Teil 7


Als wir den Parkplatz der Einrichtung erreicht haben, finden wir heraus, dass Vance Drake bereits da ist. Bei ihm sind Tom, Jim und Jesse, die ich seit dem frühen Morgen nicht mehr gesehen habe. Sie haben sich zwischen einer Reihe von Lastwagen versteckt. Wir parken unseren Wagen dahinter und steigen aus.
Ohne Worte signalisiert Vance Mr Wang, Ms Alba und dem Professor, wo sie sich verstecken sollen.
Ich weiß, dass Vances Team mindestens 30 Männer angehören, obwohl keiner der anderen zu sehen ist. Auf keinen Fall dürfen sie zu früh vom Wachpersonal entdeckt werden.
Zu jeder Tages- und Nachtzeit patrollieren hier in der Gegend um die Untergrund-Anlage herum mindestens 15 schwerbewaffnete Wachmänner. Die meisten Bürger von Nephilim City haben keine Ahnung, was diese Sicherheitsleute eigentlich bewachen, denn was sie überirdisch sehen können, ist nichts anderes als ein ziemlich kleines, unscheinbares Gebäude, das von einem Parkplatz und einer Grünanlage eingeschlossen ist, einer der wenigen grünen Stellen in der Stadt.
Vance sieht mich an: „Jetzt kommt es auf dich an“, stellt er fest.
Ich antworte nicht. Ich weiß das ja.
Hast du deine Pistole bereit?“ fragt Vance.
Ich greife in meine Tasche und antworte mit einem Nicken.
Ich atme tief ein und richte mich auf. Ich lasse alle anderen zurück, und beginne mit festen und entschlossenen Schritten in Richtung des Eingangs der Anlage zu gehen.
Ich bin jetzt allein.


***



Die Szene verblasste, und David öffnete seine Augen. Er sah Hope an, obwohl er nicht wusste, was er sagen sollte. Er hatte gerade herausgefunden, dass ihre gesamte Welt in Gefahr war, zerstört zu werden. Wie kann man jemanden bei so etwas trösten?..
Und darum platzte er mit der unwichtigsten Sache von allem heraus: „Ich konnte das ganze Interlingua von dieser Rede dort ganz und gar verstehen.“
Hope nickte nur: „Du bist vielleicht inzwischen viel besser mit meinem Geist verbunden.“
Nach einer Weile des Schweigens stellte David noch etwas Belangloses fest: „Ich verstehe jetzt, warum du das Kleid auf dem Werbe-Plakat nicht mochtest.“
Hope nickte wieder.
Schließlich fragte David: „Was ist nach dieser Versammlung passiert?“
Hope atmete tief, und dann brach es aus ihr hervor: „Alles ist passiert, einfach alles! Nichts war mehr so wie vorher!
Ms Keilar hat sofort eine Botschaft an den Internationalen Hilfskongress geschickt, denn alle im Dorf stimmten überein, dass die Information, die uns Jonathan Galt gebracht hatte, von einer so großen Wichtigkeit war, dass sie weit über den Distrikt oder unsere Nation hinausreichte.
Sie hat auch unsere Dorfratsversammlung auf dem Friedensnetz veröffentlicht. Innerhalb eines Tages wurde alles auf Interlingua übersetzt, und am nächsten Tag bereits hatte die Aufzeichnung 2 Milliarden Clicks auf dem Friedensnetz. Die ganze Welt hatte sie gesehen, kannst du dir das vorstellen?... die ganze Welt...
Aber diese Clicks zu zählen, hat keinen Spaß gemacht“, Hope's Stimme war nur noch traurig, „es war nur...“ sie seufzte.
David nickte: „Ich versteh schon.“
Hope redete weiter: „Am selben Tag noch beschloss der Internationale Hilfskongress, dass Spesaeterna unter eine zweiwöchige Quarantäne gestellt werden sollte, da ja niemand wissen konnte, ob Luscinia, Jonathan und Natsuki nicht bereits von dem 90% Virus infiziert seien. So wurde der jetzt nämlich genannt.
Und dann waren da noch die Worte, die Jason zu uns gesagt hatte: 'Jetzt sind es wir oder sie'... Man konnte sie überall hören, und die Angst dahinter, die wie ein durchdringender Geruch überall um uns herum war, mit jedem Atemzug konnte man sie riechen, man konnte ihr nicht entkommen.
Selbst die kleinen Kinder, die doch gar nicht wussten, was geschehen war, wie Sissy und Lillebro und Cindy, meine Chan, sie hatten auch Angst... Und ich konnte sie nicht trösten, denn ich hatte ja selbst Angst... Und als ich mit meinem Großeltern sprechen wollte, da hörte ich wie sie miteinander stritten. Das hatte ich noch nie zuvor bei ihnen gehört oder gesehen.“
Eine Erinnerungs-Szene erschien vor Davids Augen, in der Hope, Sissy und Lillebro vor einer halboffenen Tür standen. Dahinter war die Stimme ihres Großvaters zu hören, der rief:
Wir müssen uns doch verteidigen, Faith, wir müssen es einfach tun!“
Hope's Großmutter hörte sich verzweifelt an: „Aber doch nicht so, Ben, nicht so. Das Erste Prinzip...“
Ihr Mann unterbrach sie: „Es gibt keinen anderen Ausweg! Oder willst du, dass unsere Töchter umgebracht werden? Denk doch an Charity und Suzie, denk an deine Enkelkinder, an den kleinen David und an Suzies Jungen Matty und Jimmy. Oder willst du, dass unsere Enkelinnen in so ein Venus Projekt gezwungen werden... unsere Hope und die kleine Faith gezwungen zu... zu..., denk doch an sie!“
Man konnte Hopes Großmutter jetzt weinen hören, während eine blasse Hope versuchte, ihre kleinen Geschwister von der Tür wegzuzerren. Die Gesichter aller drei waren tränenverschmiert.
Die Szene verblasste, und Hope redete in einem Ton weiter, der immer verzweifelter klang: „Und Großonkel Professor, der doch sonst immer alle Antworten auf alles wusste, er hat nicht mit mir geredet... er hat einfach überhaupt nichts gesagt.
Als ich ihn gefragt habe, da meinte er nur, er könne nichts zu dieser Sache sagen, und dass er arbeiten müsse. Und als ich ihn angeschrien habe, warum er zu so einer Zeit an seiner bescheuerten Zeitmaschine arbeiten müsse, sagte er gar nichts, und schloss sich nur in sein Labor ein. Am zweiten Tag habe ich dann wie wild an seine Tür geklopft, immer und immer wieder, und nicht aufgehört, bis er aufmachte.
Ich sagte ihm, dass eine weitere Dorfratsversammlung am nächsten Tag stattfände, und dass er dort hingehen müsse, und etwas zu allen Leuten sagen müsse, weil alle so viel Angst hatten. Aber er schüttelte nur den Kopf. Er sagte, dass kein Mensch dort etwas von ihm hören wollte... niemand. Und dann hat er mir die Tür vor der Nase zugemacht, und sie abgeschlossen. Und in den nächsten paar Tagen habe ich ihn nicht einmal zum Essen gesehen.
Als ich versuchte mit Mama zu sprechen, da konnte ich sie nicht erreichen. Sie schrieb uns, sie sei die ganze Zeit beschäftigt. Bevor das alles geschehen ist, da haben wir jeden Tag mit ihr auf dem Friedensnetz gesprochen. Und jetzt redete sie nicht mehr mit mir oder mit Sissy oder Lillebro. Sie konnten das nicht verstehen und ich auch nicht...“
Hope war jetzt tief in ihrer eigenen Welt versunken, wo die Kinder ganz plötzlich emotional von den Menschen verlassen worden waren, die sich doch um sie kümmern müssten, sie beschützen und trösten müssten. Ihre vertraute Welt war durch und durch aus dem Gleichgewicht geraten.
Aber die traurige Geschichte war noch nicht zu Ende: „Drei Tage nach der ersten Dorfratsversammlung, wurde dann die zweite abgehalten. Wie gewöhnlich war das an einem Abend. Allerdings waren bereits am Morgen zwei Vertreter des Internationalen Hilfskongresses angekommen.
Sie hatten beschlossen das Risiko einzugehen, mit uns die Quarantäne-Zeit zu verbringen, weil sie dringend mit Jonathan Galt und Luscinia Callahan sprechen mussten. Und das haben sie dann den ganzen Tag getan. Sie nannten das 'ein Verhör'. Danach haben sie sich wieder über das Friedensnetz mit dem restlichen Hilfskongress abgesprochen. Und was sie diskutiert haben, das haben wir dann in der Versammlung erfahren.
Wir Sempais trafen uns wieder bei Jenny. Diesmal hatte nicht einmal Ameenah Zweifel daran, dass diese Versammlung auch uns etwas anging. Und außerdem wussten alle Eltern bereits, dass wir zusahen. Ich denke mal, da war kein einziger Jugendlicher und auch keines von den älteren Kindern im ganzen Dorf, die nicht zusahen... und den Erwachsenen war das jetzt egal.“
Wieder erschien das Wohnzimmer von Jennys Familie vor Davids Augen, zusammen mit der Projektion aus dem Versammlungssaal an der Wand. Und wie immer schloss David die Augen, um die Szene zu betrachten. Aber er spürte bereits Hope's Angst und Verzweiflung.
Die erste Reihe vor den anderen Bänken und Tischen sah anders aus als beim letzten Mal, denn sie war jetzt von nur drei Leuten besetzt, von zwei Männern und Ms Keilar. Die Männer waren, ihrem Kleidungsstil nach zu schließen, offensichtlich nicht aus Hope's Dorf.
Ms Keilar stand bereits an ihrem Pult und war gerade dabei, die beiden Männer vorzustellen: „Wie ihr vielleicht bereits gehört habt, so werden wir gerade von zwei Repräsentanten des Internationalen Hilfskongresses besucht.“
Ms. Keilar deutete nach links: „Dies ist Mr Nawakwi aus dem Dorf Kawaza, im Distrikt Süd Lwanga, in der Nation Zambia.“
Mr Nawakwi stand auf und verbeugte sich leicht vor der Versammlung. Er trug ein schwarz mit Gold gemustertes Hemd, schwarze Hosen und eine runde rote Kappe.
Jetzt deutete Ms Keilar auf den Mann zu ihrer Rechten, der einen schwarzen Kaftan trug und eine rot-gelb-blaue Scheitelkappe auf dem Kopf.
Dies ist Mr Avineshwaran aus dem Dorf Any Kampung im Distrikt Tioman, in der Nation Malaysia.“
Mr Avineshwaran stand auch kurz auf und bedachte die Versammlung mit einer höflichen, knappen Verbeugung.
Ms Keilat fuhr fort: „Auf die Bitten von Mr Avineshwaran und Mr Nawakwi hin habe ich Ms Luscinia Callahan und Jonathan Galt auch zu dieser Versammlung eingeladen, obwohl sie beide zur Zeit noch keine Bürger unseres Dorfes sind, und außerdem sind sie auch noch unterhalb des Alters, an dem man normalerweise an unseren Dorfratsversammlungen teilnehmen sollte. Sie werden sich deshalb nicht an den Abstimmungen beteiligen können. Aber es wird ihnen gestattet sein, auf Fragen zu antworten, die an sie gerichtet werden.“
Mr Henry Darby, der sich bereits bei der letzten Versammlung gegen Ms Keilar gestellt hatte, stand auch diesmal wieder auf: „Ich protestiere formell. Die Teilnahme von Außenseitern und Nicht-Bürgern ist völlig gegen unsere Regeln. Man könnte es eine Verletzung unserer Souveränität nennen.“ Er war offensichtlich jemand, der streng auf Regeln und Formalitäten achtete.
Ms Keilar zögerte einen Moment, danach richtete sie ihre Anfrage an den gesamten Saal: „Gibt es noch jemanden, der Mr Darbys Protest unterstützt?“
Ein paar Hände wurden erhoben.
Ms Keilar erklärte daraufhin: „Das bedeutet, wir müssen darüber abstimmen. Erlaubt es die Dorfratsversammlung, dass die Repräsentanten des Internationalen Hilfskongresses hier anwesend bleiben?“
Man konnte jetzt sehen, wie die Leute im Saal jeweils ihre rechte Hand auf ihren Tisch pressten. Zahlen erschienen an der Wand, die sich am Ende in Prozentpunkte verwandelten: „97% Ja, 3%Nein“, las eine Computer-Stimme laut vor.
Ms Keilar sah zur Wand und erklärte: „Die Entscheidung ist gefallen.“
Danach stellte sie eine zweite Frage: „Sollen Luscinia Callahan und Jonathan Galt die Erlaubnis erhalten, bei dieser Versammlung anwesend zu sein?“
Dieses Mal war das Ergebnis 99%Ja und 1%Nein.
Nachdem sie wieder erklärt hatte, dass die Entscheidung gefallen war, erklärte Ms Keilar dann eine weitere Ausnahme von der Routine einer normalen Dorfratsversammlung:
Die Repräsentanten des Internationalen Hilfskongresses haben mich gebeten, dass diese Versammlung wie gewöhnlich aufgezeichnet würde, aber dass sie gleichzeitig auch sofort live auf dem Friedensnetz veröffentlicht werden sollte, und dass deshalb alle Diskussionen auf Interlingua stattfänden.“
Und so legte Ms Keilar eine letzte Anfrage zur Abstimmung vor die Dorfratsversammlung: „Sollen wir unsere Versammlung in Interlingua live auf dem Friedensnetz vor der ganzen Welt abhalten?“
Dieses Mal dauerte es länger bis alle Stimmen der Dorfbewohner abgegeben worden waren. Hope konnte nur vermuten, warum es so lange dauerte:
Die Leute mussten darüber nachdenken. Würde es denn nicht einen Verlust der Souveränität von Spesaeterna bedeuten, wenn sie die ganze Welt in ihre Dorfratsversammlung hineinließen? Und Hope wusste, wie wichtig den Leuten aus Spesaeterna ihre Unabhängigkeit war. Anderseits war dieses jetzt zu besprechende Thema nicht doch so wichtig, dass es alle Dörfer der Welt betraf?
Als das Ergebnis hereinkam, sah Hope, dass es ziemlich knapp war: 95%Ja und 5%Nein. Wenn es mehr Nein-Stimmen gegeben hätte, dann hätte es eine weitere Diskussion über diese Frage geben müssen. Aber anscheinend waren die meisten Leute so gespannt auf die Fortsetzung der Versammlung, dass die sonst so hochgeschätzte Souveränität zweitrangig wurde.
Und so erklärte Ms Keilar zum dritten Mal: „Die Entscheidung ist gefallen.“
Dann fuhr sie fort und diesmal in Interlingua: „Zuerst übergebe ich nun das Wort an Mr Nawakwi.“
Mr Nawakwi stand auf, sein Tischpult stieg vor ihm auf, und er begann in einem anderen Akzent zu reden als Ms Keilar, aber doch noch leicht verständlich:
Geehrte Mitglieder des Dorfrates von Spesaeterna, wir vom Internationalen Hilfskongress sind Ihnen in der Tat sehr dankbar für Ihren sofortigen Bericht, den Sie uns nach Ihrer letzten Dorfratsversammlung geschickt haben. Diese überaus wichtige Information gab uns die Möglichkeit sofort und ohne weiteren Zeitverlust zu reagieren. Das erste, was wir taten, war natürlich jeden weiteren Transport von Exilanten und Handelsgütern nach Orange Country zu stoppen.
Natürlich wussten wir sehr gut, dass so etwas die de-facto Herrscher von Nephilim City, die anscheinend die Mitglieder der transhumanistischen Gesellschaft sind, Verdacht schöpfen lassen könnte. Deshalb haben wir das Magleb-Personal angewiesen, gegenüber den Grenzwachen zu behaupten, dass es Probleme mit der Stromversorgung gäbe.
Allerdings wussten wir, dass diese Erklärung nur für ein oder zwei Tage ausreichen würde. Da hatte dann einer unserer Kongressmitglieder eine geniale Idee: Als nächstes würden wir den Grenzwachen erklären, dass die Welt sich über die exorbitanten Kosten an Handelsgütern beschwert hätte, die Orange Country verlangte, um die ins Exil geschickten Bürger der Welt bei ihnen aufzunehmen. Deshalb sei beschlossen worden, nur noch ein Drittel der verlangten Güter zu liefern.
Natürlich würde ein so weites Absenken der Preise von Orange Country nicht akzeptiert werden, und die Verhandlungen könnten sich dann über mehrere Wochen hinziehen. Wir wussten aber auch, sobald Jonathan Galts Vater die Abwesenheit seines Sohnes klar würde, dass dann ein Verdacht seinerseits nicht mehr vermieden werden konnte. Die Reaktion könnte ein sofortiger Angriff mit diesen biologischen Waffen sein. Deshalb haben wir begonnen, die Dörfer um Orange Country herum darum zu bitten, ihre Bürger zu evakuieren, mit Ausnahme von einigen Freiwilligen, die mit luftdichten Schutzanzügen ausgestattet würden.
Wir haben auch darum gebeten, dass alle Freiwilligen und ihre Projektleiter aus den Eisbrecher-Missionen sich in die Region von Orange Country transferieren lassen würden, wo sie sich in einem so großen Kreis um Orange Country aufstellen würden, dass sie von den Grenzwachen nicht entdeckt würden. Und wie Sie wahrscheinlich wissen, haben wir alle Dörfer der Welt darum gebeten, diesen Freiwilligen Luftdichte Schutzanzüge zur Verfügung zu stellen.
Alle Eisbrecher-Schiffe, sowohl aus den arktischen als auch aus den antarktischen Regionen, sind zur Zeit auf dem Weg, um die Meeresküste von Orange Country in einem Belagerungsring einzuschließen Wir haben auch mit Experten gesprochen, um herausfinden, welche Maßnahmen wir gegen einen Angriff durch diese biologischen Waffen, die in Nephilim City hergestellt werden, treffen können.
Wir sind dabei, die physische Mauer um Orange Country mit einer neuen elektro-magnetischen Anti- Insekten-Schutzmauer zu ergänzen. Aber ohne spezifisches Wissen über die genetische Zusammensetzung dieser Insekten könnte dieser Schutz ineffektiv sein.
Wir studieren zur Zeit auch eingehend das Tarnkappen- und das Raketen-Programm der Dunklen Zeiten, um Gegenmaßnahmen zu entwickeln, so dass wir rechtzeitig erfahren, wenn diese Luftfahrzeuge aufsteigen. Und wiederum werden wir einige Zeit brauchen, um eine effektive Verteidigung gegen diese Luftangriffe aufzubauen.
Ein weiteres Problem, dem wir gegenüber stehen -und wir haben das von Jonathan Galt erfahren- ist es, dass die Produktion für die Luftkampf-Fluggeräte zwar in gewöhnlichen Produktionsanlagen in Nephilim City stattfindet, dass die fertiggestellten Fluggeräte aber in einer unterirdischen Anlage aufbewahrt werden. In derselben Anlage sind auch die Labors für die viralen Waffen und die Genetik-Labors angesiedelt.
Ein komplexer Sicherheitsapparat schützt diese Anlage von außen. Niemand kann sie betreten, ohne von den Führern der Transhumanistischen Gesellschaft autorisiert worden zu sein.
Wie sie wahrscheinlich wissen, so hat es in den letzten beinahe 200 Jahren keine Kriege mehr gegeben. Die Kriegswaffen der Vergangenheit wurden alle zerstört. Keine neuen Waffen wurden mehr entwickelt.
Natürlich haben wir heutzutage eine große Anzahl effektiver Werkzeuge für unterschiedliche Zwecke und Projekte, aber weder unsere Laser-Eisbrecher-Werkzeuge, noch die Betäubungswaffen können diese Anlage durchdringen oder die Sicherheitsmaßnahmen oberhalb der Anlage überwinden. Praktisch keines unserer Werkzeuge bietet uns einen ausreichenden Schutz gegen die Bedrohung, der wir jetzt ausgesetzt sind.
Aber in tausenden von Botschaften aus der ganzen Welt wurden wir darauf hingewiesen, dass uns in der Tat ein einziges Instrument zur Verfügung steht, das wirklich effektiv wäre.“
Jetzt atmete Mr Nawakwi tief ein. Er wusste sehr wohl, dass seine nächsten Worte wie eine Bombe einschlagen würde: „Es ist die thermonukleare Sprengung. Zehn dieser Sprengkörper werden jährlich produziert. Sie funktionieren, nach einem ersten Anstoß durch eine Kernspaltung, darauf folgend auf dem nuklearen Kernfusions-Prinzip, wobei Wasserstoff zu Helium umgewandelt wird, ähnlich wie das in unserer Sonne geschieht.
Der Prozess generiert enorme Energiemengen. Kein anderes Instrument erlaubt es uns, so viel Eis zu schmelzen, um der enormen Menge der neuen Eisbildung entgegenzuwirken, die jeden Winter in den antarktischen Gletscherregionen stattfindet. Diese Sprengkörper werden immer mit dem Flakschiff unserer Eisbrecher-Flotte transportiert, und danach mit ferngesteuerten Fluggeräten in das jeweilige Einsatzgebiet weitertransportiert und dort zur Explosion gebracht.
So eine Sprengung durchdringt hunderte von Metern Eis und bringt dabei temporäre Flüsse hervor, die ins Meer fließen können. Ein Instrument, das Eis in solcher Tiefe durchdringen kann, wird auch in der Lage sein, Felsen zu durchdringen ebenso wie den Beton der unterirdischen Anlage. Und mit seiner enormen Hitze wird es sicherlich alle biologischen Waffen und deren Transportsysteme zerstören.
Allerdings können wir die Effizienz dieses Sprengkörpers nicht dahingehend limitieren, dass es nur diese unterirdische Anlage zerstört. Wenn wir so einen Sprengkörper benutzen, dann wird dessen Explosion ganz Nephilim City zerstören, und sogar einige der umliegenden Dörfer.“
Ein anschwellendes Gemurmel konnte man jetzt durch die Halle brummen hören, während die Kinder im Wohnzimmer einander sprachlos und entsetzt anschauten.
Mr Nawakwi fuhr fort und hob die Stimme über den Lärm: „Die Möglichkeit die thermonukleare Sprengung zu benutzen, wurde in den letzten beiden Tagen überall auf dem Friedensnetz diskutiert. Und von den Nachrichten, die ich erhalten habe, so wurde es auch hier in Spesaeterna von einigen von Ihnen diskutiert, genau wie in tausenden von anderen Dörfern.
Aber es wurde auch noch eine Alternative dazu vorgeschlagen. Es war Mr Wang hier aus Ihrem Dorf, der diesen Alternativplan entwickelt hat, nachdem er sich zuerst einmal der Mithilfe des jungen Jonathan Galt versichert hatte. Mr Wang hat sich dafür mit vielen Wissenschaftlern aus Dörfern in aller Welt in Kontakt gesetzt. Und deshalb möchte ich Mr Wang jetzt bitten, Ihnen seinen Vorschlag zu unterbreiten..“
Mr Nawakwi setzte sich hin. Doch noch bevor sich Mr Wang langsam von der Bank erheben konnte, war Ms Alba, die Hope als Freundin ihrer Großmutter kannte, bereits aufgestanden und begann mit fester und bestimmter Stimme zu sprechen:
Die meisten hier in Spesaeterna haben Mr Wangs Vorschlag bereits gehört, und die meisten von uns denken, dass es kein guter Plan ist. Er wird unsere Probleme nicht lösen und die Bedrohung, unter der wir stehen, nicht eliminieren. Es gibt zu viel Variablen darin, die wir nicht akkurat einschätzen können.
Wenn etwas schiefgeht, wird die Welt in noch schlimmerer Gefahr sein als jetzt bereits, während wir keinerlei Zeit haben würden, unsere Verteidigungsmaßnahmen zu entwickeln, wie Mr Nawakwi es bereits dargelegt hat.“
Jetzt stand Ms Keilar auf und wandte sich Ms Alba zu. Mit weit festerer Stimme als zuvor erklärte sie: „Ms Alba, Sie haben Recht, viele von uns haben die Grundaussagen von Mr Wangs Vorschlag bereits gehört und diskutiert. Aber andere Leute haben das noch nicht, genauso wenig, wie die Menschen, die diese Versammlung auf dem Friedensnetz beobachten.
