vertrau mir!“
Als Danny ihr erklärt hatte, dass sie es schaffen würde, konnte
Marcella das nicht glauben, bei Hope aber war das anders. Als sie
zusammen zur Gruppe zurückkehrten, hatte sie die Schultern gestrafft
und war bereit.
Auf Danny's Anweisung surfte sie auf ihrem Brett hinüber auf das
Dach eines anderen Gebäudes und stellte sich gemeinsam mit zwei
anderen Kindern auf ihren Platz an der Rampe. Die anderen Sempais des
zweiten Jahres, einschließlich Hope, taten dasselbe, so dass auf
jedem Dach drei oder vier Kinder positioniert waren.
Die Musik begann. Hope, Ameenah und ein Junge namens Jason sprangen
von der Rampe, einer nach dem anderen, genau wie sechs weitere Kinder
von zwei gegenüberliegenden Dächern. Hope nahm eine große Kurve
und flog dann über die Mitte des Platzes zwischen den Häusern.
David bemerkte, dass ihr Brett weißen Rauch ausströmte und hinter
sich herzog.
Jetzt war die zweite Gruppe von Kindern an der Reihe, unter ihnen
Marcella. Diese surften nicht so weit von den Rampen weg, von denen
sie abgesprungen waren, wie die erste Gruppe. Bei ihnen war der
Rauch, den sie hinter sich herzogen, bunt gefärbt. Marcella's Farbe
war ein dunkles Grün, während das Mädchen neben ihr ein helleres
Grün versprühte.
Schließlich kam die letzte Gruppe, die ganz nah bei den Häusern
blieb und hellere und dunklere Goldtöne versprühte. David sah das
alles am Rande seines Sichtfelds, aber bemerkte, dass Hope sich
ausschließlich auf sich selbst und Marcella konzentrierte. Sie
kannte jede Bewegung auswendig, jede Wende, jeden Auf- und Abstieg,
synchronisiert zu einer Musik, die aus den Lautsprechern der
umliegenden Gebäude tönte.
Hope kannte auch Marcellas Bewegungen gut, und trotzdem war es
wirklich schwierig sie zu koordinieren, denn bei jeder Bewegung der
Fernbedienung, musste sie ihre eigene Position in Relation zu der von
Marcella berücksichtigen.
David's Geist war jetzt dem von Hope so angeschlossen, dass er jede
Bewegung und jede Drehung fühlen konnte. Er spürte wie der Wind um
Hope's Nase strich. Und wenn sie im scharfen Sinkflug war, fühlte er
den Absturz in seinem eigenen Magen so intensiv, als säße er in
einer Achterbahn.
Er spürte, wie angespannt Hope's Nerven waren.
Wie sie wusste er, dass wenn sie dieses Mal versagte, es so viel
schwieriger sein würde, Marcellas Selbstvertrauen wieder aufzubauen.
Denn obwohl Marcella ihre Surf-Schwünge nicht selbst durchführen
musste, so war es doch notwendig, dass sie die Balance auf ihrem
Brett hielt, sonst würde es nicht funktionieren.
Jetzt kam der schwierigste Teil; die Zeiten mussten perfekt sein.
Hope konzentrierte sich auf die Musik und zählte den Takt aus. Eine
Drehung mit dem ganzen Körper und eine Sekunde später mit der Hand
und der Fernbedienung, und das Ganze noch einmal wiederholt.
Dann kam der Schwung nach oben, bevor die Musik langsamer wurde. Und
dann noch einmal ein tiefer Sinkflug, zuerst der von Hope und dann
der von Marcella. Und zum Schluss noch einmal eine große Kurve
zurück zur Rampe... Geschafft!
Hope begann wieder zu atmen. Erwartungsvoll sah sie hoch auf das, was
sie gemeinsam geschaffen hatten.
Ja, ja, ja... es war perfekt! Das Bild war genau, wie sie es geplant
hatten. Jeder von ihnen hatte seine Bewegungen exakt ausgeführt.
Lautes Klatschen und Jubelrufe konnten jetzt von all den Balkons der
angrenzenden Gebäude vernommen werden. Es schien als hätte
praktisch das gesamte Dorf zugeschaut.
David sah sich das Bild am Himmel genauer an, und er war wirklich
beeindruckt. Das Bild zeigte das Gesicht eines Mannes in Weiß,
umringt von einem farbigen Hintergrund von Wäldern und Wiesen,
eingefasst in einen Rahmen mit einem komplexen Goldmuster.
Während das Bild sich langsam auflöste und die Farben sich
ausbreiteten, vermischten und schwächer wurden, dachte David, dass
er für eine Sekunde lang erkennen konnte, wen das Gesicht darstellen
sollte... Es war...
Die Szene verschwand und Davids Geist kam wieder zum 86. Stockwerk
eines Wolkenkratzers im 21. Jahrhundert zurück.
“Thomas
Jefferson”, sagte David laut.
Obwohl der Lärm, den die Menschen um ihn herum machten, fast
ohrenbetäubend war, konnte Hope ihn trotzdem hören.
„Wer“,
fragte sie.
„Das
Gesicht von dem Mann, den ihr an den Himmel gemalt habt“, erklärte
David genauer, „das war das von Thomas Jefferson, der die 'Bill of
Rights', die Bürgerrechtszusätze zur Verfassung, geschrieben hat.“
„Oh“,
meinte Hope überrascht, „den Namen von dem Mann kannte ich nicht,
auch nicht, dass er in deiner Zeit irgendwie berühmt war. Danny hat
das Bild nur irgendwo auf dem Friedensnetz gefunden, unter der
Rubrik: Gesichter von Leuten aus dem 18. Jahrhundert.“
David erkannte wieder einmal, dass Hope nicht mehr in den Vereinigten
Staaten von Amerika lebte. Sie kam aus einer Gesellschaft, in der man
Nationalstaaten praktisch kaum noch eine Bedeutung beimaß,
jedenfalls im Vergleich zur Bedeutung des eigenen Dorfes. Und deshalb
würde die Geschichte, die Hope gelehrt wurde, auch ganz andere
Themen hervorheben.
Amerika's geliebte Verfassung war durch ein paar örtliche Regeln
ersetzt worden. Und Thomas Jefferson, der Nationalheld, das Symbol
für Freiheit und die amerikanische Unabhängigkeit, dessen Gedanken
und Ideen in diese Verfassung eingegangen waren, dieser Mann, der
jedem Amerikaner bekannt war, auch denen, die sonst nicht viel
wussten, der war in Hope's Zeit zu nichts anderem geworden, als
irgend so einem Gesicht des 18. Jahrhunderts.
