Teil 7
Als wir den Parkplatz der Einrichtung erreicht haben, finden wir
heraus, dass Vance Drake bereits da ist. Bei ihm sind Tom, Jim und
Jesse, die ich seit dem frühen Morgen nicht mehr gesehen habe. Sie
haben sich zwischen einer Reihe von Lastwagen versteckt. Wir parken
unseren Wagen dahinter und steigen aus.
Ohne Worte signalisiert Vance Mr Wang, Ms Alba und dem Professor,
wo sie sich verstecken sollen.
Ich weiß, dass Vances Team mindestens 30 Männer angehören,
obwohl keiner der anderen zu sehen ist. Auf keinen Fall dürfen sie
zu früh vom Wachpersonal entdeckt werden.
Zu
jeder Tages- und Nachtzeit patrollieren hier in der Gegend um die
Untergrund-Anlage herum mindestens 15 schwerbewaffnete Wachmänner.
Die meisten Bürger von Nephilim City haben keine Ahnung, was diese
Sicherheitsleute eigentlich bewachen, denn was sie überirdisch sehen
können, ist nichts anderes als ein ziemlich kleines, unscheinbares
Gebäude, das von einem Parkplatz und einer Grünanlage
eingeschlossen ist, einer der wenigen grünen Stellen in der Stadt.
Vance sieht mich an: „Jetzt kommt es auf dich an“, stellt er
fest.
Ich antworte nicht. Ich weiß das ja.
„Hast
du deine Pistole bereit?“ fragt Vance.
Ich greife in meine Tasche und antworte mit einem Nicken.
Ich atme tief ein und richte mich auf. Ich lasse alle anderen
zurück, und beginne mit festen und entschlossenen Schritten in
Richtung des Eingangs der Anlage zu gehen.
Ich bin jetzt allein.
***
Die Szene verblasste, und David öffnete seine Augen. Er sah Hope an,
obwohl er nicht wusste, was er sagen sollte. Er hatte gerade
herausgefunden, dass ihre gesamte Welt in Gefahr war, zerstört zu
werden. Wie kann man jemanden bei so etwas trösten?..
Und
darum platzte er mit der unwichtigsten Sache von allem heraus: „Ich
konnte das ganze Interlingua von dieser Rede dort ganz und gar
verstehen.“
Hope nickte nur: „Du bist vielleicht inzwischen viel besser mit
meinem Geist verbunden.“
Nach einer Weile des Schweigens stellte David noch etwas Belangloses
fest: „Ich verstehe jetzt, warum du das Kleid auf dem Werbe-Plakat
nicht mochtest.“
Hope nickte wieder.
Schließlich fragte David: „Was ist nach dieser Versammlung
passiert?“
Hope atmete tief, und dann brach es aus ihr hervor: „Alles ist
passiert, einfach alles! Nichts war mehr so wie vorher!
„Ms
Keilar hat sofort eine Botschaft an den Internationalen Hilfskongress
geschickt, denn alle im Dorf stimmten überein, dass die Information,
die uns Jonathan Galt gebracht hatte, von einer so großen
Wichtigkeit war, dass sie weit über den Distrikt oder unsere Nation
hinausreichte.
„Sie
hat auch unsere Dorfratsversammlung auf dem Friedensnetz
veröffentlicht. Innerhalb eines Tages wurde alles auf Interlingua
übersetzt, und am nächsten Tag bereits hatte die Aufzeichnung 2
Milliarden Clicks auf dem Friedensnetz. Die ganze Welt hatte sie
gesehen, kannst du dir das vorstellen?... die ganze Welt...
Aber diese Clicks zu zählen, hat keinen Spaß gemacht“, Hope's
Stimme war nur noch traurig, „es war nur...“ sie seufzte.
David nickte: „Ich versteh schon.“
Hope redete weiter: „Am selben Tag noch beschloss der
Internationale Hilfskongress, dass Spesaeterna unter eine zweiwöchige
Quarantäne gestellt werden sollte, da ja niemand wissen konnte, ob
Luscinia, Jonathan und Natsuki nicht bereits von dem 90% Virus
infiziert seien. So wurde der jetzt nämlich genannt.
Und dann waren da noch die Worte, die Jason zu uns gesagt hatte:
'Jetzt sind es wir oder sie'... Man konnte sie überall hören, und
die Angst dahinter, die wie ein durchdringender Geruch überall um
uns herum war, mit jedem Atemzug konnte man sie riechen, man konnte
ihr nicht entkommen.
Selbst die kleinen Kinder, die doch gar nicht wussten, was geschehen
war, wie Sissy und Lillebro und Cindy, meine Chan, sie hatten auch
Angst... Und ich konnte sie nicht trösten, denn ich hatte ja selbst
Angst... Und als ich mit meinem Großeltern sprechen wollte, da hörte
ich wie sie miteinander stritten. Das hatte ich noch nie zuvor bei
ihnen gehört oder gesehen.“
Eine Erinnerungs-Szene erschien vor Davids Augen, in der Hope, Sissy
und Lillebro vor einer halboffenen Tür standen. Dahinter war die
Stimme ihres Großvaters zu hören, der rief:
„Wir
müssen uns doch verteidigen, Faith, wir müssen es einfach tun!“
Hope's Großmutter hörte sich verzweifelt an: „Aber doch nicht so,
Ben, nicht so. Das Erste Prinzip...“
Ihr Mann unterbrach sie: „Es gibt keinen anderen Ausweg! Oder
willst du, dass unsere Töchter umgebracht werden? Denk doch an
Charity und Suzie, denk an deine Enkelkinder, an den kleinen David
und an Suzies Jungen Matty und Jimmy. Oder willst du, dass unsere
Enkelinnen in so ein Venus Projekt gezwungen werden... unsere Hope
und die kleine Faith gezwungen zu... zu..., denk doch an sie!“
Man konnte Hopes Großmutter jetzt weinen hören, während eine
blasse Hope versuchte, ihre kleinen Geschwister von der Tür
wegzuzerren. Die Gesichter aller drei waren tränenverschmiert.
Die Szene verblasste, und Hope redete in einem Ton weiter, der immer
verzweifelter klang: „Und Großonkel Professor, der doch sonst
immer alle Antworten auf alles wusste, er hat nicht mit mir
geredet... er hat einfach überhaupt nichts gesagt.
Als ich ihn gefragt habe, da meinte er nur, er könne nichts zu
dieser Sache sagen, und dass er arbeiten müsse. Und als ich ihn
angeschrien habe, warum er zu so einer Zeit an seiner bescheuerten
Zeitmaschine arbeiten müsse, sagte er gar nichts, und schloss sich
nur in sein Labor ein. Am zweiten Tag habe ich dann wie wild an seine
Tür geklopft, immer und immer wieder, und nicht aufgehört, bis er
aufmachte.
Ich sagte ihm, dass eine weitere Dorfratsversammlung am nächsten Tag
stattfände, und dass er dort hingehen müsse, und etwas zu allen
Leuten sagen müsse, weil alle so viel Angst hatten. Aber er
schüttelte nur den Kopf. Er sagte, dass kein Mensch dort etwas von
ihm hören wollte... niemand. Und dann hat er mir die Tür vor der
Nase zugemacht, und sie abgeschlossen. Und in den nächsten paar
Tagen habe ich ihn nicht einmal zum Essen gesehen.
Als ich versuchte mit Mama zu sprechen, da konnte ich sie nicht
erreichen. Sie schrieb uns, sie sei die ganze Zeit beschäftigt.
Bevor das alles geschehen ist, da haben wir jeden Tag mit ihr auf dem
Friedensnetz gesprochen. Und jetzt redete sie nicht mehr mit mir oder
mit Sissy oder Lillebro. Sie konnten das nicht verstehen und ich auch
nicht...“
Hope war jetzt tief in ihrer eigenen Welt versunken, wo die Kinder
ganz plötzlich emotional von den Menschen verlassen worden waren,
die sich doch um sie kümmern müssten, sie beschützen und trösten
müssten. Ihre vertraute Welt war durch und durch aus dem
Gleichgewicht geraten.
Aber die traurige Geschichte war noch nicht zu Ende: „Drei Tage
nach der ersten Dorfratsversammlung, wurde dann die zweite
abgehalten. Wie gewöhnlich war das an einem Abend. Allerdings waren
bereits am Morgen zwei Vertreter des Internationalen Hilfskongresses
angekommen.
Sie hatten beschlossen das Risiko einzugehen, mit uns die
Quarantäne-Zeit zu verbringen, weil sie dringend mit Jonathan Galt
und Luscinia Callahan sprechen mussten. Und das haben sie dann den
ganzen Tag getan. Sie nannten das 'ein Verhör'. Danach haben sie
sich wieder über das Friedensnetz mit dem restlichen Hilfskongress
abgesprochen. Und was sie diskutiert haben, das haben wir dann in der
Versammlung erfahren.
Wir Sempais trafen uns wieder bei Jenny. Diesmal hatte nicht einmal
Ameenah Zweifel daran, dass diese Versammlung auch uns etwas anging.
Und außerdem wussten alle Eltern bereits, dass wir zusahen. Ich
denke mal, da war kein einziger Jugendlicher und auch keines von den
älteren Kindern im ganzen Dorf, die nicht zusahen... und den
Erwachsenen war das jetzt egal.“
Wieder erschien das Wohnzimmer von Jennys Familie vor Davids Augen,
zusammen mit der Projektion aus dem Versammlungssaal an der Wand. Und
wie immer schloss David die Augen, um die Szene zu betrachten. Aber
er spürte bereits Hope's Angst und Verzweiflung.
Die erste Reihe vor den anderen Bänken und Tischen sah anders aus
als beim letzten Mal, denn sie war jetzt von nur drei Leuten besetzt,
von zwei Männern und Ms Keilar. Die Männer waren, ihrem
Kleidungsstil nach zu schließen, offensichtlich nicht aus Hope's
Dorf.
Ms Keilar stand bereits an ihrem Pult und war gerade dabei, die
beiden Männer vorzustellen: „Wie ihr vielleicht bereits gehört
habt, so werden wir gerade von zwei Repräsentanten des
Internationalen Hilfskongresses besucht.“
Ms. Keilar deutete nach links: „Dies ist Mr Nawakwi aus dem Dorf
Kawaza, im Distrikt Süd Lwanga, in der Nation Zambia.“
Mr Nawakwi stand auf und verbeugte sich leicht vor der Versammlung.
Er trug ein schwarz mit Gold gemustertes Hemd, schwarze Hosen und
eine runde rote Kappe.
Jetzt deutete Ms Keilar auf den Mann zu ihrer Rechten, der einen
schwarzen Kaftan trug und eine rot-gelb-blaue Scheitelkappe auf dem
Kopf.
„Dies
ist Mr Avineshwaran aus dem Dorf Any Kampung im Distrikt Tioman, in
der Nation Malaysia.“
Mr Avineshwaran stand auch kurz auf und bedachte die Versammlung mit
einer höflichen, knappen Verbeugung.
Ms Keilat fuhr fort: „Auf die Bitten von Mr Avineshwaran und Mr
Nawakwi hin habe ich Ms Luscinia Callahan und Jonathan Galt auch zu
dieser Versammlung eingeladen, obwohl sie beide zur Zeit noch keine
Bürger unseres Dorfes sind, und außerdem sind sie auch noch
unterhalb des Alters, an dem man normalerweise an unseren
Dorfratsversammlungen teilnehmen sollte. Sie werden sich deshalb
nicht an den Abstimmungen beteiligen können. Aber es wird ihnen
gestattet sein, auf Fragen zu antworten, die an sie gerichtet
werden.“
Mr Henry Darby, der sich bereits bei der letzten Versammlung gegen Ms
Keilar gestellt hatte, stand auch diesmal wieder auf: „Ich
protestiere formell. Die Teilnahme von Außenseitern und
Nicht-Bürgern ist völlig gegen unsere Regeln. Man könnte es eine
Verletzung unserer Souveränität nennen.“ Er war offensichtlich
jemand, der streng auf Regeln und Formalitäten achtete.
Ms Keilar zögerte einen Moment, danach richtete sie ihre Anfrage an
den gesamten Saal: „Gibt es noch jemanden, der Mr Darbys Protest
unterstützt?“
Ein paar Hände wurden erhoben.
Ms Keilar erklärte daraufhin: „Das bedeutet, wir müssen darüber
abstimmen. Erlaubt es die Dorfratsversammlung, dass die
Repräsentanten des Internationalen Hilfskongresses hier anwesend
bleiben?“
Man konnte jetzt sehen, wie die Leute im Saal jeweils ihre rechte
Hand auf ihren Tisch pressten. Zahlen erschienen an der Wand, die
sich am Ende in Prozentpunkte verwandelten: „97% Ja, 3%Nein“, las
eine Computer-Stimme laut vor.
Ms Keilar sah zur Wand und erklärte: „Die Entscheidung ist
gefallen.“
Danach stellte sie eine zweite Frage: „Sollen Luscinia Callahan und
Jonathan Galt die Erlaubnis erhalten, bei dieser Versammlung anwesend
zu sein?“
Dieses Mal war das Ergebnis 99%Ja und 1%Nein.
Nachdem sie wieder erklärt hatte, dass die Entscheidung gefallen
war, erklärte Ms Keilar dann eine weitere Ausnahme von der Routine
einer normalen Dorfratsversammlung:
„Die
Repräsentanten des Internationalen Hilfskongresses haben mich
gebeten, dass diese Versammlung wie gewöhnlich aufgezeichnet würde,
aber dass sie gleichzeitig auch sofort live auf dem Friedensnetz
veröffentlicht werden sollte, und dass deshalb alle Diskussionen auf
Interlingua stattfänden.“
Und so legte Ms Keilar eine letzte Anfrage zur Abstimmung vor die
Dorfratsversammlung: „Sollen wir unsere Versammlung in Interlingua
live auf dem Friedensnetz vor der ganzen Welt abhalten?“
Dieses Mal dauerte es länger bis alle Stimmen der Dorfbewohner
abgegeben worden waren. Hope konnte nur vermuten, warum es so lange
dauerte:
Die
Leute mussten darüber nachdenken. Würde es denn nicht einen Verlust
der Souveränität von Spesaeterna bedeuten, wenn sie die ganze Welt
in ihre Dorfratsversammlung hineinließen? Und Hope wusste, wie
wichtig den Leuten aus Spesaeterna ihre Unabhängigkeit war.
Anderseits war dieses jetzt zu besprechende Thema nicht doch so
wichtig, dass es alle Dörfer der Welt betraf?
Als das Ergebnis hereinkam, sah Hope, dass es ziemlich knapp war:
95%Ja und 5%Nein. Wenn es mehr Nein-Stimmen gegeben hätte, dann
hätte es eine weitere Diskussion über diese Frage geben müssen.
Aber anscheinend waren die meisten Leute so gespannt auf die
Fortsetzung der Versammlung, dass die sonst so hochgeschätzte
Souveränität zweitrangig wurde.
Und so erklärte Ms Keilar zum dritten Mal: „Die Entscheidung ist
gefallen.“
Dann fuhr sie fort und diesmal in Interlingua: „Zuerst übergebe
ich nun das Wort an Mr Nawakwi.“
Mr Nawakwi stand auf, sein Tischpult stieg vor ihm auf, und er begann
in einem anderen Akzent zu reden als Ms Keilar, aber doch noch leicht
verständlich:
„Geehrte
Mitglieder des Dorfrates von Spesaeterna, wir vom Internationalen
Hilfskongress sind Ihnen in der Tat sehr dankbar für Ihren
sofortigen Bericht, den Sie uns nach Ihrer letzten
Dorfratsversammlung geschickt haben. Diese überaus wichtige
Information gab uns die Möglichkeit sofort und ohne weiteren
Zeitverlust zu reagieren. Das erste, was wir taten, war natürlich
jeden weiteren Transport von Exilanten und Handelsgütern nach Orange
Country zu stoppen.