Und deshalb werden wir zuerst einmal Mr Wang erlauben, uns seine Ideen zu präsentieren, und hinterher diskutieren wir darüber, ob diese machbar sind. Mr Wang, Sie haben jetzt das Wort!“
Mr Wang stand jetzt vor seinem Pult. Er räusperte sich noch einmal, bevor er begann: „In Kooperation mit einer Gruppe von Wissenschaftlern aus 237 Dörfern aus mehreren Nationen haben der junge Mr Jonathan Galt und ich einen Plan entworfen, wie wir uns vor dem 90% Virus, wie er jetzt genannt wird, schützen können und wie wir auch die Produktion von Drohnen, die diese infizierten Insekten transportieren sollen, unterbrechen können.“
Das Räuspern hatte nichts geholfen, Mr Wangs Stimme war immer noch rau, hart und brummig, als er weiter behauptete: „Wenn wir also diese Alternative zur Verfügung, dann gibt es überhaupt keinen Grund, mit dem wir den Einsatz der thermonuklearen Sprengung rechtfertigen können. Es wäre ein fundamentaler Verstoß gegen das Erste Prinzip.“
Ms Alba war wieder aufgesprungen und widersprach heftig: „Es würde es nicht verletzen! Das Erste Prinzip verlangt, dass Menschenleben respektiert und geschützt werden. Es stellt fest, dass alle Menschen denselben Wert haben. Das bedeutet, natürlich, dass 10 Milliarden Individuen -ein Drittel von ihnen versucht der ältere Mr Galt übrigens vom Angesicht der Erde auszulöschen- mehr zählen als die 2 Millionen Individuen, die zur Zeit in Nephilim City leben, plus der vielleicht eine Million, die in den umliegenden Dörfern von Orange Country wohnen, die unter Umständen auch noch in Mitleidenschaft geraten würden.“
Ms Keilar unterbrach: „Bitte, Ms Alba, Mr Wang hat seine Präsentation noch nicht beendet. Mr Wang, würden Sie uns nun erst einmal mit den Details ihres Vorschlags vertraut machen, später können wir dann zu den moralischen Fragen übergehen.“
Ms Alba setzte sich, und Mr Wang nickte und begann dann seinen Vorschlag im Detail darzulegen: „Worauf Mr Nawakwi bereits korrekt hingewiesen hat, so werden die biologischen Waffen und die Transportmittel für diese in einer unterirdischen Anlage entweder produziert oder zumindest gelagert. Die Eingänge dort hinein werden sowohl von bewaffneten Männern als auch von Computer-gesteuerten Systemen geschützt. Nur diejenigen, die dort arbeiten haben Zugang zu dieser Anlage, das sind ausschließlich Personen, die seit Jahren in Nephilim City leben, und die von der transhumanistischen Gesellschaft speziell selektiert wurden,.
Aber es gibt doch einen Menschen, den wir kennen und dem wir vertrauen können, der in der Lage sein wird die Anlage zu betreten, und Zugang zu jedem der Labore, der Lagerhallen und der Datenbanken zu erhalten. Und das ist Jonathan Galt, der Sohn von John Galt, dem Führer der transhumanistischen Gesellschaft.
Jonathans Abwesenheit von Orange Country ist noch nicht bemerkt worden, und wird es auch nicht für die nächsten beiden Wochen. Danach könnte er auf demselben Weg nach Nephilim City zurückkehren, auf dem er gekommen ist.
Wenn er einmal innerhalb der Anlage ist, dann kann der junge Mr Galt uns die Daten über den genetischen Aufbau der Insekten besorgen. Mit diesen Informationen werden unsere medizinischen Wissenschaftler wahrscheinlich bereits innerhalb weniger Tage in der Lage sein, ein anti-virales Gegenmittel zu entwickeln. Unsere Elektronik-Spezialisten werden in der Lage sein, elektro-magnetische Schutznetze zu entwickeln. Die Informationen zu diesen werden dann an alle Dörfer weitergegeben, so dass alle Wohnungseinheiten ihren Insektenschutz entsprechend anpassen können.
Wir haben auch begonnen, einen Plan zu entwickeln, wie Jonathan Galt eine weitere Produktion dieser biologischen Waffen unterbinden und die Transportsysteme dafür sabotieren kann. Die Details werden von unseren Mitarbeitern, die Biologen und Informations-Technologie-Spezialisten sind, immer noch ausgearbeitet. Aber alle Experten sagen uns gute Chancen für einen Erfolg voraus.
Die Unterbrechung der Produktionsarbeiten über viele Monate hin, wird uns danach mehr als ausreichend Zeit lassen, unseren Insektenschutz zu optimieren. Ebenso werden wir in dieser Zeit unsere Satelliten-Beobachtungs-Techniken, so weit ausbauen können, dass wir jedes getarnte Flugobjekt, das von Orange Country abhebt, mit Sicherheit entdecken können. Außerdem werden wir daran arbeiten unsere Laserinstrumente so zu modifizieren, dass sie solche Flugobjekte sofort zerstören können.
Die mitarbeitenden technischen Ingenieure, unsere Laser-Spezialisten und diejenigen Wissenschaftler, die auf Satellitentechnik spezialisiert sind, stimmen alle darin überein, dass wir die Sicherheitsvorkehrungen sehr zügig entwickeln könnten. Mit unbegrenzten Ressourcen, die von allen Dörfern der Welt zur Verfügung gestellt würden, könnten diese Verteidigungssysteme innerhalb von etwa fünf Monaten völlig betriebsbereit sein, und teilweise bereits innerhalb weniger Wochen.“
Jetzt machte Mr Wang eine kurze Pause. Dies gab Ms Alba die Gelegenheit für eine Erwiderung: „Das klingt einfach zu optimistisch, um realistisch zu sein. Zuerst einmal müssen wir uns auf die unbewiesenen Behauptungen dieser namenlosen Wissenschaftler verlassen, deren noch nicht getestete Methoden uns schützen sollen, und zweitens hängt der ganze Plan zum allergrößten Teil auch noch von einer einzigen Person ab. Und das ist dann auch noch jemand, den wir erst seit ein paar Tagen kennen.
Erinnern wir uns daran, dass Luscinia Callahan, während der letzten Versammlung, Nephilim City einmal die Hölle genannt hat. Wenn jener Ort also die Hölle sein soll, könnten wir dann Jonathan Galt nicht auch als den Sohn des Teufels ansehen?“
Das Gemurmel, das jetzt zu hören war, klang teilweise geschockt, andererseits schwang aber auch etwas Zustimmung mit.
Ms Alba fuhr fort: „Zur Zeit sieht es aus, als ob dieser junge Mann seine Leuten verrät und sogar seinen eigenen Vater. Woher wissen wir denn, dass er es sich nicht im nächsten Augenblick anders überlegt, und dann uns verrät?“
Nach diesem Kommentar von Ms Alba, sprang Jonathan Galt auf und wartete kaum darauf bis sein Pult oben war, bevor er protestierte:
Ich betrachte die transhumanistische Gesellschaft nicht als meine Leute, auch wenn mein Vater mich gezwungen hat, dort einzutreten. Ich sehe Nephilim City auch nicht mehr als mein Dorf an, auch wenn ich dort aufgewachsen bin. Und vor allem glaube ich nicht, dass ich meinem Vater in irgendeiner Weise Loyalität schulde, obwohl er selbst das, was ich hier tue, natürlich als Verrat ansehen würde.
Aber, indem er meine Mutter von mir genommen und sie in diesem Venus Projekt gefangen gehalten hat, damit hat er uns beide schon vor langer Zeit verraten. Meine Loyalität gehört der Erinnerung an meine Mutter, meiner Freundschaft zu Luscinia und außerdem der gesamten Menschheit, die mein Vater in so große Gefahr gebracht hat. Und ich hoffe, dass ich eines Tages Luscinias Reh-Hausgemeinschaft als meine Gemeinschaft ansehen kann, und wenn Sie alle mich hier akzeptieren, dass Spesaeterna dann mein Dorf werden wird.“
Jonathan Galt sah die Menschen um sich im Versammlungssaal bittend an. Und damit wurde es ganz klar, dass seine Worte und seine Einstellung ihm viele Pluspunkte eingebracht hat. Die Stimmung war umgeschlagen. Er setzte sich wieder hin.
Ms Alba spürte, wenn sie den jungen Mann weiter direkt angriff, dann würde das ihrer Argumentation nur schaden, und so versuchte sie einen anderen Ansatz:
Selbst wenn der junge Jonathan Galt sein Bestes geben wird, um in die Anlage einzudringen, und uns die Informationen zu besorgen, die wir benötigen, dann können wir nicht wissen, ob er nicht bereits längst unter Verdacht steht. Seine Abwesenheit könnte bereits bemerkt worden sein, oder jemand könnte entdeckt haben, dass er bei seiner Mutter war, als sie starb. Und selbst wenn er ungehindert hineinkommt, könnte er bei dem Versuch an die Daten zu gelangen oder die Produktion zu sabotieren, entdeckt werden. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie die Pläne für diesen einzelnen jungen Mann fehlschlagen könnten. Und wenn das geschieht, können wir mit einem unmittelbaren Angriff rechnen, einem Angriff, auf den wir nicht vorbereitet sind und vor dem wir uns nicht schützen können.“
Mr Wang unterbrach: „Jonathan Galt wird nicht allein sein. Ich werde mit ihm gehen, und es haben sich bereits mehrere weitere Freiwillige gemeldet.
Bei dieser Operation planen wir außerdem so viele Frauen aus den Venus Projekten zu befreien, wie wie nur irgendmöglich. Wir haben uns mit den Dörfern in Verbindung gesetzt, die in den letzten paar Jahren Frauen nach Orange Country geschickt haben. Sie alle sind bereit ihre ehemaligen Bürgerinnen wieder einzubürgern.
Wir werden Jonathan auch dabei helfen, Natsukis Eltern zu evakuieren, zusammen mit allen anderen Leuten, die Jonathan und Luscinia geholfen haben. Denn diese Leute würden in tödliche Gefahr kommen, wenn wir den zweiten Teil unseres Planes umsetzen, nämlich Orange Country wieder ans Friedensnetz anzuschließen.“
Mit dieser Enthüllung verlor Ms Alba völlig ihre Fassung:
Was sagst du? Hast du völlig den Verstand verloren? Ist dein Geist halbwegs zum Himmel gegangen, oder sollte ich eher sagen halbwegs zur Hölle?“
Ms Alba war nicht die Einzige, die schockiert war. Ein älterer Mann, ein Mr Bayne, stand auf und fragte Mr Wang aufgeregt: „Erinnerst du dich denn nicht, Lee, warum Orange Country damals vom Friedensnetz abgeschnitten wurde?“
Ich erinnere mich“, antwortete Mr Wang.
Mr Bayne fuhr in erregtem Ton fort, während er mit seinen Hände gestikulierte: „Diese Bildergeschichten, diese furchtbaren Bildergeschichten aus den Dunklen Zeiten, die haben sie immer noch dort. Luscinia Callahan hat uns von ihnen erzählt.
Historische Wissenschaftler wie ich, haben über das Phänomen geforscht, dass innerhalb einer einzigen Generation in den Dunklen Zeiten, die Kulturen der meisten Nationen so verändert wurden, dass den Menschen in diesen nichts anderes mehr wichtig zu sein schien als der Schutz von Paarwerdungsrechten. Selbst das Recht auf Leben wurde damals zweitrangig. Diese Bildergeschichten kombiniert mit den Hormonverwirrungen der Jugendlichen waren die Ursache. Wenn wir das Friedensnetz für Orange Country öffnen, dann werden in dreißig Jahren alle unsere Dörfer wie Nephilim City aussehen.“
Ja, Mr Bayne“, erwiderte Mr Wang auf seine normale brummige Art, „Sie haben diese Theorie in der Vergangenheit häufig mit mir diskutiert. Aber ich habe seitdem auf dem Friedensnetz nachgeforscht, und habe herausgefunden, dass dort eine andere Theorie vorherrscht wird.
In dieser Theorie erklären einige historische Wissenschaftler, dass die kulturellen Veränderungen nicht durch die Bildergeschichten kombiniert mit Hormonverwirrungen verursacht wurden, sondern durch die Machtstrukturen der Dunklen Zeiten. Es waren die Machtstrukturen, die mittels multi-nationaler Informationsbüros, Massenmedien genannt, die fundamentalen Ideen von vielen Gesellschaften der Dunklen Zeiten veränderten.
Diese Bildergeschichten waren nur ein probates Mittel zum Zweck, diese Gesellschaften in einer permanenten Jugendverwirrung zu halten. Es war eine wohlüberlegte Strategie, die Paarwerdungsrechte als die einzigen von Wert darzustellen. Diese Bedingungen sollten dann zum ultimativen Ziel einer Strategie der damaligen Machteliten führen, nämlich der emotional zurückgebliebenen Bevölkerung alle anderen Rechte zu entziehen, einschließlich des Rechts auf Leben und des natürlichen Rechts sich fortzupflanzen zu können. All diese normalen Rechte sollten dann in Privilegien umgewandelt werden, die mächtige Herrscher, die sich hinter den zentral-gesteuerten Bürokratien versteckten, nur noch ausgewählten Individuen zuerkennen würden.
Obwohl diese Pläne niemals zur Ausführung gelangten, wurden die Paarwerdens-Rechte doch für eine Zeit lang zum Deckmantel für den Kampf gegen viele ärmere Nationen, während den Bürgern einiger reicherer Nationen das illusorische Gefühl gegeben wurde, dass sie frei seien. Diese angeblichen Rechte gaben den Bevölkerungen dieser Nationen dann das Gefühl einer Überlegenheit über andere Nationen, die weniger Paarwerdens-Rechte hatten. Oft wurden sie sogar zum Vorwand genommen, Hass und Feindschaft gegen diese anderen Nationen zu schüren.“
Den nächsten Punkt betonte Mr Wang: „Wir leben aber nicht mehr in den Machtstrukturen der Dunklen Zeiten und auch nicht in denen von Orange Country. Selbst wenn ein paar Bildergeschichten aus den Dunklen Zeiten, irgendwann einmal durch das Friedensnetz geistern würden, dann würde das trotzdem unser Denken nicht fundamental verändern, nicht einmal das von Jugendlichen.
Wir haben unsere jungen Leute von klein auf Verantwortung gelehrt. Während Hormon-Fluktuationen öfters mal kleinere Probleme verursachen, so sind die meisten unserer Jugendlichen heutzutage weit reifer als die meisten Erwachsenen der Dunklen Zeiten. In der Tat bin ich so von der Reife unserer jungen Leute überzeugt, dass ich vorschlagen würde, ihnen noch mehr Verantwortung zu geben und sie an den Dorfratsversammlungen teilnehmen zu lassen.“
Mr Bayne protestierte: „Ich muss dir sagen, Lee, ich meine Mr Wang, dass ich die von Ihnen erwähnten Theorien zutiefst ablehne...
Eine Frau mittleren Alters in einem hellgrünen Outfit unterbrach ihn. Ihr Name war an der Projektionswand als Ms Talim angegeben, und Hope wusste, dass sie eine Haupteigentümerin der größten Produktionsanlage Spesaeternas war. „Zur Zeit können wir nicht feststellen, welche der Theorien die richtige ist, Ihre Mr Wang oder Ihre Mr Bayne, aber es scheint mir einfach keinen Sinn zu ergeben, dieses Risiko einzugehen und das Friedensnetz für Orange Country zu öffnen. Was würden wir dabei gewinnen?“
Mr Wang verteidigte seine Idee: „Der Gewinn wäre, dass die Vernunft wieder nach Nephilim City einkehren könnte. Ich bin davon überzeugt, dass es genau hier war, in der 'äußeren Welt' , wie Leute aus Orange Country uns nennen, wo das Problem, das uns jetzt alle bedroht, eigentlich erzeugt wurde.
Indem wir die Menschen von Orange Country von uns abgeschnitten haben, haben wir sie auch von unserer Art zu denken und zu argumentieren ausgeschlossen. Und indem wir alle erwachsenen Regelbrecher dorthin geschickt haben, haben wir doch selbst den Druckkessel geschaffen, der uns jetzt droht, um die Ohren zu fliegen.
Wenn wir das Friedensnetz für die Menschen von Nephilim City öffnen, dann werden wir die Gelegenheit für sie schaffen, den Druck zu vermindern und Dampf abzulassen. Oder in ganz einfachen Worten, sie werden mit uns sprechen können und wir mit ihnen.“
Und glauben Sie wirklich“, Ms Talims Ton deutete an, dass sie starke Zweifel an dieser Möglichkeit hatte, „dass jemand wie John Galt nur durch Reden, seine Meinung ändern würde?“
Mr Wang schüttelte den Kopf: „Wahrscheinlich nicht, aber er ist ja nicht allein dort. Wenn die Leute aus den Dörfern von Orange Country einmal erfahren, dass die transhumanistische Gesellschaft geplant hatte, biologische Waffen gegen sie einzusetzen, dann wird es von dort Widerstand geben. Und Widerstand wird es vermutlich auch geben, wenn die Menschen von Nephilim City selbst erfahren, dass als Reaktion auf die Angriffspläne der transhumanistischen Gesellschaft, ihre ganze Stadt Gefahr läuft zerstört zu werden. Vielleicht wird es sogar Widerstand innerhalb der Sicherheitsfirmen dort geben.“
Ja,“, meinte Ms Talim, „das könnte dort relevante Veränderungen nach sich ziehen, vielleicht aber auch nicht. Sie können das nicht garantieren, oder doch?“
Jetzt war ein Mr Jennings aufgestanden: „Und während wir auf die Veränderungen warten, die vielleicht oder vielleicht auch nicht in Nephilim City herbeigeführt werden, wird dieses Damokles-Schwert vielleicht für immer über uns hängen.“
Mr Wang widersprach dieser düsteren Zukunftsvision: „Nicht für immer! In 50 oder 60 Jahren wird Nephilim City praktisch ausgestorben sein. Fast alle Frauen waren über 25 Jahre alt, als sie dort hingeschickt wurden. Dann wurden ihnen in den Venus Projekten fünf Jahre lang Chemikalien injiziert, so dass kaum eine von ihnen mehr in der Lage sein wird, Kinder zu haben, entweder weil sie zu alt wird oder wegen teilweiser oder völliger Unfruchtbarkeit.
Luscinia und Jonathan haben mir erzählt, dass sie nur wenige Kinder in Nephilm City gesehen haben. Und da wir keine Exilanten mehr dort hinschicken werden, wird der Ort natürlicherweise in ein paar Jahrzehnten ausgestorben sein.“
Und in der Zwischenzeit“, rief Mr Jennings erregt, „da brüten diese Transhumanisten ein paar Tausend oder Millionen von diesen kleinen Alpha-Monstern aus!“
Das ist ziemlich unwahrscheinlich, Mr Jennings“, widersprach Mr Wang auch dieser Vorhersage. „Nach dem, was die Wissenschaftler erklären, die die Daten von den Gen-Manipulationen der Dunklen Zeiten ausgewertet haben, sind diese künstlichen Mutations-Prozesse ziemlich unvorhersehbar und kaum zu steuern. Wir wissen, dass John Galt seine ersten Menschenversuche bereits vor über 35 Jahren in seinem eigenen Dorf unternommen hat. Er hat also so lange gebraucht, um ein einziges überlebensfähiges Baby zu erzeugen. Es könnte ebenso lange für das nächste dauern.“
Mr Jennings war nicht überzeugt: „Vielleicht... vielleicht geht es aber auch sehr viel schneller. Aber Sie haben ihn doch gehört, dieses kleine Monster hat die Intelligenz von zehn normalen Menschen. Was ist wenn es diese Intelligenz dazu benutzt, unsere Verteidigung gegen den 90%Virus zu unterlaufen? Was wenn ein neuer Virus von ihm hergestellt wird, der noch schlimmer ist. Was ist wenn diese Intelligenz-Bestie sich noch weitaus tödlichere Waffen gegen uns ausdenkt?“
Aber das ist doch nur ein Baby, ein einziges kleines Baby“, brummte Mr Wang.
Er versuchte ein realistischeres Bild der Angelegenheit gegen die Panikmache zu geben: „Selbst wenn die Transhumanisten es schaffen würden, tausende von diesen Babies herzustellen, jedes einzelne zehnmal intelligenter als ein normaler Mensch, dann wird trotzdem die kollektive Intelligenz von Milliarden ganz normaler Menschen die Intelligenz dieser paar wenigen genmanipulierten Kinder millionenfach übertreffen.“
Es ist doch kein menschliches Kind, Mr Wang!“ brüllte Mr Jennings jetzt völlig aufgewühlt. „Es ist etwas anderes. Sie haben John Galt gehört. Dieses Ding hat ein extra Paar Chromosomen. Er nannte es post-human, ich nenne es ein Monster.“
Nein, da muss ich widersprechen“, Mr Wang blieb ungerührt. „Dieses Baby ist ein Mensch, wie John Galt es nennt, ist völlig irrelevant. Überall auf der Welt gibt es Babies mit Chromosomen-Anomalitäten, meist mit der Trisomie 21, das ist ein extra 21. Chromosom. Trotzdem sind sie nicht weniger menschlich.
Das ist etwas anderes, dieses dort wurde extra dafür gemacht, dass es die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, nicht mehr hat, ein herzloses Monster,“ widersprach Mr Jennings noch einmal.
Mr Wang gab seiner Stimme jetzt einen ungewöhnlich sanften Klang: „Es ist traurig, dass diesem kleinen Junge, absichtlich solche Beschränkungen auferlegt wurden. Aber ich weiß, Mr Jennings, dass solidarisches Verhalten zwar ein Resultat von Gefühlen sein kann, aber nicht unbedingt sein muss. Es kann auch das Resultat von logischem Denken sein. Eine Gesellschaft, der es an Solidarität untereinander mangelt, ist instabil und immer am Rande der Selbstzerstörung. Wenn dieser kleine Junge wirklich so intelligent ist, wie John Galt behauptet, wird er das bald selbst herausfinden.
Aber“, warf Ms Alba ein und übernahm wieder die Führung der Gegenseite, „John Galt und seine Transhumanisten sind sicherlich nicht intelligent genug dafür, obwohl sie dann doch intelligent genug dafür waren, Waffen zu erfinden, die uns alle auslöschen können.
Dann fasste sie zusammen: „Mr Bayne hat Recht, das Friedensnetz für Orange Country zu öffnen, ist in vieler Hinsicht gefährlich. Es würde nicht nur unsere Art zu leben riskieren, sondern zu diesem Zeitpunkt sogar unser Überleben selbst in Frage stellen. Denn Ms Talim hat auch Recht, nichts könnte bei so einem riskanten Maneuver gewonnen werden, stattdessen würden wir uns alle in Gefahr bringen. Wenn das Friedensnetz einmal für die dort geöffnet würde, dann könnten sie alle Pläne für unsere Verteidigung einsehen und neue Arten finden, uns zu zerstören.
Und auch Mr Jennings hat Recht: Nephilim City ist ein Damokles Schwert, das über der gesamten Welt hängt, eines das entfernt werden muss, bevor es auf uns alle fällt!“
Und doch Ms Alba“, erwiderte Mr Wang, „ haben wir uns dieses Schwert selbst erzeugt. In all den Jahren meines Lebens wurden nur zwei Leute von Spesaeterna nach Orange Country ins Exil geschickt, eine von ihnen war Luscinia Callahan, die niemals hätte dorthin geschickt werden sollen, da sie viel zu jung war.
In anderen Dörfern ist es ähnlich, ein oder zwei Leute, vielleicht drei, wurden innerhalb der letzten 70 Jahre permanent ins Exil geschickt. Hätten wir nicht einen anderen Weg finden können, mit diesen wenigen Leuten umzugehen? Hätten wir nicht temporäres Exil versuchen können, wie bei den Jugendlichen?
Wenn wir den Exilanten eine Chance gegeben hätten, nach Hause zurückzukehren, dann wären sie nie so stark von der Kultur der Dunklen Zeiten beeinflusst worden. So etwas wie ein Venus Projekt wäre niemals erfunden worden. Männer hätten nie einen so großen Hass gegen Frauen entwickeln oder zumindest nie so viel Macht über sie erlangen können, dass sie ihnen so furchtbar Gewalt hätten antun könnten, wie das mit Luscinia Callahan geschehen ist.
Machtstrukturen, wie wir sie dort in Nephilim City sehen, hätten niemals entwickelt werden können, wenn die Leute unter uns gelebt hätten. Und die transhumanistische Gesellschaft wäre vermutlich auch nie gegründet worden.
Und wenn ich so recht darüber nachdenke, was wäre eigentlich geschehen, wenn wir John Galt erlaubt hätten, weiter von seinen Sterne zu träumen? Wäre er dann trotzdem in diesen dunklen Abgrund geraten, in den er jetzt ganz Nephilim City hinein geführt hat? Wer weiß, vielleicht nicht...
Erinnerst du dich noch Patricia, ich meine Ms Alba, wie dieser junge Mann damals vor so vielen Jahren nach Spesaeterna kam, so voller Enthusiasmus, und wie er damals versuchte uns von seinen Raumfahrt-Plänen zu überzeugen und unsere Unterstützung dafür zu bekommen? Und weißt du noch, wie wir ihn dann schroff zurückgewiesen und seine Ideen verächtlich niedergemacht haben. Sie seien undurchdacht haben wir gesagt, und dass jede Art von Raumfahrt sowieso nichts als pure Verschwendung sei.“
Ja, ich erinnere mich noch ziemlich geanu“, bestätigte Ms Alba, „und ich erinnere mich auch noch daran, dass dieser John Galt schon damals ein arroganter junger Mann war, der keinen Wert darauf legte, irgendeine andere Meinung zu hören als seine eigene. Und seine Pläne auszuführen, wäre in der Tat eine Verschwendung von Resourssen gewesen für etwas, die keinem nützlichen Zweck gedient hätten.