Wieder einmal fühlte David den Schmerz des Verlustes.
Aber dann führte eine plötzliche Erkenntnis ihn ganz schnell aus
diesem Nostalgiegefühl heraus:
Die amerikanische Verfassung war doch schon längst vor Hope's Zeit
praktisch abgeschafft worden. Die wichtigsten Bürgerrechte, wie das
Recht auf eine schnelle Gerichtsverhandlung durch eine Jury, das
Recht jedes einzelnen Bürgers, sich vor Gericht gegen die Anklagen,
die gegen einen vorgebracht wurden zu verteidigen, die gab es nicht
mehr.
Heutzutage konnten Menschen auf unbegrenzte Zeit festgehalten werden,
an Orten, die niemand kannte, ohne dass man auch nur erfuhr, weswegen
man angeklagt wurde. Der Staat konnte Menschen jetzt für immer
verschwinden lassen. Oder, wenn sie sich im Ausland aufhielten,
konnten sie von Drohnen exekutiert werden, ohne eine Festnahme und
ohne Gerichtsverhandlung, einfach nur durch einen Befehl des
Präsidenten.
All das war jetzt legal geworden, genau so legal, wie gewisse Formen
der Folter, wie das 'Water-Boarding' oder Schlafentzug oder extrem
schmerzhafte Fesselungen in verkrampften Stress-Positionen.
Der Bürgerrechtszusatz zur Verfassung hatte die Menschen vor
Machtmissbrauch und Übergriffen des Staates geschützt. Jetzt war
dieser Verfassungsanteil durch den 'Patriot Act' und weitere Gesetze
ausradiert und ersetzt worden.
„Oh
Thomas“, fragte David im Stillen seinen längst verstorbenen
persönlichen Helden, „hättest du das je gedacht?“
Dieses eine Mal las Hope David's Gedanken nicht, denn sie war von der
Aussicht auf David's Welt von so weit oben abgelenkt.
„Jetzt
sieht das aber wirklich ganz toll aus“, rief sie begeistert, und
das zu David's freudiger Überraschung.„Du hattest Recht, das ist
wunderschön hier oben!“
Während David seine Augen geschlossen gehalten hatte, und sein Geist
in Hope's Welt eingetaucht war, da war die Dämmerung in seiner
eigenen Welt in die Nacht übergegangen. Und in der umgebenden
Dunkelheit hatte sich New York in ein Lichtermeer verwandelt, weiße
Lichter, gelbe Lichter, orange Lichter, mit ein paar roten Punkten
dazwischen.
Die Lichter von den anderen Wolkenkratzern schienen ihnen näher zu
sein, als die auf der Erde. Sie formten interessante Muster aus
Pyramiden und Kreisen, während die Straßenlampen wie Pünktchen
erschienen, die in langen Linien bis zum Horizont liefen.
„Es
ist viel schöner hier, wenn es dunkel ist“, kommentierte Hope, und
David war froh, dass er etwas in seiner Zeit gefunden hatte, das Hope
gefiel. Sie gingen noch einmal eine Runde um die Plattform für die
ganze Panorama-Aussicht von all den berühmten Sehenswürdigkeiten,
auch wenn die meisten davon zur Zeit nicht kaum noch zu sehen waren.
Dann nahmen sie den Aufzug wieder nach unten. David drehte sich noch
einmal um, um Hope einen letzten Blick auf das aufgeleuchtete Gebäude
zu erlauben.
„Jetzt
bin ich wirklich hungrig“, stellte er dann fest, „lass uns
irgendwo hingehen, wo wir etwas essen können.“
„Wir“,
fragte Hope grinsend, „ich würde ja gerne, aber leider...“
Jetzt lachte David auch: „Das hätte ich fast vergessen. Aber weißt
du was, lass uns zu einem Ort gehen, wo ich essen kann, und du
genießt dafür die Aussicht.“
„Zu
einem Restaurant in einem anderen Wolkenkratzer“, fragte Hope.
„Nein“,
antwortete David, „ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mir nichts
von dem leisten könnte, was die dort auf der Speisekarte haben. Aber
ich gehe mit dir zu einem Platz, wo du weiter blicken kannst als von
den höchsten Gebäuden New Yorks.“
„Wirklich“,
fragte Hope. „Wie ist denn das möglich?“
„Du
wirst schon sehen“, antwortete David geheimnisvoll. „Und nein,
fang jetzt bloß nicht an, in meinem Kopf rum zu suchen, das würde
die Überraschung total verderben.“
Um sie abzulenken, und weil es ihn wirklich interessierte, redete er
jetzt noch einmal über die Szene, die er in Hope's Erinnerungen
beobachtet hatte: „Du hast Recht mit der Himmelsmalerei, das ist
schon ein eindrucksvoller Sport. Es sieht auch ziemlich gefährlich
aus. Was passiert wenn ihr herunterfallt? Ihr seid ja doch ziemlich
weit oben, wenn ihr so über den zehnten Stock hinweg fliegt. Könntet
ihr da nicht abstürzen und euch den Hals brechen oder zumindest
sämtliche Knochen?“
„Nein,
natürlich nicht“, Hope schüttelte den Kopf. „Es gibt zwei
verschiedene EM-Netze, um einen aufzufangen. Die sind sogar an
verschiedenen Stromnetzen, falls wirklich mal der Strom auf einem
Netz ausfallen sollte. Ich habe noch nie gehört, dass ein
Himmelsmaler auf den Erdboden gestürzt ist. Es ist schwierig die
richtigen Bewegungen hinzukriegen, aber gefährlich ist es nicht.“
Inzwischen waren sie an der Bushaltestelle angekommen. Sie hatten
Glück, denn der richtige Bus kam gerade in dieser Minute an. Genau
wie auf dem Weg in die Stadtmitte, ging David auch diesmal ganz nach
hinten im Bus, für eine bessere Aussicht auf dem Weg zur Bronx und
für ein bisschen mehr Privatsphäre.
Er fuhr mit dem Gespräch fort: „Aber du hast doch ein bisschen
geschummelt bei der Himmelsmalerei, oder nicht?“
„Geschummelt“,
fragte Hope verwirrt.
„Schummeln
bedeutet, wenn man die Regeln bei einem Sport oder einem Spiel
bricht“, erklärte David.
„Ich
verstehe nicht“, Hope schüttelte den Kopf immer noch verwirrt.
„Ich habe doch gar keine Regeln gebrochen...