Natürlich wussten wir sehr gut, dass so etwas die de-facto Herrscher
von Nephilim City, die anscheinend die Mitglieder der
transhumanistischen Gesellschaft sind, Verdacht schöpfen lassen
könnte. Deshalb haben wir das Magleb-Personal angewiesen, gegenüber
den Grenzwachen zu behaupten, dass es Probleme mit der
Stromversorgung gäbe.
Allerdings wussten wir, dass diese Erklärung nur für ein oder zwei
Tage ausreichen würde. Da hatte dann einer unserer
Kongressmitglieder eine geniale Idee: Als nächstes würden wir den
Grenzwachen erklären, dass die Welt sich über die exorbitanten
Kosten an Handelsgütern beschwert hätte, die Orange Country
verlangte, um die ins Exil geschickten Bürger der Welt bei ihnen
aufzunehmen. Deshalb sei beschlossen worden, nur noch ein Drittel der
verlangten Güter zu liefern.
Natürlich würde ein so weites Absenken der Preise von Orange
Country nicht akzeptiert werden, und die Verhandlungen könnten sich
dann über mehrere Wochen hinziehen. Wir wussten aber auch, sobald
Jonathan Galts Vater die Abwesenheit seines Sohnes klar würde, dass
dann ein Verdacht seinerseits nicht mehr vermieden werden konnte. Die
Reaktion könnte ein sofortiger Angriff mit diesen biologischen
Waffen sein. Deshalb haben wir begonnen, die Dörfer um Orange
Country herum darum zu bitten, ihre Bürger zu evakuieren, mit
Ausnahme von einigen Freiwilligen, die mit luftdichten Schutzanzügen
ausgestattet würden.
Wir haben auch darum gebeten, dass alle Freiwilligen und ihre
Projektleiter aus den Eisbrecher-Missionen sich in die Region von
Orange Country transferieren lassen würden, wo sie sich in einem so
großen Kreis um Orange Country aufstellen würden, dass sie von den
Grenzwachen nicht entdeckt würden. Und wie Sie wahrscheinlich
wissen, haben wir alle Dörfer der Welt darum gebeten, diesen
Freiwilligen Luftdichte Schutzanzüge zur Verfügung zu stellen.
Alle Eisbrecher-Schiffe, sowohl aus den arktischen als auch aus den
antarktischen Regionen, sind zur Zeit auf dem Weg, um die Meeresküste
von Orange Country in einem Belagerungsring einzuschließen Wir haben
auch mit Experten gesprochen, um herausfinden, welche Maßnahmen wir
gegen einen Angriff durch diese biologischen Waffen, die in Nephilim
City hergestellt werden, treffen können.
Wir sind dabei, die physische Mauer um Orange Country mit einer neuen
elektro-magnetischen Anti- Insekten-Schutzmauer zu ergänzen. Aber
ohne spezifisches Wissen über die genetische Zusammensetzung dieser
Insekten könnte dieser Schutz ineffektiv sein.
Wir studieren zur Zeit auch eingehend das Tarnkappen- und das
Raketen-Programm der Dunklen Zeiten, um Gegenmaßnahmen zu
entwickeln, so dass wir rechtzeitig erfahren, wenn diese
Luftfahrzeuge aufsteigen. Und wiederum werden wir einige Zeit
brauchen, um eine effektive Verteidigung gegen diese Luftangriffe
aufzubauen.
Ein weiteres Problem, dem wir gegenüber stehen -und wir haben das
von Jonathan Galt erfahren- ist es, dass die Produktion für die
Luftkampf-Fluggeräte zwar in gewöhnlichen Produktionsanlagen in
Nephilim City stattfindet, dass die fertiggestellten Fluggeräte aber
in einer unterirdischen Anlage aufbewahrt werden. In derselben Anlage
sind auch die Labors für die viralen Waffen und die Genetik-Labors
angesiedelt.
Ein komplexer Sicherheitsapparat schützt diese Anlage von außen.
Niemand kann sie betreten, ohne von den Führern der
Transhumanistischen Gesellschaft autorisiert worden zu sein.
Wie sie wahrscheinlich wissen, so hat es in den letzten beinahe 200
Jahren keine Kriege mehr gegeben. Die Kriegswaffen der Vergangenheit
wurden alle zerstört. Keine neuen Waffen wurden mehr entwickelt.
Natürlich haben wir heutzutage eine große Anzahl effektiver
Werkzeuge für unterschiedliche Zwecke und Projekte, aber weder
unsere Laser-Eisbrecher-Werkzeuge, noch die Betäubungswaffen können
diese Anlage durchdringen oder die Sicherheitsmaßnahmen oberhalb der
Anlage überwinden. Praktisch keines unserer Werkzeuge bietet uns
einen ausreichenden Schutz gegen die Bedrohung, der wir jetzt
ausgesetzt sind.
Aber in tausenden von Botschaften aus der ganzen Welt wurden wir
darauf hingewiesen, dass uns in der Tat ein einziges Instrument zur
Verfügung steht, das wirklich effektiv wäre.“
Jetzt atmete Mr Nawakwi tief ein. Er wusste sehr wohl, dass seine
nächsten Worte wie eine Bombe einschlagen würde: „Es ist die
thermonukleare Sprengung. Zehn dieser Sprengkörper werden jährlich
produziert. Sie funktionieren, nach einem ersten Anstoß durch eine
Kernspaltung, darauf folgend auf dem nuklearen Kernfusions-Prinzip,
wobei Wasserstoff zu Helium umgewandelt wird, ähnlich wie das in
unserer Sonne geschieht.
Der Prozess generiert enorme Energiemengen. Kein anderes Instrument
erlaubt es uns, so viel Eis zu schmelzen, um der enormen Menge der
neuen Eisbildung entgegenzuwirken, die jeden Winter in den
antarktischen Gletscherregionen stattfindet. Diese Sprengkörper
werden immer mit dem Flakschiff unserer Eisbrecher-Flotte
transportiert, und danach mit ferngesteuerten Fluggeräten in das
jeweilige Einsatzgebiet weitertransportiert und dort zur Explosion
gebracht.
So eine Sprengung durchdringt hunderte von Metern Eis und bringt
dabei temporäre Flüsse hervor, die ins Meer fließen können. Ein
Instrument, das Eis in solcher Tiefe durchdringen kann, wird auch in
der Lage sein, Felsen zu durchdringen ebenso wie den Beton der
unterirdischen Anlage. Und mit seiner enormen Hitze wird es
sicherlich alle biologischen Waffen und deren Transportsysteme
zerstören.
Allerdings können wir die Effizienz dieses Sprengkörpers nicht
dahingehend limitieren, dass es nur diese unterirdische Anlage
zerstört. Wenn wir so einen Sprengkörper benutzen, dann wird dessen
Explosion ganz Nephilim City zerstören, und sogar einige der
umliegenden Dörfer.“
Ein anschwellendes Gemurmel konnte man jetzt durch die Halle brummen
hören, während die Kinder im Wohnzimmer einander sprachlos und
entsetzt anschauten.
Mr Nawakwi fuhr fort und hob die Stimme über den Lärm: „Die
Möglichkeit die thermonukleare Sprengung zu benutzen, wurde in den
letzten beiden Tagen überall auf dem Friedensnetz diskutiert. Und
von den Nachrichten, die ich erhalten habe, so wurde es auch hier in
Spesaeterna von einigen von Ihnen diskutiert, genau wie in tausenden
von anderen Dörfern.
Aber es wurde auch noch eine Alternative dazu vorgeschlagen. Es war
Mr Wang hier aus Ihrem Dorf, der diesen Alternativplan entwickelt
hat, nachdem er sich zuerst einmal der Mithilfe des jungen Jonathan
Galt versichert hatte. Mr Wang hat sich dafür mit vielen
Wissenschaftlern aus Dörfern in aller Welt in Kontakt gesetzt. Und
deshalb möchte ich Mr Wang jetzt bitten, Ihnen seinen Vorschlag zu
unterbreiten..“
Mr Nawakwi setzte sich hin. Doch noch bevor sich Mr Wang langsam von
der Bank erheben konnte, war Ms Alba, die Hope als Freundin ihrer
Großmutter kannte, bereits aufgestanden und begann mit fester und
bestimmter Stimme zu sprechen:
„Die
meisten hier in Spesaeterna haben Mr Wangs Vorschlag bereits gehört,
und die meisten von uns denken, dass es kein guter Plan ist. Er wird
unsere Probleme nicht lösen und die Bedrohung, unter der wir stehen,
nicht eliminieren. Es gibt zu viel Variablen darin, die wir nicht
akkurat einschätzen können.
Wenn etwas schiefgeht, wird die Welt in noch schlimmerer Gefahr sein
als jetzt bereits, während wir keinerlei Zeit haben würden, unsere
Verteidigungsmaßnahmen zu entwickeln, wie Mr Nawakwi es bereits
dargelegt hat.“
Jetzt stand Ms Keilar auf und wandte sich Ms Alba zu. Mit weit
festerer Stimme als zuvor erklärte sie: „Ms Alba, Sie haben Recht,
viele von uns haben die Grundaussagen von Mr Wangs Vorschlag bereits
gehört und diskutiert. Aber andere Leute haben das noch nicht,
genauso wenig, wie die Menschen, die diese Versammlung auf dem
Friedensnetz beobachten.
Und deshalb werden wir zuerst einmal Mr Wang erlauben, uns seine
Ideen zu präsentieren, und hinterher diskutieren wir darüber, ob
diese machbar sind. Mr Wang, Sie haben jetzt das Wort!“
Mr Wang stand jetzt vor seinem Pult. Er räusperte sich noch einmal,
bevor er begann: „In Kooperation mit einer Gruppe von
Wissenschaftlern aus 237 Dörfern aus mehreren Nationen haben der
junge Mr Jonathan Galt und ich einen Plan entworfen, wie wir uns vor
dem 90% Virus, wie er jetzt genannt wird, schützen können und wie
wir auch die Produktion von Drohnen, die diese infizierten Insekten
transportieren sollen, unterbrechen können.“
Das Räuspern hatte nichts geholfen, Mr Wangs Stimme war immer noch
rau, hart und brummig, als er weiter behauptete: „Wenn wir also
diese Alternative zur Verfügung, dann gibt es überhaupt keinen
Grund, mit dem wir den Einsatz der thermonuklearen Sprengung
rechtfertigen können. Es wäre ein fundamentaler Verstoß gegen das
Erste Prinzip.“
Ms Alba war wieder aufgesprungen und widersprach heftig: „Es würde
es nicht verletzen! Das Erste Prinzip verlangt, dass Menschenleben
respektiert und geschützt werden. Es stellt fest, dass alle Menschen
denselben Wert haben. Das bedeutet, natürlich, dass 10 Milliarden
Individuen -ein Drittel von ihnen versucht der ältere Mr Galt
übrigens vom Angesicht der Erde auszulöschen- mehr zählen als die
2 Millionen Individuen, die zur Zeit in Nephilim City leben, plus der
vielleicht eine Million, die in den umliegenden Dörfern von Orange
Country wohnen, die unter Umständen auch noch in Mitleidenschaft
geraten würden.“
Ms Keilar unterbrach: „Bitte, Ms Alba, Mr Wang hat seine
Präsentation noch nicht beendet. Mr Wang, würden Sie uns nun erst
einmal mit den Details ihres Vorschlags vertraut machen, später
können wir dann zu den moralischen Fragen übergehen.“
Ms Alba setzte sich, und Mr Wang nickte und begann dann seinen
Vorschlag im Detail darzulegen: „Worauf Mr Nawakwi bereits korrekt
hingewiesen hat, so werden die biologischen Waffen und die
Transportmittel für diese in einer unterirdischen Anlage entweder
produziert oder zumindest gelagert. Die Eingänge dort hinein werden
sowohl von bewaffneten Männern als auch von Computer-gesteuerten
Systemen geschützt. Nur diejenigen, die dort arbeiten haben Zugang
zu dieser Anlage, das sind ausschließlich Personen, die seit Jahren
in Nephilim City leben, und die von der transhumanistischen
Gesellschaft speziell selektiert wurden,.
Aber es gibt doch einen Menschen, den wir kennen und dem wir
vertrauen können, der in der Lage sein wird die Anlage zu betreten,
und Zugang zu jedem der Labore, der Lagerhallen und der Datenbanken
zu erhalten. Und das ist Jonathan Galt, der Sohn von John Galt, dem
Führer der transhumanistischen Gesellschaft.
Jonathans Abwesenheit von Orange Country ist noch nicht bemerkt
worden, und wird es auch nicht für die nächsten beiden Wochen.
Danach könnte er auf demselben Weg nach Nephilim City zurückkehren,
auf dem er gekommen ist.
Wenn er einmal innerhalb der Anlage ist, dann kann der junge Mr Galt
uns die Daten über den genetischen Aufbau der Insekten besorgen. Mit
diesen Informationen werden unsere medizinischen Wissenschaftler
wahrscheinlich bereits innerhalb weniger Tage in der Lage sein, ein
anti-virales Gegenmittel zu entwickeln. Unsere
Elektronik-Spezialisten werden in der Lage sein, elektro-magnetische
Schutznetze zu entwickeln. Die Informationen zu diesen werden dann an
alle Dörfer weitergegeben, so dass alle Wohnungseinheiten ihren
Insektenschutz entsprechend anpassen können.
Wir haben auch begonnen, einen Plan zu entwickeln, wie Jonathan Galt
eine weitere Produktion dieser biologischen Waffen unterbinden und
die Transportsysteme dafür sabotieren kann. Die Details werden von
unseren Mitarbeitern, die Biologen und
Informations-Technologie-Spezialisten sind, immer noch ausgearbeitet.
Aber alle Experten sagen uns gute Chancen für einen Erfolg voraus.
Die Unterbrechung der Produktionsarbeiten über viele Monate hin,
wird uns danach mehr als ausreichend Zeit lassen, unseren
Insektenschutz zu optimieren. Ebenso werden wir in dieser Zeit unsere
Satelliten-Beobachtungs-Techniken, so weit ausbauen können, dass wir
jedes getarnte Flugobjekt, das von Orange Country abhebt, mit
Sicherheit entdecken können. Außerdem werden wir daran arbeiten
unsere Laserinstrumente so zu modifizieren, dass sie solche
Flugobjekte sofort zerstören können.
Die mitarbeitenden technischen Ingenieure, unsere Laser-Spezialisten
und diejenigen Wissenschaftler, die auf Satellitentechnik
spezialisiert sind, stimmen alle darin überein, dass wir die
Sicherheitsvorkehrungen sehr zügig entwickeln könnten. Mit
unbegrenzten Ressourcen, die von allen Dörfern der Welt zur
Verfügung gestellt würden, könnten diese Verteidigungssysteme
innerhalb von etwa fünf Monaten völlig betriebsbereit sein, und
teilweise bereits innerhalb weniger Wochen.“
Jetzt machte Mr Wang eine kurze Pause. Dies gab Ms Alba die
Gelegenheit für eine Erwiderung: „Das klingt einfach zu
optimistisch, um realistisch zu sein. Zuerst einmal müssen wir uns
auf die unbewiesenen Behauptungen dieser namenlosen Wissenschaftler
verlassen, deren noch nicht getestete Methoden uns schützen sollen,
und zweitens hängt der ganze Plan zum allergrößten Teil auch noch
von einer einzigen Person ab. Und das ist dann auch noch jemand, den
wir erst seit ein paar Tagen kennen.
„Erinnern
wir uns daran, dass Luscinia Callahan, während der letzten
Versammlung, Nephilim City einmal die Hölle genannt hat. Wenn jener
Ort also die Hölle sein soll, könnten wir dann Jonathan Galt nicht
auch als den Sohn des Teufels ansehen?“
Das Gemurmel, das jetzt zu hören war, klang teilweise geschockt,
andererseits schwang aber auch etwas Zustimmung mit.