Aber es waren Träume, Patricia, Träume“, bemerkte Mr Wang sanft. „Einige Leute brauchen Träume, und sie sollten sie haben dürfen, gleichgültig wie nutzlos sie anderen erscheinen. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder einmal zu träumen.“
Im Augenblick hatte Ms Alba keinerlei Zeit für Träume: „Und dann begann John Galt davon zu träumen, eine neue humanoide Rasse zu erschaffen, und dafür dann die alte zu zerstören. Würdest du ihn auch in diesem Traum unterstützen?“
Unsinn“, Mr Wang hörte sich jetzt doch verärgert an. „Was ich damit gemeint habe, ist nur, dass wir alle die Bedingungen dafür geschaffen haben, die genau zu diesem Problem geführt haben, mit dem wir jetzt konfrontiert sind. Und wir müssen einfach einen ethischen Weg finden, damit umzugehen.“
Wir können die Vergangenheit nicht ändern“, stellte Ms Alba fest. „Wie müssen mit dem umgehen, was jetzt ist. Und gerade jetzt sind wir in großer Gefahr, und es gibt nur einen sicheren Weg, diese Gefahr auszuschalten, und uns selbst, unsere Kinder und unsere Enkelkinder zu schützen.“
Hope's Großmutter sprang jetzt auf: „Aber dort gibt es doch auch Kinder, Patricia, ich meine Ms Alba, unschuldige Kinder!“
Jetzt unterbrach Ms Higgins, eine andere Freundin von Hope's Großmutter: „Aber Faith, Mr Wang hat doch selbst gesagt, dass dort in Nephilim City nicht viele Kinder geboren werden.“
Hope's Großmutter redete ohne Pause weiter: „Und dort gibt es auch Frauen, Frauen, die unschuldige Opfer dieser ganzen Unterdrückung an diesem Ort sind, so wie unsere Luscinia!“
Nicht unschuldig, Ms Morgan, wie Sie genau wissen“, Ms Higgins hörte sich nicht mehr so an, als ob sie mit einer Freundin redete. „Die sind alle Exilanten, Regelbrecher wie Luscinia Callahan... oder hast du vergessen, was sie getan hat?“
Jetzt war Mr Callahan hochgesprungen, rot im Gesicht vor Wut. Aber bevor er noch etwas sagen konnte, begann Mr Wang wieder zu reden:
Wir glauben nicht, dass Regelbrecher getötet werden sollten, wie das in den Dunklen Zeiten gemacht wurde. Und Ms Higgins, sagt Ihre Religion nicht, dass man denen vergeben soll, die falsch gehandelt haben?“
Ms Higgins schüttelte den Kopf: „Die christliche Religion hindert uns nicht daran, uns selbst zu verteidigen. Ich glaube, dass Gott uns jetzt diese Information gegeben hat und deshalb auch die Möglichkeit uns vor der Zerstörung zu schützen. Und in der Bibel gibt es eine Stelle, die spricht von den Ammonitern, einem Volk das so böse war, dass es dafür keine Gnade und Vergebung geben konnte, böse bis zu dem Punkt, dass Gott befahl dieses Volk gewaltsam auszurotten.“
Hope's Großmutter schüttelte den Kopf und sagte: „Die meisten Theologen interpretieren diese Bibelstelle heutzutage völlig anders. Mein Bruder sagt...“
Ms Higgins unterbrach sie: „Ihr Bruder, Ms Morgan? Ist das nicht der, der einmal der beste Freund von diesem John Galt war, selbst ein Wissenschaftler, hat er nicht an denselben Dingen mit diesem gearbeitet? Natürlich würde er seinen alten Freund unterstützen und retten wollen, sogar auf Kosten des Lebens und der Sicherheit von allen anderen.“
Jetzt war Hope völlig geschockt, sie hatte beinahe vergessen, was ihr der Großonkel vor Jahren erzählt hatte. Aber es konnte keinen Zweifel darüber bestehen, dieser Mann in Nephilm City war derselbe John Galt, der einmal der Freund ihres Großonkels gewesen war. Hope schauderte vor Entsetzen.
Aber wie konnten die Leute ihren Großonkel für für John Galt's Taten verantwortlich machen, nur wegen einer Freundschaft, die vor so vielen Jahren geendet hatte? Jetzt erkannte Hope, was er damit gemeint hatte, dass die Leute ihm nicht zuhören würden.
Hope sah sich um und ihre eigenen Freunde an. Die vermieden es alle, sie anzuschauen, alle außer Ameenah. Diese saß neben Hope und flüsterte ihr ins Ohr: „Professor Morgan ist ein guter Mensch. Ich weiß das.“
Hope wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schirm zu, um jetzt zu entdecken, dass ihre Großmutter inzwischen weinte, und ihr Großvater brüllte: „Wie können Sie es wagen, Ms Higgins?! Sie, die so oft bei uns zuhause gewesen sind, Sie, von der meine Frau dachte, dass Sie Ihre Freundin seien, wie können Sie es wagen, anzudeuten, dass mein Schwager...“
Ms Higgins, die jetzt selbst rot im Gesicht geworden war vor Wut, antwortete nicht, stattdessen wandte sie sich wieder Mr Wang in einem Ton zu, der am Anschlag war: „Und wo Sie mich auf meine Religion hingewiesen haben, Mr Wang, da sollte ich mich auch daran erinnern, was ich über Ihre weiß. Könnte es sein, dass Sie nur deshalb nichts auf die Sicherheit und das Leben von uns allen geben, weil in Ihrer Religion ein Menschenleben keinen großen Wert hat? Nach einem schiefgegangenen Leben, drehen Sie sich einfach um, werden wiedergeboren und probieren es noch mal. Das könnte neu für Sie sein, aber für uns gibt es nur eine Chance es richtig zu machen, und wir haben nicht vor uns diese Chance verkürzen zu lassen!“
Nach dieser Anklage sprangen etwa 30 Leute aus ihren Sitzen, und alle schrien zu selben Zeit irgendetwas. Und eine Sekunde später waren es noch einmal 50, die aufgesprungen waren.
Die Projektionswand hinter ihnen war jetzt so voll, dass die Buchstaben der Namen derer die dort standen nicht mehr voneinander unterschieden werden konnten. Der Ton, der aus all den Lautsprechern kam, war ohrenbetäubend.
Am Ende war dann noch der durchdringende Ton einer Glocke zu hören, die sogar das Stimmengewirr übertönte.
Die Stille danach war dick angefüllt mit Zorn. Nur noch eine Stimme durchbrach diese Stille, es war die von Ms Keilar, die befahl:
Alle setzen sich jetzt hin, bitte! Jetzt sofort!“
Widerwillig gehorchten die Stehenden. Nur Ms Keilar selbst blieb hinter ihrem Pult stehen.
Ihre Stimme hörte sich jetzt entschieden autoritär an: „All dies hier ist gegen unsere wichtigsten Regeln. Wir attackieren Leute nicht persönlich auf unserer Dorfratsversammlung. Auch unterstellen wir anderen Bürgern nicht irgendwelche Gedanken und Absichten, die sie nicht ausgesprochen haben. Und mit absoluter Sicherheit machen wir keine negativen Bemerkungen über die Religion anderer Leute. Das letztere ist ein zu ahndender Fall schwerwiegenden Regelbruchs, außer, wenn Sie, Ms Higgins, und Sie ebenso, Mr Wang, sich auf der Stelle dafür entschuldigen.“
Mr Wang war der erste, der aufstand: „Es tut mir wirklich leid, Ms Keilar, und meine tiefste Entschuldigung Ms Higgins, dass ich diese Sache zu einer religiösen gemacht habe. Ich hoffe Sie werden mir vergeben.“
Ms Higgins stand jetzt auch, immer noch rot im Gesicht, doch jetzt eher aus Scham als vor Wut. Sie akzeptierte die Autorität von Ms Keilar und sagte förmlich: „Ich nehme Ihre Entschuldigung an, Mr Wang, und ich bitte Sie auch um Vergebung, ebenso wie Sie Ms Keilar. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, ich war einfach nur so besorgt.“
Ms Keilar erklärte: „Ihre Entschuldigungen wurden akzeptiert. Und im Augenblick sind wir alle sehr besorgt, Ms Higgins. Aber das darf die Einheit unseres Dorfes nicht gefährden.“
Nun konnte man ein Murmeln der Zustimmung hören, wenn auch ein zögerliches.
Und jetzt Mr Wang“, fuhr Ms Keilar fort, „sind Sie zum Ende der Präsentation ihrer Pläne und der dafür sprechenden Argumente gekommen?“
Mr Wang schüttelte den Kopf: „Ich bin fast fertig, aber mit Ihrer Erlaubnis, Ms Keilar, möchte ich noch zwei Punkte hinzufügen: In den letzten paar Tagen habe ich viele Male in unserem Dorf und auch von den Bürgern anderer Dörfer auf dem Friedensnetz gehört, dass es jetzt 'wir oder sie' sind.
Genau diese Einstellung ist es, die alle Kriege der Dunklen Zeiten und ebenso ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten kontrolliert haben. Erst als diese dualistische Ideologie von 'entweder wir oder die anderen' überwunden wurde, und zwar von der Einstellung an 'wir alle zusammen', wir alle gehören zur selben Menschheitsfamilie, da sind die Dunklen Zeiten Geschichte geworden, und unser Zeitalter des Friedens konnte aufsteigen, basierend auf dem Erste Prinzip.
Und das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Wenn wir Nephilim City mit Hilfe einer thermo-nuklearen Sprengung zerstören, mit all den Menschen dort, dann ist das, gleichgültig wie sehr wir das vor uns selbst auch verleugnen würden, die ultimative Verletzung des Ersten Prinzips. Dieses stellt ganz klar fest, dass menschliches Leben heilig ist und immer beschützt werden muss. Wenn wir diese Menschen auslöschen, dann löschen wir unsere eigene Grundlage aus.
Dass wir uns seit fast zwei Jahrhunderten immer an dieses Erste Prinzip halten, hat uns ein tiefes Vertrauen zueinander geschenkt, selbst zu Menschen, die an den Orten leben, die am weitesten von unserem entfernt sind. Dieses Vertrauen erlaubt es uns auch, großzügig zu sein ohne befürchten zu müssen, dass wir selbst dabei etwas verlieren. Und ebenso erlaubt es uns, alle Meinungsverschiedenheiten durch Geduld und Dialog zu überwinden.
Aber wenn wir versuchen, unsere Welt und unsere Lebensweise auf eine so mörderische Art zu bewahren, dann werden wir am Ende beides verlieren, Vertrauen zueinander und unsere Lebensweise. Das ist es, was ich in unserer Zukunft sehe.“
Ms Alba war auch wieder aufgestanden. Sie redete jetzt sanft und in vernünftigem Ton: „Ich kann Ihre Ängste verstehen, Mr Wang, aber was Sie glauben vorauszusehen, ist nichts als ein vages Gefühl ohne ein vernünftiges Argument dahinter.
Wie Sie ja selbst es erklärt haben, so verlangt das Erste Prinzip den Schutz des menschlichen Lebens, aber es erklärt auch, dass alle Menschen von gleichem Wert sind. Das Leben von 10 Milliarden Menschen, die heute auf der ganzen Erde leben, vor der Todesgefahr zu schützen, die von nur 2 Millionen Regelbrechern, die in Nephilim City leben, ausgeht, ist ein Akt der Selbstverteidigung und würde niemals Mord genannt werden.
Deshalb ist es auch keine Verletzung des Ersten Prinzips. Es wird darum nicht zu einem Verlust von Großzügigkeit, Geduld oder Vertrauen führen. Es wird keinen Einfluss haben auf unsere Fähigkeit, miteinander zu sprechen. Nichts wird sich ändern!
Allerdings, wenn wir aber in ständiger Angst leben müssten, das könnte leicht den Verlust des Vertrauens nach sich ziehen.“
Man konnte nun sehen, wie Ms Keilar auf Mr Avineshwaran hörte, den zweiten Repräsentanten des Internationalen Hilfskongress, der ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie nickte und begann zu sprechen:
Es sieht so aus, als ob die Argumentation heute Abend nicht abgeschlossen werden kann. Mr Avineshwaran hat mich über den Beschluss des Internationalen Hilfskongresses informiert, von dem er gerade unterrichtet wurde. Es wird gebeten, dass in drei Tagen eine weitere Dorfratsversammlung hier in Spesaeterna abgehalten wird. Auch diese Versammlung sollte am besten live über das Friedensnetz übertragen werden.
Dabei sollten Mr Wang und Ms Alba ihre Argumente noch einmal vortragen, ebenso wie jegliche weiteren Argumente, die bis dahin durch Diskussionen auf dem Friedensnetz aufkommen werden. Danach wird es eine 24-stündige Periode für weitere Diskussionen innerhalb der Dörfer der Welt geben, an dessen Ende zur Abstimmung aller Bürger in allen Dörfern außerhalb Orange Country über diese beiden Vorschläge aufgerufen wird.“
Mr. Avineshwaran flüsterte noch etwas in Ms Keilars Ohr. Dieses Mal sah sie überrascht aus, nickte jedoch und redete weiter:
Es wurde auch beschlossen, dass es wegen des großen Zeitdrucks, da die Herrscher von Nephilim City Verdacht schöpfen und darum früher zuschlagen könnten, nicht zu den gewöhnlichen Wiederholungen der Abstimmung und Diskussionen kommen kann, wenn die 95% Zustimmung beim ersten Mal nicht erreicht werden sollte.
Es wird daher nur eine einzige Abstimmung durchgeführt werden. Und derjenige der beiden Pläne, welcher mehr als 50% der Stimmen erhält, wird ausgeführt werden.“
Während ein Gemurmel sich im Saal erhob, verblasste die Szene vor Davids Augen, um wieder Platz für die Hope zu machen, die neben David traurig und voller Angst auf der Bank saß.
So das war es also. Das war die Last, die so schwer auf Hope's Gemüt gelegen hatte, seit David sie kannte. Er dachte, dass es eigentlich erstaunlich war, dass sie, die sich um solche Turbulenzen Zuhause Sorgen machen musste, trotzdem noch so viel Interesse an David und seiner Welt zeigte.
Was meinst du, wie die Leute sich entscheiden werden“, fragte David sanft.
Sie werden Ms Alba folgen“, antwortete Hope traurig. „In unserem Dorf und über das ganze Friedensnetz fragen die Leute einander gegenseitig, wie sie abstimmen werden. Und es ist fast überall das Gleiche. Von 10 Leuten werden 7 oder 8 für Ms Alba stimmen und nur 2 oder 3 für Mr Wang.“
Und was denkst du“, fragte David in einem noch vorsichtigeren Ton.
Hope seufzte: „Ich kann verstehen, warum so viele Ms Alba folgen und entscheiden wollen, die thermonukleare Sprengung zu benutzen. Sie haben einfach Angst, so fürchterliche Angst davor zu Opfern zu werden. Und ich habe auch Angst.“
Und trotzdem“, sagte sie nach kurzem Zögern, „glaube ich, dass Mr Wang Recht hat. Wenn wir sie dort töten, dann zerstören wir vielleicht uns selbst auf eine andere Art, weil wir das Erste Prinzip verletzen.“
Hope seufzte noch einmal und noch tiefer: „Und dann ist da Mama, meine eigene Mutter. Als ich letzte Nacht hierher kam und dir von meiner Mama erzählt habe, die auf einer Kampfmission ist, da dachtest du, dass sie dort Menschen bombardiert und tötet. Und das ist genau das, was sie jetzt tun wird. Sie wird verantwortlich sein für den Tod von 2 Millionen Menschen oder mehr.“
David schüttelte seinen Kopf: „Ich dachte zuerst, sie sei eine Soldatin, bis du mir das mit dem Kampf gegen die Eiszeit erklärt hast. Und jetzt, nehme ich mal an, ist sie wirklich so etwas wie eine Soldatin geworden. Aber sie ist eine von vielen, und was auch immer geschieht, es wird nicht ihre Verantwortung sein.“
Du verstehst das nicht, Onkel David“, widersprach Hope, „es wird in der Tat ihre Verantwortung sein.
Es war nämlich, nachdem ich das Opferszenario letztes Jahr durchlaufen hatte, da begann meine Mama für Eisbrecher Missionen zu trainieren. Das sei meinetwegen, hat sie damals gesagt. Weil ich so tapfer war, und sie müsste auch tapfer sein, und das Andenken an Papa ehren.
Und dann hat sie in allen Disziplinen trainiert und trainiert und trainiert, und danach hat sie alle notwendigen Tests bestanden und Qualifikationen erhalten. Und nachdem sie sich auf eine Liste für Projekt-Leiter eingetragen hatte, da hat jemand vom Internationalen Hilfskongress ihren Namen entdeckt. Und weil sich seit dem Unfall meines Vaters so viel weniger Freiwillige für die Eisbrecher Missionen gemeldet haben als früher, darum wurde entschieden, dass es ein gutes Vorbild abgeben würde, wenn die Witwe des verstorbenen Projekt-Leiters zur Hauptorganisatorin auf dem Flakschiff der Eisbrecher Flotte würde.
Und das ist meine Mama jetzt, die Hauptorganisatorin der gesamten Eisbrecher Flotte. Die thermonuklearen Sprengkörper sind auf ihrem Schiff gelagert, und sie müsste den Abschussbefehl für die Flugkörper geben.“
David sah Hope voller Verwunderung an: „Deine Mutter, die Näherin, ist jetzt die Kommandantin der Welt-Marine?“
Hope zuckte mit den Achseln: „Ich denke, so würde man sie in deiner Zeit vielleicht nennen.“
David erkannte, dass dies nicht etwas war, worauf Hope stolz war.
Sie erzählte einfach weiter: „In den letzten Tagen habe ich viele Male versucht, Mama anzurufen. Aber sie hat meistens nur Textbotschaften zurückgeschickt, dass sie gerade nicht mit mir reden könne. Mit Sissy und Lillebro hat sie auch nicht geredet. Aber am Ende habe ich sie dann doch erreicht, und da habe ich sie angebettelt, nach Hause zurückzukommen. Aber sie hat gesagt...“
Eine Szene formte sich wieder, in der Hope in einem Raum, der wie ein Schlafzimmer aussah, vor einer Projektionswand stand.
Ihre Mutter sah blass und erschöpft aus, aber sie redete beruhigend auf Hope ein: „Ich kann das doch nicht, meine kleine Hope, ich kann noch nicht zurückkommen.“
Aber Mama, was denkst du über diese schrecklichen Dinge und über die Pläne? Ich hab solche Angst, Mama.“
Ich weiß, Hope. Alle haben Angst. Ja, ich glaube auch, dass Mr Wang vielleicht Recht hat.“
Wenn du mit ihm übereinstimmst, dann kannst du das nicht tun, Mama“, Hope hörte sich verzweifelt an. „Du kannst nicht auf diesem Schiff sein, das darfst du nicht. Was ist, wenn die Welt entscheidet, dass...?“ Sie konnte die Worte nicht einmal aussprechen,
Hope's Mutter nickte langsam: „Dann werde ich diese Entscheidung ausführen.“
Nein, Mama, lass es jemanden anders tun! Ich weiß, du könntest nicht damit leben, mit dieser Schuld...“
Hope's Mutter schüttelte den Kopf: „Sollte jemand anders damit leben müssen? Ich bin für diese Position ausgewählt worden. Es ist jetzt mein Platz.“
Nein, Mama“, protestierte Hope. „Du bist nicht von Gott ausgewählt! Diese Repräsentanten haben dich ausgewählt. Es ist nicht dein Platz!“
Ihre Mutter schüttelte wieder den Kopf: „Die Repräsentanten des Internationalen Hilfskongresses haben nicht entschieden, dass ich genau zu diesem bestimmten Zeitpunkt hier sein sollte. Sie, genau wie alle anderen, wussten nicht was geschehen würde. Dies ist der Ort, wo ich zu dieser Zeit sein muss, Hope.“
Jemand, der „Ms Morgan“, rief, war von hinten zu hören, und so entschuldigte sich Hope's Mutter: „Es tut mir Leid, Hope, ich muss jetzt gehen. Ich habe dich lieb. Bitte sag den Kleinen, David und Faith, dass ich sie auch liebhabe.“
Und mit diesen Worten stellte sie das Kommunikationsgerät ab.
Mama, Mama“, schrie Hope zur leeren Wand hin, und sie drückte ihr Gesicht und ihre Hände dagegen, während sie jetzt still weinte. Die Szene verschwand und auch der gegenwärtigen Hope liefen Tränen das Gesicht hinunter.
Aber sie riss sich zusammen und erzählte weiter: „Und dann endlich redete Großonkel Professor wieder mit mir: „Er fand mich in unserer Wohnung, gerade nachdem ich mit meiner Mutter gesprochen hatte. Er bat mich, ihn in sein Labor zu begleiten. Und dort erklärte er mir dann, dass er die Zeitmaschine fertig gebaut hatte, und dass jetzt jemand weiter als nur zwei Tage in der Zeit zurückgehen konnte.
Normalerweise hätte ich das wirklich aufregend gefunden, aber gerade jetzt interessierte es mich überhaupt nicht. Die Vergangenheit, war die Vergangenheit und lange vorbei, aber die Gegenwart lief jetzt Gefahr, das Ende der Welt zu sein, oder wenigstens der Welt, wie wir sie kannten.
Aber mein Großonkel sagte, dass die Person, die in der Zeit zurückgehen würde, ich sein solle. Und das war dann doch etwas aufregendes, denn ich dachte, ich könne zu meinem Papa zurückgehen. Ich könnte ihn warnen, und der Unfall würde niemals passieren... Stattdessen sagte mein Großonkel, ich würde mehr als 200 Jahre zurückgehen zu irgendeinem Vorfahren von uns, meinem Ur-ur-ur-ur-ur-großvater, und ich sollte verhindern, dass er vor einen unterirdischen Personentransportzug springt und so Selbstmord begeht.
Bevor ich mich von meiner Überraschung erholen konnte, erzählte mein Großonkel mir von dem Datencontainer, der die Informationen über die Raum-Zeit-Koordinaten erhielt, wo ich meinen Vorfahren erreichen könne. Er erklärte mir, dass dieser Container schon seit Generationen in unserer Familie weitergegeben würde, und seine Großmutter hätte ihm das Ding gegeben, als er noch ein kleiner Junge war. Aber die meisten der Daten darauf seien unleserlich und er hätte nur einen kleinen Teil entziffern können.“
Wieder begann eine Szene aus Hope's Welt vor Davids Augen aufzutauchen, doch diesmal erkannte David sofort, dass er sie bereits gesehen hatte. Es war erst gestern Morgen gewesen, und doch schien es ihm jetzt einer Ewigkeit her zu sein...
Hope stand vor dieser sonderbaren Maschine ihrem Großonkel gegenüber, und David erinnerte sich, dass sie mit ihm gestritten hatte, darum gebettelt, dass sie ihren Vater retten könne, statt in die Dunklen Zeiten zurückgeschickt zu werden.
Der Professor redete nun: „...ich weiß, dass du deinen Vater nicht retten kannst, aber du kannst einen anderen Menschen aus einem schwarzen Loch befreien. Und ich bin davon überzeugt, dass du die einzige bist, die das tun kann.“
Er lebt in den dunklen Zeiten.“ Hope verzog ihr Gesicht: „Ich kann ihn da nicht rausholen, und ich will es auch gar nicht.“
Als ob er Hope's Widerstand gegen seinen Vorschlag akzeptiert hätte, so hatte Großonkel Professor Hope jetzt den Rücken zugewandt. Er zögerte für einen Augenblick, dann redete er in einer sanften, klaren und neutralen Stimme weiter: „Ja sicher, dieser Mann lebt in den dunklen Zeiten, aber was ihn umgibt ist sogar noch dunkler. Das Mädchen, das in der Zeit zurückging, weil sie allein die Fähigkeit besaß, ihn zu treffen, hieß Hope. Auch wenn er in einer Zeit und Kultur lebt, die wir nicht verstehen, so hatte sein Leben damals, wie das eines jeden Menschen heute, doch einen Wert. Die Möglichkeit diesen Mann zu retten lag in den Händen dieser Hope.“
Der Professor drehte sich wieder um und sah seine Großnichte nun direkt an: „Sie liegt in deiner Hand. Und du wirst diese Möglichkeit doch nutzen, oder hast du das Erste Prinzip vergessen?"
Das stoppte Hope. Das Erste Prinzip... schon wieder einmal das Erste Prinzip, die Leute argumentierten darüber, beschuldigten sich gegenseitig es vergessen zu haben und wie man es in so einer Zeit interpretieren sollte. Und jetzt redete ihr Großonkel auch noch davon, und interpretierte es auf seine eigene Weise, als ein Prinzip, das sogar die Vergangenheit betraf. Das ergab keinen Sinn für Hope, und trotzdem konnte sie nicht mehr nein sagen.
In Ordnung“, lenkte sie ein, „ich gehe. Aber warum gerade jetzt?“
Ihr Großonkel sah Hope an und sagte sanft: „Weil es die Zeit dafür ist.“
Das hörte sich bizarr an, Hope schüttelte ungläubig den Kopf. Zeit für was? Was dachte ihr Großonkel eigentlich? Mit Sicherheit hatte er einen sonderbaren Zeitsinn.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, gab der Professor Hope auch eine sonderbare Erklärung: „Du könntest etwas lernen.“
Jetzt fühlte Hope wieder Zorn in sich aufsteigen: „Von den Dunklen Zeiten? Aber sicher! Mr Galt hat von den Dunklen Zeiten gelernt, wie man die Welt zerstört und die meisten Menschen darauf.“
Der Professor zuckte mit den Achseln als ob das unwichtig wäre: „Dann musst du halt etwas anderes lernen, nicht wahr?“
Hope war nicht überzeugt. Innerlich murrte sie immer noch, hatte aber den offenen Protest aufgegeben. Stattdessen fragte sie nach praktischen Informationen: „Wie lange muss ich dort bleiben?“
Der Professor hatte sich bereits wieder umgedreht, um seine Maschine zu justieren, und antwortete ihr so etwas abgelenkt: „Es könnte eine Weile dauern, vielleicht ein paar Tage. Nur so lange bis du weißt, dass der Mann dieses Selbstmord-Ding nicht mehr tun wird. Du wirst selbst merken, wann du zurückkommen kannst. Sein Name ist übrigens David, so wie der von deinem Bruder und meiner.“
Und wie weißt du, wann du mich zurückbringen sollst, Großonkel“, fragte Hope überrascht darüber, wie vage seine Antwort war.