Ach so, du meinst, weil ich Marcella's Brett verändert habe?“
David nickte: „Und weil du es kontrolliert hast und nicht sie. Ist
das denn nicht gegen die Regeln?“
Hope schüttelte entschieden den Kopf: „Es gibt keine Regeln bei
der Himmelsmalerei, außer denen, die Danny sich selbst ausgedacht
hat. Er wollte aufs Friedensnetz schreiben, dass alle Sempais aus dem
zweiten Jahr in unserem Dorf an diesem Projekt teilgenommen haben.
Er hätte schreiben können, dass die meisten teilgenommen haben oder
so was Ähnliches. Aber er wollte das nicht...“
Hope schob die Unterlippe vor und erklärte: „Ich meine Danny ist
wirklich gut bei der Himmelsmalerei. Keiner von uns hat so viel
Talent wie er. Und im Organisieren ist er auch der Beste. Er hat die
meiste Arbeit geleistet, die Musik angeglichen und das Bild, und er
hat jedem von uns die richtigen Bewegungen zugeteilt. Und dann hat er
uns in Gruppen aufgeteilt und mit den einzelnen Gruppen separat
trainiert. Ohne ihn hätten wir das nie geschafft. Danny ist gut,
aber er ist auch so ein Junge... so typisch männlich.
Manchmal versteht er einfach gar nichts.“
David lächelte: „Und das ist typisch männlich?“
Hope nickte, wobei sie dies eine Mal nur typisch weiblich war, mit
den ganz typischen Beschwerden: „Jungen, die wollen einfach nur
ihre Ziele erreichen, ganz egal wie, und die verstehen überhaupt
nicht, wie andere Leute sich fühlen...
So wie Danny, er denkt, wenn Marcella nur genug übt, wird sie besser
und besser. Aber Marcella hat kein Talent für koordinierte
Bewegungen, egal wie hart sie trainiert. Sie bekommt einfach nur
immer mehr Angst. Und weil sie sich fürchtet, wird sie noch steifer
und sogar weniger koordiniert.“
„Marcella
hätte sich einfach auf die Hinterbeine stellen sollen“, schlug
David vor. „Und dann hätte sie dem Tyrannen Danny, nein sagen
sollen, dass sie nicht mitmachen will.“
„Du
verstehst auch nichts“, klagte Hope David an. „Es ist schwer,
nein zu sagen, wenn alle anderen da sind. Wenn alle etwas tun können,
und nur du allein kannst es nicht, auch wenn du so gerne genau wie
alle anderen sein willst, dann ist das... na ja, da schämt man sich
halt so in meiner Zeit.“
„Ich
weiß schon, was Gruppenzwang bedeutet“, verteidigte sich David.
„So etwas gibt es bei uns auch.“
„Ist
es das, was man bei euren Gewinn- Verlier-Spielen lernt“, fragte
Hope, „sich gegen die durchzusetzen, die kontrollieren wollen, was
man tut?“
David dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf:
„Eigentlich nicht, um ehrlich zu sein. Da gibt es in den meisten
Sportarten Leute, die den Spielern ganz genau vorschreiben, was sie
zu tun haben, die nennt man Trainer. Und kein Spieler würde es
wagen, zu so jemandem nein zu sagen.“
„Hmm“,
sagte Hope. Und David wusste, sie dachte, dass wenn sie den Leuten
nicht einmal beibrächten, nein zu sagen, wofür diese
Gewinn-Verlier-Spiele dann überhaupt gut waren.
„Aber“,
fügte David hinzu, „nur diejenigen, die wirklich Talent für einen
Sport haben, dürfen überhaupt mitmachen.“
„Und
was ist mit den anderen“, fragte Hope.
„Die
können zuschauen“, antwortete David.
„Und
wo ist da der Spaß“, fragte Hope.
„Hat
nicht der Großteil der Leute in deinem Dorf zugeschaut“, fragte
David zurück. „Und hast du mir nicht gesagt, dass ihr die
Vorstellung auf dem Netz veröffentlicht habt, und eine Million Leute
dort zugeschaut haben?“
Hope grinste: „In Ordnung, du hast Recht, Zuschauen macht auch
Spaß. Und vielleicht habt ihr genau so viel Spaß dabei, wenn ihr
bei euren Spielen zuschaut, wie wir bei unseren.“
David grinste zurück. Es war schön einmal ein Streitgespräch gegen
Hope zu gewinnen, dachte er.
Und damit schwiegen sie beide für eine Weile und konzentrierten sich
auf die Welt außerhalb des Busses. Genau wie von hoch oben, so war
auch hier auf dem Boden die Aussicht bei Nacht ganz anders als am
Tag. Für Hope war es eine Lichter-Show, etwas das sie nie zuvor
gesehen hatte, und sie genoss es in vollen Zügen.
Als sie endlich wieder am St.Francis Park ankamen, wusste David, dass
Hope die Busfahrt Freude gemacht hatte.
Das
Restaurant, zu dem David gehen wollte, war gleich um die Ecke.
'Bella Italia' war in leuchtenden Neonlichtern über den Eingang
geschrieben. Eine sanfte alt-modische Musik begrüßte sie, als sie
eintraten. Der ganze Ort hatte ein nostalgisches Flair. Jeder Tisch
war mit einem rot-karierten Tischtuch gedeckt. Die Lampen darüber
verströmten ein sanftes Licht, nicht heller als die Kerzen auf den
Tischen. Die stärksten Lichtquellen erleuchteten nicht den Raum
sondern waren gegen die Wände gerichtet.
Und um Hope diese Wände zu zeigen, das war der Hauptgrund, warum
David hergekommen war. Alle vier Wände waren mit Wandmalereien
bedeckt, die italienische Themen hatten, wie den schiefen Turm von
Pisa, Gondeln auf dem Kanale Grande in Venedig, das Colosseum in Rom
und der Vatikan Hügel. Und zwischen den berühmten
Sehenswürdigkeiten, konnte man auch Bilder von kleinen Dörfern
Flusstälern und bewaldeten Bergen sehen.
Jedes einzelne Bild wurde durch gemalte Weinranken eingerahmt. Ein
Kunstkritiker hätte diese Szenen vielleicht als wenig originell
beschrieben, doch David wusste ziemlich sicher, dass Hope eine völlig
andere Ansicht dazu haben würde.