Ms Alba fuhr fort: „Zur Zeit sieht es aus, als ob dieser junge Mann
seine Leuten verrät und sogar seinen eigenen Vater. Woher wissen wir
denn, dass er es sich nicht im nächsten Augenblick anders überlegt,
und dann uns verrät?“
Nach diesem Kommentar von Ms Alba, sprang Jonathan Galt auf und
wartete kaum darauf bis sein Pult oben war, bevor er protestierte:
„Ich
betrachte die transhumanistische Gesellschaft nicht als meine Leute,
auch wenn mein Vater mich gezwungen hat, dort einzutreten. Ich sehe
Nephilim City auch nicht mehr als mein Dorf an, auch wenn ich dort
aufgewachsen bin. Und vor allem glaube ich nicht, dass ich meinem
Vater in irgendeiner Weise Loyalität schulde, obwohl er selbst das,
was ich hier tue, natürlich als Verrat ansehen würde.
Aber,
indem er meine Mutter von mir genommen und sie in diesem Venus
Projekt gefangen gehalten hat, damit hat er uns beide schon vor
langer Zeit verraten. Meine Loyalität gehört der Erinnerung an
meine Mutter, meiner Freundschaft zu Luscinia und außerdem der
gesamten Menschheit, die mein Vater in so große Gefahr gebracht hat.
Und ich hoffe, dass ich eines Tages Luscinias Reh-Hausgemeinschaft
als meine Gemeinschaft ansehen kann, und wenn Sie alle mich hier
akzeptieren, dass Spesaeterna dann mein Dorf werden wird.“
Jonathan Galt sah die Menschen um sich im Versammlungssaal bittend
an. Und damit wurde es ganz klar, dass seine Worte und seine
Einstellung ihm viele Pluspunkte eingebracht hat. Die Stimmung war
umgeschlagen. Er setzte sich wieder hin.
Ms Alba spürte, wenn sie den jungen Mann weiter direkt angriff, dann
würde das ihrer Argumentation nur schaden, und so versuchte sie
einen anderen Ansatz:
„Selbst
wenn der junge Jonathan Galt sein Bestes geben wird, um in die Anlage
einzudringen, und uns die Informationen zu besorgen, die wir
benötigen, dann können wir nicht wissen, ob er nicht bereits längst
unter Verdacht steht. Seine Abwesenheit könnte bereits bemerkt
worden sein, oder jemand könnte entdeckt haben, dass er bei seiner
Mutter war, als sie starb. Und selbst wenn er ungehindert
hineinkommt, könnte er bei dem Versuch an die Daten zu gelangen oder
die Produktion zu sabotieren, entdeckt werden. Es gibt so viele
Möglichkeiten, wie die Pläne für diesen einzelnen jungen Mann
fehlschlagen könnten. Und wenn das geschieht, können wir mit einem
unmittelbaren Angriff rechnen, einem Angriff, auf den wir nicht
vorbereitet sind und vor dem wir uns nicht schützen können.“
Mr Wang unterbrach: „Jonathan Galt wird nicht allein sein. Ich
werde mit ihm gehen, und es haben sich bereits mehrere weitere
Freiwillige gemeldet.
Bei dieser Operation planen wir außerdem so viele Frauen aus den
Venus Projekten zu befreien, wie wie nur irgendmöglich. Wir haben
uns mit den Dörfern in Verbindung gesetzt, die in den letzten paar
Jahren Frauen nach Orange Country geschickt haben. Sie alle sind
bereit ihre ehemaligen Bürgerinnen wieder einzubürgern.
Wir werden Jonathan auch dabei helfen, Natsukis Eltern zu evakuieren,
zusammen mit allen anderen Leuten, die Jonathan und Luscinia geholfen
haben. Denn diese Leute würden in tödliche Gefahr kommen, wenn wir
den zweiten Teil unseres Planes umsetzen, nämlich Orange Country
wieder ans Friedensnetz anzuschließen.“
Mit dieser Enthüllung verlor Ms Alba völlig ihre Fassung:
„Was
sagst du? Hast du völlig den Verstand verloren? Ist dein Geist
halbwegs zum Himmel gegangen, oder sollte ich eher sagen halbwegs zur
Hölle?“
Ms Alba war nicht die Einzige, die schockiert war. Ein älterer Mann,
ein Mr Bayne, stand auf und fragte Mr Wang aufgeregt: „Erinnerst du
dich denn nicht, Lee, warum Orange Country damals vom Friedensnetz
abgeschnitten wurde?“
„Ich
erinnere mich“, antwortete Mr Wang.
Mr Bayne fuhr in erregtem Ton fort, während er mit seinen Hände
gestikulierte: „Diese Bildergeschichten, diese furchtbaren
Bildergeschichten aus den Dunklen Zeiten, die haben sie immer noch
dort. Luscinia Callahan hat uns von ihnen erzählt.
Historische Wissenschaftler wie ich, haben über das Phänomen
geforscht, dass innerhalb einer einzigen Generation in den Dunklen
Zeiten, die Kulturen der meisten Nationen so verändert wurden, dass
den Menschen in diesen nichts anderes mehr wichtig zu sein schien als
der Schutz von Paarwerdungsrechten. Selbst das Recht auf Leben wurde
damals zweitrangig. Diese Bildergeschichten kombiniert mit den
Hormonverwirrungen der Jugendlichen waren die Ursache. Wenn wir das
Friedensnetz für Orange Country öffnen, dann werden in dreißig
Jahren alle unsere Dörfer wie Nephilim City aussehen.“
„Ja,
Mr Bayne“, erwiderte Mr Wang auf seine normale brummige Art, „Sie
haben diese Theorie in der Vergangenheit häufig mit mir diskutiert.
Aber ich habe seitdem auf dem Friedensnetz nachgeforscht, und habe
herausgefunden, dass dort eine andere Theorie vorherrscht wird.
In dieser Theorie erklären einige historische Wissenschaftler, dass
die kulturellen Veränderungen nicht durch die Bildergeschichten
kombiniert mit Hormonverwirrungen verursacht wurden, sondern durch
die Machtstrukturen der Dunklen Zeiten. Es waren die Machtstrukturen,
die mittels multi-nationaler Informationsbüros, Massenmedien
genannt, die fundamentalen Ideen von vielen Gesellschaften der
Dunklen Zeiten veränderten.
Diese Bildergeschichten waren nur ein probates Mittel zum Zweck,
diese Gesellschaften in einer permanenten Jugendverwirrung zu halten.
Es war eine wohlüberlegte Strategie, die Paarwerdungsrechte als die
einzigen von Wert darzustellen. Diese Bedingungen sollten dann zum
ultimativen Ziel einer Strategie der damaligen Machteliten führen,
nämlich der emotional zurückgebliebenen Bevölkerung alle anderen
Rechte zu entziehen, einschließlich des Rechts auf Leben und des
natürlichen Rechts sich fortzupflanzen zu können. All diese
normalen Rechte sollten dann in Privilegien umgewandelt werden, die
mächtige Herrscher, die sich hinter den zentral-gesteuerten
Bürokratien versteckten, nur noch ausgewählten Individuen
zuerkennen würden.
Obwohl diese Pläne niemals zur Ausführung gelangten, wurden die
Paarwerdens-Rechte doch für eine Zeit lang zum Deckmantel für den
Kampf gegen viele ärmere Nationen, während den Bürgern einiger
reicherer Nationen das illusorische Gefühl gegeben wurde, dass sie
frei seien. Diese angeblichen Rechte gaben den Bevölkerungen dieser
Nationen dann das Gefühl einer Überlegenheit über andere Nationen,
die weniger Paarwerdens-Rechte hatten. Oft wurden sie sogar zum
Vorwand genommen, Hass und Feindschaft gegen diese anderen Nationen
zu schüren.“
Den nächsten Punkt betonte Mr Wang: „Wir leben aber nicht mehr in
den Machtstrukturen der Dunklen Zeiten und auch nicht in denen von
Orange Country. Selbst wenn ein paar Bildergeschichten aus den
Dunklen Zeiten, irgendwann einmal durch das Friedensnetz geistern
würden, dann würde das trotzdem unser Denken nicht fundamental
verändern, nicht einmal das von Jugendlichen.
Wir haben unsere jungen Leute von klein auf Verantwortung gelehrt.
Während Hormon-Fluktuationen öfters mal kleinere Probleme
verursachen, so sind die meisten unserer Jugendlichen heutzutage weit
reifer als die meisten Erwachsenen der Dunklen Zeiten. In der Tat bin
ich so von der Reife unserer jungen Leute überzeugt, dass ich
vorschlagen würde, ihnen noch mehr Verantwortung zu geben und sie an
den Dorfratsversammlungen teilnehmen zu lassen.“
Mr Bayne protestierte: „Ich muss dir sagen, Lee, ich meine Mr Wang,
dass ich die von Ihnen erwähnten Theorien zutiefst ablehne...
Eine Frau mittleren Alters in einem hellgrünen Outfit unterbrach
ihn. Ihr Name war an der Projektionswand als Ms Talim angegeben, und
Hope wusste, dass sie eine Haupteigentümerin der größten
Produktionsanlage Spesaeternas war. „Zur Zeit können wir nicht
feststellen, welche der Theorien die richtige ist, Ihre Mr Wang oder
Ihre Mr Bayne, aber es scheint mir einfach keinen Sinn zu ergeben,
dieses Risiko einzugehen und das Friedensnetz für Orange Country zu
öffnen. Was würden wir dabei gewinnen?“
Mr Wang verteidigte seine Idee: „Der Gewinn wäre, dass die
Vernunft wieder nach Nephilim City einkehren könnte. Ich bin davon
überzeugt, dass es genau hier war, in der 'äußeren Welt' , wie
Leute aus Orange Country uns nennen, wo das Problem, das uns jetzt
alle bedroht, eigentlich erzeugt wurde.
Indem wir die Menschen von Orange Country von uns abgeschnitten
haben, haben wir sie auch von unserer Art zu denken und zu
argumentieren ausgeschlossen. Und indem wir alle erwachsenen
Regelbrecher dorthin geschickt haben, haben wir doch selbst den
Druckkessel geschaffen, der uns jetzt droht, um die Ohren zu fliegen.
Wenn wir das Friedensnetz für die Menschen von Nephilim City öffnen,
dann werden wir die Gelegenheit für sie schaffen, den Druck zu
vermindern und Dampf abzulassen. Oder in ganz einfachen Worten, sie
werden mit uns sprechen können und wir mit ihnen.“
„Und
glauben Sie wirklich“, Ms Talims Ton deutete an, dass sie starke
Zweifel an dieser Möglichkeit hatte, „dass jemand wie John Galt
nur durch Reden, seine Meinung ändern würde?“
Mr Wang schüttelte den Kopf: „Wahrscheinlich nicht, aber er ist ja
nicht allein dort. Wenn die Leute aus den Dörfern von Orange Country
einmal erfahren, dass die transhumanistische Gesellschaft geplant
hatte, biologische Waffen gegen sie einzusetzen, dann wird es von
dort Widerstand geben. Und Widerstand wird es vermutlich auch geben,
wenn die Menschen von Nephilim City selbst erfahren, dass als
Reaktion auf die Angriffspläne der transhumanistischen Gesellschaft,
ihre ganze Stadt Gefahr läuft zerstört zu werden. Vielleicht wird
es sogar Widerstand innerhalb der Sicherheitsfirmen dort geben.“
„Ja,“,
meinte Ms Talim, „das könnte dort relevante Veränderungen nach
sich ziehen, vielleicht aber auch nicht. Sie können das nicht
garantieren, oder doch?“
Jetzt war ein Mr Jennings aufgestanden: „Und während wir auf die
Veränderungen warten, die vielleicht oder vielleicht auch nicht in
Nephilim City herbeigeführt werden, wird dieses Damokles-Schwert
vielleicht für immer über uns hängen.“
Mr Wang widersprach dieser düsteren Zukunftsvision: „Nicht für
immer! In 50 oder 60 Jahren wird Nephilim City praktisch ausgestorben
sein. Fast alle Frauen waren über 25 Jahre alt, als sie dort
hingeschickt wurden. Dann wurden ihnen in den Venus Projekten fünf
Jahre lang Chemikalien injiziert, so dass kaum eine von ihnen mehr in
der Lage sein wird, Kinder zu haben, entweder weil sie zu alt wird
oder wegen teilweiser oder völliger Unfruchtbarkeit.
Luscinia und Jonathan haben mir erzählt, dass sie nur wenige Kinder
in Nephilm City gesehen haben. Und da wir keine Exilanten mehr dort
hinschicken werden, wird der Ort natürlicherweise in ein paar
Jahrzehnten ausgestorben sein.“
„Und
in der Zwischenzeit“, rief Mr Jennings erregt, „da brüten diese
Transhumanisten ein paar Tausend oder Millionen von diesen kleinen
Alpha-Monstern aus!“
„Das
ist ziemlich unwahrscheinlich, Mr Jennings“, widersprach Mr Wang
auch dieser Vorhersage. „Nach dem, was die Wissenschaftler
erklären, die die Daten von den Gen-Manipulationen der Dunklen
Zeiten ausgewertet haben, sind diese künstlichen Mutations-Prozesse
ziemlich unvorhersehbar und kaum zu steuern. Wir wissen, dass John
Galt seine ersten Menschenversuche bereits vor über 35 Jahren in
seinem eigenen Dorf unternommen hat. Er hat also so lange gebraucht,
um ein einziges überlebensfähiges Baby zu erzeugen. Es könnte
ebenso lange für das nächste dauern.“
Mr Jennings war nicht überzeugt: „Vielleicht... vielleicht geht es
aber auch sehr viel schneller. Aber Sie haben ihn doch gehört,
dieses kleine Monster hat die Intelligenz von zehn normalen Menschen.
Was ist wenn es diese Intelligenz dazu benutzt, unsere Verteidigung
gegen den 90%Virus zu unterlaufen? Was wenn ein neuer Virus von ihm
hergestellt wird, der noch schlimmer ist. Was ist wenn diese
Intelligenz-Bestie sich noch weitaus tödlichere Waffen gegen uns
ausdenkt?“
„Aber
das ist doch nur ein Baby, ein einziges kleines Baby“, brummte Mr
Wang.
Er versuchte ein realistischeres Bild der Angelegenheit gegen die
Panikmache zu geben: „Selbst wenn die Transhumanisten es schaffen
würden, tausende von diesen Babies herzustellen, jedes einzelne
zehnmal intelligenter als ein normaler Mensch, dann wird trotzdem die
kollektive Intelligenz von Milliarden ganz normaler Menschen die
Intelligenz dieser paar wenigen genmanipulierten Kinder millionenfach
übertreffen.“
„Es
ist doch kein menschliches Kind, Mr Wang!“ brüllte Mr Jennings
jetzt völlig aufgewühlt. „Es ist etwas anderes. Sie haben John
Galt gehört. Dieses Ding hat ein extra Paar Chromosomen. Er nannte
es post-human, ich nenne es ein Monster.“
„Nein,
da muss ich widersprechen“, Mr Wang blieb ungerührt. „Dieses
Baby ist ein Mensch, wie John Galt es nennt, ist völlig irrelevant.
Überall auf der Welt gibt es Babies mit Chromosomen-Anomalitäten,
meist mit der Trisomie 21, das ist ein extra 21. Chromosom. Trotzdem
sind sie nicht weniger menschlich.
„Das
ist etwas anderes, dieses dort wurde extra dafür gemacht, dass es
die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, nicht mehr hat, ein
herzloses Monster,“ widersprach Mr Jennings noch einmal.
Mr Wang gab seiner Stimme jetzt einen ungewöhnlich sanften Klang:
„Es ist traurig, dass diesem kleinen Junge, absichtlich solche
Beschränkungen auferlegt wurden. Aber ich weiß, Mr Jennings, dass
solidarisches Verhalten zwar ein Resultat von Gefühlen sein kann,
aber nicht unbedingt sein muss. Es kann auch das Resultat von
logischem Denken sein. Eine Gesellschaft, der es an Solidarität
untereinander mangelt, ist instabil und immer am Rande der
Selbstzerstörung. Wenn dieser kleine Junge wirklich so intelligent
ist, wie John Galt behauptet, wird er das bald selbst herausfinden.
„Aber“,
warf Ms Alba ein und übernahm wieder die Führung der Gegenseite,
„John Galt und seine Transhumanisten sind sicherlich nicht
intelligent genug dafür, obwohl sie dann doch intelligent genug
dafür waren, Waffen zu erfinden, die uns alle auslöschen können.