Der Professor gab Hope jetzt ein Zeichen, sich auf das zu setzen, was wie ein Zahnarztstuhl mit einem Helm am oberen Ende aussah. Der war mit einer Röhre verbunden, die dünner werdend in einer Spirale mehrmals durch den Raum führte, bis sie endlich durch ein Loch in der Wand nach außen ging.
Während er einige Kabel an Hope's Stirn befestigte, erklärte der Professor: „Ich muss es nicht wissen. Du kontrollierst den Prozess selbst. Du entscheidest, wann du bereit bist zurückzukehren.“
Der Professor bereitete jetzt eine Injektionsnadel vor. Hope spürte einen Einstich in den linken Arm, als sie an einen intravenösen Tropf angeschlossen wurde. Der musste mehr als nur flüssige Nahrung enthalten, denn Hope spürte, wie sie schläfrig wurde. Aber eine Frage hatte sie noch: „Aber Großonkel, wenn ich nein gesagt hätte, wäre dann ein anderes Mädchen mit dem Namen Hope in der Zeit zurückgereist?“
Der Stuhl war jetzt zu einer Liege geworden, Hope's Kopf war in den Helm eingeschlossen, der mit dem Spiralrohr verbunden war. Ihre Schläfrigkeit war schon so stark, dass sie die Antwort ihres Großonkels kaum noch hörte, sie war nur noch wie ein sanftes, weit entferntes Echo: „Nein, meine Kleine, es wärst immer nur du gewesen, denn dir ist es nicht gleichgültig...
Die Szene verblasste und löste sich auf. Und David öffnete seine Augen, um die Hope in seiner Zeit zu sehen. Und damit schloss sie ihre Geschichte ab: „Und so kam es, dass ich in deine Zeit gekommen bin, Onkel David.“
Er lächelte sie an und fühlte tiefe Emotionen für dieses tapfere kleine Mädchen: „Und ich bin froh, dass du gekommen bist! Trotz all dem, was in deiner Zeit vor sich geht, bist du hier her gekommen, um mich zu retten. Danke, Hope, vielen Dank.“
Hope lächelte zurück: „Ich bin auch froh, dass ich gekommen bin, Onkel David, wirklich.“
Dann runzelte sie die Stirn und sagte: „Aber ich frage mich doch, was mein Großonkel damit gemeint hat, dass es mir nicht gleichgültig sei. Denn obwohl es mir jetzt Leid tut, zu dem Zeitpunkt, was mit dir geschieht, war mir völlig gleichgültig.“
David schüttelte den Kopf: „Stimmt nicht Hope, es war dir nie gleichgültig. Du bist so eine liebevolle Person. Du machst dir Sorgen um deine Freunde, deine Familie und die Leute aus deinem Dorf und um die ganze Welt. Und euer Erstes Prinzip ist dir wirklich wichtig, wichtig genug, um sogar einen Fremden aus den Dunklen Zeiten zu retten.“
Du bist kein Fremder, Onkel David“, unterbrach ihn Hope.
Nicht mehr“, entgegnete David.
Nein, das ist nicht, was ich meine, du bist doch mein Ur...“
Na und“, unterbrach sie David.
Daraufhin begann sie zu lachen, und David stimmte ein. Es war doch zu komisch, wie sie verwandt waren, Generationen zwischen ihnen, von verschiedenen Welten, waren sie einmal völlige Fremde gewesen, und jetzt waren sie Freunde.
Die Dunkelheit war in Hope's Geist aufgebrochen worden und auch in Davids. Und dieser bemerkte dabei, dass auch seine physische Welt heller geworden war. Die Nacht machte langsam einer frühen Morgenröte Platz.
Und sie waren auch nicht mehr allein. David konnte etwas näher kommen und auf sich zu rollen hören. Zwei Jungen auf Skate-Boards rollten den Bürgersteig entlang. Als sie fast an der Einbuchtung von Davids Bank angekommen waren, hörte er ein Quietschen, das anzeigte, dass etwas mit einem der Bretter nicht in Ordnung war, bevor dieses dann abrupt zum Stehen kam. David hörte auch lautes Fluchen, gespickt mit Obszönitäten, die er kaum je außerhalb eines Kinofilms gehört hatte, so dass er vermutete, dass auch mit einem der Skater etwas nicht in Ordnung war.
Ich hab dir doch gesagt, dass es zu dunkel ist“, fuhr der Junge in etwas normalerer Sprache fort, „da war so'n Loch auf dem Weg dahinten und ich konnt's nicht sehn. War sowieso ne saublöde Idee so früh los zu gehn.“
Der andere Junge hatte auch gestoppt und war zu seinem Freund zurückgerollt.
Zu der Zeit ist die Rampe am Park völlig frei“, verteidigte er seine Idee. „In'n paar Stunden ist dort wieder alles voll. Und so früh am Morgen ist auch keiner auf'er Straße. So krieg'n wir'n krasses Training hin, mit ner echten Geschwindigkeit. Un ich bin hier ja, 'der König der Straße'.“
König der Straße, ha“, meinte sein Freund abwertend. „Wer hat dir denn so nen Namen gegeben?“
Die alte Battram war's... oder so in etwa“, antwortete 'der König der Straße'. Danach fügte er mit offensichtlicher Selbstironie hinzu: „Letzten Monat hat sie so gesagt: 'Du bist so strohdumm, dass die Straße alles ist, was du je haben wirst.'
Und wenn die Straße mir gehört, dann bin ich hier der König, is doch logo.“
Mit diesen Worten sprang der Junge wieder auf sein Brett und mit dem Brett auf die Straße. Er surfte einen großen Bogen, breitete die Arme aus, und wie Leonardo Di Caprio auf der Titanic, oder vielleicht auch nur wie einer seiner vielen Imitationen, rief er so laut er konnte:
Ich bin der König der Straße!“ In der Stille der Nacht erzeugte das ein erstaunliches Echo.
Mit einem Sprung landete der 'König der Straße' wieder auf dem Bürgersteig und vor seinem Freund. In prosaischerem Ton sagte er dann: „Lass mich mal sehen, vielleicht krieg ich das Rad wieder hin.“
Und während der 'König der Straße' versuchte das Skate-Board seines Freundes zu reparieren, führte der letztere das Gespräch weiter: „Die verrückte Batty sagst du? Bei der hatte ich letztes Jahr Englisch. Und wenn die Recht hat, dann denk ich mal, ich bin der 'König des Stuhls'.“
Was fürn Stuhl“, fragte der 'König der Straße'.
Ach du weißt schon, der, wo du draufgebunden wirst mit alle den Kabeln, und dann wirste gebraten...“ erklärte sein Freund.
Kabel?... oh na klar“, kicherte sein Freund etwas verspätet, „du musst sie ja richtig auf der Palme gehabt haben.“
Na klar“, das Grinsen des Jungen war in seiner Stimme zu hören, „hab fast die Schule abgefackelt.“
Oh, ich weiß noch, war das nicht letztes Jahr im März“, fragte der 'König der Straße' mit demselben Grinsen im Ton. „Drei Feuerwehrwagen waren da, die ham alle evakuiert. Also du warst das!“ Und leicht enttäuscht fügte er hinzu: „War aber kein großes Feuer.“
Mehr oder weniger nur ein Papierkorb mit nem Haufen Rauch“, erinnerte sich sein Freund.
Was is'n passiert?“ fragte der 'König der Straße' während er mit ganzer Kraft an dem Rad des Skate-Boards herum ruckelte.
Der andere Junge erklärte: „Der Mathe-Lehrer is nich aufgetaucht, und nach ner Weile ham wir gedacht, da kommt keiner mehr. Und da hat einer von den Jungs so nen Joint rumgereicht, und grade als ich dran war, da ganz plötzlich war die Batty da, als Vertretung. Was sollt ich denn da machn?
Hab nen perfekten Wurf gelandet, direkt in'n Korb. Hat se erst auch gar nich gemerkt. Aber da muss so'n Plasteding drin gewesen sein. Nach ner halben Minute da kam da Rauch raus und alle ham gehustet. Und Terry, der saß da gleich daneben, den hats fast umgehauen und alle ham geschrien, und dann kam der Feueralarm, und den Rest kennste ja schon.“
Aber wie hat die Batty 'n spitz gekricht, dass du's warst“, fragte 'der König der Straße', der jetzt das Rad sich zwischen seinen Fingern drehen ließ. Er hatte es erfolgreich gelöst.
Null Ahnung“, sein Freund zuckte mit den Schultern. „Vielleicht is se ja n Gedankenleser oder so was. Oder weil sie immer denkt, dass ichs war, auch wenn ichs nich war, na ja nich immer jedenfalls...“ Obwohl meistens hat se ja schon Recht...“ Wieder war da das Grinsen in seiner Stimme.
Versuchs jetzt mal, sollte wieder klapp'n“, sagte der 'König der Straße', als er seinem Freund das Skate-Board zurückgab. Beide rollten sie los und an Davids Bank vorbei, dabei nahmen sie wieder Tempo auf. Doch im nächsten Moment war ein großer Aufprall zu hören, und der Lärm von Metall das auf den Boden krachte.
Eine Frau war aus dem Nirgendwo aufgetaucht. „Böse Jungs heutzutage, böse Jungs heutzutage, böse Jungs...“, schrie sie.
Und David erkannte ihre Stimme, obwohl sie sich diesmal viel aufgeregter anhörte, als zu dem Zeitpunkt, als er sie zuletzt gehört hatte. Es war natürlich die Frau mit dem Einkaufswagen, der David in den letzten 24 Stunden bereits zweimal begegnet war. Er vermutete, dass sie wahrscheinlich aus dem Park heraus gekommen war, wo sie höchstwahrscheinlich die Nacht auf einer Bank verbracht hatte, genau wie er selbst.
Ihr Einkaufswagen war umgekippt und sein ganzer Inhalt hatte sich im großen Bogen auf die Straße entleert.
Los, hauen wir ab“, rief der 'König der Straße'.
Doch in diesem Moment verwandelte sich das empörte Schreien der Frau in ein durchdringendes Quietschen. Ein Auto kam schnell näher und würde bald all ihre Besitztümer zerquetschen. Verzweifelt und immer noch schreiend sprang die Frau auf die Straße und ging mitten auf der Fahrbahn auf die Knie, um eine der Taschen, die dort gelandet waren, aufzuheben. David versuchte aufzuspringen, fiel aber auf seine Bank zurück, weil seine Beine völlig taub geworden waren und sich alles in seinem Kopf drehte. Aber Davids Hilfe wurde gar nicht benötigt.
Wie ein Pfeil schoss der 'König des Stuhls' auf die Straße, packte die alte Frau und riss sie mit seiner ganzen Teenager-Kraft zurück, während das Auto bremsend nur knapp an ihnen vorbeischlitterte.
Lady, das dürfen Sie doch nicht tun“, prustete der Junge außer Atem. „Sie müssen vorsichtig sein.“
Die Frau versuchte sich aus den Armen des Jungen zu befreien, entschlossen wieder auf die Straße und zu ihren Habseligkeiten zu gelangen.“
Aber ihr Schreien war leiser geworden und von nur noch einem Wimmern ersetzt worden.
Alter, komm sofort zurück und hilf mir“, rief der Junge seinem Freund zu.
Der 'König der Straße' drehte sich widerwillig um und knurrte: „Die is ja total verrückt, die da, total durchgeknallt. Warum hat se das gemacht, so auf die Straße rennen, wegen so nem Müll.“
Der Müll ist alles, was sie hat“, sagte ihr Freund sanft, während er immer noch versuchte, die alte Frau zurückzuhalten.
Genauso sanft redete er jetzt mit ihr: „Lady, Sie müssen nicht wieder auf die Straße gehen. Wir heben Ihre Sachen auf und tun se zurück in'n Wagen.“
Mit diesen Worten stellte der Junge sie sanft auf den Bürgersteig und hob den Einkaufswagen wieder auf seine Räder.
Der 'König der Straße' zuckte mit den Achseln und begann den ersten der Beutel, der mitten auf der Straße lag, aufzuheben. Der schien nur ein paar billige Heiligenfiguren aus Plastik zu enthalten. Er hob dann einige Messer und Löffel daneben auf, die aus einem anderen Beutel herausgefallen waren, ebenso wie einen kleinen Topf, der ein Stück weit weggerollt war.
Der andere Junge stopfte alles wieder zurück in die Taschen und arrangierte diese im Einkaufswagen. Nach ein paar Minuten war alles wieder dort, wo es hingehörte. Die alte obdachlose Frau hatte aufgehört zu Wimmern. Doch als sie sich zur Straße umdrehte, begann sie wieder damit und deutete mit einer Hand auf eine kleine braune Papiertüte, die ein Stückchen weiter weg gelandet war.
Der 'König der Straße' rannte schnell, um der alten Frau die Tüte zu holen. Sie öffnete diese danach und untersuchte den Inhalt. Sie zog einen Riesenkeks aus der Tüte, der nicht einmal zerbröselt war. Sie hielt dem 'König der Straße' den Keks unter die Nase. Der Junge sah sie überrascht und nicht zu erfreut an.
Nimm ihn“, befahl ihm sein Freund. „Nimm ihn einfach.“
Der 'König der Straße' nahm den Keks stirnrunzelnd entgegen, worauf die alte Frau einen weiteren Keks aus der Tüte zog, und ihn seinem Freund reichte.
Essen!“ sagte sie dann mit krächzender Stimme, und holte schließlich einen dritten nicht zerbrochenen Keks aus der Tüte. Sie nahm selbst einen großen Bissen davon, während die beiden Jungen ein wenig zögerlich an ihren Keksen knabberten.
Gar nich so schlecht“, kommentierte der 'König der Straße' und fügte etwas verspätet hinzu: „Danke schön.“
Der andere Junge dankte der obdachlosen Frau auch, obwohl diese nicht mehr antwortete, sondern nur in ihrer normalen Art an ihnen vorbeischaute. Sie gab ihnen noch ein kurzes Nicken mit dem Kopf und aß ihren eigenen Keks mit einem großen Bissen auf. Danach packte sie den Griff ihres Einkaufswagen wieder mit beiden Händen und schob ihn den Gehweg entlang, während sie genauso monoton, wie David das schon zweimal gehört hatte, mit sich selbst sprach, doch diesmal zu einer neuen Melodie: „Gute Jungs heutzutage, gute Jungs heutzutage, gute Jungs...“
Langsam wanderte sie den Bürgersteig entlang. Die klappernden Töpfe und Pfannen, zusammen mit dem Besteck und dem leichten Quietschen der Räder des Einkaufswagens begleiteten den Singsang ihrer Stimme.
Die Jungen hatten ihre Kekse noch nicht ganz aufgegessen. „Meine Granny hat früher solche Kekse gebacken, die haben genau so geschmeckt“, kommentierte der ältere der Jungen. „Weißt du, sie hat uns großgezogen, meine Schwester und mich, als wir klein waren und Mom...., du hast meine Mom ja gesehen und weißt warum... Aber im vorletzten Jahr, da ist Granny krank geworden, und sie ist jetzt im Rollstuhl, und sie haben sie in so ein Altersheim gesteckt.“ Der Junge hörte sich traurig an.
Er biss noch einmal von seinem Keks ab: „Hast du gewusst, dass sie mir das Lesen beigebracht hat. Schon bevor ich in die Vorschule gekommen bin, hat Granny das gemacht. Sie hat immer gesagt, wenn du genügend Bücher liest, dann gehört dir die ganze Welt.“
Die ganze Welt ist mehr als die Straße“, kommentierte sein Freund.
Und mehr als der Stuhl ganz sicher“, grinste sein Freund. „Ich denke, ich werd Granny heute besuchn. Ich bin schon lang nicht mehr in dem Heim da gewesen.“ Er nickte entschlossen.
Ganz uncharakteristisch schüchtern brachte sein Freund eine Frage vor: „Meinst du, deine Granny kann mir auch das Lesen beibringen?“
Und mehr er selbst behauptete er dann: „Die Batty kanns nämlich gar nich, das is mal sicher.“ Nachdem er seinen letzten Keksbissen heruntergeschluckt hatte, fügte er aber noch hinzu: „Ich denk mal, sie hat zu viele Kids zum Unterrichten.“
Klar, meine Granny kann jedem alles beibringen“, prahlte sein Freund laut, „sogar dir Döskopp!“ Das brachte ihm dann einen Ellbogen in die Rippen ein, der sofort erwidert wurde.
Wenn wir jetz noch n' paar Runden auf der Rampe drehn, und dann zum Altersheim runter rollen, dann kommen wir grade recht zum Frühstück da. Granny gibt immer was ab. Dann frag ich sie auch wegen dem Lesen und so.“
Die Jungen waren wieder auf ihre Bretter gestiegen, losgerollt und auf einen Parkweg eingebogen. Nachdenklich beobachtete David wie sie zwischen den Bäumen verschwanden. Keiner der beiden hatte den heimlichen Zuhörer bemerkt.
Noch bevor er sie ansah fühlte David, dass Hope jetzt weinte. Aber diesmal war es nicht aus Angst, Verzweiflung oder Trauer. Diese Tränen kamen aus einem Herzen das angefüllt war mit überwältigender Liebe. Es waren Tränen des Wiedererkennens und der Freude.
Wieder einmal war David überrascht. Er konnte Hope's Gefühle spüren, doch hatte er keine Ahnung, was sie verursacht haben könnte, außer dass es etwas mit der kleinen Szene zu tun hatte, von der sie gerade Zeuge geworden waren.
Klar hatten die Jungen die Frau vor einem Auto gerettet, aber sie waren ja auch dafür verantwortlich gewesen, dass der Einkaufswagen überhaupt umgekippt und sein Inhalt auf die Straße gelangt war.
Hope schüttelte den Kopf: „Du verstehst das nicht! Warum verstehst du es denn nicht? Wir haben das Erste Prinzip gesehen! Gerade jetzt haben wir es gesehen, den Anfang, den neuen Anfang!“
David war jetzt völlig verwirrt, er verstand es wirklich nicht.
Hope atmete tief ein und riss sich zusammen, bevor sie anfing zu erklären: „Beinahe überall auf der ganzen Welt, da wird jede Mutter ihrem Kind genau diese Geschichte erzählen, wenn sie ihm erklärt, was das Erste Prinzip ist, und über die große Wichtigkeit eines jeden einzelnen Menschen für die gesamte Menschheit, und dass jeder Mensch von unbegrenztem und unveränderlichem Wert ist.“
Welche Geschichte,“ fragte David immer noch ohne einen Clue.
Die Geschichte von der alten Frau, den zwei Jungen und den drei Keksen, natürlich“, antwortete Hope und begann zu zitieren:
Es war einmal eine alte Frau, die hatte keinen Ort, wo sie wohnen konnte, und alles was sie hatte bewahrte sie in einem Korb mit Rädern auf. Und deshalb dachte ein jeder, dass sie ganz unwichtig war.
Und da waren zwei Jungen auf Brettern mit Rädern, und jeder dachte, dass sie keinen Wert hätten, denn sie waren arm und sie waren auch Regelbrecher. Aber als die Räderbretter in den Räderkorb hineinfuhren, da änderte sich die ganze Welt.
Die Jungen haben das Leben der alten Frau gerettet, denn ihr Leben wurde wichtig für sie. Und die alte Frau gab den Jungen zwei ihrer letzten Kekse, denn deren Leben wurde wertvoll für sie.
Und von diesem Augenblick in der Zeit fanden diejenigen, die das Erste Prinzip verloren hatten, es wieder. Und deswegen wurde die Zukunft gerettet.
Die Welt änderte sich wegen einer alten Frau, zwei Jungen und drei Keksen.“
Hope flüsterte das Ende der Geschichte mehr zu sich selbst als zu David.
Nach einem weiteren tiefen Atemzug erklärte sie: „Tausende von Bildergeschichten davon können auf dem Friedensnetz gefunden werden und tausende von Liedern. Alle Kinder bei uns spielen diese Geschichte oder singen ein Lied davon in ihrem ersten Schuljahr.
Wenn wir durch das Opferszenario gehen, dann lernen wir den Krieg zu fürchten. Wir lernen es hier“, sie deutete auf ihren Kopf, „und hier“, sie deutete auf ihr Herz. „Aber lange bevor wir lernen, uns zu fürchten, da lernen wir zu lieben, das Erste Prinzip zu lieben... durch diese Geschichte.“
In tiefer Verwunderung schüttelte sie den Kopf: „Darum bin ich jetzt hier. Das hat Großonkel Professor gemeint, als er sagte, es sei Zeit. Irgendwie hat er es gewusst. Er wollte, dass ich das sehe... es jetzt sehe... und es mit nach Hause bringe... damit ich den Leuten in Spesaeterna erzähle, was ich gesehen habe,... bei der nächsten Dorfratsversammlung, wenn die ganze Welt zuhört...“
Hope machte eine Pause und atmete tief. Zweifel und Furcht begannen einzusetzen:
Aber wie? Ich bin doch nur ein Kind, nicht einmal eine Jugendliche“, sie redete immer noch mit sich selbst. „Sie hören Kindern niemals zu, nie. Sie würden mir nicht einmal erlauben, an der Versammlung teilzunehmen. Ich kann ihnen das gar nicht erzählen. Es ist unmöglich, einfach unmöglich!“
Hör mir jetzt zu, Hope“, versuchte David sie aus ihren Selbstzweifeln und ihrer Mutlosigkeit herauszuholen, indem er ihr fest in die Augen sah und nacheinander aufzählte:
Es war dein Großonkel, Hope, der einmal John Galt's Freund war und doch einen anderen Weg gewählt hat als er. Und es war auch dein Großonkel, der eine Maschine gebaut hat, mit der du in der Zeit zurückreisen konntest, um die Vergangenheit zu sehen, von ihr zu lernen, und das zu sehen, was du gerade eben gesehen hast.
Es war Luscinia, ein Mädchen aus deinem Dorf, die sich mit der gefangenen Frau von John Galt angefreundet hat, der Mutter seines Sohnes Jonathan. Und darum haben Jonathan Galt, als sie zusammen aus Orange Country gekommen sind, dein Dorf ausgewählt, um diese wichtige Information dorthin zu bringen.
Es war dein Vater, der durch eine Sprengfalle aus den Dunklen Zeiten getötet wurde. Und deshalb wurde deine Mutter ausgewählt die Eisbrecher-Flotte zu kommandieren, die jetzt für die ganze Welt zur Verteidigungsflotte geworden ist.
Und du bist es Hope, die einzige Person, die Jahrhunderte zurück in der Zeit hierher reisen konnte. Und hier hast du den Vater und die Schwester von Marco Santini getroffen, dem Soldaten, der Farouk gerettet hat, und ihm ermöglicht hat Menschlichkeit in seinem Feind zu sehen, so dass Farouk ein Mann des Friedens werden konnte und seine Erfahrung zum Opferszenario deiner Welt wurde. Und du selbst hast hier auch noch das gesehen, was deine Welt als den Beginn des Ersten Prinzips ansieht.
Sie werden dir zuhören, Hope!“
Nachdenklich sah David die Straße hinunter, wo die alte Frau mit ihrem Einkaufswagen gerade dabei war, um eine Ecke zu biegen. In diesem Moment hoben sich die ersten Strahlen der Sonne vom Horizont und schienen dabei ausschließlich auf die alte Frau zu scheinen und ihre ganze Erscheinung zu verwandeln.
Die Farben ihrer gestrickten Kappe begannen rot und blau zu leuchten, und ihr Haar, das darunter hervorkam reflektierte das Gold der Sonne, während ihr Einkaufswagen über dem Asphalt zu schweben schien und dabei silbern glitzerte.
David blinzelte, und die Sinnestäuschung war verschwunden.
Die alte obdachlose Frau war um die Ecke gebogen und außer Sichtweite, und die gesamte Straße war jetzt in ein rotgoldenes Morgenlicht getaucht.
David sah Hope an. Hatte sie das gesehen? Natürlich hatte sie das, sie sah, was er sah. Und so bekräftige er seine früheren Worte mit etwas, von dem er wusste, dass es Hope überzeugen würde, aber in diesem Augenblick der Zeit glaubte er sie wirklich auch selbst von ganzem Herzen:
Manchmal gibt es Wunder...“
Hope sah David an. Sie stand auf und stellte sich gerade hin. Sie war ein Mensch, dem eine schwierige Aufgabe übertragen worden war, eine Aufgabe, die sie sich selbst nicht ausgewählt hatte. Sie sollte die schwere Last der Wahrheit zu ihren Leuten bringen, eine Bürde, die nicht leicht zu tragen war, aber eine notwendige. Und jetzt war sie bereit, sie zu tragen... weil ihr die Menschen nicht gleichgültig waren.
Ich muss jetzt gehen“, sagte Hope.
David nickte.
Bless, Onkel David!”
Bless, Hope!”
Die Projektion verschwand, Hope war gegangen und David war jetzt allein.


***




Du hast dir Zeit gelassen!“ stellt John Galt in seiner normalen ungeduldigen und herablassenden Art fest. Seiner Ansicht nach sollte sein Sohn seine Zeit nur mit Arbeit und körperlichem Training verbringen, nichts sonst scheint ihm eine sinnvolle Beschäftigung zu sein.