„Das
ist großartig“, rief sie aus. „Die sind ja fast genauso, wie das
was unsere Leute an die Wände unserer Häuser malen. Vielleicht sind
diese Bilder hier sogar noch schöner. Sind das reale Orte?“
„Das
sind Bilder von Orten in Italien“, erklärte David. „Ich habe dir
doch gesagt, dass man von hier aus weiter sehen kann, als vom
höchsten Wolkenkratzer. Und voila, hier ist sie, eine Aussicht, die
den ganzen Weg nach Europa reicht!“
Die lächelnde Kellnerin, die David zu seinem Tisch führte, war
extrem schwanger. Er hatte sich kaum hingesetzt, als ein Mann, den
David als den Eigner des Restaurants erkannte, schon auf ihn
zugestürzt kam.
„Ich
bediene Mr Ragnarsson selbst, Gina“, erklärte er entschieden und
fügte hinzu: „Du solltest wirklich nach oben gehen, Liebes, und
dich ausruhen. Du bist schon den ganzen Tag auf den Beinen.“
„Dad“,
protestierte Gina, „ich bin doch nicht krank, nur schwanger. Und
ich habe mich den ganzen Nachmittag ausgeruht, aber Cary hat
angerufen und sich für heute Abend krank gemeldet. Und sie hat auch
für nächste Woche schon gekündigt. Sie zieht zurück nach Hause,
nach South Carolina.“ Und damit drehte sich Gina einem Gast zu, der
die Rechnung verlangte.
Ihr Vater -David war wieder eingefallen, dass sein Name Santini war-
zuckte mit den Achseln. Entschuldigend sah er David an und sagte:
„Sie ist doch alles, was ich noch habe, nachdem ihre Mutter im
letzten Jahr gestorben ist, da ist da nur noch Gina... und das Baby,
das bald kommt, natürlich.
Gina's Mann Carlos ist übrigens unser Koch, und ein richtig guter,
das ist er, wie Sie wahrscheinlich schon gemerkt haben, obwohl er gar
kein Italiener ist. Puerto Rico, da ist er her, aber trotzdem
italienisch kochen, das kann er. Wenn da mal ein Wettbewerb wäre, da
könnte er jedem 5 Sterne Koch mehr als nur das Wasser reichen, das
muss ich schon sagen. Aber ich denke halt, dass er nicht genug Acht
gibt auf meine Gina. Er sollte ihr nicht erlauben, abends so lange zu
arbeiten. Auf mich hört sie natürlich nicht, ich bin ja schließlich
nur ihr alter Dad. Aber auf ihn, da würde sie hören.“
Es überraschte David einigermaßen, dass ihm hier die ganze Santini
Familien-Geschichte serviert wurde. Er war in dem Lokal nur drei oder
vier Mal gewesen und hatte nie mehr als zwei Worte zu Mr Santini
gesprochen, obwohl dieser sich ihm schon einmal vorgestellt hatte.
Dabei hatte er aber doch bemerkt, dass Santini ihn dabei neugierig
angesehen hatte. David selbst hatte dem Gastwirt seinen Namen nie
genannt, und doch schien es nun, als ob dieser ihn trotzdem von
irgendwoher kannte.
Beinahe tat es David schon leid, dass er überhaupt ins 'Bella
Italia' gekommen war. Am Ende beschloss er dann doch, trotzdem das
Beste daraus zu machen. Er nahm die Speisekarte von Mr Santini
entgegen, lächelte ihn an und sagte:
„Eltern
machen sich immer Sorgen um ihre Kinder, das verstehe ich gut,
besonders seitdem ich selbst ein Vater bin.“
Mr Sanitini's Mine verdüsterte sich, als er antwortete: „Das ist
wahr, wir machen uns immer Sorgen. Wir versuchen unsere Kinder zu
beschützen. Aber dann versagen wir... wir versagen so völlig. Wenn
ich es doch nur gewusst hätte...“
Mr Sanitini seufzte traurig, verloren in seinen eigenen Gedanken. Am
Ende kam er in die Gegenwart zurück und sagte zu David:
„Ich
bin so froh, dass Sie heute Abend hier sind, Mr Ragnarsson. Sie sind
schon lange nicht mehr bei uns gewesen. Nur vor ein paar Tagen haben
meine Freunde und ich über Sie geredet. Ich habe ihnen gesagt, dass
Sie hin- und wieder hier essen. Und meine Freunde haben gesagt, dass
sie Sie wirklich gerne treffen und Ihnen einen Job anbieten würden,
Sie wären nämlich der perfekte Mann für den Job.“
Diese Worte erschreckten David, und er dachte an die 'Freunde von
Freunden', von denen Ed gesprochen hatte. Er war überhaupt nicht
erfreut darüber, wohin dieses Gespräch gegangen war.
Mr Sanitini bemerkte David's veränderte Haltung nicht, und so fuhr
er einfach fort: „Die Leute essen mehrmals die Woche hier bei uns.
Natürlich gebe ich ihnen einen guten Rabatt. Diesen Monat wollen
sie anfangen es professionell zu machen mit ihrer Webseite. Die ist
in den letzten paar Monaten abgegangen wie eine Rakete, haben sie
gesagt.
„Als
ich ihnen von Ihnen erzählt habe, da meinten sie Sie würden perfekt
zu ihnen passen. So ein richtiger Profi würde ihnen noch mehr
Glaubwürdigkeit verleihen, jemand mit Mut und Integrität. Sie haben
natürlich Ihre Artikel gelesen und glauben Ihnen 100 Prozent, genau
wie ich. Natürlich sind Sie reingelegt worden...
Während er dieser überraschenden Rede zuhörte, wusste David nicht,
was er sagen oder auch nur denken sollte.
Er riss sich zusammen und erwiderte: „Ihre Freunde verstehen doch,
dass meine Glaubwürdigkeit im Augenblick wirklich nicht als all zu
hoch angesehen wird“
Mr Santini schüttelte den Kopf: „Das gilt doch nur für die
Mainstream-Medien, im Internet ist sie hoch, wirklich hoch.“
Das waren überraschende Neuigkeiten für David. Er war immer noch
nicht sicher, was er dazu sagen sollte, also fragte er nur: „Wie
heißt denn die Webseite?
“Truth-Research”,
war Mr. Santinis kurze Antwort.
David war diese Seite schon ein paar Mal aufgefallen, als er im Netz
gesurft hatte. Vor einem Jahr hätte er so eine
Verschwörungs-Theoretiker-Seite nicht einmal mit einem zehn Fuß
langen Stecken angefasst. Obwohl, eigentlich hatte der letzte
Artikel, den er dort kürzlich gelesen hatte, David schon ein
bisschen beeindruckt, wie gut dieser recherchiert worden war, und aus
was für wirklich glaubwürdigen Quellen diese Recherche sich
ableitete.