Dann fasste sie zusammen: „Mr Bayne hat Recht, das Friedensnetz für
Orange Country zu öffnen, ist in vieler Hinsicht gefährlich. Es
würde nicht nur unsere Art zu leben riskieren, sondern zu diesem
Zeitpunkt sogar unser Überleben selbst in Frage stellen. Denn Ms
Talim hat auch Recht, nichts könnte bei so einem riskanten Maneuver
gewonnen werden, stattdessen würden wir uns alle in Gefahr bringen.
Wenn das Friedensnetz einmal für die dort geöffnet würde, dann
könnten sie alle Pläne für unsere Verteidigung einsehen und neue
Arten finden, uns zu zerstören.
Und auch Mr Jennings hat Recht: Nephilim City ist ein Damokles
Schwert, das über der gesamten Welt hängt, eines das entfernt
werden muss, bevor es auf uns alle fällt!“
„Und
doch Ms Alba“, erwiderte Mr Wang, „ haben wir uns dieses Schwert
selbst erzeugt. In all den Jahren meines Lebens wurden nur zwei Leute
von Spesaeterna nach Orange Country ins Exil geschickt, eine von
ihnen war Luscinia Callahan, die niemals hätte dorthin geschickt
werden sollen, da sie viel zu jung war.
In anderen Dörfern ist es ähnlich, ein oder zwei Leute, vielleicht
drei, wurden innerhalb der letzten 70 Jahre permanent ins Exil
geschickt. Hätten wir nicht einen anderen Weg finden können, mit
diesen wenigen Leuten umzugehen? Hätten wir nicht temporäres Exil
versuchen können, wie bei den Jugendlichen?
Wenn wir den Exilanten eine Chance gegeben hätten, nach Hause
zurückzukehren, dann wären sie nie so stark von der Kultur der
Dunklen Zeiten beeinflusst worden. So etwas wie ein Venus Projekt
wäre niemals erfunden worden. Männer hätten nie einen so großen
Hass gegen Frauen entwickeln oder zumindest nie so viel Macht über
sie erlangen können, dass sie ihnen so furchtbar Gewalt hätten
antun könnten, wie das mit Luscinia Callahan geschehen ist.
Machtstrukturen, wie wir sie dort in Nephilim City sehen, hätten
niemals entwickelt werden können, wenn die Leute unter uns gelebt
hätten. Und die transhumanistische Gesellschaft wäre vermutlich
auch nie gegründet worden.
Und wenn ich so recht darüber nachdenke, was wäre eigentlich
geschehen, wenn wir John Galt erlaubt hätten, weiter von seinen
Sterne zu träumen? Wäre er dann trotzdem in diesen dunklen Abgrund
geraten, in den er jetzt ganz Nephilim City hinein geführt hat? Wer
weiß, vielleicht nicht...
Erinnerst du dich noch Patricia, ich meine Ms Alba, wie dieser junge
Mann damals vor so vielen Jahren nach Spesaeterna kam, so voller
Enthusiasmus, und wie er damals versuchte uns von seinen
Raumfahrt-Plänen zu überzeugen und unsere Unterstützung dafür zu
bekommen? Und weißt du noch, wie wir ihn dann schroff zurückgewiesen
und seine Ideen verächtlich niedergemacht haben. Sie seien
undurchdacht haben wir gesagt, und dass jede Art von Raumfahrt
sowieso nichts als pure Verschwendung sei.“
„Ja,
ich erinnere mich noch ziemlich geanu“, bestätigte Ms Alba, „und
ich erinnere mich auch noch daran, dass dieser John Galt schon damals
ein arroganter junger Mann war, der keinen Wert darauf legte,
irgendeine andere Meinung zu hören als seine eigene. Und seine Pläne
auszuführen, wäre in der Tat eine Verschwendung von Resourssen
gewesen für etwas, die keinem nützlichen Zweck gedient hätten.
„Aber
es waren Träume, Patricia, Träume“, bemerkte Mr Wang sanft.
„Einige Leute brauchen Träume, und sie sollten sie haben dürfen,
gleichgültig wie nutzlos sie anderen erscheinen. Vielleicht ist es
an der Zeit, wieder einmal zu träumen.“
Im Augenblick hatte Ms Alba keinerlei Zeit für Träume: „Und dann
begann John Galt davon zu träumen, eine neue humanoide Rasse zu
erschaffen, und dafür dann die alte zu zerstören. Würdest du ihn
auch in diesem Traum unterstützen?“
„Unsinn“,
Mr Wang hörte sich jetzt doch verärgert an. „Was ich damit
gemeint habe, ist nur, dass wir alle die Bedingungen dafür
geschaffen haben, die genau zu diesem Problem geführt haben, mit dem
wir jetzt konfrontiert sind. Und wir müssen einfach einen ethischen
Weg finden, damit umzugehen.“
„Wir
können die Vergangenheit nicht ändern“, stellte Ms Alba fest.
„Wie müssen mit dem umgehen, was jetzt ist. Und gerade jetzt sind
wir in großer Gefahr, und es gibt nur einen sicheren Weg, diese
Gefahr auszuschalten, und uns selbst, unsere Kinder und unsere
Enkelkinder zu schützen.“
Hope's Großmutter sprang jetzt auf: „Aber dort gibt es doch auch
Kinder, Patricia, ich meine Ms Alba, unschuldige Kinder!“
Jetzt unterbrach Ms Higgins, eine andere Freundin von Hope's
Großmutter: „Aber Faith, Mr Wang hat doch selbst gesagt, dass dort
in Nephilim City nicht viele Kinder geboren werden.“
Hope's Großmutter redete ohne Pause weiter: „Und dort gibt es auch
Frauen, Frauen, die unschuldige Opfer dieser ganzen Unterdrückung an
diesem Ort sind, so wie unsere Luscinia!“
„Nicht
unschuldig, Ms Morgan, wie Sie genau wissen“, Ms Higgins hörte
sich nicht mehr so an, als ob sie mit einer Freundin redete. „Die
sind alle Exilanten, Regelbrecher wie Luscinia Callahan... oder hast
du vergessen, was sie getan hat?“
Jetzt war Mr Callahan hochgesprungen, rot im Gesicht vor Wut. Aber
bevor er noch etwas sagen konnte, begann Mr Wang wieder zu reden:
„Wir
glauben nicht, dass Regelbrecher getötet werden sollten, wie das in
den Dunklen Zeiten gemacht wurde. Und Ms Higgins, sagt Ihre Religion
nicht, dass man denen vergeben soll, die falsch gehandelt haben?“
Ms Higgins schüttelte den Kopf: „Die christliche Religion hindert
uns nicht daran, uns selbst zu verteidigen. Ich glaube, dass Gott uns
jetzt diese Information gegeben hat und deshalb auch die Möglichkeit
uns vor der Zerstörung zu schützen. Und in der Bibel gibt es eine
Stelle, die spricht von den Ammonitern, einem Volk das so böse war,
dass es dafür keine Gnade und Vergebung geben konnte, böse bis zu
dem Punkt, dass Gott befahl dieses Volk gewaltsam auszurotten.“
Hope's Großmutter schüttelte den Kopf und sagte: „Die meisten
Theologen interpretieren diese Bibelstelle heutzutage völlig anders.
Mein Bruder sagt...“
Ms Higgins unterbrach sie: „Ihr Bruder, Ms Morgan? Ist das nicht
der, der einmal der beste Freund von diesem John Galt war, selbst ein
Wissenschaftler, hat er nicht an denselben Dingen mit diesem
gearbeitet? Natürlich würde er seinen alten Freund unterstützen
und retten wollen, sogar auf Kosten des Lebens und der Sicherheit von
allen anderen.“
Jetzt war Hope völlig geschockt, sie hatte beinahe vergessen, was
ihr der Großonkel vor Jahren erzählt hatte. Aber es konnte keinen
Zweifel darüber bestehen, dieser Mann in Nephilm City war derselbe
John Galt, der einmal der Freund ihres Großonkels gewesen war. Hope
schauderte vor Entsetzen.
Aber wie konnten die Leute ihren Großonkel für für John Galt's
Taten verantwortlich machen, nur wegen einer Freundschaft, die vor so
vielen Jahren geendet hatte? Jetzt erkannte Hope, was er damit
gemeint hatte, dass die Leute ihm nicht zuhören würden.
Hope sah sich um und ihre eigenen Freunde an. Die vermieden es alle,
sie anzuschauen, alle außer Ameenah. Diese saß neben Hope und
flüsterte ihr ins Ohr: „Professor Morgan ist ein guter Mensch. Ich
weiß das.“
Hope wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schirm zu, um jetzt zu
entdecken, dass ihre Großmutter inzwischen weinte, und ihr Großvater
brüllte: „Wie können Sie es wagen, Ms Higgins?! Sie, die so oft
bei uns zuhause gewesen sind, Sie, von der meine Frau dachte, dass
Sie Ihre Freundin seien, wie können Sie es wagen, anzudeuten, dass
mein Schwager...“
Ms Higgins, die jetzt selbst rot im Gesicht geworden war vor Wut,
antwortete nicht, stattdessen wandte sie sich wieder Mr Wang in einem
Ton zu, der am Anschlag war: „Und wo Sie mich auf meine Religion
hingewiesen haben, Mr Wang, da sollte ich mich auch daran erinnern,
was ich über Ihre weiß. Könnte es sein, dass Sie nur deshalb
nichts auf die Sicherheit und das Leben von uns allen geben, weil in
Ihrer Religion ein Menschenleben keinen großen Wert hat? Nach einem
schiefgegangenen Leben, drehen Sie sich einfach um, werden
wiedergeboren und probieren es noch mal. Das könnte neu für Sie
sein, aber für uns gibt es nur eine Chance es richtig zu machen, und
wir haben nicht vor uns diese Chance verkürzen zu lassen!“
Nach dieser Anklage sprangen etwa 30 Leute aus ihren Sitzen, und alle
schrien zu selben Zeit irgendetwas. Und eine Sekunde später waren es
noch einmal 50, die aufgesprungen waren.
Die Projektionswand hinter ihnen war jetzt so voll, dass die
Buchstaben der Namen derer die dort standen nicht mehr voneinander
unterschieden werden konnten. Der Ton, der aus all den Lautsprechern
kam, war ohrenbetäubend.
Am Ende war dann noch der durchdringende Ton einer Glocke zu hören,
die sogar das Stimmengewirr übertönte.
Die Stille danach war dick angefüllt mit Zorn. Nur noch eine Stimme
durchbrach diese Stille, es war die von Ms Keilar, die befahl:
„Alle
setzen sich jetzt hin, bitte! Jetzt sofort!“
Widerwillig gehorchten die Stehenden. Nur Ms Keilar selbst blieb
hinter ihrem Pult stehen.
Ihre Stimme hörte sich jetzt entschieden autoritär an: „All dies
hier ist gegen unsere wichtigsten Regeln. Wir attackieren Leute nicht
persönlich auf unserer Dorfratsversammlung. Auch unterstellen wir
anderen Bürgern nicht irgendwelche Gedanken und Absichten, die sie
nicht ausgesprochen haben. Und mit absoluter Sicherheit machen wir
keine negativen Bemerkungen über die Religion anderer Leute. Das
letztere ist ein zu ahndender Fall schwerwiegenden Regelbruchs,
außer, wenn Sie, Ms Higgins, und Sie ebenso, Mr Wang, sich auf der
Stelle dafür entschuldigen.“
Mr Wang war der erste, der aufstand: „Es tut mir wirklich leid, Ms
Keilar, und meine tiefste Entschuldigung Ms Higgins, dass ich diese
Sache zu einer religiösen gemacht habe. Ich hoffe Sie werden mir
vergeben.“
Ms Higgins stand jetzt auch, immer noch rot im Gesicht, doch jetzt
eher aus Scham als vor Wut. Sie akzeptierte die Autorität von Ms
Keilar und sagte förmlich: „Ich nehme Ihre Entschuldigung an, Mr
Wang, und ich bitte Sie auch um Vergebung, ebenso wie Sie Ms Keilar.
Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, ich war einfach nur so
besorgt.“
Ms Keilar erklärte: „Ihre Entschuldigungen wurden akzeptiert. Und
im Augenblick sind wir alle sehr besorgt, Ms Higgins. Aber das darf
die Einheit unseres Dorfes nicht gefährden.“
Nun konnte man ein Murmeln der Zustimmung hören, wenn auch ein
zögerliches.
„Und
jetzt Mr Wang“, fuhr Ms Keilar fort, „sind Sie zum Ende der
Präsentation ihrer Pläne und der dafür sprechenden Argumente
gekommen?“
Mr Wang schüttelte den Kopf: „Ich bin fast fertig, aber mit Ihrer
Erlaubnis, Ms Keilar, möchte ich noch zwei Punkte hinzufügen: In
den letzten paar Tagen habe ich viele Male in unserem Dorf und auch
von den Bürgern anderer Dörfer auf dem Friedensnetz gehört, dass
es jetzt 'wir oder sie' sind.
Genau diese Einstellung ist es, die alle Kriege der Dunklen Zeiten
und ebenso ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten kontrolliert haben.
Erst als diese dualistische Ideologie von 'entweder wir oder die
anderen' überwunden wurde, und zwar von der Einstellung an 'wir alle
zusammen', wir alle gehören zur selben Menschheitsfamilie, da sind
die Dunklen Zeiten Geschichte geworden, und unser Zeitalter des
Friedens konnte aufsteigen, basierend auf dem Erste Prinzip.
Und das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Wenn wir Nephilim City
mit Hilfe einer thermo-nuklearen Sprengung zerstören, mit all den
Menschen dort, dann ist das, gleichgültig wie sehr wir das vor uns
selbst auch verleugnen würden, die ultimative Verletzung des Ersten
Prinzips. Dieses stellt ganz klar fest, dass menschliches Leben
heilig ist und immer beschützt werden muss. Wenn wir diese Menschen
auslöschen, dann löschen wir unsere eigene Grundlage aus.
Dass wir uns seit fast zwei Jahrhunderten immer an dieses Erste
Prinzip halten, hat uns ein tiefes Vertrauen zueinander geschenkt,
selbst zu Menschen, die an den Orten leben, die am weitesten von
unserem entfernt sind. Dieses Vertrauen erlaubt es uns auch,
großzügig zu sein ohne befürchten zu müssen, dass wir selbst
dabei etwas verlieren. Und ebenso erlaubt es uns, alle
Meinungsverschiedenheiten durch Geduld und Dialog zu überwinden.
Aber wenn wir versuchen, unsere Welt und unsere Lebensweise auf eine
so mörderische Art zu bewahren, dann werden wir am Ende beides
verlieren, Vertrauen zueinander und unsere Lebensweise. Das ist es,
was ich in unserer Zukunft sehe.“
Ms Alba war auch wieder aufgestanden. Sie redete jetzt sanft und in
vernünftigem Ton: „Ich kann Ihre Ängste verstehen, Mr Wang, aber
was Sie glauben vorauszusehen, ist nichts als ein vages Gefühl ohne
ein vernünftiges Argument dahinter.
Wie Sie ja selbst es erklärt haben, so verlangt das Erste Prinzip
den Schutz des menschlichen Lebens, aber es erklärt auch, dass alle
Menschen von gleichem Wert sind. Das Leben von 10 Milliarden
Menschen, die heute auf der ganzen Erde leben, vor der Todesgefahr zu
schützen, die von nur 2 Millionen Regelbrechern, die in Nephilim
City leben, ausgeht, ist ein Akt der Selbstverteidigung und würde
niemals Mord genannt werden.
Deshalb ist es auch keine Verletzung des Ersten Prinzips. Es wird
darum nicht zu einem Verlust von Großzügigkeit, Geduld oder
Vertrauen führen. Es wird keinen Einfluss haben auf unsere
Fähigkeit, miteinander zu sprechen. Nichts wird sich ändern!