Ich halte die Augen gesenkt, darf ihm nicht erlauben, zu viel in ihnen zu sehen, und antworte ihm deshalb nur mit einem leichten Nicken.
Mein Vater ist aber noch längst nicht fertig mit mir: „Es war eine Frau, nicht wahr, ein junges Mädchen?“
Der Angstschweiß läuft mir den Rücken herunter. Schon seit ich die Anlage betreten habe, habe ich ständig an Luscinia gedacht. Der Gedanke an sie gibt mir Kraft. Hat mein Vater das etwa erraten?
Die Frauen aus den Projekten sind zu alt für dich, nicht wahr? Aber das ist noch lange kein ausreichender Grund, ganze drei Wochen in diesen Meeresdörfern zu verschwenden.“
John Galt liegt falsch, ich kann mich wieder entspannen.
Du hast mir die Erlaubnis für drei Wochen Urlaub gegeben“, murmele ich abwehrend.
Mein Vater antwortet, indem er meinen Einwand zur Seite wischt: „Ich habe gesagt, höchstens drei Wochen Abwesenheit. Ich dachte allerdings, du würdest über dieses jungendliche Jucken schneller hinwegkommen. Und überhaupt habe ich dem Ganzen nur zugestimmt, weil du versprochen hattest, dir diese nachlässige Einstellung abzugewöhnen, die deine Arbeitsleistung in den letzten Monaten in die völlige Mittelmäßigkeit hat absinken lassen. Und ich hoffe wirklich, dass das jetzt geschehen ist.
Mit den neuen Versicherungstarifen, werden wir in ein paar Monaten in der Lage sein, ganz neue Projekte zu öffnen mit viel jüngeren Frauen, beginnend ab dem 12. Lebensjahr. Da sollte die Auswahl groß genug, so dass du keinen Urlaub mehr brauchen wirst.“
John Galt spuckt das Wort Urlaub aus, als hinterließe es einen schlechten Geschmack in seinem Mund. Aber in mir lässt das Bild von der kleinen Natsuki und ihren verzweifelten Eltern eine Welle von Übelkeit aufsteigen. Ich taste nach der Waffe in meiner Jackentasche. Ich bin versucht, sie auf der Stelle zu benutzen. Aber ich weiß, dass ich es mir nicht leisten kann, im Zorn loszuschlagen. Es sind viel zu viele Leute im Raum.
Wie gewöhnlich hat mein Vater einen öffentlichen Ort dafür gewählt, mich abzukanzeln, hier im Genlabor vor all seinen 10 Laboranten, die die Situation genüsslich beobachtet haben, während sie so tun, als ob sie arbeiten. Er hat es immer geliebt, ein Publikum für seine Tiraden zu haben. Er glaubt, dass bilde den Charakter seines Sohnes, und würde ihn zu höherer Leistung motivieren.
Aber der Zorn, den ich gerade fühle, hat auch einen guten Effekt. Er vertreibt die Nervosität aus meinen Gedanken.
Meine Stimme ist jetzt stark und vollkommen ruhig, als ich ihm widerspreche: „Du hast Unrecht, Vater, ich habe meine Zeit in den letzten drei Wochen nicht verschwendet. Ich brauchte nur ein bisschen frische Luft, um klarer über unsere Arbeit hier nachzudenken zu können. Und nachdem ich das getan habe, sind mir ein paar Vorschläge gekommen, die dich interessieren dürften. Aber ich würde sie dir gern allein in deinem Büro vorstellen.“
Endlich einmal habe ich die volle Aufmerksamkeit meines Vaters. Aber der leicht höhnische Ausdruck in seinem Gesicht, bevor er sich wortlos umdreht, vermittelt es mir besser als jedes Wort, dass er keine allzu großen Erwartungen hat, dass ihm Vorschläge seines Sohnes vielleicht gefallen könnten.
Und ja, dieses eine Mal hat John Galt mit Sicherheit Recht, und ich kann kaum ein Grinsen unterdrücken, während ich meinem Vater folge.
Das Büro meines Vaters wird von einem riesigen Computer mit Dutzenden von Monitoren dominiert, schließlich ist es das Kontrollzentrum der gesamten Anlagen. Nachdem ich die Tür hinter uns geschlossen habe, dreht John Galt sich um und wirft mir einen auffordernden Blick zu.
Mein erster Vorschlag“, beginne ich, während ich mit einer schnellen Bewegung meine Waffe aus der Jackentasche ziehe, „ist es, die Arbeit hier ganz einzustellen.“
Ein Blick völligen Unglaubens tritt auf John Galts Gesicht, gefolgt von absolutem Schock, als ich am Abzug ziehe. Mein Vater bricht zuckend zusammen.
Dort in der äußeren Welt, wie ich sie früher genannt habe, haben deren Wissenschaftler die Elektroschock-Pistolen, wie sie normalerweise 'Reisenden' oder temporären Exilanten gegeben werden, verändert und angepasst. Meine Waffe ist aus einem organischen Fiberglas-Material, so dass sie unbemerkt durch die Metalldetektoren am Eingang durchgekommen ist. Und genau wie bei den Waffen, die meine Kameraden mit sich führen, so ist die damit erzeugte elektrische Spannung auch höher als in den üblichen Schockwaffen, so dass die getroffene Person nun für mehrere Minuten handlungsunfähig wird.
Die Waffen haben noch eine zweite nützliche Funktion: Wenn man sie direkt an den Hals eines Opfers legt und auf einen blauen Knopf drückt, kann man damit eine Injektion verabreichen. Die Wirkung ist natürlich von der Größe und dem Gewicht der betroffenen Person abhängig, aber im Durchschnitt sollte die Bewusstlosigkeit nach so einer Injektion etwa zwei Stunden anhalten.
Bevor ich jedoch die Injektionsfunktion der Waffe benutze, muss ich John Galt noch etwas sagen: „Es ist vorbei, Vater! Die Welt weiß jetzt Bescheid, und sie ist vorbereitet. Und die Menschen dort sind auch bereit, euch zu zerstören...euch alle, wenn ihr so etwas noch einmal versucht. Glaub mir, ihr könnt nicht gewinnen!“
Ich drücke auf den Kopf.
Was machst du da?! Was ist hier lo..“Dröhnt es hinter mir.
Entsetzt drehe ich mich zu dem Mann um, der gerade das Büro betreten hat, und instinktiv und ohne zu zögern, drücke ich auf den anderen, den Abzugsknopf der Multifunkions-Waffe. Der Schuss trifft sein Ziel.
Der Name des Mannes ist Larry Wurner. Er ist der Partner meines Vaters und Vizepräsident der Anlage, der einzige, der unangemeldet in John Galts Büro eintreten kann. Eigentlich ist das jetzt ein glücklicher Zufall. Ich benutze die Injektionsfunktion nun an Wurner. Dass dieser Kerl nun auch aus dem Verkehr gezogen ist, wird die ganze Operation noch einmal vereinfachen.
Ich sehe mich nach meinem Vater um. Der schläft ganz friedlich. Ich bin zufrieden und kann mich endlich mit dem Computer meines Vaters beschäftigen. Ich weiß, dass John Galt die Passwörter für sein Personal täglich ändert, aber von diesem Büro aus kann ich sie alle abrufen. Das Passwort meines Vaters kenne ich, das ist, vermutlich seit dem die Anlage betriebsbereit wurde, unverändert geblieben.
Ich tippe das Passwort ins System ein...nichts geschieht...Ich versuche es noch einmal...immer noch nichts...und auch beim dritten Mal hat es keinen Effekt. Der Computer bleibt still, es gibt noch nicht einmal eine Fehleranzeige auf dem Schirm.
Ich fühle wie wieder Furcht in mir aufsteigt, die Angst zu versagen, hier an dieser allerwichtigsten Stelle. All die Vorbereitung, all die Ersatzpläne, falls etwas nicht so läuft wie es sollte...und jetzt kann ich noch nicht einmal Zugang zum Rechner bekommen.
Die Information in diesem Computer ist unerlässlich für die Verteidigung der äußeren Welt gegen die biologischen Waffen, die mein Vater entwickelt hat. Und genauso notwendig ist es, Zugang zum Sicherheitssystem und zu den Dekontaminierungs-Programmen zu erhalten, um den Erfolg der gegenwärtigen Mission zu garantieren.
Was soll ich jetzt tun? Es noch ein paar Mal mit anderen Passwörtern versuchen, oder zum nächsten Punkt übergehen. Statt die Wachen nur abzulenken, könnte ich sie vielleicht gewaltsam dazu zwingen, das Tor zu öffnen. Vielleicht könnte der Professor, wenn er mal hier drin ist, einen anderen Weg ins System hinein finden, schließlich soll er ja genauso ein Genie sein wie mein Vater.
Plötzlich kommt mir die Erleuchtung. Natürlich... wie konnte ich nur so blöd sein? Mein Vater muss sein Passwort deshalb nie ändern, weil sein Computer biometrisch aktiviert wird. Warum ist mir das früher nicht aufgefallen.
Ich drehe mich um, packe den bewusstlosen Körper meines Vaters unter den Achseln, zerre ihn über den Boden und hebe ihn dann auf seinen Stuhl. Ich presse die linke Hand meines Vaters auf einen Scanner, und öffne seine Augenlider mit zwei Fingern, um der eingebauten Kamera vor uns zu erlauben, seine Augen zu scannen.
Und damit fängt die Maschine an zu arbeiten.
Jetzt kann ich die Kabel aus meinem modifizierten Armbandcontroller direkt mit den Eingängen des Computers verbinden. Diese Modifikation war notwendig, da die Technologie von Nephilim City auf der der Dunklen Zeiten aufgebaut ist. Deshalb ist sie auch nicht kompatibel mit der weiterentwickelten Technologie der äußeren Welt. Aber mit dieser Anpassung können die Information in diesem Computer in für die äußere Welt lesbare Muster umgewandelt werden. Der Datenstrom wird danach durch meinen Armbandcontroller so weit verstärkt, dass er in der Lage ist, die dicke Stahlbeton-Struktur der unterirdischen Anlage zu durchdringen, dadurch kann dieser schließlich oben vom Armbandcontroller des Professors aufgefangen werden, um von dort über Satellit zu den begierig wartenden Wissenschaftlern der ganzen Welt übertragen zu werden.
Simultane Datenübermittlung wird durchgeführt, geschätzte Zeit zur vollständigen Übermittlung 10 Minuten“, steht jetzt auf dem Display meines Armbandcontrollers. Und das war es dann. Ich atme tief auf. Bald werden sie alle Daten haben, einschließlich der biologischen Daten für die gen-manipulierten Insekten und den 90-Prozent-Virus, ebenso wie alle Mutationen dieses Virus, an denen mein Vater noch gearbeitet hat.
Ganz gleich was von jetzt an geschieht, auch wenn wir es selbst nicht lebendig aus Orange Country heraus schaffen würden, so werden die Menschen von Spesaeterna und von allen anderen Dörfern der äußeren Welt genug Wissen zur Verfügung haben, um sich verteidigen zu können.
Aber an diese Daten zu kommen, ist nur der erste Schritt unserer Operation. Es ist auch notwendig, die weitere Arbeit meines Vaters zu sabotieren. Und dafür muss ich ins Sicherheitssystem. Ich logge mich ein, und nach einer Minute habe ich die Codes, um das ganze System abzuschalten. Aber zuerst muss ich die Verzögerungen einprogrammieren.
In 15 Minuten werden sich alle Türen öffnen und die Sicherheitskameras werden offline gehen. In zwanzig Minuten wird in kurzen Abständen ein Bio-Gefahren Alarm nach dem anderen in jedem einzelnen der neun biologischen Laboratorien ausgelöst werden, ebenso wie in den sterilen Lagerräumen, die an diese Labors angeschlossen sind. Und jeweils zwei Minuten später, werden die Total-Dekontaminierungen beginnen.
Und schließlich nach genau 55 Minuten, wird der Computer-Virus, der von meinem Armbandcontroller übertragen wurde, beginnen, das System zu infiltrieren, alle Daten zu löschen und die komplette Software innerhalb des Netzwerkes der gesamten Anlage zu zerstören. Es ist der bösartigste Virus, den die Informations-Technologie-Experten der äußeren Welt je programmiert haben, wurde mir gesagt.
Alles ist jetzt vorbereitet, und ich kann den schlaffen Körper meines Vaters vom Stuhl auf den Boden gleiten lassen, er wird nicht mehr gebraucht. Befriedigt sehe ich auf den regungslosen Körper herab, während ich darauf warte, dass die Übertragung beendet wird. Es fühlt sich so gut an, meinen Vater so zu sehen, so gut...
Es erstaunt mich, wie schnell diese enorme Datenmenge vom Computer meines Vaters in meinen Armbandcontroller übertragen wird. Die angeblich so fortschritt-feindlichen Außen-Weltler, für die mein Vater nichts als Verachtung fühlt, haben es innerhalb weniger Tage geschafft, ein Instrument herzustellen, das Daten so viel schneller verarbeiten kann, als alles, was Nephilim City je zustande gebracht hat.
Die Datenübermittlung ist jetzt beendet, und ich trenne die Verbindung meines Armbandcontrollers zum Computer. Ich muss mich nun beeilen, damit ich es rechtzeitig zum Eingangs-Portal schaffe, bevor das System sich abschaltet, und die Wachen alarmiert werden.
Nachdem ich Mr Wurners Körper von der Tür weggeschoben habe, verlasse ich das Büro und schließe die Tür hinter mir. Ich beeile mich, aber ich zwinge mich trotzdem dazu, nicht zu rennen.
Hallo Jonathan! Hattest du einen guten Urlaub?“ Orrin Miller kommt aus dem Aufzug und spricht mich an. Er ist ein Junior-Assistent, mit dem ich mich manchmal unterhalte.
Ich zwinge mir ein falsches Lächeln auf: „Klar Orrin, der war toll. Ein andermal erzähl ich dir alles darüber. Aber jetzt muss ich mich beeilen, ich muss was für meinen Vater erledigen. Du weißt ja, wie er ist.“
Orrin grinst verständnisvoll und erlaubt mir, mich an ihm vorbei in den Aufzug zu drängen.
Im Eingangsbereich werde ich langsamer, gehe ohne Eile weiter. Ich darf bei den Wachen keinen Verdacht erregen. Terrence und Dragi haben immer noch Dienst an der Rezeption. Sie kennen mich gut, genau wie alle anderen. Deshalb haben sie mich auch ganz ohne eine körperliche Durchsuchung in die Anlage gelassen, etwas was sonst routinemäßig bei den meisten anderen durchgeführt wird.
Ich grüße sie mit einem Kopfnicken und erkläre: „Mein Vater glaubt, dass etwas mit den Metall-Detektoren nicht in Ordnung sein könnte. Er möchte, dass ihr das jetzt überprüft!“
Wie immer tun die Wachen, was ihnen befohlen wurde. Sobald sie mir den Rücken zugewandt haben, ziehe ich meine Waffe heraus, und schocke sie. Doch bevor ich sie dann betäube, rede ich noch zu den Männern, die sich am Boden krümmen: „Wenn ihr euch erholt habt, müsst ihr hier weg. Mein Vater wird extrem wütend und auf Rache aus sein. Und ihr werdet die ersten sein, die er für alles verantwortlich machen wird. Geht und versteckt euch, und vielleicht könnt ihr sogar das Land verlassen. Wir werden das Überwachungssystem übernehmen, so dass die Chips in eurem Nacken für lange Zeit nicht geortet werden können. Er wird euch nicht so leicht finden.“
Ich mache damit weiter, sie zu betäuben. Ich hoffe sie haben mich gehört. Von all den Angestellten der Anlage, sind sie vermutlich die unschuldigsten. Sie haben keinen Zugang zu den Laboren, sie wissen wirklich nicht, was dort vor sich geht.
Mit einem Druck auf das Kontrollsystem öffnen sich die Tore.
Etwa zwei Dutzend Leute warten draußen bereits. Mr Wang, der Professor und Ms Alba stehen vorn. Hinter ihnen erkenne ich Jim Lavon und Tom Parshon, die meisten anderen kenne ich noch nicht. Ein paar bewegungslose Körper liegen zu ihren Füßen. Das Team hat offensichtlich die Wachmänner, die außerhalb der Anlage stationiert waren, überwältigt.
Ich habe keine Zeit für lange Einführungen, also frage ich nur: „Habt ihr sie alle erwischt?“
Vance Drake, der hinter dem Professor hervorkommt, nickt und antwortet: „Wir haben 15 erwischt, das war doch die Zahl für heute?“
Ja“, sage ich kurz.
Die ganze Gruppe betritt jetzt die Anlage und versammelt sich um die Sicherheits-Rezeption. Ich zeige auf die Monitore auf dem Tisch: „Wir müssen auch die Wachen hier drin überwältigen, bevor die Alarme losgehen. Sobald das geschieht, werden sie auf der höchsten Alarmstufe agieren, und auf dieser Stufe haben sie den Befehl, sofort zu schießen, wenn sie einen verdächtigen Fremden sehen.“
Tom Parshon versichert mir: „Keine Sorge wir sind geschützt. Diese altmodischen Waffen können unsere elektronischen Schilde nicht durchdringen.“
Das überrascht mich. Ich bin über diese individuellen Schutzschilde nicht informiert worden.
Als er meine Überraschung bemerkt, grinst Tom: „Modifizierte Einsamkeits-Armbänder“, erklärt er, und deutet auf sein rechtes Handgelenk.“Wir haben sie bereits getestet. Zwei der Wachen haben auf uns geschossen, bevor wir sie ins Visier nehmen konnten.“
Jetzt unterbricht Vance ungeduldig: „Sag uns erst, wo genau die Wachen auf den Stockwerken stationiert sind! Nachdem wir sie neutralisiert haben, treffen wir dann Mr Wang und Professor Morgan vor dem Hangar der Tarnkappen-Fluggeräte. Der ist im ersten Untergeschoss, nicht wahr? Wir haben die Nanobots bereits bei uns.“
Ich weiß, dass einige der Nanobots darauf programmiert sind, Metall anzugreifen, andere Silikon und wieder andere Glas. Und dies ist wieder einmal eine Technologie, die in unheimlich kurzer Zeit aus einer anderen modifiziert und weiterentwickelt wurde.
Nach weniger als einer Minute ist Vance fertig, sich die Überwachungs-Monitore anzusehen, und er gibt seinem Team Anweisungen, wonach sie sich in unterschiedliche Richtungen aufmachen.
Mr Wang, Ms Alba und der Professor bleiben zurück, um mich kurz über den Fortschritt der Operation außerhalb der Anlage zu informieren. Als die Satelliten das Signal gegeben haben, dass die Übertragung beendet war, hat dann sofort die Operation im Sicherheitszentrum begonnen. Inzwischen hat sich Darryls Team von fast 200 Männern mit Pedro Allegris Hilfe dort sicher etabliert. Die meisten der Sicherheitsleute sind bereits ausgeschaltet worden, die Türen des Überwachungszentrums sind aufgesprengt, und die Computer für das Ortungssystem sind deaktiviert worden.
Jetzt hören wir den ersten Alarm, der durch die Eingangshalle tönt, während eine Computerstimme verkündet: „Biologisches Gefahrenleck Labor 1! Alles Personal in die Dekontaminationsbereiche! Total-Dekontamination des Labors erfolgt in zwei Minuten!“
Mr Wang und der Professor laufen in Richtung der Aufzüge zu den Hangars los, ihrem nächsten Ziel, während ich und Ms Alba zum anderen Aufzug laufen, wo ich den Knopf zum dritten Untergeschoss drücke.
Ich bemerke, dass Ms Alba den Kommunikator mit dem verhängnisvollen roten Knopf nicht mehr in der Hand hält. Das bedeutet wohl, sie hält diese letzte Sicherheitsmaßnahme nicht mehr für notwendig. Sie ist davon überzeugt, dass der bisherige Erfolg unserer Mission ausreicht, so dass Nephilim City nicht mehr nuklear ausgelöscht werden muss.
Ich seufze erleichtert, jetzt haben wir alle eine gute Chance, hier wieder heil herauszukommen. Genau wie ich hält Ms Alba stattdessen jetzt ihre Elektroschock-Waffe in der Hand.
Zusammen gehen wir den Gang hinunter, wobei wir jeden, den wir treffen erst schocken und dann betäuben. Die ersten beiden Male fühle ich immer noch Schuldgefühle dabei, genau wie ich sie gefühlt habe, als ich die Wachleute geschockt habe, denn es ist ganz offensichtlich eine schmerzhafte Prozedur. Aber ich weiß, dass sie notwendig ist.
Obwohl mit Ausnahme der Wachleute niemand vom Personal bewaffnet ist, könnten sie doch, wenn sie alle zusammenarbeiteten, ziemlich einfach die kleine Gruppe von Eindringlingen überwältigen. Eine noch größere Gefahr würde es aber bedeuten, wenn einer der Angestellten aus der Anlage entkäme, um die tausenden von Sicherheitsvollstreckern in der Stadt zu warnen, bevor wir all unsere geheimen Operationen beendet haben.
Mit jeder Person, die ich schocke, wird es einfacher. Und ich sage mir selbst, dass sie es ja verdient haben, sie alle. Sie bekommen nur, was ihnen zusteht. Bis ich dann Orrin treffe, der gerade aus dem Dekontaminationsbereich von Labor 5 kommt und gerade seinen luftdichten Anzug ablegt. Ich zögere eine Sekunde, und so ist es dann einer von Vances Männern, der den Schuss abgibt. Dieser hat sich dort aufgestellt, um alle zu erwischen, die das Labor verlassen.
Als ich sehe, wie sich Orrins freundliche Miene erst vor Schreck und dann vor Qual verzerrt, während er schmerzverkrümmt zu Boden geht, da erkenne ich, dass diese Art jemandem Schmerzen zuzufügen, nicht etwas ist, woran ich mich gewöhnen sollte.
Die ersten Total-Decontaminationen haben bereits begonnen. Die Computer-Stimme tönt gerade: „Biologisches Gefahrenleck Labor 9! Alles Personal in die Dekontaminationsbereiche! Schließung des Labors erfolgt in zwei Minuten!“
Und danach verkündet sie: „Total-Dekontamination des Labor 3 beginnt jetzt!“
Sehr gut, alles läuft wie geplant. Ich weiß genau, wie diese Total-Dekontamination funktioniert. Zuerst wird wie immer Ozon-Gas aus den Sprinkler-Anlagen auf die Arbeiter in den Dekontaminationsbereichen abgelassen, danach aber sorgt ein Hoch-Hitze Laserstrahl dafür, dass innerhalb der Labors und des Lagers, einschließlich aller Container, kein biologisches Material mehr überlebt.
Jetzt ist es an der Zeit, sich zu den Gen-Laboren zu begeben. Und genau wie ich das im Büro meines Vaters einprogrammiert habe, so sind die Türen offen, und es gibt keine Zugangsprotokolle mehr. Von den zehn Männern, denen ich vorher begegnet war, sind nur noch zwei anwesend. Ms Alba schockt sie sofort, während ich die Betäubungsfunktion meiner Waffe benutze.
Ms Alba öffnet die Tasche, die sie bei sich führt, und reicht mir wortlos einen der beiden dosenförmigen Behälter, die aus speziellem organischem Material hergestellt wurden und Nano-Bots enthalten. Wir wissen beide, was wir damit tun müssen. Man drückt auf einen Spenderknopf und besprüht so systematisch jede Arbeitsplatte und jedes Gerät, jedes Mikroskop und jedes Reagenzglas, alles was benötigt wird um gen-manipulierte Insekten oder post-humane Embryos herzustellen.
Danach gehen wir in den angrenzenden Raum. Nur ein Mann ist dort. Bevor Ms Alba ihn schocken kann, stoppe ich sie.
Das ist Mr Tanner, mein Lehrer“, erkläre ich ihr.
Mr Tanner zeigt keinerlei Überraschung. Er sieht sogar erfreut aus.
Du hast es in die äußere Welt geschafft, Jonathan“, stellt er einfach fest. „Ich bin so froh darüber. Das ist es, was ich für dich erhofft habe.“
Er dreht sich zu Ms Alba um: „Sie schließen die Anlage, nicht wahr?“
Ms Alba antwortet: „Für so lange, wie nur irgend möglich.“
Gut.“ Es liegt jetzt tiefe Befriedigung in Mr Tanners Stimme.
Du solltest mit uns kommen“, schlage ich vor. „Mein Vater wird zornig sein, wenn er aufwacht. Er wird nach einem Schuldigen suchen, und er könnte dich dafür verantwortlich machen, was ich getan habe.“
Ich werde das Baby nicht allein lassen“, Mr Tanner deutet auf die große Glaswand hinter sich. Durch das Glas kann man in einen kleinen Raum sehen, der als Kinderzimmer angelegt ist. Baby Alpha sitzt auf einem Teppich und sortiert konzentriert kleine Bauklötze um sich herum, anscheinend nach Farben. Er hat bereits einen Turm mit den roten Klötzchen gebaut.