„Natürlich
können Sie Ihnen nicht das Gehalt bezahlen, dass Sie vorher
hatten“, erklärte Mr. Santini vorsichtig, als er David's Zögern
bemerkte.
„Es
hat nichts mit dem Gehalt zu tun“, erwiderte David. Er war selbst
nicht ganz sicher, was der Grund für sein Zögern war. Vielleicht
lag es daran, dass so ein Angebot so plötzlich aus heiterem Himmel,
irgendwie unwirklich erschien.
„Denken
Sie einfach mal darüber nach“, schlug Mr. Santini vor. „Aber
zuerst müssen Sie natürlich etwas essen. Dafür sind Sie
schließlich gekommen. Haben Sie die Speisekarte schon studiert?“
David hatte das nicht getan, da Mr. Santini ihn ja ablenkt hatte,
aber er wusste trotzdem bereits, was er wollte. Beim letzten Mal
hatte er eine Tagliatelle Gorgonzola mit Knoblauchbrot gegessen und
einen kleinen Salat dazu. Und Mr. Santini hatte Recht, sein
Schwiegersohn war mit Sicherheit genauso gut wie jeder Chefkoch eines
Mahattan Luxus Restaurants. David bestellte das Nudelgericht und dazu
eine alkoholfreie Weinschorle.
Als Mr. Santini gegangen war, bemerkte Hope sanft: „Du könntest
wieder Artikel schreiben. Das ist doch das, was du wolltest, zu
schreiben, so dass viele Leute es lesen können?“
David nickte: „Ich würde fast alles dafür geben, wenn ich wieder
Arbeit als Journalist finden könnte, selbst als so ein
Internet-Journalist. Aber weißt du Hope, es scheint einfach zu gut,
um wahr zu sein. Ich habe nur Mr. Santini's Wort dafür. Weiß er
denn wirklich, wovon er redet? Vielleicht haben seine Gäste nur
versucht, nett zu ihm zu sein.“
„Du
hast Angst davor, enttäuscht zu werden“, schloss Hope aus seinen
Worten.
„Ja,
das habe ich“, gab David zu und drehte seinen Kopf zur Seite, um
sich auf die italienischen Wandgemälde zu konzentrieren. Das war es,
was Mr Santini bemerkte, als er mit David's Getränk, einem Salat und
dem Knoblauchbrot zurückkehrte.
„Ihnen
gefallen diese Bilder“, fragte er. Und ohne auf eine Antwort zu
warten, fuhr er fort: „Die hat mein Sohn Marco gemalt.“
„Ihr
Sohn hat ganz schön viel Talent“, erwiderte David, was höflich
war, aber auch wahr. Der Künstler, der diese Wandgemälde gemalt
hatte, zeigte dort zwar nicht unbedingt große Originalität, aber
talentiert war er in jedem Fall auf seine Weise.
„Ja,
das hatte er wirklich“, sagte Mr. Santini in traurigem Ton. „Er
wurde getötet... in Afghanistan... vor zwei Jahren.“
Er deutete auf ein schwarz-gerahmtes Bild an der Wand, gleich neben
einem Gemälde, das ein kleines Dorf an einem Bach darstellte. Auf
der anderen Seite des Gemäldes hing noch ein schwarzgerahmtes Bild,
das einer Frau mittleren Alters, vermutlich die verstorbene Mrs.
Santini.
„Mein
allerherzlichstes Beileid“, sagte David und meinte es wirklich. Er
hatte echtes Mitgefühl für jemanden, der sowohl seine Frau als auch
seinen Sohn in so kurzer Zeit verloren hatte.
Mr. Santini war David's Blick gefolgt, und er kommentierte nun:
„Meine Martha, sie war wie ein Engel. Als sie von Marco's Tod
erfuhr, da hat es ihr das Herz gebrochen. Sie war nie sehr stark,
aber das war zu viel für sie. Kinder sollten nicht vor ihren Eltern
sterben. Das ist nicht natürlich.“
Mr. Santini hatte Tränen in den Augen. Er setzte sich hin und holte
ein Taschentuch hervor.
Er trocknete sich die Augen und begann wieder zu reden: „Marco
hätte nicht dort sein sollen. Und er wäre nicht dort gewesen, wenn
ich ihn beschützt hätte, wenn ich ihm nur diese Spiele weggenommen
hätte, ihm nicht erlaubt hätte, sie zu spielen, diese teuflischen
Spiele. Sie wissen das, Mr. Ragnarsson, Sie wissen was die tun, mit
diesen Spielen, Sie haben darüber berichtet.“
Jetzt dämmerte es David, was der Grund dafür war, dass Mr Santini
so interessiert an ihm war und ihn behandelte als sei er ein alter
Freund. Er hatte den Artikel gelesen, denselben Artikel, den auch
sein Informant aus der Zugbomben-Verschwörung gelesen hatte.
Mr Santini redete weiter: „Sie haben genau im Detail beschrieben,
wie das Pentagon Computerspiele so entwirft, dass sie damit Jungen
zum Militärdienst verführen können. Wie die Leute von der Armee,
die Jugendliche anwerben, mit den Jungen in Chat-Rooms reden, sie für
ihre Spielerfolge loben und dafür wie gut sie sind als Kämpfer. Und
so bekommen die Armee-Werber dann die Adressen der Jungen. Das ist
genau so, wie es mit meinem Marco gewesen ist, ganz genau so. Sie
haben die Wahrheit herausgefunden!“
„Ich
habe das nicht wirklich allein herausgefunden“, antwortete David,
um keine falschen Lorbeeren einzuheimsen. „Es war ein anderer
Journalist, der zuvor bereits darüber berichtete. Ich habe nur ein
paar Fakten und Details ergänzt. Es war der investigative
Journalist, der zuvor auch den CIA Kokain-Schmuggel aufgedeckt
hatte.“
„Ja,
ich erinnere mich,“ sagte Mr Santini, „Sie haben seinen Artikel
als eine ihrer Quellen angegeben. Und ich habe ihn gegoogelt. Es wird
gesagt, er habe Selbstmord begangen... mit zwei Kugeln in den Kopf.“
Mr Santini hörte sich skeptisch an.
„Das
ist es, was der Gerichtsmediziner gesagt hat“, erwiderte David ohne
einen weiteren Kommentar.
„Die
Armee hat behauptet, dass mein Marco von einem geflohenen Taliban
Gefangenen erschossen wurde“, erwiderte Mr Santini in einem so
merkwürdigen Ton, dass er David veranlasste zu fragen: „Sie
glauben nicht, dass das die Wahrheit ist?“
„Ich
weiß, dass es nicht wahr ist“, antwortete Mr Santini bestimmt.
„Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Sohnes kam Jack Peters, ein
Armeekamerad von Marco, und erzählte mir, was wirklich geschehen war
an diesem letzten Tag in Marcos Leben.
Danach gab er mir einen Brief, den Marco in der Nacht vor seinem Tod
geschrieben hatte. Jack hatte den Brief zuvor nicht abschicken
können. Die Zensoren hätten ihn nicht durchgelassen. Also hat er
ihn versteckt und mitgebracht, als er selbst nach Hause gehen durfte.
Jack ist übrigens einer der Eigner und Editoren von 'Truth
Research', zusammen mit einem anderen Veteranen und zwei jungen
Frauen.“
Mr Santini zog einen Brief aus der Tasche der braunen Weste, die er
über seinem rotkariertem Hemd trug. Nachdenklich hielt er den Brief
in der Hand, als ob er etwas abwog: „Ich habe diesen Brief noch
niemandem außerhalb der Familie gezeigt. Aber irgendwie habe ich das
Gefühl, dass Sie ihn lesen sollten.“
David nahm den Brief fast widerstrebend aus Mr Santinis Hand
entgegen. Als ein Journalist hatte er viele Briefe gelesen, die nicht
an ihn adressiert waren. Sie waren ihm als Beweise für etwas
überreicht worden, das er in seinen Artikeln untersucht hatte.
Aber dies war anders, es war keine Geschichte, an der er schrieb.
David hatte eine vage Vorahnung, dass er sich von dem, was in dem
Brief stand, nicht so einfach lösen würde, nachdem er ihn gelesen
hatte, und auch nicht von den Menschen, die mit dem Briefschreiber
verbunden waren.
Der Umschlag zeigte sichtbare Spuren davon, dass Mr Santini den Brief
schon lange mit sich herumgetragen und immer und immer wieder gelesen
hatte. Die Schrift war klar, ordentlich und fast kalligraphisch, die
Schrift eines Künstlers. Der Brief begann ganz konventionell:
“Liebe Mom, lieber Dad,
wenn ihr dieses lest, dann bin ich entweder tot oder im
Gefängnis. Was auch immer die Armee euch darüber sagen wird, wird
falsch sein. Vielleicht werden sie euch überhaupt nichts sagen, oder
sie werden euch gegenüber behaupten, dass ich im Kampf gefallen bin,
oder vielleicht sogar, dass ich ein Verräter sei, der größte
Dreckskerl, den es gibt.
Was auch immer sie über mich sagen oder von mir denken, es ist
mir egal. Aber ich möchte, dass ihr die Wahrheit kennt.
Das, was ich heute Nacht tun werde, ist das einzige, was ich
tun kann. Anders könnte ich mit mir selbst nicht mehr leben. Was
immer mit mir geschieht, ihr könnt sicher sein, dass es besser sein
wird, als wenn ich anders gehandelt hätte.
Bevor ich hier her gekommen bin, da dachte ich, ich wüsste,
was Krieg bedeutet. Ich hatte so viele Kriegsspiele gespielt. Ich
weiß, Mom, dass du gegen diese Spiele warst, aber ich war verrückt
nach ihnen.
Als sie mir geschrieben haben, dass ich der perfekte Soldat
sein würde, da habe ich ihnen geglaubt, denn ich war ja so gut in
diesen Spielen.
Aber digitales Blut ist nicht real, auch wenn es real aussieht.
In einer digitalen Welt, da ist der Feind klar. Er ist böse. Er ist
männlich, und er hat keine Frau und keine Kinder. Er fühlt keinen
Schmerz, und er weint nicht. Und wenn er tot ist, da ist da kein
Verlust. Und wenn du selbst in einer digitalen Welt getötet wirst,
dann rebootest du einfach das Programm.
Aber es gibt keine Reboots in der realen Welt, und wer getötet
wird, der bleibt tot.
Wir haben vier aus unserer Einheit, unsere Kameraden, im
letzten Jahr sterben sehen, und zwei wurden so schwer verletzt, dass
sie sich nie wieder erholen werden. Wir haben den Feind gehasst, der
uns das angetan hat. Und wir haben ihn überall gesehen. Aber der
Feind war nicht klar.
Vor einer Woche wurden wir zu einem abgelegenen Dorf geschickt,
um dort nach Waffen und Talibankämpfern zu suchen.
Was wir dann den Menschen in diesem Dorf angetan haben, war
unaussprechlich, unverzeihlich böse. Ich konnte das nicht gleich
erkennen. Alles, was uns angetan wurde, unsere Toten, unsere
Verletzten, die haben unseren Geist gefüllt, als wir in das Dorf
eindrangen, um zu tun, was uns befohlen worden war, auf eine Weise,
die über unsere Befehle hinausging.
Als die Menschen im Dorf sich wehrten, da war das, was wir dann
taten sogar noch schlimmer.
Am Ende haben wir niemanden am Leben gelassen, außer einem.
Wir fanden ihn, einen Jungen von elf oder zwölf Jahren, wie er
wahnsinnig vor Verzweiflung zwischen den Leichen hin- und herlief und
gequält wimmerte, ein Wimmern, das immer wieder zu durchdringendem
Schreien wurde.
Wir haben ihn mitgenommen, und ich dachte, wir würden ihn
einfach in irgendeinem Dorf abladen oder vielleicht in einem
Waisenhaus.
Aber weil wir nicht gefunden hatten, was wir suchten, da haben
unsere Vorgesetzten beschlossen, den Jungen zu einem feindlichen
Kämpfer zu erklären, und ihn auf die Bagram Militärstation zu
überführen, wo er verhört werden sollte.
Ich bin dort gewesen.
Ich weiß, was sie mit den Gefangenen in Bagram machen, mit den
Männern und den Frauen, und sogar mit den Kindern, und was dann am
Ende aus ihnen wird. Der Junge würde dort nicht überleben...
niemals!
Ihr fragt euch vielleicht, was für einen Unterschied das jetzt
noch macht, nach so vielen Toten, so vielen Opfern... noch ein Junge
mehr, warum sollte es mir nicht egal sein.
Aber es ist mir nicht egal, für mich macht es einen
Unterschied. Ja, ich weiß, dass einen Jungen zu beschützen, nicht
all die zurückbringt, die getötet wurden. Es ist auch keine
Wiedergutmachung für das, was wir getan haben...