Allerdings, wenn wir aber in ständiger Angst leben müssten, das
könnte leicht den Verlust des Vertrauens nach sich ziehen.“
Man konnte nun sehen, wie Ms Keilar auf Mr Avineshwaran hörte, den
zweiten Repräsentanten des Internationalen Hilfskongress, der ihr
etwas ins Ohr flüsterte. Sie nickte und begann zu sprechen:
„Es
sieht so aus, als ob die Argumentation heute Abend nicht
abgeschlossen werden kann. Mr Avineshwaran hat mich über den
Beschluss des Internationalen Hilfskongresses informiert, von dem er
gerade unterrichtet wurde. Es wird gebeten, dass in drei Tagen eine
weitere Dorfratsversammlung hier in Spesaeterna abgehalten wird. Auch
diese Versammlung sollte am besten live über das Friedensnetz
übertragen werden.
Dabei sollten Mr Wang und Ms Alba ihre Argumente noch einmal
vortragen, ebenso wie jegliche weiteren Argumente, die bis dahin
durch Diskussionen auf dem Friedensnetz aufkommen werden. Danach wird
es eine 24-stündige Periode für weitere Diskussionen innerhalb der
Dörfer der Welt geben, an dessen Ende zur Abstimmung aller Bürger
in allen Dörfern außerhalb Orange Country über diese beiden
Vorschläge aufgerufen wird.“
Mr. Avineshwaran flüsterte noch etwas in Ms Keilars Ohr. Dieses Mal
sah sie überrascht aus, nickte jedoch und redete weiter:
„Es
wurde auch beschlossen, dass es wegen des großen Zeitdrucks, da die
Herrscher von Nephilim City Verdacht schöpfen und darum früher
zuschlagen könnten, nicht zu den gewöhnlichen Wiederholungen der
Abstimmung und Diskussionen kommen kann, wenn die 95% Zustimmung beim
ersten Mal nicht erreicht werden sollte.
Es wird daher nur eine einzige Abstimmung durchgeführt werden. Und
derjenige der beiden Pläne, welcher mehr als 50% der Stimmen erhält,
wird ausgeführt werden.“
Während ein Gemurmel sich im Saal erhob, verblasste die Szene vor
Davids Augen, um wieder Platz für die Hope zu machen, die neben
David traurig und voller Angst auf der Bank saß.
So das war es also. Das war die Last, die so schwer auf Hope's Gemüt
gelegen hatte, seit David sie kannte. Er dachte, dass es eigentlich
erstaunlich war, dass sie, die sich um solche Turbulenzen Zuhause
Sorgen machen musste, trotzdem noch so viel Interesse an David und
seiner Welt zeigte.
„Was
meinst du, wie die Leute sich entscheiden werden“, fragte David
sanft.
„Sie
werden Ms Alba folgen“, antwortete Hope traurig. „In unserem Dorf
und über das ganze Friedensnetz fragen die Leute einander
gegenseitig, wie sie abstimmen werden. Und es ist fast überall das
Gleiche. Von 10 Leuten werden 7 oder 8 für Ms Alba stimmen und nur 2
oder 3 für Mr Wang.“
„Und
was denkst du“, fragte David in einem noch vorsichtigeren Ton.
Hope seufzte: „Ich kann verstehen, warum so viele Ms Alba folgen
und entscheiden wollen, die thermonukleare Sprengung zu benutzen. Sie
haben einfach Angst, so fürchterliche Angst davor zu Opfern zu
werden. Und ich habe auch Angst.“
„Und
trotzdem“, sagte sie nach kurzem Zögern, „glaube ich, dass Mr
Wang Recht hat. Wenn wir sie dort töten, dann zerstören wir
vielleicht uns selbst auf eine andere Art, weil wir das Erste Prinzip
verletzen.“
Hope seufzte noch einmal und noch tiefer: „Und dann ist da Mama,
meine eigene Mutter. Als ich letzte Nacht hierher kam und dir von
meiner Mama erzählt habe, die auf einer Kampfmission ist, da
dachtest du, dass sie dort Menschen bombardiert und tötet. Und das
ist genau das, was sie jetzt tun wird. Sie wird verantwortlich sein
für den Tod von 2 Millionen Menschen oder mehr.“
David schüttelte seinen Kopf: „Ich dachte zuerst, sie sei eine
Soldatin, bis du mir das mit dem Kampf gegen die Eiszeit erklärt
hast. Und jetzt, nehme ich mal an, ist sie wirklich so etwas wie eine
Soldatin geworden. Aber sie ist eine von vielen, und was auch immer
geschieht, es wird nicht ihre Verantwortung sein.“
„Du
verstehst das nicht, Onkel David“, widersprach Hope, „es wird in
der Tat ihre Verantwortung sein.
Es war nämlich, nachdem ich das Opferszenario letztes Jahr
durchlaufen hatte, da begann meine Mama für Eisbrecher Missionen zu
trainieren. Das sei meinetwegen, hat sie damals gesagt. Weil ich so
tapfer war, und sie müsste auch tapfer sein, und das Andenken an
Papa ehren.
Und dann hat sie in allen Disziplinen trainiert und trainiert und
trainiert, und danach hat sie alle notwendigen Tests bestanden und
Qualifikationen erhalten. Und nachdem sie sich auf eine Liste für
Projekt-Leiter eingetragen hatte, da hat jemand vom Internationalen
Hilfskongress ihren Namen entdeckt. Und weil sich seit dem Unfall
meines Vaters so viel weniger Freiwillige für die Eisbrecher
Missionen gemeldet haben als früher, darum wurde entschieden, dass
es ein gutes Vorbild abgeben würde, wenn die Witwe des verstorbenen
Projekt-Leiters zur Hauptorganisatorin auf dem Flakschiff der
Eisbrecher Flotte würde.
Und das ist meine Mama jetzt, die Hauptorganisatorin der gesamten
Eisbrecher Flotte. Die thermonuklearen Sprengkörper sind auf ihrem
Schiff gelagert, und sie müsste den Abschussbefehl für die
Flugkörper geben.“
David sah Hope voller Verwunderung an: „Deine Mutter, die Näherin,
ist jetzt die Kommandantin der Welt-Marine?“
Hope zuckte mit den Achseln: „Ich denke, so würde man sie in
deiner Zeit vielleicht nennen.“
David erkannte, dass dies nicht etwas war, worauf Hope stolz war.
Sie erzählte einfach weiter: „In den letzten Tagen habe ich viele
Male versucht, Mama anzurufen. Aber sie hat meistens nur
Textbotschaften zurückgeschickt, dass sie gerade nicht mit mir reden
könne. Mit Sissy und Lillebro hat sie auch nicht geredet. Aber am
Ende habe ich sie dann doch erreicht, und da habe ich sie
angebettelt, nach Hause zurückzukommen. Aber sie hat gesagt...“
Eine Szene formte sich wieder, in der Hope in einem Raum, der wie ein
Schlafzimmer aussah, vor einer Projektionswand stand.
Ihre Mutter sah blass und erschöpft aus, aber sie redete beruhigend
auf Hope ein: „Ich kann das doch nicht, meine kleine Hope, ich kann
noch nicht zurückkommen.“
„Aber
Mama, was denkst du über diese schrecklichen Dinge und über die
Pläne? Ich hab solche Angst, Mama.“
„Ich
weiß, Hope. Alle haben Angst. Ja, ich glaube auch, dass Mr Wang
vielleicht Recht hat.“
„Wenn
du mit ihm übereinstimmst, dann kannst du das nicht tun, Mama“,
Hope hörte sich verzweifelt an. „Du kannst nicht auf diesem Schiff
sein, das darfst du nicht. Was ist, wenn die Welt entscheidet,
dass...?“ Sie konnte die Worte nicht einmal aussprechen,
Hope's Mutter nickte langsam: „Dann werde ich diese Entscheidung
ausführen.“
„Nein,
Mama, lass es jemanden anders tun! Ich weiß, du könntest nicht
damit leben, mit dieser Schuld...“
Hope's Mutter schüttelte den Kopf: „Sollte jemand anders damit
leben müssen? Ich bin für diese Position ausgewählt worden. Es ist
jetzt mein Platz.“
„Nein,
Mama“, protestierte Hope. „Du bist nicht von Gott ausgewählt!
Diese Repräsentanten haben dich ausgewählt. Es ist nicht dein
Platz!“
Ihre Mutter schüttelte wieder den Kopf: „Die Repräsentanten des
Internationalen Hilfskongresses haben nicht entschieden, dass ich
genau zu diesem bestimmten Zeitpunkt hier sein sollte. Sie, genau wie
alle anderen, wussten nicht was geschehen würde. Dies ist der Ort,
wo ich zu dieser Zeit sein muss, Hope.“
Jemand, der „Ms Morgan“, rief, war von hinten zu hören, und so
entschuldigte sich Hope's Mutter: „Es tut mir Leid, Hope, ich muss
jetzt gehen. Ich habe dich lieb. Bitte sag den Kleinen, David und
Faith, dass ich sie auch liebhabe.“
Und mit diesen Worten stellte sie das Kommunikationsgerät ab.
„Mama,
Mama“, schrie Hope zur leeren Wand hin, und sie drückte ihr
Gesicht und ihre Hände dagegen, während sie jetzt still weinte. Die
Szene verschwand und auch der gegenwärtigen Hope liefen Tränen das
Gesicht hinunter.
Aber sie riss sich zusammen und erzählte weiter: „Und dann endlich
redete Großonkel Professor wieder mit mir: „Er fand mich in
unserer Wohnung, gerade nachdem ich mit meiner Mutter gesprochen
hatte. Er bat mich, ihn in sein Labor zu begleiten. Und dort erklärte
er mir dann, dass er die Zeitmaschine fertig gebaut hatte, und dass
jetzt jemand weiter als nur zwei Tage in der Zeit zurückgehen
konnte.
Normalerweise hätte ich das wirklich aufregend gefunden, aber gerade
jetzt interessierte es mich überhaupt nicht. Die Vergangenheit, war
die Vergangenheit und lange vorbei, aber die Gegenwart lief jetzt
Gefahr, das Ende der Welt zu sein, oder wenigstens der Welt, wie wir
sie kannten.
Aber mein Großonkel sagte, dass die Person, die in der Zeit
zurückgehen würde, ich sein solle. Und das war dann doch etwas
aufregendes, denn ich dachte, ich könne zu meinem Papa zurückgehen.
Ich könnte ihn warnen, und der Unfall würde niemals passieren...
Stattdessen sagte mein Großonkel, ich würde mehr als 200 Jahre
zurückgehen zu irgendeinem Vorfahren von uns, meinem
Ur-ur-ur-ur-ur-großvater, und ich sollte verhindern, dass er vor
einen unterirdischen Personentransportzug springt und so Selbstmord
begeht.
Bevor ich mich von meiner Überraschung erholen konnte, erzählte
mein Großonkel mir von dem Datencontainer, der die Informationen
über die Raum-Zeit-Koordinaten erhielt, wo ich meinen Vorfahren
erreichen könne. Er erklärte mir, dass dieser Container schon seit
Generationen in unserer Familie weitergegeben würde, und seine
Großmutter hätte ihm das Ding gegeben, als er noch ein kleiner
Junge war. Aber die meisten der Daten darauf seien unleserlich und er
hätte nur einen kleinen Teil entziffern können.“
Wieder begann eine Szene aus Hope's Welt vor Davids Augen
aufzutauchen, doch diesmal erkannte David sofort, dass er sie bereits
gesehen hatte. Es war erst gestern Morgen gewesen, und doch schien es
ihm jetzt einer Ewigkeit her zu sein...
Hope stand vor dieser sonderbaren Maschine ihrem Großonkel
gegenüber, und David erinnerte sich, dass sie mit ihm gestritten
hatte, darum gebettelt, dass sie ihren Vater retten könne, statt in
die Dunklen Zeiten zurückgeschickt zu werden.
Der Professor redete nun: „...ich weiß, dass du deinen Vater nicht
retten kannst, aber du kannst einen anderen Menschen aus einem
schwarzen Loch befreien. Und ich bin davon überzeugt, dass du die
einzige bist, die das tun kann.“
„Er
lebt in den dunklen Zeiten.“ Hope verzog ihr Gesicht: „Ich kann
ihn da nicht rausholen, und ich will es auch gar nicht.“
Als ob er
Hope's Widerstand gegen seinen Vorschlag akzeptiert hätte, so hatte
Großonkel Professor Hope jetzt den Rücken zugewandt. Er zögerte
für einen Augenblick, dann redete er in einer sanften, klaren und
neutralen Stimme weiter: „Ja sicher, dieser Mann lebt in den
dunklen Zeiten, aber was ihn umgibt ist sogar noch dunkler. Das
Mädchen, das in der Zeit zurückging, weil sie allein die Fähigkeit
besaß, ihn zu treffen, hieß Hope. Auch wenn er in einer Zeit und
Kultur lebt, die wir nicht verstehen, so hatte sein Leben damals, wie
das eines jeden Menschen heute, doch einen Wert. Die Möglichkeit
diesen Mann zu retten lag in den Händen dieser Hope.“
Der Professor drehte sich wieder um und sah seine Großnichte nun
direkt an: „Sie liegt in deiner Hand. Und du wirst diese
Möglichkeit doch nutzen, oder hast du das Erste Prinzip vergessen?"
Das stoppte Hope. Das Erste Prinzip... schon wieder einmal das Erste
Prinzip, die Leute argumentierten darüber, beschuldigten sich
gegenseitig es vergessen zu haben und wie man es in so einer Zeit
interpretieren sollte. Und jetzt redete ihr Großonkel auch noch
davon, und interpretierte es auf seine eigene Weise, als ein Prinzip,
das sogar die Vergangenheit betraf. Das ergab keinen Sinn für Hope,
und trotzdem konnte sie nicht mehr nein sagen.
„In
Ordnung“, lenkte sie ein, „ich gehe. Aber warum gerade jetzt?“
Ihr Großonkel sah Hope an und sagte sanft: „Weil es die Zeit dafür
ist.“
Das hörte sich bizarr an, Hope schüttelte ungläubig den Kopf. Zeit
für was? Was dachte ihr Großonkel eigentlich? Mit Sicherheit hatte
er einen sonderbaren Zeitsinn.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, gab der Professor Hope auch
eine sonderbare Erklärung: „Du könntest etwas lernen.“
Jetzt fühlte Hope wieder Zorn in sich aufsteigen: „Von den Dunklen
Zeiten? Aber sicher! Mr Galt hat von den Dunklen Zeiten gelernt, wie
man die Welt zerstört und die meisten Menschen darauf.“
Der Professor zuckte mit den Achseln als ob das unwichtig wäre:
„Dann musst du halt etwas anderes lernen, nicht wahr?“
Hope war nicht überzeugt. Innerlich murrte sie immer noch, hatte
aber den offenen Protest aufgegeben. Stattdessen fragte sie nach
praktischen Informationen: „Wie lange muss ich dort bleiben?“
Der Professor hatte sich bereits wieder umgedreht, um seine Maschine
zu justieren, und antwortete ihr so etwas abgelenkt: „Es könnte
eine Weile dauern, vielleicht ein paar Tage. Nur so lange bis du
weißt, dass der Mann dieses Selbstmord-Ding nicht mehr tun wird. Du
wirst selbst merken, wann du zurückkommen kannst. Sein Name ist
übrigens David, so wie der von deinem Bruder und meiner.“
„Und
wie weißt du, wann du mich zurückbringen sollst, Großonkel“,
fragte Hope überrascht darüber, wie vage seine Antwort war.
Der Professor gab Hope jetzt ein Zeichen, sich auf das zu setzen, was
wie ein Zahnarztstuhl mit einem Helm am oberen Ende aussah. Der war
mit einer Röhre verbunden, die dünner werdend in einer Spirale
mehrmals durch den Raum führte, bis sie endlich durch ein Loch in
der Wand nach außen ging.