Er ist nicht menschlich“, zische ich. „Er wird niemals Gefühle für jemanden haben – warum sollte er dir nicht egal sein?“
Ich glaube, du hast Unrecht, Jonathan,“ antwortet Mr Tanner ruhig, „aber selbst wenn du Recht hättest, dann macht das keinen Unterschied für mich. Es scheint, ich habe einen wichtigen Teil bei deiner Erziehung ausgelassen. Gleichgültig was er in der Lage ist zu fühlen oder nicht zu fühlen, so ist Alpha immer noch ein kleiner Junge. Und ich verlasse ihn nicht, weil er mich braucht. Für deinen Vater ist der kleine Alpha nichts anderes als ein Werkzeug für seine grandiosen Pläne. Aber egal, was dein Vater ihm angetan hat, für mich ist er einfach nur ein kleines Kind. Und er braucht einen Menschen, der ihm das sagt, genau wie du das einmal gebraucht hast, Jonathan.“
In Ordnung“, stimme ich nach kurzem Zögern und einem Blick zu Ms Alba zu, die nichts sagt und auch keine Anzeichen dafür gibt, wie sie darüber denkt, „dann nimm ihn halt mit.“
Ohne Zögern öffnet Mr Tanner die Tür zum Kinderzimmer, tritt ein und nimmt das Baby auf den Arm. Alpha verzerrt das Gesicht, offensichtlich mag er es nicht, bei seiner Aufgabe gestört zu werden. Und als die beiden aus dem Zimmer kommen, höre ich ihn trotzig verlangen: „Ich will meine Klötze, ich will meine Klötze!“
Ich drehe mich zur anderen Tür, die vom Labor abgeht. Aber Mr Tanner verstellt mir den Weg: „Bitte Jonathan, zerstör die Brutkästen nicht, da sind Babies drin.“
Die sind nicht menschlich“, protestiere ich wieder. „Und außerdem musst du doch wissen, dass mein Vater wirklich tausende von diesen Embryos zerstört hat. Er nannte sie fehlgeschlagene Experimente und nicht lebensfähig.“
Einige sind jetzt lebensfähig“, antwortet Mr Tanner, während er uns in den Raum führt und auf die erste Maschine zu seiner Linken deutet. „Schau dort drüben ist Alphas Zwillingsbruder, er hat dieselbe DNA wie Alpha. Dein Vater wird ihn mit Sicherheit am Leben lassen.“
Du meinst vielleicht, das ist Alphas Klon,“ zische ich, während ich den Glasbehälter betrachte, in dem ein etwa sechs Monate alter Fötus scheinbar schlafend in einer halbdurchsichtigen Flüssigkeit liegt, während ein Monitor daneben einen konstanten, regulären Herzton anzeigt. Der Name 'Betha' ist auf einem Schild an dem Brutkasten angebracht.
Baby Alpha, der auf Mr Tanners Schulter aufgehört hat zu jammern, hat seinen Kopf zur Seite geneigt. Er scheint sehr interessiert an seinem angeblichen Zwillingsbruder zu sein.
Ich zögere und sehe Ms Alba wieder fragend an. Ms Alba sieht von Alpha zu dem Fötus und wieder zurück, dann sagt sie einfach: „Lass uns gehen.“
Während wir das Labor verlassen, drückt mir Mr Tanner unerwartet Alpha einfach in den Arm und behauptet: „Er sieht wie du aus, Jonathan.“
Kann sein,“ stimme ich zu, „so viel wie mein Vater von sich selbst hält, hat er wahrscheinlich seine eigene DNA als Grundlage für den da genommen.“
Nein,“ widerspricht Mr Tanner und tätschelt Alphas Kopf, „er brauchte frischere Stammzellen, also hat er sie aus einer eingefrorenen Nabelschnur genommen... deiner Nabelschnur.“
Übelkeit steigt in mir auf, das habe ich nicht gewusst. Mein Vater hat versucht eine perfektere Version von mir herzustellen... ja, das macht Sinn.
Mr Tanner dreht sich jetzt weg: „Ich muss noch Medizin für Alpha aus dem Apothekenraum holen. Ich bin gleich zurück.“
Aber,“ frage ich überrascht und sehe mir voll Abscheu und Argwohn diese alternative Version meiner selbst auf meinem Arm genauer an, „ich dachte, der sollte doch das perfekte humanoide Exemplar sein, wozu braucht der noch Medizin?“ Alpha beäugt mich auch, mit in etwa demselben Argwohn.
Das erklär ich dir später“, erwidert Mr Tanner. „Geh schon vor, ich komme nach“, fügt er hinzu, während er sich bereits um die nächste Ecke entfernt.
Sonderbarerweise hat Ms Alba während meines Gesprächs mit Mr Tanner kaum ein Wort gesagt. Ich hätte erwartet, dass sie laut dagegen protestiert hätte, als ich vorschlug dieses nicht-menschliche Baby mitzunehmen. Stattdessen hat sie sogar das Leben der Embryos in den Brutkästen verschont. Still und ohne jegliche Erklärung geht sie jetzt neben mir in Richtung des nächsten Aufzugs.
Plötzlich hören wir lautes Gebrüll hinter uns: „Du Bastard, ich hätte es schon längst wissen müssen!“
Mein Herz setzt aus. Ich kenne die Stimme nur zu gut. Und natürlich habe ich immer gewusst, dass sich das Büro meines Vaters direkt gegenüber dem Apothekenraum befindet. Warum war er bereits wieder wach?
Ich drücke Ms Alba das Baby in den Arm und renne so schnell mich meine Füße tragen zum Ursprung dieser Stimme.
Du warst es, der das alles meinem Sohn in den Kopf gepflanzt hat, stimmt's? Du widerwärtiger Verräter! Und du wolltest den Geist meines post-humanen Jungen auch vergiften! Du dreckiger Bastard hättest nie geboren werden sollen. Ich werde es nicht zulassen, nie wieder...“
Ich höre einen Schrei, der abrupt abbricht. Mit einer dunklen Ahnung renne ich um die Ecke, die Waffe bereits im Anschlag. Aber die Szene, die sich mir bietet ist schlimmer als all meine Befürchtungen.
Mr Tanner, der immer noch eine große braune Tüte umklammert, die anscheinend Alpha's Medizin enthält, sinkt zu Boden, während John Galt ein Messer aus dessen Unterleib in einer Springflut von Blut herauszieht.
Ich drücke ab, und auch mein Vater sinkt in Krämpfen zu Boden. Instinktiv lasse ich die Waffe fallen, knie mich neben Mr Tanner und drücke verzweifelt meine Hände auf seine Wunde, um die Blutung zu stoppen. Das Messer aber hat eine Arterie durchbohrt, und hilflos muss ich zusehen wie das Blut zwischen meinen Fingern hindurchsickert.
Nicht sterben, Mr Tanner, oh nein, bitte nicht sterben!“ Bete ich verzweifelt. Und doch fließt das Leben konstant aus meinem Lehrer heraus.
Es ist meine Schuld, alles ist meine Schuld“, klage ich mich selbst an. „Er hat nicht die volle Dosis vom Betäubungsmittel bekommen. Ich hätte darauf achten müssen, hätte noch mehr injizieren müssen. Warum habe ich das nicht getan, warum?“
Nicht deine Schuld, Jonathan“, Mr Tanner's Stimme ist so schwach, jedes Wort scheint ihm so viel Anstrengungen zu kosten, und doch ist da auch eine große Dringlichkeit. „Du musst mir versprechen... du kümmerst dich um das Baby... versprich es... Mein kleiner Al...“
Mr Tanner kann nicht mehr sprechen, die Dringlichkeit ist nur noch in seinen Augen.
Ich verspreche es, ich verspreche es, aber bitte stirb nicht! Bitte nicht sterben...“, meine Stimme ist jetzt zu einem Flüstern abgesunken. Ich habe angefangen zu weinen, während ich sehe wie ein Rinnsal von Blut langsam aus Mr Tanners Mundwinkel tropft, dann auf sein Kinn und seinen Hals hinunter.
Mr Tanner schließt seine Augen und hört auf zu atmen, während ich ihn immer noch anstarre.
In diesem Augenblick höre ich das vertraute Geräusch einer Elektroschock-Waffe. Ich drehe mich um und sehe wie mein Vater, immer noch mit dem Messer in der Hand, beinahe auf mich fällt. Ich habe nicht einmal bemerkt wie er aufgestanden ist. Aber Ms Alba hat es gesehen, und da steht sie nun schwer atmend mit dem Baby auf dem linken Arm und der Waffe in der rechten Hand.
Ein unmenschlicher Schrei löst sich aus meiner Kehle. Ich drehe mich zu meinem am Boden liegenden Vater um und entreiße ihm das Messer aus seinen verkrampften Fingern. Es ist ein Skalpell, das er hin und wieder für Sezierungen benutzt hat. Warum er es in seinem Büro aufbewahrt hat, werde ich nie erfahren.
Aber jetzt hat John Galt, der ultra-geniale Wissenschaftler, meinen Lehrer, Mr Tanner, mit Hilfe eines so primitiven Werkzeugs, wie es dieses Messer ist, ermordet. Ich knie mich über meinen Vater, und ich schreie hysterisch: „Du bist der Bastard! Du bist das Monster, das nie hätte geboren werden sollen... und ich auch nicht“, füge ich in Selbsthass hinzu.
Mit beiden blutigen Händen packe ich das Messer und senke es in Richtung von John Galt's Gesicht. Die Wut überflutet mich und füllt mich mit einem Hass, wie ich ihn nie zuvor gefühlt habe. Im Geist sehe ich bereits, wie ich das Messer direkt in seine Augen steche, in seinen Mund, seine Kehle und wie ich ihn dann völlig in Stücke schneide, jeden Teil von ihm in dieses blutige Rot verwandle, wie es jetzt die ganze Welt füllt.
Nein, Jonathan, tu es nicht! Hör auf“ reißt mich Ms Albas durchdringende Stimme aus meiner Fantasie.
Ihnen kann es doch egal sein“, zische ich sie an. „Sie wollten ihn doch selbst umbringen... und alle anderen hier auch, jeden in der ganzen Stadt, haben Sie das vergessen?“
Das habe ich nicht vergessen“, erwidert sie mit jetzt sanfterer Stimme, „aber du wolltest es nicht, Jonathan.“
Und in noch sanfterem Ton: „Und deine Mutter würde es auch nicht wollen, genauso wenig wie Luscinia...“
Das bringt mich zu mir selbst zurück, und ich beginne wieder zu atmen.
Nein, Luscinia würde niemals wollen, dass ich so etwas tue. Ich könnte das auch niemals vor ihr rechtfertigen. John Galt ist es nicht wert, dass ich Luscinia seinetwegen verliere. Er war nie ein richtiger Vater für mich gewesen, hatte mich nie wirklich geliebt, sich nie um mich gesorgt wie Mr Tanner. Und weder Mr Tanner noch meine Mutter hätten so eine Rache gewollt.
Ich lasse das Messer fallen, stehe auf und kicke es so weit weg von mir, wie ich kann. Inzwischen kniet sich Ms Alba, immer noch mit dem Baby im Arm, neben John Galt und verpasst ihm die Betäubungsinjektion. Dann dreht sie sich zu Mr Tanners Leiche um und nimmt die braune Tüte mit Alphas Medizin an sich.
Bis jetzt ist das Baby überraschend still geblieben, während es die verwirrenden Ereignisse betrachtet, die es vermutlich nicht versteht.
Aber als wir uns abwenden, um wegzugehen, beginnt Alpha zu protestieren. Er streckt seine kleinen Arme in Richtung des am Boden liegenden Körpers aus und schreit: „Ich will Mr Tanner, ich will Mr Tanner!“
Du kannst ihn nicht haben“, zische ich das Kind an. Für so was habe ich jetzt keine Zeit, „er ist tot.“
Das Geschrei wird nur lauter.
Alles wird gut, alles wird gut...“ versucht Ms Alba das Kind zu beruhigen, während sie es auf dem Arm schaukelt.
Dein großer Bruder Jonathan wird auf dich aufpassen“, verspricht sie sanft, und drückt mir zu meiner Überraschung das Kind wieder in den Arm.
Wieder sehe ich es ohne viel Gefühl an, und mein Zynismus kehrt zurück: „Zwei Söhne des Teufels, nicht wahr Ms Alba?“
Ms Alba schüttelt den Kopf: „Ich hatte Unrecht. Es tut mir Leid, dass ich das gesagt habe.“
Die Falten auf ihrem Gesicht sind tiefer geworden und zum ersten Mal sieht man ihr ihre über 70 Jahre an: „John Galt ist nichts als eine bemitleidenswerte Kreatur. Und du Jonathan, bist nicht im geringsten wie er.“
Dann tätschelt sie den Kopf des Babys und wiederholt: „Dein Bruder wird sich gut um dich kümmern. Und seine zukünftige Frau Luscinia wird die beste Mama für dich sein, die du dir wünschen könntest, Alpha.“
Was ist Mama“, fragt der kleine Junge.
Irgendwie erweicht sich plötzlich mein Herz dem Kind in meinen Armen gegenüber.
Eine Mama gibt dir zu essen und sie hält dich im Arm“, erkläre ich ihm und erinnere mich an meine eigene Kindheit. „Und wenn sie dich hält, dann fühlst du dich warm und sicher.“
Ich will Mama“, sagt der kleine Junge, der niemals in einem Mutterleib gewesen ist. Mit leiser Stimme wiederholt er jetzt immer wieder: „Ich will Mama, ich will Mama.“
Es war weniger eine Forderung, mehr ein Brummen, um sich selbst zu beruhigen und sich die Angst davor zu nehmen, allein gelassen zu werden, als ob er Frieden im Klang seiner eigenen Stimme suche.
Sanfte Wärme überflutet mich, und auf einmal spüre ich, wie ich anfange, das Kind gern zu haben. Und irgendwie bin ich mir auch ganz sicher, dass meine so liebevolle Luscinia dem Kleinen ebenfalls ihre Liebe schenken wird. Der Kopf des erschöpften Babys liegt jetzt auf meiner Schulter, und ich flüstere ihm ins Ohr: „Du wirst sie bald sehen, sehr bald schon.“
Und während das Kind einschläft, gehen Ms Alba und ich langsam zum Aufzug, und als wir den verlassen, sind wir wieder in der Eingangshalle, wo wir Mr Wang, den Professor und die anderen treffen.
Als die mich so mit meinen blutbeschmierten Händen und Kleidern sehen, ist ihr Entsetzen deutlich hörbar, aber Ms Alba schüttelt nur den Kopf: „Kurz gesagt haben wir das Gen-Labor ausreichend mit Nanobots besprüht. Die Transhumanisten werden lange brauchen, um es wieder aufzubauen. Den Rest erklären wir euch später.“
Aber wer ist das“, fragt Vance Drake und betrachtet das schlafende Kind argwöhnisch.“Ist das nicht das Alpha-Ding, der König oder war es doch der Prinz des Universums?“ Tiefer Sarkasmus liegt in seiner Stimme.
Ich schüttele nur den Kopf und erkläre entschieden: „Das ist mein kleiner Bruder Al, einfach nur Al.“
Vance Drake schnieft, zuckt mit den Achseln und dreht sich weg. Die Männer seines Teams murmeln etwas untereinander, geben aber keinen lauten Kommentar ab. Ich vermute mal, sie denken, dass die ganze Sache nicht ihre Kopfschmerzen sein werden, und auch nicht die von ihren eigenen Heimatdörfern.
Was auch immer dieses Kind ist, sei es nun menschlich oder nicht-menschlich, wenn sie mich nach Spesaeterna zurückkommen lassen, dann müssen die Leute dort damit umgehen. Vance Drake sieht für einen Augenblick zu Mr Wang und dem Professor hinüber, aber deren Minen sind undurchdringlich.
Wir alle verlassen das Gebäude gemeinsam, Vance und sein Team allerdings, machen sich in eine andere Richtung auf als die Leute von Spesaeterna mit mir und dem Baby. Die Texaner werden für mindestens noch einen Tag im Land bleiben.
Während wir zum Parkplatz gehen, informiert Mr Wang Ms Alba und mich, über das, was er und der Professor geschafft haben:
Wir haben jedes einzelne der Fluggeräte, einschließlich der Motoren und der Kontroll-Funktionen, besprüht. In ein paar Stunden werden die alle wie Schweizer Käse aussehen“, prahlt Mr Wank, ganz uncharakteristisch fröhlich.
Schweizer Käse... das bringt mich beinahe zum Lächeln, aber ich denke an Mr Tanner, seufze stattdessen und schlucke meine Tränen hinunter. Wenn ich in Spesaeterna lebe, dann kann ich vielleicht irgendwann einmal diesen Ort besuchen, den Mr Tanner so geliebt hat... Wir werden dort zusammen hingehen, beschließe ich hier und jetzt, Luscinia und ich... und Al.
Ms Alba informiert jetzt die anderen über das, was mit Mr Tanner geschehen ist, und warum wir den kleinen Alpha mitgenommen haben. Das setzt der Freude über die Erfolge des Tages einen Dämpfer auf, und alle verfallen in Schweigen bis wir zum Auto kommen.
Als ich versuche Ms Alba das Kind wieder zu übergeben, wacht es beinahe auf. Ms Alba schüttelt den Kopf und erklärt zu meiner Überraschung: „Ich kann dieses Fahrzeug fahren.“
Dann verwandelt sich ihr Gesichtsausdruck mit dem ersten Lächeln, das ich je an ihr beobachtet habe. „In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, da haben sie immer noch so ähnliche Fahrzeuge benutzt, und ich habe gelernt sie zu fahren.“
Sie nimmt mir die Schlüssel ab und reicht die braune Tüte, die sie getragen hat, dem Professor. Danach setzt sie sich auf den Fahrersitz des Autos, Mr Wang setzt sich neben sie, der Professor und ich steigen hinten ein. Und ja, Ms Alba ist wirklich eine kompetente Fahrerin, die vorsichtig durch den dichten Verkehr von Nephilim City manövriert.
Der Professor liest von seinem Armbandkontroller ab, und informiert uns alle über den Erfolg der restlichen Mission.
Darryls Team hat jetzt die vollständige Kontrolle über das Sicherheitszentrum erlangt. Sie haben die Überwachung der implantierten Ortungschips ausgeschaltet, ebenso wie das landesweite Kamera- und Abhörnetzwerk, die Kommunikationsnetze der Sicherheitsvollstrecker und vor allem die Netzverbindungen zu den militärischen Trainingslagern außerhalb von Nephilim City. Und natürlich haben sie alle Systeme mit Nanobots eingesprüht.
Die Evakuierung der Frauen aus den Projekten hat ebenfalls begonnen. Cass Dakota berichtet, dass jetzt vor jedem einzelnen der 494 Venus-Projekte ein Freiwilligen-Team steht, und diese bereits begonnen haben, in sie einzudringen und den Frauen dort die Ausreise aus dem Land anzubieten.
Patrick und seine Leute haben ihre Nanobots überall in der Drohnen-Fertigungsanlage verteilt, und die Zerstörung der Anlage ist bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Bis jetzt ist den Teams noch keine relevante Gegenwehr begegnet. Die wenigen Schüsse, die abgegeben wurden, konnten die elektronischen Schilde nicht durchdringen
Wenn die transhumanistischen Führer allerdings irgendwann die Kommunikation zu den Trainingslagern vor der Stadt wieder hergestellt haben, dann wird mit Sicherheit ein effektiverer Widerstand gegen unsere Operation zu erwarten sein. Das ist der Grund, warum wir alle Teil-Operationen so schnell wie nur möglich durchführen und zum Ende bringen sollten, um so größeres Blutvergießen unter den Freiwilligen und den Flüchtlingen zu vermeiden.
Die Erfindungen meines Vaters und die Waffen von Nephilim City waren eigentlich nie eine wirkliche Bedrohung für die äußere Welt, wenn man sieht wie schnell und effektiv die Technologie sich dort anpassen kann“, stelle ich mit leiser Stimme fest, um das Baby nicht aufzuwecken.
Der Professor stimmt mir zu: „Die halbe Menschheit auszulöschen und die Welt zu übernehmen, war mit Sicherheit nichts als ein grandioses Fantasiegespinst der Transhumanisten. Allerdings, wenn sie das Überraschungsmoment gehabt hätten, dann hätten sie mit Sicherheit enormen Schaden und großes Leid anrichten können. Viele Menschen wären gestorben. Deshalb ist es wirklich gut, dass ihr beiden, du und Luscinia, rechtzeitig gekommen seid, um uns zu warnen.“
Ich denke an meinen Vater, der dort unten in der Anlage liegt, gleich neben dem toten Mr Tanner. Bald wird er aufwachen und Mr Wurner auch. Ihre Träume die Menschheit durch eine neue Spezies ohne Frauen zu ersetzen, haben sich nicht geändert. Und sie sind nicht die einzigen in Nephilim City, die so denken. Es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter.
Der Hass dieser Transhumanisten ist immer noch da“, stelle ich in leisem Ton fest. „Irgendwann werden sie ihre Technologie auch angepasst haben, genau wie ihr das getan habt. Und dann könnten sie das alles noch einmal versuchen.“
Mit einem Blick auf Ms Albas Rücken füge ich hinzu: „Das Damokles-Schwert hängt immer noch über der Menschheit.“
Der Professor nickt: „Es wird immer dort sein. Wir nennen es die menschliche Natur. Aber dieses Schwert hängt nicht über uns, es ist tief in uns verborgen und sticht uns, es droht jeden Anstand, jede Integrität, jedes Mitgefühl und alle Liebe wegzuschneiden. Mit jeder Gewalttat, die wir begehen oder die wir zulassen, schneidet es ein bisschen mehr von uns ab, bis nichts mehr übrig ist als Hass und Gier.“
Ich denke eine Weile darüber nach, und widerstrebend muss ich zustimmen. Heute habe ich dieses Schwert selbst genauso stark in meinem Herzen gespürt, wie ich das Messer in meiner Hand gefühlt habe.
Ms Alba stoppt, wir sind am Ziel angekommen. Wir lassen das Auto stehen und betreten die Gasse zu Fuß. Ein Freiwilliger, den ich nicht kenne, der uns aber offensichtlich erkennt, bewacht den Eingang. Wortlos lässt er uns vorbei. Sobald wir hinter dem elektronischen Schild sind, können wir erkennen, dass sich seit heute Morgen dort viel verändert hat. Jetzt ist die Gasse in keinster Weise mehr verlassen und leer.
Mehrere lange Reihen von Menschen warten zur Zeit darauf in den Kanalisationsschacht hinunterzuklettern. Es sind meist Frauen, aber auch einige Elternpaare mit ihren Kindern sind unter ihnen. Ich erkenne Nanami und Pedro Allegri ganz vorne in der Schlange, und ich bin froh. Ihre kleine Tochter hat sich in den letzten drei Wochen fast jede Nacht in den Schlaf geweint, während Luscinia versucht hat, sie mit dem Versprechen zu trösten, dass ihre Eltern sie bald abholen würden. Jetzt würde Natsuki ihre Eltern endlich wiedersehen.
Da Nephilim Citys Sicherheitskräfte noch immer völlig verstreut sind und keine Möglichkeit haben, miteinander zu kommunizieren, haben sie den Ort der Infiltration und die Fluchtroute noch nicht entdeckt. Aber ich vermute, dass sich das in ein paar Stunden ändern könnte. Zum Plan gehört jedoch, dass Darryl Kenneth und die anderen Texaner bis dahin ein paar dutzend neue Zugänge geöffnet haben. Wir hoffen auch, dass in der Zwischenzeit auch ein paar Transmitter mit Lautsprechern aufgebaut werden können, mit denen die äußere Welt Botschaften an die Bewohner von Orange Country übermitteln kann. Wenn alles gut geht, dann könnten diese Transmitter dann auch zu einer permanenten Verbindung des ganzen Landes zum Friedensnetz werden. Allerdings liegt dies noch völlig im Ungewissen.
Wie alle anderen so wartet auch unsere kleine Gruppe geduldig darauf, bis wir an die Reihe kommen, um nach unten zu klettern. Als wir endlich vorn angekommen sind, stelle ich erleichtert fest, dass bereits eine Halterung installiert wurde, mit der kleine Kinder in einem Korb nach unten hinabgelassen werden können.
Zuerst klettert Ms Alba, dann Mr Wang, dann der Professor und zum Schluss ich selbst die Leiter hinunter. Hinterher warte ich darauf, dass der Korb mit Alpha herabgelassen wird, wobei der Professor, der neben mir steht, ganz beiläufig bemerkt: „Dieses Kind großzuziehen wird nicht leicht sein.“
Ich werfe dem Professor einen ärgerlichen Blick zu. Natürlich weiß ich das. Mir wurde im Detail von John Galt selbst erklärt, was seine gen-technische Veränderungen in Alphas Gehirn bewirken sollten. Und außer diesen gewollten Effekten, waren da dann auch noch die ungewollten Nebenwirkungen, die immer da sind, wenn man mit der Natur herumgepfuscht hat.
Vorsichtig hebe ich das immer noch schlafende Kind aus dem Korb und lege ihn mit dem Kopf auf meine Schulter. Furchteinflößende Voraussagen würden das Ganze nicht einfacher machen.
Nachdem wir ein paar Schritte nebeneinander hergegangen sind, wiederholt der Professor seine Vorhersage: „Es wird schwierig sein, ihn zu erziehen.“ Dann fügt er hinzu: „Genauso schwierig war es, mich zu erziehen.“
Genau wie zu Beginn dieses langen und harten Tages wirft mir der Professor wieder einen ermutigenden Blick zu, bevor er schneller geht und mich hinter sich lässt. Ich erinnere mich daran, dass der Professor der Großonkel des kleinen Mädchens ist, des Mädchens mit der Geschichte, Hope Morgan.