Und doch bedeutet Leben oder Tod dieses einen Jungen, Leben
oder Tod meiner Seele.
Morgen wird der Junge mit einem Gefangenen-Transport
weggebracht. Heute Nacht bin ich zur Wache eingeteilt, und ich werde
tun, was ich tun muss.
Mom, Dad, bitte versteht. Vergebt mir für das Leid, das ich
euch bereiten werde.
All meine Liebe sende ich euch und Gina,
euer Sohn Marco”
David reichte Mr Santini den Brief zurück. Er war tief berührt
„Wissen
Sie, was geschehen ist“, fragte David.
Mr. Santini nickte: „Jack hat es mir erzählt, als er mir den Brief
brachte. Marco hat den Jungen befreit, während er ihn eigentlich
bewachen sollte. Er ist mit ihm in einem Armeewagen geflohen. Aber
ihre Abwesenheit wurde schnell bemerkt.
Nachdem die beiden den Wagen, wegen irgendwelcher Probleme
zurücklassen mussten, wurde ihre Spur bis zu einem verlassenen Haus
hin verfolgt. Als sie Marco befahlen, sich zu ergeben, weigerte er
sich und drohte das Feuer zu eröffnen. Nach einer Stunde stürmten
sie das Haus. Marco wurde in diesem Kampf erschossen, aber keiner
seiner Verfolger wurde von irgendwelchen Kugeln getroffen,
offensichtlich, weil Marco auch niemanden treffen wollte.“
„Was
ist mit dem Jungen geschehen“, fragte David.
„Er
war verschwunden. Er war gar nie in diesem Haus gewesen. Marco hatte
die ganze Belagerung nur provoziert, um dem Jungen Zeit zu geben,
wegzulaufen und sich zu verstecken. Und das hat der Junge getan, und
sie haben ihn nie gefunden.“
In diesem Augenblick kam Gina mit dem Nudelgericht. Sie sah, wie ihr
Vater den Brief in der Hand hielt, stirnrunzelnd schaute sie von ihm
zu David und zurück. Es war ihr offensichtlich gar nicht Recht, dass
der Brief einem Fremden gezeigt wurde.
Aber Mr Santini sagte nichts dazu, stattdessen klagte er: „Gina, du
bist immer noch hier. Es ist schon so spät, und du musst dich
wirklich ausruhen. Morgen werde ich nach einer neuen Kellnerin für
die Abendschicht inserieren. Für dich ist es genug, wenn du nur die
ganze Büroarbeit und die Finanzen für uns machst.“
„In
Ordnung, Dad“, lenkte Gina ein. „Aber mach das für die Mittags-
und Nachmittagsschicht. Lucia möchte zur Abendschicht wechseln, weil
sie dort mehr an Trinkgeldern machen kann.“
„Kannst
du dann morgen früh die Zeitung anrufen, dass sie eine
Stellen-Anzeige für uns reinsetzen“, fragte ihr Vater.
„Klar,
mach ich Dad“, antwortete Gina. „Oh, und Carlos lässt dir
ausrichten, dass sie die Küche in einer halben Stunde schließen
wollen. Sie haben schon angefangen aufzuräumen. Ist das in Ordnung?“
„Sicherlich,
heute Abend ist nicht viel los, und Reservierungen haben wir auch
keine. Am Wochenende wird mehr los sein. Aber Gina, bitte nun!“
„Ja,
ja, ich geh ja schon nach oben...Gute Nacht, Dad!“
„Gute
Nacht, Liebes!“ Mr Santini hatte seine Tochter erfolgreich
abgelenkt, so dass sie vergaß nach dem Brief zu fragen.
Nachdem diese gegangen war, wandte er sich wieder David zu: „Aber
jetzt müssen Sie essen, Mr Ragnarsson. Wir können die Vergangenheit
nicht ändern, gleichgültig wie sehr wir uns das auch wünschen. Und
auch ganz egal, was geschehen ist, wir müssen immer noch essen.“
David nickte und sah sich seine Nudeln an. Er biss erst einmal von
dem Knoblauchtoast, bevor er anfing sich die Nudeln um die Gabel zu
wickeln.
Als Mr Santini zur Küche hinausgegangen war, sah David fragend zu
Hope hinüber. Schon eine ganze Zeit lang hatte er die schon
vertraute Welle von tiefem Schmerz von ihr ausgehen gespürt. Das
Schicksal von Marco Santini hatte Hope sogar noch mehr berührt als
David. Und wieder einmal verschloss sie ihre Gedanken vor ihm.
David wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Es war eine
schreckliche Geschichte gewesen. Er war froh, dass der Brief nicht
noch mehr Einzelheiten enthalten hatte. Er versuchte nun, sich auf
sein Essen zu konzentrieren, in der Hoffnung, dass er mit einem
vollen Magen, vielleicht eine Idee bekommen würde, wie er Hope
aufheitern konnte.
Er konnte sich selbst aber nicht davon abhalten, immer wieder zu ihr
hinzusehen, zu ihrem blassen Gesicht und den abgewandten Augen.
Irgendetwas beschäftigte sie, etwas das außerhalb der Ereignisse
von David's Zeit lag, etwas aus ihrer eigenen Zeit. David wünschte
sie würde ihn nicht ständig ausschließen. Wenn sie nur mit ihm
reden würde, vielleicht könnte er ihr dann helfen.
Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, bat David den nun stillen Mr
Santini um die Rechnung. Und nachdem diese bezahlt worden war, fragte
Mr. Santini noch einmal: „Werden Sie darüber nachdenken und mit
meinem Freund Jack über diesen Job sprechen?“
„Das
werde ich“, versprach David.
Mr Santini gab David seine Karte und sagte: „Wenn Sie mich morgen
anrufen, dann habe ich ein Treffen arrangiert.“
„Vielen
Dank, Mr Santini“, antwortete David und fügte hinzu: „Bitte
richten Sie Ihrem Schwiegersohn aus, dass mir das Essen sehr gut
geschmeckt hat.“
David und eine sehr betrübte Hope verließen nun das 'Bella Italia'
und gingen langsam am St. Francis Park entlang. David wusste, dass
Hope beinahe bereit war, sich ihm anzuvertrauen, ihm etwas zu
erzählen, das sehr wichtig für sie war. Und sonderbarerweise war
sich David ziemlich sicher, dass es etwas mit dem Brief von Mr
Santinis Sohn zu tun hatte.
***
Wieder einmal sitzen wir im Stau fest, ganz langsam bewegen wir
uns an einem Kino vorbei, in dem gerade wieder einmal so ein 200
Jahre alter Film gezeigt wird.