Während er einige Kabel an Hope's Stirn befestigte, erklärte der
Professor: „Ich muss es nicht wissen. Du kontrollierst den Prozess
selbst. Du entscheidest, wann du bereit bist zurückzukehren.“
Der Professor bereitete jetzt eine Injektionsnadel vor. Hope spürte
einen Einstich in den linken Arm, als sie an einen intravenösen
Tropf angeschlossen wurde. Der musste mehr als nur flüssige Nahrung
enthalten, denn Hope spürte, wie sie schläfrig wurde. Aber eine
Frage hatte sie noch: „Aber Großonkel, wenn ich nein gesagt hätte,
wäre dann ein anderes Mädchen mit dem Namen Hope in der Zeit
zurückgereist?“
Der Stuhl war jetzt zu einer Liege geworden, Hope's Kopf war in den
Helm eingeschlossen, der mit dem Spiralrohr verbunden war. Ihre
Schläfrigkeit war schon so stark, dass sie die Antwort ihres
Großonkels kaum noch hörte, sie war nur noch wie ein sanftes, weit
entferntes Echo: „Nein, meine Kleine, es wärst immer nur du
gewesen, denn dir ist es nicht gleichgültig...
Die Szene verblasste und löste sich auf. Und David öffnete seine
Augen, um die Hope in seiner Zeit zu sehen. Und damit schloss sie
ihre Geschichte ab: „Und so kam es, dass ich in deine Zeit gekommen
bin, Onkel David.“
Er lächelte sie an und fühlte tiefe Emotionen für dieses tapfere
kleine Mädchen: „Und ich bin froh, dass du gekommen bist! Trotz
all dem, was in deiner Zeit vor sich geht, bist du hier her gekommen,
um mich zu retten. Danke, Hope, vielen Dank.“
Hope lächelte zurück: „Ich bin auch froh, dass ich gekommen bin,
Onkel David, wirklich.“
Dann runzelte sie die Stirn und sagte: „Aber ich frage mich doch,
was mein Großonkel damit gemeint hat, dass es mir nicht gleichgültig
sei. Denn obwohl es mir jetzt Leid tut, zu dem Zeitpunkt, was mit
dir geschieht, war mir völlig gleichgültig.“
David schüttelte den Kopf: „Stimmt nicht Hope, es war dir nie
gleichgültig. Du bist so eine liebevolle Person. Du machst dir
Sorgen um deine Freunde, deine Familie und die Leute aus deinem Dorf
und um die ganze Welt. Und euer Erstes Prinzip ist dir wirklich
wichtig, wichtig genug, um sogar einen Fremden aus den Dunklen Zeiten
zu retten.“
„Du
bist kein Fremder, Onkel David“, unterbrach ihn Hope.
„Nicht
mehr“, entgegnete David.
„Nein,
das ist nicht, was ich meine, du bist doch mein Ur...“
„Na
und“, unterbrach sie David.
Daraufhin begann sie zu lachen, und David stimmte ein. Es war doch zu
komisch, wie sie verwandt waren, Generationen zwischen ihnen, von
verschiedenen Welten, waren sie einmal völlige Fremde gewesen, und
jetzt waren sie Freunde.
Die Dunkelheit war in Hope's Geist aufgebrochen worden und auch in
Davids. Und dieser bemerkte dabei, dass auch seine physische Welt
heller geworden war. Die Nacht machte langsam einer frühen
Morgenröte Platz.
Und sie waren auch nicht mehr allein. David konnte etwas näher
kommen und auf sich zu rollen hören. Zwei Jungen auf Skate-Boards
rollten den Bürgersteig entlang. Als sie fast an der Einbuchtung von
Davids Bank angekommen waren, hörte er ein Quietschen, das anzeigte,
dass etwas mit einem der Bretter nicht in Ordnung war, bevor dieses
dann abrupt zum Stehen kam. David hörte auch lautes Fluchen,
gespickt mit Obszönitäten, die er kaum je außerhalb eines
Kinofilms gehört hatte, so dass er vermutete, dass auch mit einem
der Skater etwas nicht in Ordnung war.
„Ich
hab dir doch gesagt, dass es zu dunkel ist“, fuhr der Junge in
etwas normalerer Sprache fort, „da war so'n Loch auf dem Weg
dahinten und ich konnt's nicht sehn. War sowieso ne saublöde Idee so
früh los zu gehn.“
Der andere Junge hatte auch gestoppt und war zu seinem Freund
zurückgerollt.
„Zu
der Zeit ist die Rampe am Park völlig frei“, verteidigte er seine
Idee. „In'n paar Stunden ist dort wieder alles voll. Und so früh
am Morgen ist auch keiner auf'er Straße. So krieg'n wir'n krasses
Training hin, mit ner echten Geschwindigkeit. Un ich bin hier ja,
'der König der Straße'.“
„König
der Straße, ha“, meinte sein Freund abwertend. „Wer hat dir denn
so nen Namen gegeben?“
„Die
alte Battram war's... oder so in etwa“, antwortete 'der König der
Straße'. Danach fügte er mit offensichtlicher Selbstironie hinzu:
„Letzten Monat hat sie so gesagt: 'Du bist so strohdumm, dass die
Straße alles ist, was du je haben wirst.'
Und
wenn die Straße mir gehört, dann bin ich hier der König, is doch
logo.“
Mit diesen Worten sprang der Junge wieder auf sein Brett und mit dem
Brett auf die Straße. Er surfte einen großen Bogen, breitete die
Arme aus, und wie Leonardo Di Caprio auf der Titanic, oder vielleicht
auch nur wie einer seiner vielen Imitationen, rief er so laut er
konnte:
„Ich
bin der König der Straße!“ In der Stille der Nacht erzeugte das
ein erstaunliches Echo.
Mit einem Sprung landete der 'König der Straße' wieder auf dem
Bürgersteig und vor seinem Freund. In prosaischerem Ton sagte er
dann: „Lass mich mal sehen, vielleicht krieg ich das Rad wieder
hin.“
Und während der 'König der Straße' versuchte das Skate-Board
seines Freundes zu reparieren, führte der letztere das Gespräch
weiter: „Die verrückte Batty sagst du? Bei der hatte ich letztes
Jahr Englisch. Und wenn die Recht hat, dann denk ich mal, ich bin der
'König des Stuhls'.“
„Was
fürn Stuhl“, fragte der 'König der Straße'.
„Ach
du weißt schon, der, wo du draufgebunden wirst mit alle den Kabeln,
und dann wirste gebraten...“ erklärte sein Freund.
„Kabel?...
oh na klar“, kicherte sein Freund etwas verspätet, „du musst sie
ja richtig auf der Palme gehabt haben.“
„Na
klar“, das Grinsen des Jungen war in seiner Stimme zu hören, „hab
fast die Schule abgefackelt.“
„Oh,
ich weiß noch, war das nicht letztes Jahr im März“, fragte der
'König der Straße' mit demselben Grinsen im Ton. „Drei
Feuerwehrwagen waren da, die ham alle evakuiert. Also du warst das!“
Und leicht enttäuscht fügte er hinzu: „War aber kein großes
Feuer.“
„Mehr
oder weniger nur ein Papierkorb mit nem Haufen Rauch“, erinnerte
sich sein Freund.
„Was
is'n passiert?“ fragte der 'König der Straße' während er mit
ganzer Kraft an dem Rad des Skate-Boards herum ruckelte.
Der andere Junge erklärte: „Der Mathe-Lehrer is nich aufgetaucht,
und nach ner Weile ham wir gedacht, da kommt keiner mehr. Und da hat
einer von den Jungs so nen Joint rumgereicht, und grade als ich dran
war, da ganz plötzlich war die Batty da, als Vertretung. Was sollt
ich denn da machn?
Hab nen perfekten Wurf gelandet, direkt in'n Korb. Hat se erst auch
gar nich gemerkt. Aber da muss so'n Plasteding drin gewesen sein.
Nach ner halben Minute da kam da Rauch raus und alle ham gehustet.
Und Terry, der saß da gleich daneben, den hats fast umgehauen und
alle ham geschrien, und dann kam der Feueralarm, und den Rest kennste
ja schon.“
„Aber
wie hat die Batty 'n spitz gekricht, dass du's warst“, fragte 'der
König der Straße', der jetzt das Rad sich zwischen seinen Fingern
drehen ließ. Er hatte es erfolgreich gelöst.
„Null
Ahnung“, sein Freund zuckte mit den Schultern. „Vielleicht is se
ja n Gedankenleser oder so was. Oder weil sie immer denkt, dass ichs
war, auch wenn ichs nich war, na ja nich immer jedenfalls...“
Obwohl meistens hat se ja schon Recht...“ Wieder war da das Grinsen
in seiner Stimme.
„Versuchs
jetzt mal, sollte wieder klapp'n“, sagte der 'König der Straße',
als er seinem Freund das Skate-Board zurückgab. Beide rollten sie
los und an Davids Bank vorbei, dabei nahmen sie wieder Tempo auf.
Doch im nächsten Moment war ein großer Aufprall zu hören, und der
Lärm von Metall das auf den Boden krachte.
Eine Frau war aus dem Nirgendwo aufgetaucht. „Böse Jungs
heutzutage, böse Jungs heutzutage, böse Jungs...“, schrie sie.
Und David erkannte ihre Stimme, obwohl sie sich diesmal viel
aufgeregter anhörte, als zu dem Zeitpunkt, als er sie zuletzt gehört
hatte. Es war natürlich die Frau mit dem Einkaufswagen, der David in
den letzten 24 Stunden bereits zweimal begegnet war. Er vermutete,
dass sie wahrscheinlich aus dem Park heraus gekommen war, wo sie
höchstwahrscheinlich die Nacht auf einer Bank verbracht hatte, genau
wie er selbst.
Ihr Einkaufswagen war umgekippt und sein ganzer Inhalt hatte sich im
großen Bogen auf die Straße entleert.
„Los,
hauen wir ab“, rief der 'König der Straße'.
Doch in diesem Moment verwandelte sich das empörte Schreien der Frau
in ein durchdringendes Quietschen. Ein Auto kam schnell näher und
würde bald all ihre Besitztümer zerquetschen. Verzweifelt und immer
noch schreiend sprang die Frau auf die Straße und ging mitten auf
der Fahrbahn auf die Knie, um eine der Taschen, die dort gelandet
waren, aufzuheben. David versuchte aufzuspringen, fiel aber auf seine
Bank zurück, weil seine Beine völlig taub geworden waren und sich
alles in seinem Kopf drehte. Aber Davids Hilfe wurde gar nicht
benötigt.
Wie ein Pfeil schoss der 'König des Stuhls' auf die Straße, packte
die alte Frau und riss sie mit seiner ganzen Teenager-Kraft zurück,
während das Auto bremsend nur knapp an ihnen vorbeischlitterte.
„Lady,
das dürfen Sie doch nicht tun“, prustete der Junge außer Atem.
„Sie müssen vorsichtig sein.“
Die Frau versuchte sich aus den Armen des Jungen zu befreien,
entschlossen wieder auf die Straße und zu ihren Habseligkeiten zu
gelangen.“
Aber ihr Schreien war leiser geworden und von nur noch einem Wimmern
ersetzt worden.
„Alter,
komm sofort zurück und hilf mir“, rief der Junge seinem Freund zu.
Der 'König der Straße' drehte sich widerwillig um und knurrte: „Die
is ja total verrückt, die da, total durchgeknallt. Warum hat se das
gemacht, so auf die Straße rennen, wegen so nem Müll.“
„Der
Müll ist alles, was sie hat“, sagte ihr Freund sanft, während er
immer noch versuchte, die alte Frau zurückzuhalten.
Genauso sanft redete er jetzt mit ihr: „Lady, Sie müssen nicht
wieder auf die Straße gehen. Wir heben Ihre Sachen auf und tun se
zurück in'n Wagen.“
Mit diesen Worten stellte der Junge sie sanft auf den Bürgersteig
und hob den Einkaufswagen wieder auf seine Räder.
Der 'König der Straße' zuckte mit den Achseln und begann den ersten
der Beutel, der mitten auf der Straße lag, aufzuheben. Der schien
nur ein paar billige Heiligenfiguren aus Plastik zu enthalten. Er hob
dann einige Messer und Löffel daneben auf, die aus einem anderen
Beutel herausgefallen waren, ebenso wie einen kleinen Topf, der ein
Stück weit weggerollt war.
Der andere Junge stopfte alles wieder zurück in die Taschen und
arrangierte diese im Einkaufswagen. Nach ein paar Minuten war alles
wieder dort, wo es hingehörte. Die alte obdachlose Frau hatte
aufgehört zu Wimmern. Doch als sie sich zur Straße umdrehte, begann
sie wieder damit und deutete mit einer Hand auf eine kleine braune
Papiertüte, die ein Stückchen weiter weg gelandet war.
Der 'König der Straße' rannte schnell, um der alten Frau die Tüte
zu holen. Sie öffnete diese danach und untersuchte den Inhalt. Sie
zog einen Riesenkeks aus der Tüte, der nicht einmal zerbröselt war.
Sie hielt dem 'König der Straße' den Keks unter die Nase. Der Junge
sah sie überrascht und nicht zu erfreut an.
„Nimm
ihn“, befahl ihm sein Freund. „Nimm ihn einfach.“
Der 'König der Straße' nahm den Keks stirnrunzelnd entgegen, worauf
die alte Frau einen weiteren Keks aus der Tüte zog, und ihn seinem
Freund reichte.
„Essen!“
sagte sie dann mit krächzender Stimme, und holte schließlich einen
dritten nicht zerbrochenen Keks aus der Tüte. Sie nahm selbst einen
großen Bissen davon, während die beiden Jungen ein wenig zögerlich
an ihren Keksen knabberten.
„Gar
nich so schlecht“, kommentierte der 'König der Straße' und fügte
etwas verspätet hinzu: „Danke schön.“
Der andere Junge dankte der obdachlosen Frau auch, obwohl diese nicht
mehr antwortete, sondern nur in ihrer normalen Art an ihnen
vorbeischaute. Sie gab ihnen noch ein kurzes Nicken mit dem Kopf und
aß ihren eigenen Keks mit einem großen Bissen auf. Danach packte
sie den Griff ihres Einkaufswagen wieder mit beiden Händen und schob
ihn den Gehweg entlang, während sie genauso monoton, wie David das
schon zweimal gehört hatte, mit sich selbst sprach, doch diesmal zu
einer neuen Melodie: „Gute Jungs heutzutage, gute Jungs heutzutage,
gute Jungs...“
Langsam wanderte sie den Bürgersteig entlang. Die klappernden Töpfe
und Pfannen, zusammen mit dem Besteck und dem leichten Quietschen der
Räder des Einkaufswagens begleiteten den Singsang ihrer Stimme.
Die Jungen hatten ihre Kekse noch nicht ganz aufgegessen. „Meine
Granny hat früher solche Kekse gebacken, die haben genau so
geschmeckt“, kommentierte der ältere der Jungen. „Weißt du, sie
hat uns großgezogen, meine Schwester und mich, als wir klein waren
und Mom...., du hast meine Mom ja gesehen und weißt warum... Aber im
vorletzten Jahr, da ist Granny krank geworden, und sie ist jetzt im
Rollstuhl, und sie haben sie in so ein Altersheim gesteckt.“ Der
Junge hörte sich traurig an.
Er biss noch einmal von seinem Keks ab: „Hast du gewusst, dass sie
mir das Lesen beigebracht hat. Schon bevor ich in die Vorschule
gekommen bin, hat Granny das gemacht. Sie hat immer gesagt, wenn du
genügend Bücher liest, dann gehört dir die ganze Welt.“
„Die
ganze Welt ist mehr als die Straße“, kommentierte sein Freund.
„Und
mehr als der Stuhl ganz sicher“, grinste sein Freund. „Ich denke,
ich werd Granny heute besuchn. Ich bin schon lang nicht mehr in dem
Heim da gewesen.“ Er nickte entschlossen.