Immer noch mit der braunen Tüte in der Hand, die er von Ms Alba übernommen hat, der Tüte, für die Mr Tanner sein Leben gegeben hat, geht der Professor jetzt voran. Ich folge ihm vorsichtig. Jeder Schritt bringt mich und das Baby näher zum Ende des Tunnels, zum sicheren Ausgang und in die Arme Luscinias.
Während ich dem gleichmäßigen Atmen des Kindes zuhöre, löst sich eine schwere Last von meinen Schultern. Ich denke an Betha und die anderen genetisch manipulierten Kinder. Ich bin froh, dass mich Mr Tanner überredet hat, sie am Leben zu lassen. Und ich bin mir ganz sicher, dass Luscinia nach allem, was sie selbst durchgemacht hat, auch froh darüber sein wird, dass ich so gehandelt habe.
Und ganz gleich, was John Galt diesen Kindern genetisch angetan hat, so bin ich mir doch sicher, dass es da zwischen dem Professor, Luscinia und mir immer noch eine Menge Hoffnung gibt, zumindest für meinen kleinen Bruder Al.

***


EPILOG


Als David aufwachte, war es bereits Nachmittag. Die Sonne schien durch die Fenster seiner Kellerwohnung und ließ alles in einem freundlicheren und sanfteren Licht erscheinen als in den letzten Tagen.
David spürte die Verzweiflung nicht mehr, die ihn vor zwei Tagen so tief niedergedrückt hatte, aber er fühlte sich sogar noch einsamer, beinahe so als ob ein Teil seiner selbst jetzt fehlte.
Und dann kamen die Zweifel, wie eine Welle der Zerstörung wuschen sie über sein Bewusstsein. War gestern wirklich geschehen, oder die Nacht davor, die Spesveniat U-Bahn-Station?
David griff in die Taschen seiner Jacke. Ja, die Bus-Tickets und die Besucherkarte für die Aussichtsplattform des Vampire State Buildings waren noch da, und ebenso war da die Visitenkarte von Antonio Santini, dem Besitzer des Bella Italia. David hatte gestern wirklich mit Mr Santini gesprochen, und es gab eine echte Chance, dass ihm heute Abend ein neuer Job angeboten würde.
Aber das reichte ihm nicht. Mr Santini hatte Hope nicht gesehen, und auch die Leute auf der Aussichtsplattform hatten das nicht. Aber es gab eine einzige Person, die Hope auch gesehen hatte, Jeremy Johnson.
Klar jemand, der immer ein unsichtbares grünes Männchen bei sich hatte, der war nicht unbedingt der allerglaubwürdigste Zeuge. Und trotzdem brauchte David ihn. Jeremy hatte Hope gesehen, und mit ihm könnte David vielleicht über sie sprechen. Das würde sie natürlich nicht zurückbringen, aber zumindest würde es sie vielleicht doch realer erscheinen lassen. Und David wünschte sich von ganzem Herzen, dass Hope real war, viel mehr noch als er sich den Job wünschte, den Mr Santinis Freunde ihm vielleicht anbieten würden.
Aber Jeremy war obdachlos. Wo findet man denn eine obdachlose Person...? Und dann erinnerte sich David, in der St. Marys Unterkunft, natürlich.
Jeremy hatte David erzählt, dass er dort übernachtet hätte, wenn die Unterkunft nicht voll gewesen wäre, und dass er sich auch dort manchmal Bücher von einer Schwester Veronica auslieh.
David duschte, rasierte sich gründlich und zog sich so an, dass er bei der Obdachlosen-Unterkunft hoffentlich nicht mit einem der regulären Gäste verwechselt würde.
Bevor er seine Wohnung verließ, fiel sein Blick noch einmal auf den Laptop auf dem Wohnzimmertisch. Es gab da noch etwas, das er unbedingt tun musste, und zwar so schnell wie möglich. Hope's Geschichte musste er aufschreiben... und seine, von der ersten Sekunde an, in der er ihre Stimme gehört hatte, bis zu dem Augenblick, als sie ihn verlassen hatte, das heißt, wenn sie überhaupt je real gewesen war, natürlich. Also nahm David seinen Laptop mit, er könnte ihn ja benutzen, wenn es irgendwo eine Wartezeit gab.
Obwohl er dem kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, so erinnerte sich David vage, dass er schon einmal an der St. Marys Unterkunft vorbeigegangen war. Sie war nicht allzu weit entfernt von seiner Straße, nur auf der anderen Seite von St. Francis Park und auch gar nicht weit vom Bella Italia.
Als David die Straße entlang ging, sah er sich nach der Frau mit dem Einkaufswagen um. Er konnte sie nirgendwo entdecken, genauso wenig wie die beiden Jungen von letzter Nacht. Die waren wahrscheinlich noch in der Schule oder nein doch nicht, es war ja immer noch der 1. Mai. Aber vielleicht waren sie ja bei 'Granny'.
Auf der anderen Seite der Straße, genau gegenüber der Bank, auf der David fast die ganze letzte Nacht verbracht hatte, befand sich ein Laden für Computer Zubehör. Natürlich, dachte David, da war da noch etwas wichtiges. Und ja, in der Auslage lag genau der silberne USB-Schlüssel, den er unbedingt haben musste.
Als David an der Obdachlosen-Unterkunft angekommen war, sah er dort sieben oder acht Männer im Hof warten. Ein paar saßen auf den beiden Bänken vor dem Haus, wo sie vor sich hin in die Luft starrten, andere standen einfach an die Wand gelehnt, rauchten oder redeten miteinander.
Als David nach Jeremy Johnson fragte, bekam er erst mal nur ein paar leere Blicke oder ein Kopfschütteln zur Antwort. Endlich sagte ein Mann mit einem graugescheckten Bart: „Jeremy hat hier letzte Nacht geschlafen. Heute Morgen hat er dann mit Schwester Veronica in ihrem Büro gesprochen, danach ist er weggegangen.“
Der Mann deutete auf die offene Tür hinter sich. David dankte ihm und betrat das Gebäude. Im Eingangsbereich stand eine Art Rezeptionstresen, der zur Zeit allerdings nicht besetzt war. Die Stühle, Bänke und das alte Sofa, die an den Wänden aufreiht waren, waren jedoch alle besetzt.
Eine Doppeltür, die vom Eingangsbereich abging, trug die Aufschrift: 'Suppenküche'. Durch die Scheibe in der Tür konnte David erkennen, dass dahinter zwei Männer gerade dabei waren, den Boden und die Tische abzuwischen. Sie schienen genau wie alle anderen hier auch obdachlos zu sein. Eine zweite massive Tür trug die Aufschrift: 'Unterkünfte'. Sie war zur Zeit verschlossen.
Die dritte, kleinere Tür daneben, die als Büro gekennzeichnet war, stand offen. Durch sie konnte man in einen kleinen Raum blicken, wo eine Nonne in einer blauen Tracht, hinter einem Schreibtisch saß. Von ihrem Stuhl aus hatte sie den Eingangsbereich gut im Blickfeld. Sie schrieb gerade etwas in eine Akte.
Als David an die offene Tür klopfte, sah sie auf und lächelte.
David lächelte entschuldigend zurück und brachte seine Frage vor: „Entschuldigen Sie bitte, Schwester, für die Störung, wo sie gerade so beschäftigt sind. Aber mir wurde gesagt, dass Jeremy Johnson heute Morgen mit Ihnen geredet hat. Er ist ein Freund von mir, und ich müsste unbedingt mit ihm sprechen. Können Sie mir vielleicht sagen, wo er sich zur Zeit aufhält?“
Im Augenblick sollte Jeremy in einem Flugzeug nach Alabama sein mit anschließender Busfahrt nach Castelberry,“ antwortete die Nonne mit einem noch breiteren Lächeln. Und mit einem freudigen Ton in der Stimme fügte sie hinzu: „Er fliegt nach Hause.“
Nach Hause?“ David war enttäuscht und gleichzeitig verwirrt. „Aber gerade gestern noch hat mir Jeremy gesagt, er könne nicht nach Hause gehen. Er könnte es einfach nicht ertragen, die Kinder dort zu sehen.“
Ja“, nickte die Schwester, „das hat er ständig gesagt. Aber heute Morgen hat er seine Meinung geändert. Ich hatte schon lange einen Gutschein für ein Flugticket für ihn in der Schublade, das war von einer Veteranen-Organisation bezahlt worden. Ich habe ihm dann den Flug und das Busticket gebucht, als Jeremy mir heute endlich erklärte, dass er bereit sei nach Hause zu gehen. Ein paar Freunde hätten ihn davon überzeugt, eine Hope Morgan und ein David.
Die Schwester sah ihn einen Augenblick an. Dann stellte sie fest: „Sie müssen David sein. Ich bin übrigens Schwester Veronica.“
Ja Schwester, mein Name ist David Ragnarsson, tut mir Leid, dass ich mich nicht gleich vorgestellt habe“, entschuldigte sich David. Dann fragte er vorsichtig: „Ist... Mr Green immer noch bei ihm?“
Ja, und ich glaube, Jeremy wird Mr Green wohl noch für eine ganze Weile brauchen“, erwiderte die Nonne lächelnd.
David nickte und fügte hinzu: „...damit er ihm sagt, dass er immer noch ein Mensch ist.“
Jeremy hat mir gesagt, dass Ihre Freundin Hope, so etwas ähnliches ist, wie Mr Green“, kommentierte Schwester Veronica.
Das war David jetzt ziemlich peinlich und er erklärte: „Sie ist wieder nach Hause gegangen, war nur für ein paar Tage hier. Und sie war nicht ganz so, wie Mr Green, wirklich nicht“...
Die Schwester nickte nachdenklich: „Sie war hier, als sie sie gebraucht haben, nicht wahr?“
David seufzte und gab zu: „Ja, das war sie, das war sie wirklich.“
Dann ist das alles, was zählt“, schloss Schwester Veronica das Thema ab.
David nickte in vorsichtiger Zustimmung und wechselte dann das Thema: „Jeremy hat mir erzählt, dass er öfters Bücher von ihnen ausgeliehen hat, Schwester, meistens Dickens.“
Schwester Veronica lachte sanft: „Ja, Jeremy ist ein fleißiger Leser. Er meinte auch, dass Sie vielleicht auch einmal hierher kommen würden, vielleicht auch um ein Buch auszuleihen...“
David lächelte: „Wer weiß, Schwester, vielleicht komme ich wirklich eines Tages. Aber im Augenblick besitze ich immer noch einen Bücherei-Ausweis.“
Unwillkürlich fiel Davids Blick auf das gut-bestückte Bücherregal hinter dem Schreibtisch von Schwester Veronica. Ja, da gab es viele Bücher von Charles Dickens, gleich neben denen über einige Heilige. Auf einem Regal standen mehrere Bibeln in verschiedenen Sprachen, was nur natürlich war, aber gleich daneben im Regal standen zwei Korane, einer auf Englisch und einer auf Arabisch.
Schwester Veronica war seinem erstaunten Blick gefolgt und kommentierte: „Es sind nicht nur Christen, die zu uns in die Unterkunft kommen, wissen Sie.“
Schließlich fiel Davids Blick auf ein kleines Buch, das im Regal direkt unter den religiösen Klassikern stand. Das trug den Titel 'Eine kurze Geschichte der Zeit'.
Er deutete auf das Buch und fragte: „Haben Sie das gelesen?“
Tatsächlich habe ich das“, antwortete Schwester Veronica zu Davids Überraschung.
Was denken Sie darüber“, fragte David, „wenn der Autor das Universum ohne einen Gott erklärt?“
Ob das meinen Glauben in Frage stellt, meinen Sie?“ interpretierte Schwester Veronica Davids Frage.
Sie schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich brauche Gott nicht, um mir das Universum zu erklären, aber ich brauche Ihn, um mich selbst zu erklären.“
Das fand David interessant: „Sie selbst, Schwester, wie meinen Sie das?“
Kennen Sie die Geschichte von Moses und dem brennenden Busch“, fragte Schwester Veronica zurück.
David erinnerte sich vage, dass seine isländische Großmutter ihm einmal so eine Geschichte aus einer Kinderbibel vorgelesen hatte. Er nickte.
Schwester Veronica erklärte weiter: „Als die Stimme Gottes zu Moses durch den brennenden Busch sprach, da fragte Moses Gott, bei welchem Namen sein Volk Ihn nennen sollte. Und Gott antwortete, sage ihnen: 'Ich bin, der Ich bin hat dich ausgesandt'.
Gott ist der absolute 'Ich bin', derjenige, der existiert und sich seiner eigenen Existenz bewusst ist. Und er hat uns als kleine 'ich bin's' erschaffen, als Wesen, die auch ihre eigene Existenz bewusst wahrnehmen können. Und im Unterschied zu allen anderen Lebewesen auf der Erde, sind wir auch in der Lage, die große Frage 'Warum' zu stellen.
Und so wird für uns kleine 'ich bin's' der Gott, der uns erschaffen hat, zum großen 'Du' über uns. Und wann immer ich die Verbindung zu dem großen 'Du' über mir verliere, dann verliere ich bald auch die Verbindung zu dem 'du' neben mir oder zu 'dir', der genau vor mir steht. Du wirst dann zu einem 'Es', einem Objekt, das ich benutzen und wegwerfen kann.
Und wenn das einmal geschieht, dann verblasst auch das 'ich' in mir mit der Zeit. Mein eigenes Leben wird jetzt zu einem Objekt, nicht anders als andere Objekte, eines das benutzt wird und abgenutzt, nur damit es am Ende weggeworfen werden kann, wenn es seinen Nutzen verliert.“
Schwester Veronica hielt für einen Moment inne, und der nachdenkliche Blick, mit dem sie David musterte, bereitete ihm Unbehagen. Es schien ihm, als ob sie direkt in seine Seele sah, in deren tiefste Winkel, um dort sein dunkelstes Geheimnis auszumachen, den Moment als er dort vor zwei Nächten direkt unter der digitalen Uhr der Spesveniat U-Bahn Station stand.
Glücklicherweise für Davids psychische Verfassung, gab es jetzt ein lautes Geschrei in der Halle hinter ihm. Irgendjemand hatte wütend aufgeschrien, was nun von einer anderen zornigen Stimme beantwortet wurde.
Schwester Veronica sah durch die Tür hinter David. „Tut mir leid, aber ich muss mich jetzt um etwas kümmern,“ entschuldigte sie sich. „Aber Sie sind herzlich eingeladen, jederzeit wieder herzukommen, und dann können wir unser kleines Gespräch gern fortsetzen. Wenn Sie jedoch jetzt sofort noch ein bisschen mit jemandem sprechen möchten, dann gehen Sie doch nach nebenan“, sie deutete nach rechts. „Dort ist immer jemand mit einem offenen Ohr, der nie zu beschäftigt ist, um zuzuhören.“
Damit lief Schwester Veronica an David vorbei, um den Sturm zu beruhigen, der gerade im Anzug war, während dieser noch in der verbalen Phase verharrte.
Langsam verließ David die Unterkunft. Schwester Veronica schien ihn irgendwie durchschaut zu haben, und das war ihm äußerst unangenehm. Es gab Dinge, von denen er wollte, dass niemand von ihnen wusste, außer Hope natürlich...
Rechts neben der St. Marys Unterkunft war natürlich die Kirche von St. Mary.
David dachte an Hope. Jeremy Johnson hatte Schwester Veronica von ihr erzählt. Das sollte doch jetzt genau die Bestätigung ihrer wirklichen Existenz sein, nach der sich David so sehr gesehnt hatte oder nicht? Aber die Zweifel quälten ihn natürlich immer noch, Jeremy war einfach kein besonders verlässlicher Zeuge.
Andererseits war es für David dann doch so, als ob die Erinnerung an Hope nach diesem Gespräch mit der Nonne ein klein wenig realer schien als vorher.
Was tut sie jetzt wohl gerade, fragte er sich. Vermutlich bereitet sie sich auf die Dorfratsversammlung vor. Würden die Leute auf sie hören, würde man ihr überhaupt erlauben, daran teilzunehmen? Vielleicht redete sie gerade in diesem Augenblick mit ihrem Großonkel oder Mr Wang...
In diesem Augenblick? David konnte nur über sich selbst lachen. Hope war ja noch nicht einmal geboren, würde erst in über 200 Jahren leben... wenn überhaupt...wenn sie jemals existieren würde...
David seufzte, die Zeit schien mehr und mehr ein Paradoxon zu sein, unerklärlich oder zumindest unbegreiflich für ihn. Er sah die Kirche an. Für sich selbst würde er nie so einen Ort betreten, gleichgültig, was Schwester Veronica vorschlug, aber er wünschte, er wäre gestern dort hinein gegangen. Hope hätte es sicher gefallen. Und so betrat David trotzdem, beinahe gegen seinen eigenen Willen, die Kirche von St. Mary.
Drinnen war es ziemlich dunkel. Die bemalten Mosaik-Fenster ließen nicht viel Tageslicht eindringen. Die hellsten Lichtflecken leuchteten von einem Kerzenständer, neben der Statue der Jungfrau Maria. Die stand beinahe lebensgroß auf der linken Seite der Kirche, ein wenig unterhalb des Hauptaltars.
Schwester Veronica hatte Unrecht gehabt, dachte David. Hier war im Augenblick kein Priester und auch kein anderer Kirchenangestellter, mit dem man hätte sprechen können. Ein paar wenige Leute knieten in Bänken und beteten. Die hatten sicher ihre eigenen Probleme und bestimmt keine Zeit, ihm zuzuhören.
David näherte sich der Statue der Jungfrau neben den Kerzen. Zu seiner Überraschung faszinierte ihn diese Skulptur. Der Bildhauer musste eher modern eingestellt gewesen sein, denn er hatte die Maria nicht wie sonst üblich als eine weiße, europäisch aussehende Frau porträtiert. Diese sah weit eher wie eine Frau aus dem Nahen Osten aus, die sie ja in der Realität gewesen sein musste.
Aber der Künstler hatte etwas noch Faszinierenderes in seine Arbeit eingebracht. Es war der Ausdruck auf dem Gesicht und der Körperhaltung der Figur. Oder vielleicht war es ja auch nur der Schein der Kerzen, die diesen bestimmten Eindruck erweckten. Aber irgendwie erinnerte David die Statue an Hope, und zwar genau wie er sie zuletzt gesehen hatte, eine junge Frau, die eine schwere Last auf sich genommen hat und bereit ist sie zu tragen, weil sie sich um andere mehr sorgt, als um sich selbst...
'Eine Kerze 50 Cent' stand auf dem Schild der Sammelbüchse neben dem Kerzenständer. David suchte nach Kleingeld in seinen Taschen. Er fand ein paar Münzen, die im Ganzen einen Wert von knapp über 2 Dollar hatten. Ohne viel nachzudenken warf er sie alle in die Büchse, nahm den Kerzenanzünder, der daneben lag, und zündete die erste Kerze an:
Eine Kerze für Hope und für ihre Welt, die in so großer Gefahr schwebt, dachte er. Die nächste war für seine eigene Welt, die noch viel mehr Probleme hatte. Und die dritte... David zögerte für einen Moment und traf dann die Entscheidung. Diese Kerze war für ihn selbst und für seine eigene Zukunft. Und die vierte...nein, David schüttelte den Kopf, drei Kerzen waren genug. Hope würde drei mögen.
Nach einem letzten Blick auf die Statue, drehte David sich um und ging aus der Kirche.
Als er einmal draußen war, atmete er tief ein, er schüttelte seinen Kopf und fragte sich, was da eigentlich in ihn gefahren war. Kerzen anzünden für irgendetwas, war das nicht der Gipfel des Aberglaubens? Na ja, zumindest hatte ihn niemand dabei gesehen. Es war einfach so, dass die letzten paar Tage seinen Sinn für die Realität ziemlich durcheinander gebracht hatten
Aber Hope, ja Hope war etwas völlig anderes. In welcher Realität sie auch existierte, war irrelevant, David musste unbedingt dieses eine für sie tun. Er berührte den USB-Schlüssel in seiner Jackentasche. Ja, er würde all dies niederschreiben, woran er sich von gestern und der vorherigen Nacht erinnern konnte, und ganz besonders, diese Raum-Zeit-Koordinaten, von denen Hope gesprochen hatte. Er musste sie einfach auf einer Datei verewigen, weil es ja doch sein könnte, nur vielleicht...
David wandte sich in Richtung des 'Bella Italia' Restaurants. Schließlich erwartete ihn Mr Santini dort, und David hatte Hunger.
Er hatte sich nun entschieden. Ja, er würde diesen Job ganz bestimmt annehmen, wenn er ihm wirklich angeboten würde. Und ja, das würde ihn auch mit Sicherheit wieder auf dem Radar dieses 'Clubs' erscheinen lassen, des Clubs, in dem sein früherer Freund Ed ein so treues Mitglied war.
David dachte an die unabhängigen Journalisten, die so glaubwürdig 'Selbstmord' begangen hatten, indem zum Beispiel zwei Kugeln hintereinander in den Kopf geschossen wurden; oder an die, welche furchtbare 'Unfälle' erlitten hatten, zum Beispiel in einem Mercedes, dem doch angeblich sichersten Auto der Welt, das vor einen Baum gefahren und in einem Feuerball explodiert war. Ja auf so einem Club-Radar zu sein, war nicht unbedingt der sicherste Ort der Welt.
David war durch seine eigene Hölle gegangen, und er war zurückgekommen. Das Leben und vor allem die Zukunft sahen jetzt viel besser aus, hoffnungsvoller. Er wusste jetzt, dass er an diesem Leben hing.
Im Geist sah David Hope und ihre Welt, und er atmete tief ein. Es gab aber Zeiten, wo es für einen Mann einfach notwendig war, an mehr zu denken als nur an sich selbst, ein bisschen Mut zu zeigen und etwas zu riskieren. Und genau so eine Zeit war es jetzt. Aber zuerst musste er etwas aufschreiben.
Aber dann blieb er stehen. Nein, was er jetzt nicht unbedingt gebrauchen konnte war, dass Mr Santini ihm über die Schulter schaute, während er die Erlebnisse mit einem unsichtbaren Kind und die Sache mit dem Selbstmordversuch niederschrieb. Das könnte dann seine Aussichten auf den Job ziemlich schnell radikal verringern.
David war gerade an einem Lokal mit dem Namen 'Every Day Diner' vorbeigegangen. Er drehte sich um und beschloss, dass dies genau der richtige Ort war, um mit seiner Geschichte zu beginnen. Er hatte dort schon früher ein paar Mal gegessen. Der Laden war sauber, dass Essen war annehmbar und die Bedienung schnell und effizient. Am wichtigsten aber war, dass man dort so lange ungestört sitzen konnte, wie man wollte. Er hatte da auch schon andere gesehen, die dort drin auf ihren Laptop eintippten.
David betrat das Diner und sah sich nach einem freien Tisch möglichst weit hinten um. Er fand einen gleich neben dem Eingang zur Küche. Am nächsten Tisch saß ein einsamer kleiner Junge vor einem Sprudel-Getränk, der seinen Kopf tief in einem Buch vergraben hatte. Seine Schultasche stand unter seinem Stuhl.
Am Tisch gegenüber war eine junge Familie mit zwei Kindern gerade dabei aufzubrechen, und David nahm an, dass das jetzt bedeutete, dass seine Ecke ziemlich ruhig sein würde, da das Diner nun beinahe leer war, und neue Kunden sich sicherlich bessere Tische aussuchen würden.
Als die Bedienung kam, bestellte David einen Schinkenburger mit Pommes, was an diesem Tag das preis-reduzierte Gericht war, und dann holte er den Laptop aus seiner Tasche.
Wie sollte er diese sonderbare Geschichte beginnen, eine Geschichte, die vielleicht oder vielleicht auch nicht, irgendwann einmal in der Zukunft gelesen werden würde...?
Sie sollte wohl mit einer persönlichen Wahrheit anfangen, beschloss David und begann zu schreiben:
Im dunkelsten Augenblick tiefster Sinnlosigkeit, als ihm nichts mehr geblieben war als Verzweiflung,... da kam die Hoffnung zu ihm... Sie war noch klein, vielleicht sogar winzig.... aber eines Tages würde sie geboren werden.
oder sollte er eher schreiben, sie könnte geboren werden...? Natürlich konnte er sich da nicht sicher sein..., würde es nie sein....
Schon wieder kamen diese bedrückenden Zweifel in ihm hoch, sie störten seine Konzentration.
David seufzte und sah hoch. Da war irgendeine Unruhe im Raum, jemand strich schnell an seinem Tisch vorbei, nahe genug, dass er den unangenehmen Geruch, der von ihm ausging, tief in die Nase bekam. Der junge Mann steuerte auf den nächsten Tisch zu, worauf immer noch halbvolle Teller standen. Die Kinder der Familie, die gerade gegangen waren, waren offensichtlich nicht besonders hungrig gewesen. Dieser junge Mann allerdings war es mit Sicherheit.
David lächelte, dies war das dritte Mal in zwei Tagen, dass ihm eine obdachlose Person aufgefallen war, nicht mitgerechnet die Leute bei und in der Obdachlosen-Unterkunft, natürlich. Er hatte wahrscheinlich jeden Tag Obdachlose gesehen, er hatte sie nur kaum jemals angesehen. Für seine bewusste Wahrnehmung waren sie meist unsichtbar gewesen.
David vermutete, dass der junge Mann etwa Anfang zwanzig sein musste. Und seinem Zittern und ausgemergelten Gesicht nach zu schließen, war er wahrscheinlich auf Entzug. Der Mann setzte sich nicht hin, sondern stopfte sich im Stehen sofort hungrig eine Hand voll Pommes in den Mund.