'Wie wir die Welt gerettet haben' tönt es von der Plakatwand
herunter, auf der fünf, bis zu den Zähnen bewaffnete, Männer vor
einer Berglandschaft zu sehen sind
Mein Vater und seine Eliten-Freunde bereiten Nephilim City ganz
offensichtlich auf einen Krieg vor. Ich habe seit Jahren keinen
einzigen Film mehr gesehen, der nicht irgendeinen bewaffneten Kampf
gegen irgendeinen Feind porträtiert hat.
Ich will mir dies Plakat nicht mehr ansehen, aber dann wird mein
Blick fast gegen meinen Willen von der Landschaft hinter den Kämpfern
angezogen. Und plötzlich erinnere ich mich daran, wo ich genau diese
Berge schon einmal gesehen habe.
Das war ein ungewöhnlicher Tag gewesen. Mein Vater hatte mit mir
gefrühstückt. Wir aßen meinen Geburtstagskuchen zusammen, Mr
Tanner, mein Vater und ich. Ich war jetzt 8 Jahre alt.
Als mein Vater den Raum verlassen hatte, zog Mr Tanner ein ganz
besonderes Geschenk aus seiner Tasche. Es war ein Stück Käse mit
Löchern darin. Ich lachte, der sah so lustig aus.
„Haben
Mäuse diese Löcher gemacht“, fragte ich Mr Tanner.
„Nein“,
Mr Tanner lachte auch. „Das ist ein ganz besonderes Käserezept von
einem ganz besonderen Ort.“
Danach legte er seinen Zeigefinger auf die Lippen, während er
etwas anderes aus der Tasche zog. Es war ein sonderbares Gerät, das
ein zischendes Geräusch von sich gab.
„Das
ist ein Verzerrer“, erklärte Mr Tanner. „Wenn man den einmal
angeschaltet hat, dann kann kein Mikrofon aufzeichnen, was wir reden.
Und dann können wir uns Geheimnisse erzählen.“
„Was
für Geheimnisse“, fragte ich.
„Etwas
über den Ort, weit, weit weg von hier, aus dem dieser Käse kommt,
zum Beispiel,“ erklärte er.
„Ist
das ein Ort in der äußeren Welt“, fragte ich.
Mr Tanner nickte.
„Mein
Vater mag die äußere Welt nicht“, stellte ich fest.
„Ich
weiß“, sagte Mr Tanner.
„Die
Leute dort sind sehr, sehr böse“, sagte ich. „Sie hassen uns und
sie hassen alle Wissenschaft.“
„Das
ist das, was dein Vater sagt, ich weiß das“, bestätigte Mr
Tanner.
Dann fügte er hinzu: „Der Käse kommt von dem friedlichsten Ort
der Welt.“
„Woher
weißt du das“, fragte ich.
„Weil
ich viele Male dort gewesen bin, als ich ein Kind war in deinem
Alter,“ antwortete er.
Mr Tanner zog nun ein Bild aus seiner Tasche. Es zeigte eine
Berglandschaft und darunter in einem Tal eine kleine Gruppe von
Häusern.
„Dies
ist das Heimatdorf meiner Mutter“, erklärte er. „Bevor ich nach
Nephilim City gekommen bin, habe ich jeden Sommer dort verbracht. Für
mich ist dies der schönste Ort der Welt, meinst du nicht auch?“
Ich sah mir das Bild eine Zeit lang genau an. Ich hatte nie zuvor
Berge und Dörfer wie diese auf dem Bild gesehen.
„Der
Ort ist in der äußeren Welt, wo die bösen Leute leben, wie kann er
da schön sein“, sagte ich schließlich.
Mr Tanner steckte das Bild wieder in seine Tasche zurück.
„Willst
du wieder zu diesem Ort gehen“, fragte ich. Das Bild hatte mir
Angst gemacht.
„Ich
würde alles darum geben, wenn ich das Dorf meiner Mutter wiedersehen
könnte, und die Menschen dort, meine Eltern und meine Großeltern.“
Mr Tanners normalerweise so ruhige Stimme hörte sich traurig an.
„Aber
warum kannst du das nicht, Mr Tanner“, fragte ich, war aber doch
innerlich erleichtert.
„Du
weißt warum die meisten Leute hier in Nephilim City sind, Jonathan,
nicht wahr,“ fragte er zurück.
„Weil
die bösen Leute aus der äußeren Welt sie weggeschickt haben“,
sagte ich.
Mr Tanner schüttelte ganz langsam den Kopf: „Es stimmt, ich
wurde weggeschickt. Aber ich war es, der etwas Böses getan hat.“
„Was
hast du getan, Mr Tanner“fragte ich
„Ich
habe jemanden umgebracht,“sagte er.
Ich sah Mr Tanner an. Er war so ein alter Mann. Es schien
merkwürdig, sich vorzustellen, dass er jemals etwas Gewalttätiges
tun könnte.
„Warum“,
fragte ich.
„Weil
ich meinem Zorn erlaubt hatte, die Kontrolle über mich zu erlangen.
Das darfst du niemals tun, Jonathan,“ sagte Mr Tanner in
dringlichem Ton.
„Warum
warst du so zornig“, fragte ich.
Mr Tanner war nun wieder zu seinem ganz normalen ruhigen Selbst
geworden: „Da war ein Mann, der hat jemanden, den ich sehr geliebt
habe, schwer verletzt. Er hat ihr große Schmerzen zugefügt. Ich
habe es herausgefunden, und dann wurde ich unkontrollierbar wütend,
und so habe ich den Mann getötet.“
„Er
hatte es verdient“, stellte ich fest.
„Nein“,
widersprach Mr Tanner, „was ich getan habe, war falsch.“
Wir saßen eine Zeit lang ganz still da. Am Ende fragte ich: „Du
wolltest nicht nach Nephilim City kommen, nicht wahr, Mr Tanner?“
„Das
stimmt“, antwortete Mr Tanner. „Aber ich bin froh, dass ich genau
jetzt hier bin. Ich bin froh, dass ich dein Lehrer bin.“
Erleichtert atmete ich auf. „Ich werde meinem Vater nicht vom
Dorf deiner Mutter erzählen, Mr Tanner. Ich denke, er würde es
nicht mögen.“
„Danke,
Jonathan“, sagte Mr Tanner.
Und ich habe meinem Vater nie davon erzählt. Und auch nichts von
irgendeinem anderen Thema, über das Mr Tanner und ich sprachen, wenn
der Verzerrer eingeschaltet war.
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