Ganz uncharakteristisch schüchtern brachte sein Freund eine Frage
vor: „Meinst du, deine Granny kann mir auch das Lesen beibringen?“
Und mehr er selbst behauptete er dann: „Die Batty kanns nämlich
gar nich, das is mal sicher.“ Nachdem er seinen letzten Keksbissen
heruntergeschluckt hatte, fügte er aber noch hinzu: „Ich denk mal,
sie hat zu viele Kids zum Unterrichten.“
„Klar,
meine Granny kann jedem alles beibringen“, prahlte sein Freund
laut, „sogar dir Döskopp!“ Das brachte ihm dann einen Ellbogen
in die Rippen ein, der sofort erwidert wurde.
„Wenn
wir jetz noch n' paar Runden auf der Rampe drehn, und dann zum
Altersheim runter rollen, dann kommen wir grade recht zum Frühstück
da. Granny gibt immer was ab. Dann frag ich sie auch wegen dem Lesen
und so.“
Die Jungen waren wieder auf ihre Bretter gestiegen, losgerollt und
auf einen Parkweg eingebogen. Nachdenklich beobachtete David wie sie
zwischen den Bäumen verschwanden. Keiner der beiden hatte den
heimlichen Zuhörer bemerkt.
Noch bevor er sie ansah fühlte David, dass Hope jetzt weinte. Aber
diesmal war es nicht aus Angst, Verzweiflung oder Trauer. Diese
Tränen kamen aus einem Herzen das angefüllt war mit überwältigender
Liebe. Es waren Tränen des Wiedererkennens und der Freude.
Wieder einmal war David überrascht. Er konnte Hope's Gefühle
spüren, doch hatte er keine Ahnung, was sie verursacht haben könnte,
außer dass es etwas mit der kleinen Szene zu tun hatte, von der sie
gerade Zeuge geworden waren.
Klar hatten die Jungen die Frau vor einem Auto gerettet, aber sie
waren ja auch dafür verantwortlich gewesen, dass der Einkaufswagen
überhaupt umgekippt und sein Inhalt auf die Straße gelangt war.
Hope schüttelte den Kopf: „Du verstehst das nicht! Warum verstehst
du es denn nicht? Wir haben das Erste Prinzip gesehen! Gerade jetzt
haben wir es gesehen, den Anfang, den neuen Anfang!“
David war jetzt völlig verwirrt, er verstand es wirklich nicht.
Hope atmete tief ein und riss sich zusammen, bevor sie anfing zu
erklären: „Beinahe überall auf der ganzen Welt, da wird jede
Mutter ihrem Kind genau diese Geschichte erzählen, wenn sie ihm
erklärt, was das Erste Prinzip ist, und über die große Wichtigkeit
eines jeden einzelnen Menschen für die gesamte Menschheit, und dass
jeder Mensch von unbegrenztem und unveränderlichem Wert ist.“
„Welche
Geschichte,“ fragte David immer noch ohne einen Clue.
„Die
Geschichte von der alten Frau, den zwei Jungen und den drei Keksen,
natürlich“, antwortete Hope und begann zu zitieren:
„Es
war einmal eine alte Frau, die hatte keinen Ort, wo sie wohnen
konnte, und alles was sie hatte bewahrte sie in einem Korb mit Rädern
auf. Und deshalb dachte ein jeder, dass sie ganz unwichtig war.
Und da waren zwei Jungen auf Brettern mit Rädern, und jeder dachte,
dass sie keinen Wert hätten, denn sie waren arm und sie waren auch
Regelbrecher. Aber als die Räderbretter in den Räderkorb
hineinfuhren, da änderte sich die ganze Welt.
Die Jungen haben das Leben der alten Frau gerettet, denn ihr Leben
wurde wichtig für sie. Und die alte Frau gab den Jungen zwei ihrer
letzten Kekse, denn deren Leben wurde wertvoll für sie.
Und von diesem Augenblick in der Zeit fanden diejenigen, die das
Erste Prinzip verloren hatten, es wieder. Und deswegen wurde die
Zukunft gerettet.
Die Welt änderte sich wegen einer alten Frau, zwei Jungen und drei
Keksen.“
Hope flüsterte das Ende der Geschichte mehr zu sich selbst als zu
David.
Nach einem weiteren tiefen Atemzug erklärte sie: „Tausende von
Bildergeschichten davon können auf dem Friedensnetz gefunden werden
und tausende von Liedern. Alle Kinder bei uns spielen diese
Geschichte oder singen ein Lied davon in ihrem ersten Schuljahr.
„Wenn
wir durch das Opferszenario gehen, dann lernen wir den Krieg zu
fürchten. Wir lernen es hier“, sie deutete auf ihren Kopf, „und
hier“, sie deutete auf ihr Herz. „Aber lange bevor wir lernen,
uns zu fürchten, da lernen wir zu lieben, das Erste Prinzip zu
lieben... durch diese Geschichte.“
In tiefer Verwunderung schüttelte sie den Kopf: „Darum bin ich
jetzt hier. Das hat Großonkel Professor gemeint, als er sagte, es
sei Zeit. Irgendwie hat er es gewusst. Er wollte, dass ich das
sehe... es jetzt sehe... und es mit nach Hause bringe... damit ich
den Leuten in Spesaeterna erzähle, was ich gesehen habe,... bei der
nächsten Dorfratsversammlung, wenn die ganze Welt zuhört...“
Hope machte eine Pause und atmete tief. Zweifel und Furcht begannen
einzusetzen:
„Aber
wie? Ich bin doch nur ein Kind, nicht einmal eine Jugendliche“, sie
redete immer noch mit sich selbst. „Sie hören Kindern niemals zu,
nie. Sie würden mir nicht einmal erlauben, an der Versammlung
teilzunehmen. Ich kann ihnen das gar nicht erzählen. Es ist
unmöglich, einfach unmöglich!“
„Hör
mir jetzt zu, Hope“, versuchte David sie aus ihren Selbstzweifeln
und ihrer Mutlosigkeit herauszuholen, indem er ihr fest in die Augen
sah und nacheinander aufzählte:
„Es
war dein Großonkel, Hope, der einmal John Galt's Freund war und doch
einen anderen Weg gewählt hat als er. Und es war auch dein
Großonkel, der eine Maschine gebaut hat, mit der du in der Zeit
zurückreisen konntest, um die Vergangenheit zu sehen, von ihr zu
lernen, und das zu sehen, was du gerade eben gesehen hast.
Es war Luscinia, ein Mädchen aus deinem Dorf, die sich mit der
gefangenen Frau von John Galt angefreundet hat, der Mutter seines
Sohnes Jonathan. Und darum haben Jonathan Galt, als sie zusammen aus
Orange Country gekommen sind, dein Dorf ausgewählt, um diese
wichtige Information dorthin zu bringen.
Es war dein Vater, der durch eine Sprengfalle aus den Dunklen Zeiten
getötet wurde. Und deshalb wurde deine Mutter ausgewählt die
Eisbrecher-Flotte zu kommandieren, die jetzt für die ganze Welt zur
Verteidigungsflotte geworden ist.
Und du bist es Hope, die einzige Person, die Jahrhunderte zurück in
der Zeit hierher reisen konnte. Und hier hast du den Vater und die
Schwester von Marco Santini getroffen, dem Soldaten, der Farouk
gerettet hat, und ihm ermöglicht hat Menschlichkeit in seinem Feind
zu sehen, so dass Farouk ein Mann des Friedens werden konnte und
seine Erfahrung zum Opferszenario deiner Welt wurde. Und du selbst
hast hier auch noch das gesehen, was deine Welt als den Beginn des
Ersten Prinzips ansieht.
Sie werden dir zuhören, Hope!“
Nachdenklich sah David die Straße hinunter, wo die alte Frau mit
ihrem Einkaufswagen gerade dabei war, um eine Ecke zu biegen. In
diesem Moment hoben sich die ersten Strahlen der Sonne vom Horizont
und schienen dabei ausschließlich auf die alte Frau zu scheinen und
ihre ganze Erscheinung zu verwandeln.
Die Farben ihrer gestrickten Kappe begannen rot und blau zu leuchten,
und ihr Haar, das darunter hervorkam reflektierte das Gold der Sonne,
während ihr Einkaufswagen über dem Asphalt zu schweben schien und
dabei silbern glitzerte.
David blinzelte, und die Sinnestäuschung war verschwunden.
Die alte obdachlose Frau war um die Ecke gebogen und außer
Sichtweite, und die gesamte Straße war jetzt in ein rotgoldenes
Morgenlicht getaucht.
David sah Hope an. Hatte sie das gesehen? Natürlich hatte sie das,
sie sah, was er sah. Und so bekräftige er seine früheren Worte mit
etwas, von dem er wusste, dass es Hope überzeugen würde, aber in
diesem Augenblick der Zeit glaubte er sie wirklich auch selbst von
ganzem Herzen:
„Manchmal
gibt es Wunder...“
Hope sah David an. Sie stand auf und stellte sich gerade hin. Sie war
ein Mensch, dem eine schwierige Aufgabe übertragen worden war, eine
Aufgabe, die sie sich selbst nicht ausgewählt hatte. Sie sollte die
schwere Last der Wahrheit zu ihren Leuten bringen, eine Bürde, die
nicht leicht zu tragen war, aber eine notwendige. Und jetzt war sie
bereit, sie zu tragen... weil ihr die Menschen nicht gleichgültig
waren.
„Ich
muss jetzt gehen“, sagte Hope.
David nickte.
“Bless,
Onkel David!”
“Bless,
Hope!”
Die Projektion verschwand, Hope war gegangen und David war jetzt
allein.
***
„Du
hast dir Zeit gelassen!“ stellt John Galt in seiner normalen
ungeduldigen und herablassenden Art fest. Seiner Ansicht nach sollte
sein Sohn seine Zeit nur mit Arbeit und körperlichem Training
verbringen, nichts sonst scheint ihm eine sinnvolle Beschäftigung zu
sein.
Ich halte die Augen gesenkt, darf ihm nicht erlauben, zu viel in
ihnen zu sehen, und antworte ihm deshalb nur mit einem leichten
Nicken.
Mein Vater ist aber noch längst nicht fertig mit mir: „Es war
eine Frau, nicht wahr, ein junges Mädchen?“
Der Angstschweiß läuft mir den Rücken herunter. Schon seit ich
die Anlage betreten habe, habe ich ständig an Luscinia gedacht. Der
Gedanke an sie gibt mir Kraft. Hat mein Vater das etwa erraten?
„Die
Frauen aus den Projekten sind zu alt für dich, nicht wahr? Aber das
ist noch lange kein ausreichender Grund, ganze drei Wochen in diesen
Meeresdörfern zu verschwenden.“
John Galt liegt falsch, ich kann mich wieder entspannen.
„Du
hast mir die Erlaubnis für drei Wochen Urlaub gegeben“, murmele
ich abwehrend.
Mein Vater antwortet, indem er meinen Einwand zur Seite wischt:
„Ich habe gesagt, höchstens drei Wochen Abwesenheit. Ich dachte
allerdings, du würdest über dieses jungendliche Jucken schneller
hinwegkommen. Und überhaupt habe ich dem Ganzen nur zugestimmt, weil
du versprochen hattest, dir diese nachlässige Einstellung
abzugewöhnen, die deine Arbeitsleistung in den letzten Monaten in
die völlige Mittelmäßigkeit hat absinken lassen. Und ich hoffe
wirklich, dass das jetzt geschehen ist.
Mit den neuen Versicherungstarifen, werden wir in ein paar Monaten
in der Lage sein, ganz neue Projekte zu öffnen mit viel jüngeren
Frauen, beginnend ab dem 12. Lebensjahr. Da sollte die Auswahl groß
genug, so dass du keinen Urlaub mehr brauchen wirst.“
John Galt spuckt das Wort Urlaub aus, als hinterließe es einen
schlechten Geschmack in seinem Mund. Aber in mir lässt das Bild von
der kleinen Natsuki und ihren verzweifelten Eltern eine Welle von
Übelkeit aufsteigen. Ich taste nach der Waffe in meiner
Jackentasche. Ich bin versucht, sie auf der Stelle zu benutzen. Aber
ich weiß, dass ich es mir nicht leisten kann, im Zorn loszuschlagen.
Es sind viel zu viele Leute im Raum.
Wie gewöhnlich hat mein Vater einen öffentlichen Ort dafür
gewählt, mich abzukanzeln, hier im Genlabor vor all seinen 10
Laboranten, die die Situation genüsslich beobachtet haben, während
sie so tun, als ob sie arbeiten. Er hat es immer geliebt, ein
Publikum für seine Tiraden zu haben. Er glaubt, dass bilde den
Charakter seines Sohnes, und würde ihn zu höherer Leistung
motivieren.
Aber der Zorn, den ich gerade fühle, hat auch einen guten Effekt.
Er vertreibt die Nervosität aus meinen Gedanken.
Meine Stimme ist jetzt stark und vollkommen ruhig, als ich ihm
widerspreche: „Du hast Unrecht, Vater, ich habe meine Zeit in den
letzten drei Wochen nicht verschwendet. Ich brauchte nur ein bisschen
frische Luft, um klarer über unsere Arbeit hier nachzudenken zu
können. Und nachdem ich das getan habe, sind mir ein paar Vorschläge
gekommen, die dich interessieren dürften. Aber ich würde sie dir
gern allein in deinem Büro vorstellen.“
Endlich einmal habe ich die volle Aufmerksamkeit meines Vaters.
Aber der leicht höhnische Ausdruck in seinem Gesicht, bevor er sich
wortlos umdreht, vermittelt es mir besser als jedes Wort, dass er
keine allzu großen Erwartungen hat, dass ihm Vorschläge seines
Sohnes vielleicht gefallen könnten.
Und ja, dieses eine Mal hat John Galt mit
Sicherheit Recht, und ich kann kaum ein Grinsen unterdrücken,
während ich meinem Vater folge.
Das Büro meines Vaters wird von einem riesigen Computer mit
Dutzenden von Monitoren dominiert, schließlich ist es das
Kontrollzentrum der gesamten Anlagen. Nachdem ich die Tür hinter uns
geschlossen habe, dreht John Galt sich um und wirft mir einen
auffordernden Blick zu.
„Mein
erster Vorschlag“, beginne ich, während ich mit einer schnellen
Bewegung meine Waffe aus der Jackentasche ziehe, „ist es, die
Arbeit hier ganz einzustellen.“
Ein Blick völligen Unglaubens tritt auf John Galts Gesicht,
gefolgt von absolutem Schock, als ich am Abzug ziehe. Mein Vater
bricht zuckend zusammen.
Dort in der äußeren Welt, wie ich sie früher genannt habe,
haben deren Wissenschaftler die Elektroschock-Pistolen, wie sie
normalerweise 'Reisenden' oder temporären Exilanten gegeben werden,
verändert und angepasst. Meine Waffe ist aus einem organischen
Fiberglas-Material, so dass sie unbemerkt durch die Metalldetektoren
am Eingang durchgekommen ist. Und genau wie bei den Waffen, die meine
Kameraden mit sich führen, so ist die damit erzeugte elektrische
Spannung auch höher als in den üblichen Schockwaffen, so dass die
getroffene Person nun für mehrere Minuten handlungsunfähig wird.
Die Waffen haben noch eine zweite nützliche Funktion: Wenn man
sie direkt an den Hals eines Opfers legt und auf einen blauen Knopf
drückt, kann man damit eine Injektion verabreichen. Die Wirkung ist
natürlich von der Größe und dem Gewicht der betroffenen Person
abhängig, aber im Durchschnitt sollte die Bewusstlosigkeit nach so
einer Injektion etwa zwei Stunden anhalten.
Bevor ich jedoch die Injektionsfunktion der Waffe benutze, muss
ich John Galt noch etwas sagen: „Es ist vorbei, Vater! Die Welt
weiß jetzt Bescheid, und sie ist vorbereitet. Und die Menschen dort
sind auch bereit, euch zu zerstören...euch alle, wenn ihr so etwas
noch einmal versucht. Glaub mir, ihr könnt nicht gewinnen!“
Ich drücke auf den Kopf.
„Was
machst du da?! Was ist hier lo..“Dröhnt es hinter mir.
Entsetzt drehe ich mich zu dem Mann um, der gerade das Büro
betreten hat, und instinktiv und ohne zu zögern, drücke ich auf den
anderen, den Abzugsknopf der Multifunkions-Waffe. Der Schuss trifft
sein Ziel.