Die Bedienung, die vorgehabt hatte, den Tisch abzuräumen, drehte sich um und beschäftigte sich damit, einen anderen Tisch abzuwischen.
Plötzlich platzte jemand mit lautem Prusten aus der Küche. Aus seiner Haltung und seinem unangenehm herrischen Ton zu schließen, war er wohl der Manager des Lokals. Dieser bedachte den jungen Mann mit jeder Menge Beschimpfungen, woraufhin sich letzterer schnellsten aus dem Staub machte, sich vorher aber noch eine weitere Handvoll Pommes und einen halbgegessen Hamburger grabschte.
Nachdem sein erstes Opfer verschwunden war, drehte sich der Manager zu der Kellnerin um: „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, diesem Stück Dreck zu erlauben, unser Essen zu stehlen?! Und sagen Sie mir nicht, Sie haben das nicht gesehen! Ich habe die ganze Sache genau beobachtet!“
Die Frau leugnete nicht, den Mann gesehen zu haben, sondern erwiderte mit leiser, entschuldigender Stimme: „Er hat nicht wirklich von uns gestohlen. Das Essen war bereits bezahlt.“
Das reichte dem Manager keinesfalls: „ Jedenfalls, nicht von ihm; wenn wir solchen Typen erlauben, von unseren Tischen zu klauen und das ganze Lokal voll zu stinken, dann werden wir bald überhaupt keine zahlenden Gäste mehr haben. Dies ist hier keine Suppenküche und auch keine Wärmestube. Dies ist ein Unternehmen und keine Wohltätigkeitsorganisation, auch wenn man das aus Ihrem Schildchen da vielleicht schließen könnte!“
Der Manager stupste mit dem Zeigefinger hart auf das Namensschild der Bedienung namens Charity. Diese wich einen Schritt zurück.
Er war allerdings noch nicht fertig mit ihr: „Und wo wir gerade schon davon sprechen, dann sind wir hier auch kein Kinderhort. Ich habe sehr wohl bemerkt, dass Ihr Junge hier schon über eine Stunde herumsitzt. Wann geht der endlich nach Hause?“
Jetzt war Charity's Tonfall weit weniger defensiv: „Er hat ein Recht hier zu sein, ich habe für sein Essen bezahlt, und jetzt trinkt er noch sein Getränk aus.“
Der Manager war nicht zufrieden: „Er hat bereits seit einer Stunde aufgegessen, und ein Glas auszutrinken dauert auch nicht so lange.“
Bitte, Mr Sanchez“, bat Charity jetzt, „Matthew hat vor nur zwei Wochen seine Großmutter verloren. Meine Mutter hat sich vorher immer um ihn gekümmert, während ich gearbeitet habe. Er kann einfach nicht allein in der leeren Wohnung bleiben.“
Der Manager redete jetzt leiser, aber seine Stimme bekam einen schmierigen Ton: „Und ich sollte dir nun in dieser Sache behilflich sein, stimmt's? Wann hast du mir je irgendeine Wertschätzung gezeigt?“
Mit diesen Worten rückte der Mann näher an seine Angestellte heran, und begann ihr langsam über den Rücken nach unten zu streicheln. Charity ging noch einmal zwei Schritte zurück, bis sie ganz an den Tresen gepresst war.
Na, tu nicht so, als seist du die heilige Jungfrau“, zischte der Manager, „oder woher kommt denn der kleine Bastard dort, aus unbefleckter Empfängnis vielleicht, Fräulein Morgan,“ der Manager betonte die beiden letzten Worte höhnisch.
David sah schnell zum nächsten Tisch hinüber und zu dem kleinen Jungen, der dort saß. Der Kleine hatte seinen Kopf noch tiefer in sein Buch begraben, während die Hände, die es hielten schneeweiß geworden waren.
Die Rechnung bitte, die Rechnung“, rief David laut. Der Manager drehte sich überrascht um. Er hatte irgendwie gar nicht bemerkt, dass er ein Publikum hatte. Er drehte sich nun ganz um und lief schnell durch den Kücheneingang, während die Bedienung sich Davids Tisch näherte.
David sah Charity Morgan ins Gesicht, Tränen standen ihr in den Augen.
Und dann traf es ihn wie ein Blitz. Diese Augen... die Farbe der Augen... sie waren so intensiv blau, so eine tiefblaue Farbe hatte er nur einmal außerhalb einer Kinoleinwand gesehen... und das erst so kürzlich...
Charity Morgan, dachte er, Charity Morgan... er hätte es wissen müssen, es erraten können...
David hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Er war viel zu vernunftgesteuert für so etwas. Aber die Gefühle, die ihn jetzt fast überwältigten, die mussten so was ähnliches sein...
Charity Morgan war keine besonders schöne Frau. Sie war keineswegs übergewichtig, aber mit ihren kurzen Beinen machte sie einen plumpen Eindruck. Ihr Gesicht war völlig ohne Make-up, und die Hände, mit denen sie jetzt die Rechnung ausstellte, sahen aus als ob sie außer servieren auch noch häufig den Abwasch gemacht hätten.
David nahm an, dass Charity etwa in seinem Alter war, und im Augenblick sah sie auch keineswegs jünger aus. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, die Bände über schlaflose Nächte und einen erst kurz zurückliegenden Trauerfall sprachen.
Charity Morgans Erscheinung zeigte weder die Klasse, die Bildung noch die Eleganz, die Tina hatte. In der Tat hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeiner der Frauen, mit denen David je ausgegangen war. Sie sollte ganz und gar nicht Davids Typ sein.
Und doch war es da, dieses Gefühl sprachloser Bewunderung, des Abhebens und Schwebens, das seinen Geist und jede Ader und Faser seines Körpers durchflutete, ein Gefühl, das den Verstand überschritt, eines, das er nie zuvor erfahren hatte.
David Ragnarsson liebte Charity Morgan, und doch wusste er, dass er jetzt ganz vorsichtig sein musste, damit sie es ihm nicht gleich ansah. Was konnte er nur sagen, um sie nicht zu erschrecken, damit sie nicht dachte, er sei völlig verrückt, vielleicht sogar gefährlich?
Sie sollten diesem Kerl nicht erlauben, Sie so zu behandeln“, murmelte David und wusste im selben Augenblick, dass dies die falschen Worte waren.
Charitys Blick drückte aus: Das geht Sie nichts an.
Trotzdem antwortete sie höflich, wenn auch zurückhaltend: „Wenn man das Geld braucht, hat man keine große Wahl. Gute Jobs fallen einem heutzutage nicht so leicht in den Schoß.“
David nickte verständnisvoll, und dann hatte er eine Eingebung: „Ich kenne einen Job, der wäre einfach perfekt für Sie. Einem Freund von mir gehört ein Lokal, es ist ein kleines Familienrestaurant ganz hier in der Nähe. Und gerade jetzt braucht er eine neue Bedienung, weil seine Tochter hochschwanger ist und er nicht will, dass sie immer noch so viel arbeitet.“
David hatte viel zu eifrig geklungen, und deshalb sah Charity Morgan ihn nur argwöhnisch an: „Ich zweifle daran, dass Ihr Freund gerade mich anstellen will. Da stehen wahrscheinlich Dutzende Mädchen dort Schlange für den Job.“
David schüttelte den Kopf: „Er wollte erst heute eine Anzeige in der Zeitung aufgeben.“
Und bevor Charity Morgan noch weitere Einwände vorbringen konnte, fügte David hinzu: „Ich werde ihn jetzt sofort anrufen.“
David zog sein Handy hervor, froh, dass er es letzte Nacht seit Wochen wieder einmal aufgeladen hatte, und wählte die Nummer auf Mr Santinis Visitenkarte. Santini antwortete sofort, und als er David erkannte, klang er sehr erfreut: „Ich habe schon mit meinen Freunden geredet. Sie würden sich freuen, Sie heute Abend zu treffen. Wann könnten Sie denn hier sein?“
Wann immer es Ihren Freunden am besten passt“, antwortete David ehrlich, ohne vorzugeben irgendwie beschäftigt zu sein. „Aber ich rufe gerade wegen etwas anderem an. Wenn der Job als Bedienung noch nicht besetzt ist, dann ist hier eine junge Frau, die perfekt dafür wäre. Ihr Name ist Charity Morgan, und sie hat sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet. Sie ist sehr fleißig und zuverlässig.“
Mr Santini antwortete: „Der Job ist immer noch zu haben, die Anzeige wäre ja erst morgen erschienen. Und wenn Sie für Ms Morgans Charakter bürgen, da nehme ich Sie beim Wort. Bringen Sie sie einfach her, so dass ich mit ihr reden kann. Sie könnte dann gleich einen Arbeitsvertrag unterschreiben.“
David sah Charitys zweifelndes Gesicht an und dann auf deren Sohn, der nicht mehr las, sondern das Gespräch von David mit seiner Mutter neugierig beobachtete.
David setzte sein Telefonat mit Mr Santini fort: „Ms Morgan hat einen kleinen Sohn im Grundschulalter, ein sehr stiller Junge, der viel liest. Er benötigt einen Ort, wo er sich nach der Schule hinsetzen und seine Bücher lesen kann.“
Kein Problem“, antwortete Mr Santini. „Ich bin sicher wir finden ein Plätzchen für ihn, wo er in Ruhe lesen kann.“
David bedankte sich bei Mr Santini, versicherte ihm, dass sie innerhalb einer Stunde bei ihm sein würden, und legte auf. Er erklärte Charity dann, was Mr Santini gesagt hatte. Sie hatte immer noch einen zweifelnden Ausdruck auf dem Gesicht. Das Angebot war einfach zu schnell gekommen, zu unerwartet. Es war einfach zu gut, um wahr zu sein. Da musste doch irgendein Haken an der Sache sein.
Und dann fiel er ihr ein: „Ich kann nicht sofort anfangen. Ich habe meinen Lohn für den letzten Monat noch nicht erhalten. Wenn ich nicht wenigsten zwei Wochen vorher kündige, dann zieht mir Mr Sanchez diese Wochen vom Lohn ab. Ich kann es mir einfach nicht leisten, dieses Geld zu verlieren.“
David schüttelte entschieden den Kopf: „Sie werden dieses Geld nicht verlieren, ich werde mich darum kümmern.“
David stand auf und ging zum Kücheneingang, während er laut nach Mr Sanchez rief. Das weckte das Interesse des Kochs und einer anderen Bedienung, die sich gerade in der Küche miteinander unterhielten.
Als Mr Sanchez aus seinem Büro hinter der Küche kam, informierte ihn David ohne lange Vorreden, dass Ms Morgan eine andere Arbeit angeboten worden war, und sie deshalb den Job bei ihm kündigen müsse.
Sie hat zwei Wochen Kündigungsfrist, oder es wird ihr vom Lohn abgezogen,“ brummte Sanchez.
Sie wird sofort gehen, nachdem sie voll ausbezahlt wurde. Nichts wird abgezogen werden“, stellte David mit kalter Stimme fest.
Sie hat einen Vertrag unterschrieben“, bestand Sanchez auf seinem Standpunkt.
Der Vertrag ist nichtig,“ erwiderte David, „da hier eine sexuelle Belästigung stattgefunden hat, von der ich selbst vor ein paar Minuten Zeuge geworden bin. Das ist eindeutig ein Vertragsbruch.“
Sie können überhaupt nichts beweisen,“ behauptete Sanchez.
Da irren Sie sich aber gewaltig“, widersprach David. „Das Gericht wird meine Zeugenaussage mit Sicherheit anerkennen. Und wenn ich mich nicht ganz täusche, dann wird Ms Morgan auch noch andere Zeugen vorweisen können.“
David sah die andere Bedienung fragend an, und diese antwortete mit einem kaum sichtbaren Nicken.
Und ich bin mir auch sicher“, fügte David hinzu, „dass die Lizenzhalter der Every Day's Diner Kette mit Sicherheit keinen Manager weiter beschäftigen wollen, der ihnen die Unannehmlichkeit eines hundert-tausend Dollar Prozesses eingebracht hat.“
Hunderttausend Dollar? Machen Sie sich doch nicht lächerlich“, schrie Sanchez, der allerdings auf längst verlorenem Posten stand. „In Ordnung sie bekommt ihren Lohn-Check.“
Während Sanchez sein Check-Buch herauszog, befahl David: „Vergessen Sie nicht, den Lohn für heute auch noch hinzuzufügen.“ Er drehte sich zu Charity um, die ihm in die Küche gefolgt war. „Wann haben Sie heute mit der Arbeit begonnen?“
Um neun Uhr“, antwortete sie.
Das macht dann noch einmal sieben Stunden“, schloss David. „Außer, sie wollen auch noch eine Kompensation für die Belästigung, die Ihnen zugefügt wurde, Ms Morgan?“
Charity Morgan schüttelte den Kopf.
Nachdem der Manager den Check ausgestellt hatte, sah David diesen genau an. Es war eine erbärmlich niedrige Summe für die Arbeit eines gesamten Monats. Charity allerdings nickte nur und steckte den Check ein.
Ich muss mich noch umziehen“, sagte sie und verschwand hinter einer anderen Tür. Der Manager hatte sich schon in sein Büro zurückgezogen. David nickte der anderen Bedienung und dem Koch noch einmal zu und ging dann zurück in die Gaststätte.
Er erklärte dem kleinen Matthew, dass seine Mutter sich nur noch umziehen müsse, und hinterher würden sie alle zusammen zu einem anderen Restaurant gehen, wo sie einen neuen Job bekäme.
Der Junge nickte: „Das ist gut“, sagte er, „wir mögen es gar nicht, hier zu sein.“
Was liest du denn da gerade“, fragte David den Jungen. Matthew zeigte ihm wortlos den Umschlag des Buches, bevor er es in seine Schultasche packte. Es war Harry Potter – Der Gefangene von Askaban.
David lächelte: „Ich habe diese Harry Potter Bücher auch gelesen, als ich ein Kind war. Ich war nur ganz wenig älter als du, als das erste Buch herauskam.“
Matthew erklärte: „Ich hab sie schon alle gelesen. Oder eigentlich hat meine Oma mir die ersten beiden vorgelesen, und die anderen haben wir dann zusammen gelesen. Ich habe immer den ersten Satz gelesen, und sie den Rest der Seite.“
Matthew hatte nun die Augen niedergeschlagen und seine Stimme zitterte. David verstand gut, warum er die Bücher gerade jetzt noch einmal las.
David sagte sanft: „Meine Mom hat den 'Stein der Weisen' für mich gekauft. Aber sie war damals schon sehr krank. Und darum habe ich ihr das Buch vorgelesen, als sie im Krankenhaus lag.“
Ist sie gestorben?“ fragte Matthew.
David nickte und fügte hinzu: „Aber nicht bevor wir das Buch ausgelesen hatten. Sie hat mir gesagt, dass sie es sehr gern mochte.“
Meine Oma mochte diese Bücher auch“, kommentierte Matthew, „genau wie ich. Aber den Anfang von diesem hier mochten wir beide nicht so gern.“
Warum denn nicht“, fragte David.
In all den anderen Büchern, da war Harry immer gut und nie böse“, erklärte Matthew. „Und im allerletzen Buch, da hat er sogar seinen schlimmsten Feind vor den Zauberflammen gerettet. Aber in diesem Buch hat er seine Tante aufgeblasen.“
Na, ja“, verteidigte David den Roman-Helden, „er hat ihr nicht wirklich weh getan. Sie ist einfach nur wie ein Ballon weggeflogen. Und die Leute aus dem Ministerium haben sie dann wieder zurückgebracht, und alles war wieder gut. Und außerdem hat sie etwas richtig, richtig gemeines über seine Mutter gesagt.“
Matthew war nicht überzeugt: „Es war trotzdem falsch. Du kannst nicht einfach jemanden aufblasen und verschwinden lassen, wenn er etwas Gemeines über deine Mutter sagt.“ David erkannte nun, dass es die Großmutter war, die durch den Mund ihres Enkels sprach.
Matthew sah in Richtung Kücheneingang, und David vermutete, dass es vor ein paar Minuten ein sehr verführerisches Bild gewesen war, jemanden in einen Ballon zu verwandeln und verschwinden zu lassen, ein Bild, das Matthew jetzt aber zutiefst von sich wies.
Ich denke“, sagte David, „dass es Harry ziemlich leid getan hat, dass er so was gemacht hat. Und am Ende, erinnerst du dich, da hat Harry sogar das Leben von dem Kerl geschont, der eigentlich mit Schuld am Tod seiner Eltern war, nicht wahr?“
Genau“, nickte Matthew „das war Wurmschwanz.“ Er sah immer noch zum Kücheneingang.
In diesem Augenblick erschien seine Mutter. Matthew sprang vom Stuhl auf und setzte sich seine Schultasche auf den Rücken. Er war mehr als nur bereit, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
Charity hatte allerdings immer noch eine zweifelnde Mine. David bemerkte das Goldkreuz um ihren Hals, das jetzt im Ausschnitt ihrer Bluse zu sehen war. Natürlich..., dachte er, er hätte es wissen müssen. Er dachte eine Weile darüber nach und überraschte sich selbst damit, dass es ihm eigentlich überhaupt nichts ausmachte.
Sie verließen das Restaurant und gingen schweigend die Straße hinunter. Nach ein paar Blocks bogen sie um die Ecke. Als das 'Bella Italia' bereits in Sichtweite war, blieb Charity abrupt stehen und stellte eine sehr vernünftige Frage: „Warum helfen Sie uns eigentlich?“
Auch wenn ihre Frage sehr direkt war, hatte ihre Stimme für Davids Ohren doch einen wunderbar melodischen Klang. Er sah Charity an. Die Sonne schien auf ihre eigentlich hellbraunes Haare und gab diesem so einen rot-goldenen Glanz.
Was sollte er ihr nur antworten, dachte David, dass er den Klang ihrer Stimme liebte oder den rot-goldenen Glanz ihrer Haare?
Nun“, begann David langsam, „ich mag es einfach nicht, wenn Leute schlecht behandelt werden.“ Dann fügte er noch hinzu: „Und weil mir Ihr Name so gut gefällt.“
Diese Antwort überraschte Charity und brachte sie zum Lächeln. Und dieses Lächeln verwandelte ihr Gesicht, und David erkannte, dass er sich vorhin im Diner völlig geirrt hatte. Charity Morgan war in der Tat wunderschön, eigentlich war sie die schönste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte.
Mein Name?“ wiederholte Charity, aber dann er erklärte sie: „Der ist so was wie eine Familientradition. Der Name meiner Mutter war Hope“, ein flüchtiger Schatten fiel über ihr Gesicht, sie verbannte ihn aber schnell wieder, um hinzuzufügen: „Und der Name meiner Schwester ist...“
Warten Sie, lassen Sie mich raten“, unterbrach sie David, „der Name Ihrer Schwester ist Faith.“
Charity lächelte und nickte.
Also das ist eine Morgan Familientradition“, vermutete David
Charity schüttelte den Kopf: „Nein, eigentlich ist es eine O'Malley Familien-Tradition. Das ist der Mädchenname meiner Mutter.“
David erklärte: „Aber es ist auch Ihr Familienname, der mir gefällt.“
Jetzt lachte Charity laut auf: „Morgan? Also falls Sie denken, wir sind mit der Morgan-Banker-Dynastie verwandt, da muss ich Sie leider enttäuschen.“
David lachte nun auch: „Hätte ich nie erraten. Aber im Ernst, ich finde der Namen Morgan ist etwas ganz besonders, und ich denke sie sollten ihn nie ändern.“
Sie meinen, ich sollte niemals heiraten?“ Charitys Lachen war jetzt ein klein bisschen sarkastisch. „Keine Sorge, das ist ohnehin eher unwahrscheinlich.“
David schüttelte entschieden den Kopf: „Ich bin mir ganz sicher, dass Sie irgendwann heiraten werden, aber das heißt dann noch lange nicht, dass Sie Ihren Namen ändern müssen. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert. Frauen müssen ihre Namen nicht mehr ändern, wenn sie heiraten, manchmal machen das die Männer.“
Jetzt war Charity neugierig geworden: „Und warum glauben Sie, dass der Name Morgan so außergewöhnlich ist, dass ich ihn nicht wechseln sollte?“
David erklärte: „Weil er eine Bedeutung hat. In dem Land, in dem ich geboren bin, dem Land meines Vaters, da bedeutet Morgan, wenn auch ein bisschen anders geschrieben, sowohl der Beginn eines jeden Tages als auch der nächste Tag.“
Morgen ist ein neuer Anfang, das ist ein schöner Gedanke“, sagte Charity, „das ist so wie in dem Musical Annie, 'morgen geht die Sonne wieder auf'.
Jetzt lächelte David breit: „Ich habe das Musical am Broadway gesehen, als ich ein Kind war, zusammen mit meiner Mutter.“
Charity lächelte zurück: „Ich habe es auch mit meiner angeschaut. Vielleicht waren wir ja in derselben Vorstellung.“
Uns dann gab sie zu: „Aber die ganze Zeit habe ich mir gewünscht, dass Annie ihre richtigen Eltern wiederfindet. Und am Ende war ich ein bisschen enttäuscht.“
Enttäuscht? Aber warum denn?“ lachte David, „sie wurde doch von einem Milliardär adoptiert.“
Na klar“, erwiderte Charity ein wenig verächtlich, „ein Milliardär mit nahmen WAR BUCKS also Kriegsgewinn.“
Das haben Sie bemerkt“, fragte David. „Sie müssen aber ein ziemlich kluges Kind gewesen sein.“
Nein“, ein kleiner Schatten fiel wieder auf Charitys Gesicht, „aber ich hatte eine kluge Mutter.“
David war einen Augenblick lang still, als er sich daran erinnerte, dass ein Multimillionär-Großvater auch nicht gerade das Gelbe vom Ei gewesen war.
Er schüttelte die Erinnerung ab und stellte fest: „Aber das Lied, das war doch richtig gut, das Lied, das Annie gesungen hat, als sie noch Waisenkind war, das aus dem Heim weggelaufen ist. Meinen Sie nicht?“
Charity dachte eine Sekunde nach, dann begann sie mit sanfter leiser Stimme zu singen:
Morgen geht die Sonne auf...”
Und David, der sich gar nicht erst die Mühe machte, leise zu singen, stimmte ein:
...deinen letzten Dollar kannst du wetten drauf – die Sonne geht auf!”
Jetzt zögerte David, aber Charity sang weiter, und David stimmte wieder ein:
Wenn ich nur denke an morgen – vertreibt es Kummer und Sorgen - sie sind nicht mehr'!”
Jetzt war ihnen beiden der Text ausgegangen, und sie durchsuchten ihre Gehirne nach der nächsten Zeile.
Matthew, der dem Gespräch erstaunt zugehört hatte, wunderte sich darüber, wie diese beiden Erwachsenen, die es doch eigentlich besser wissen müssten, sich mitten auf dem Bürgersteig lächerlich machten. Und dann hatten sie auch noch den Text vergessen. Er schüttelte den Kopf und beschloss ihnen zu helfen. Und so begann er mit seinem klaren Jungen-Sopran.
Wenn da ist der Tag – wo ich mich frag – bin ich einsam,”
Während Charity David ins Ohr flüsterte: „Wir haben eine DVD davon“, fuhr Matthew fort:
Dann steh ich auf - und lauf - und sag – oh!”
Jetzt stimmten Charity und David bei Matthew mit ein:
Morgen geht die Sonne auf – So halt nur aus, lass ihr ihren Lauf.”
Und da waren sie nun, mitten auf dem Bürgersteig einer kleinen Straße in der South-Bronx von New York City, und gingen langsam auf das 'Bella Italia' zu, während sie mit lauten Stimmen sangen, wobei es ihnen völlig gleichgültig war, dass andere Leute sie anstarrten.
Sie waren drei verrückte Menschen, ein kleiner und zwei große, die aus tiefstem Herzen erklärten:
Oh morgen! Oh morgen! - Ich liebe dich morgen! - Du bist immer ein Tag vor mir!”
Und während er die letzte Zeile wiederholte, dachte David:
Morgen bedeutet Hoffnung,
Hope Morgan

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Danksagung:

Hier möchte ich all meinen Lesern danken, die bis zum Ende der Geschichte über Jonathan, David und Hope durchgehalten haben.
Dieses Buch hätte nicht geschrieben werden können ohne die Hilfe und die Ermutigung meiner Freunde, besonders meiner Lektoren April (für die englische Ausgabe) und Irene (für die deutsche). Ganz besonders danke ich meinen ersten beiden Leser und Zuhörer J., meinem wichtigsten Unterstützer, und K., der mir durch seine konstruktive Kritik geholfen hat, das Buch entscheidend zu verbessern .
Und natürlich hätte ich nicht eine einzige Zeile in diesem Buch schreiben können, ohne die Arbeit und Inspiration so vieler Denker, Dichter und Autoren von vielen Orten der Welt und aus allen Zeiten der menschlichen Geschichte.

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Notizen:
Für mehr Informationen zu den Themen, die in dieser Geschichte berührt wurden, und zu den Kommentaren der Autorin darüber, warum sie das Buch geschrieben hat, und welche Gedanken und wirklichen Ereignisse hinter einzelnen Passagen und Figuren des Romans stecken, ist der geneigte Leser eingeladen:
zu ihrem Blog : Gedanken sind frei

zu ihrem Youtube Kanal: Eve Human

oder ihr auf Twitter zu folgen: @EveHuman1


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