Der Name des Mannes ist Larry Wurner. Er ist der Partner meines
Vaters und Vizepräsident der Anlage, der einzige, der unangemeldet
in John Galts Büro eintreten kann. Eigentlich ist das jetzt ein
glücklicher Zufall. Ich benutze die Injektionsfunktion nun an
Wurner. Dass dieser Kerl nun auch aus dem Verkehr gezogen ist, wird
die ganze Operation noch einmal vereinfachen.
Ich sehe mich nach meinem Vater um. Der schläft ganz friedlich.
Ich bin zufrieden und kann mich endlich mit dem Computer meines
Vaters beschäftigen. Ich weiß, dass John Galt die Passwörter für
sein Personal täglich ändert, aber von diesem Büro aus kann ich
sie alle abrufen. Das Passwort meines Vaters kenne ich, das ist,
vermutlich seit dem die Anlage betriebsbereit wurde, unverändert
geblieben.
Ich tippe das Passwort ins System ein...nichts geschieht...Ich
versuche es noch einmal...immer noch nichts...und auch beim dritten
Mal hat es keinen Effekt. Der Computer bleibt still, es gibt noch
nicht einmal eine Fehleranzeige auf dem Schirm.
Ich fühle wie wieder Furcht in mir aufsteigt, die Angst zu
versagen, hier an dieser allerwichtigsten Stelle. All die
Vorbereitung, all die Ersatzpläne, falls etwas nicht so läuft wie
es sollte...und jetzt kann ich noch nicht einmal Zugang zum Rechner
bekommen.
Die Information in diesem Computer ist unerlässlich für die
Verteidigung der äußeren Welt gegen die biologischen Waffen, die
mein Vater entwickelt hat. Und genauso notwendig ist es, Zugang zum
Sicherheitssystem und zu den Dekontaminierungs-Programmen zu
erhalten, um den Erfolg der gegenwärtigen Mission zu garantieren.
Was soll ich jetzt tun? Es noch ein paar Mal mit anderen
Passwörtern versuchen, oder zum nächsten Punkt übergehen. Statt
die Wachen nur abzulenken, könnte ich sie vielleicht gewaltsam dazu
zwingen, das Tor zu öffnen. Vielleicht könnte der Professor, wenn
er mal hier drin ist, einen anderen Weg ins System hinein finden,
schließlich soll er ja genauso ein Genie sein wie mein Vater.
Plötzlich kommt mir die Erleuchtung. Natürlich... wie konnte ich
nur so blöd sein? Mein Vater muss sein Passwort deshalb nie ändern,
weil sein Computer biometrisch aktiviert wird. Warum ist mir das
früher nicht aufgefallen.
Ich drehe mich um, packe den bewusstlosen Körper meines Vaters
unter den Achseln, zerre ihn über den Boden und hebe ihn dann auf
seinen Stuhl. Ich presse die linke Hand meines Vaters auf einen
Scanner, und öffne seine Augenlider mit zwei Fingern, um der
eingebauten Kamera vor uns zu erlauben, seine Augen zu scannen.
Und damit fängt die Maschine an zu arbeiten.
Jetzt kann ich die Kabel aus meinem modifizierten
Armbandcontroller direkt mit den Eingängen des Computers verbinden.
Diese Modifikation war notwendig, da die Technologie von Nephilim
City auf der der Dunklen Zeiten aufgebaut ist. Deshalb ist sie auch
nicht kompatibel mit der weiterentwickelten Technologie der äußeren
Welt. Aber mit dieser Anpassung können die Information in diesem
Computer in für die äußere Welt lesbare Muster umgewandelt werden.
Der Datenstrom wird danach durch meinen Armbandcontroller so weit
verstärkt, dass er in der Lage ist, die dicke Stahlbeton-Struktur
der unterirdischen Anlage zu durchdringen, dadurch kann dieser
schließlich oben vom Armbandcontroller des Professors aufgefangen
werden, um von dort über Satellit zu den begierig wartenden
Wissenschaftlern der ganzen Welt übertragen zu werden.
„Simultane
Datenübermittlung wird durchgeführt, geschätzte Zeit zur
vollständigen Übermittlung 10 Minuten“, steht jetzt auf dem
Display meines Armbandcontrollers. Und das war es dann. Ich atme tief
auf. Bald werden sie alle Daten haben, einschließlich der
biologischen Daten für die gen-manipulierten Insekten und den
90-Prozent-Virus, ebenso wie alle Mutationen dieses Virus, an denen
mein Vater noch gearbeitet hat.
Ganz gleich was von jetzt an geschieht, auch wenn wir es selbst
nicht lebendig aus Orange Country heraus schaffen würden, so werden
die Menschen von Spesaeterna und von allen anderen Dörfern der
äußeren Welt genug Wissen zur Verfügung haben, um sich verteidigen
zu können.
Aber
an diese Daten zu kommen, ist nur der erste Schritt unserer
Operation. Es ist auch notwendig, die weitere Arbeit meines Vaters
zu sabotieren. Und dafür muss ich ins Sicherheitssystem. Ich logge
mich ein, und nach einer Minute habe ich die Codes, um das ganze
System abzuschalten. Aber zuerst muss ich die Verzögerungen
einprogrammieren.
In 15 Minuten werden sich alle Türen öffnen und die
Sicherheitskameras werden offline gehen. In zwanzig Minuten wird in
kurzen Abständen ein Bio-Gefahren Alarm nach dem anderen in jedem
einzelnen der neun biologischen Laboratorien ausgelöst werden,
ebenso wie in den sterilen Lagerräumen, die an diese Labors
angeschlossen sind. Und jeweils zwei Minuten später, werden die
Total-Dekontaminierungen beginnen.
Und schließlich nach genau 55 Minuten, wird der Computer-Virus,
der von meinem Armbandcontroller übertragen wurde, beginnen, das
System zu infiltrieren, alle Daten zu löschen und die komplette
Software innerhalb des Netzwerkes der gesamten Anlage zu zerstören.
Es ist der bösartigste Virus, den die
Informations-Technologie-Experten der äußeren Welt je programmiert
haben, wurde mir gesagt.
Alles ist jetzt vorbereitet, und ich kann den schlaffen Körper
meines Vaters vom Stuhl auf den Boden gleiten lassen, er wird nicht
mehr gebraucht. Befriedigt sehe ich auf den regungslosen Körper
herab, während ich darauf warte, dass die Übertragung beendet wird.
Es fühlt sich so gut an, meinen Vater so zu sehen, so gut...
Es erstaunt mich, wie schnell diese enorme Datenmenge vom Computer
meines Vaters in meinen Armbandcontroller übertragen wird. Die
angeblich so fortschritt-feindlichen Außen-Weltler, für die mein
Vater nichts als Verachtung fühlt, haben es innerhalb weniger Tage
geschafft, ein Instrument herzustellen, das Daten so viel schneller
verarbeiten kann, als alles, was Nephilim City je zustande gebracht
hat.
Die Datenübermittlung ist jetzt beendet, und ich trenne die
Verbindung meines Armbandcontrollers zum Computer. Ich muss mich nun
beeilen, damit ich es rechtzeitig zum Eingangs-Portal schaffe, bevor
das System sich abschaltet, und die Wachen alarmiert werden.
Nachdem ich Mr Wurners Körper von der Tür weggeschoben habe,
verlasse ich das Büro und schließe die Tür hinter mir. Ich beeile
mich, aber ich zwinge mich trotzdem dazu, nicht zu rennen.
„Hallo
Jonathan! Hattest du einen guten Urlaub?“ Orrin Miller kommt aus
dem Aufzug und spricht mich an. Er ist ein Junior-Assistent, mit dem
ich mich manchmal unterhalte.
Ich zwinge mir ein falsches Lächeln auf: „Klar Orrin, der war
toll. Ein andermal erzähl ich dir alles darüber. Aber jetzt muss
ich mich beeilen, ich muss was für meinen Vater erledigen. Du weißt
ja, wie er ist.“
Orrin grinst verständnisvoll und erlaubt mir, mich an ihm vorbei
in den Aufzug zu drängen.
Im Eingangsbereich werde ich langsamer, gehe ohne Eile weiter. Ich
darf bei den Wachen keinen Verdacht erregen. Terrence und Dragi haben
immer noch Dienst an der Rezeption. Sie kennen mich gut, genau wie
alle anderen. Deshalb haben sie mich auch ganz ohne eine körperliche
Durchsuchung in die Anlage gelassen, etwas was sonst routinemäßig
bei den meisten anderen durchgeführt wird.
Ich grüße sie mit einem Kopfnicken und erkläre: „Mein Vater
glaubt, dass etwas mit den Metall-Detektoren nicht in Ordnung sein
könnte. Er möchte, dass ihr das jetzt überprüft!“
Wie immer tun die Wachen, was ihnen befohlen wurde. Sobald sie mir
den Rücken zugewandt haben, ziehe ich meine Waffe heraus, und
schocke sie. Doch bevor ich sie dann betäube, rede ich noch zu den
Männern, die sich am Boden krümmen: „Wenn ihr euch erholt habt,
müsst ihr hier weg. Mein Vater wird extrem wütend und auf Rache aus
sein. Und ihr werdet die ersten sein, die er für alles
verantwortlich machen wird. Geht und versteckt euch, und vielleicht
könnt ihr sogar das Land verlassen. Wir werden das
Überwachungssystem übernehmen, so dass die Chips in eurem Nacken
für lange Zeit nicht geortet werden können. Er wird euch nicht so
leicht finden.“
Ich mache damit weiter, sie zu betäuben. Ich hoffe sie haben mich
gehört. Von all den Angestellten der Anlage, sind sie vermutlich die
unschuldigsten. Sie haben keinen Zugang zu den Laboren, sie wissen
wirklich nicht, was dort vor sich geht.
Mit einem Druck auf das Kontrollsystem öffnen sich die Tore.
Etwa zwei Dutzend Leute warten draußen bereits. Mr Wang, der
Professor und Ms Alba stehen vorn. Hinter ihnen erkenne ich Jim Lavon
und Tom Parshon, die meisten anderen kenne ich noch nicht. Ein paar
bewegungslose Körper liegen zu ihren Füßen. Das Team hat
offensichtlich die Wachmänner, die außerhalb der Anlage stationiert
waren, überwältigt.
Ich habe keine Zeit für lange Einführungen, also frage ich nur:
„Habt ihr sie alle erwischt?“
Vance Drake, der hinter dem Professor hervorkommt, nickt und
antwortet: „Wir haben 15 erwischt, das war doch die Zahl für
heute?“
„Ja“,
sage ich kurz.
Die ganze Gruppe betritt jetzt die Anlage und versammelt sich um
die Sicherheits-Rezeption. Ich zeige auf die Monitore auf dem Tisch:
„Wir müssen auch die Wachen hier drin überwältigen, bevor die
Alarme losgehen. Sobald das geschieht, werden sie auf der höchsten
Alarmstufe agieren, und auf dieser Stufe haben sie den Befehl, sofort
zu schießen, wenn sie einen verdächtigen Fremden sehen.“
Tom Parshon versichert mir: „Keine Sorge wir sind geschützt.
Diese altmodischen Waffen können unsere elektronischen Schilde nicht
durchdringen.“
Das überrascht mich. Ich bin über diese individuellen
Schutzschilde nicht informiert worden.
Als er meine Überraschung bemerkt, grinst Tom: „Modifizierte
Einsamkeits-Armbänder“, erklärt er, und deutet auf sein rechtes
Handgelenk.“Wir haben sie bereits getestet. Zwei der Wachen haben
auf uns geschossen, bevor wir sie ins Visier nehmen konnten.“
Jetzt unterbricht Vance ungeduldig: „Sag uns erst, wo genau die
Wachen auf den Stockwerken stationiert sind! Nachdem wir sie
neutralisiert haben, treffen wir dann Mr Wang und Professor Morgan
vor dem Hangar der Tarnkappen-Fluggeräte. Der ist im ersten
Untergeschoss, nicht wahr? Wir haben die Nanobots bereits bei uns.“
Ich weiß, dass einige der Nanobots darauf programmiert sind,
Metall anzugreifen, andere Silikon und wieder andere Glas. Und dies
ist wieder einmal eine Technologie, die in unheimlich kurzer Zeit aus
einer anderen modifiziert und weiterentwickelt wurde.
Nach weniger als einer Minute ist Vance fertig, sich die
Überwachungs-Monitore anzusehen, und er gibt seinem Team
Anweisungen, wonach sie sich in unterschiedliche Richtungen
aufmachen.
Mr Wang, Ms Alba und der Professor bleiben zurück, um mich kurz
über den Fortschritt der Operation außerhalb der Anlage zu
informieren. Als die Satelliten das Signal gegeben haben, dass die
Übertragung beendet war, hat dann sofort die Operation im
Sicherheitszentrum begonnen. Inzwischen hat sich Darryls Team von
fast 200 Männern mit Pedro Allegris Hilfe dort sicher etabliert. Die
meisten der Sicherheitsleute sind bereits ausgeschaltet worden, die
Türen des Überwachungszentrums sind aufgesprengt, und die Computer
für das Ortungssystem sind deaktiviert worden.
Jetzt hören wir den ersten Alarm, der durch die Eingangshalle
tönt, während eine Computerstimme verkündet: „Biologisches
Gefahrenleck Labor 1! Alles Personal in die Dekontaminationsbereiche!
Total-Dekontamination des Labors erfolgt in zwei Minuten!“
Mr Wang und der Professor laufen in Richtung der Aufzüge zu den
Hangars los, ihrem nächsten Ziel, während ich und Ms Alba zum
anderen Aufzug laufen, wo ich den Knopf zum dritten Untergeschoss
drücke.
Ich bemerke, dass Ms Alba den Kommunikator mit dem
verhängnisvollen roten Knopf nicht mehr in der Hand hält. Das
bedeutet wohl, sie hält diese letzte Sicherheitsmaßnahme nicht mehr
für notwendig. Sie ist davon überzeugt, dass der bisherige Erfolg
unserer Mission ausreicht, so dass Nephilim City nicht mehr nuklear
ausgelöscht werden muss.
Ich seufze erleichtert, jetzt haben wir alle eine gute Chance,
hier wieder heil herauszukommen. Genau wie ich hält Ms Alba
stattdessen jetzt ihre Elektroschock-Waffe in der Hand.
Zusammen gehen wir den Gang hinunter, wobei wir jeden, den wir
treffen erst schocken und dann betäuben. Die ersten beiden Male
fühle ich immer noch Schuldgefühle dabei, genau wie ich sie gefühlt
habe, als ich die Wachleute geschockt habe, denn es ist ganz
offensichtlich eine schmerzhafte Prozedur. Aber ich weiß, dass sie
notwendig ist.
Obwohl mit Ausnahme der Wachleute niemand vom Personal bewaffnet
ist, könnten sie doch, wenn sie alle zusammenarbeiteten, ziemlich
einfach die kleine Gruppe von Eindringlingen überwältigen. Eine
noch größere Gefahr würde es aber bedeuten, wenn einer der
Angestellten aus der Anlage entkäme, um die tausenden von
Sicherheitsvollstreckern in der Stadt zu warnen, bevor wir all unsere
geheimen Operationen beendet haben.
Mit jeder Person, die ich schocke, wird es einfacher. Und ich sage
mir selbst, dass sie es ja verdient haben, sie alle. Sie bekommen
nur, was ihnen zusteht. Bis ich dann Orrin treffe, der gerade aus dem
Dekontaminationsbereich von Labor 5 kommt und gerade seinen
luftdichten Anzug ablegt. Ich zögere eine Sekunde, und so ist es
dann einer von Vances Männern, der den Schuss abgibt. Dieser hat
sich dort aufgestellt, um alle zu erwischen, die das Labor verlassen.
Als ich sehe, wie sich Orrins freundliche Miene erst vor Schreck
und dann vor Qual verzerrt, während er schmerzverkrümmt zu Boden
geht, da erkenne ich, dass diese Art jemandem Schmerzen zuzufügen,
nicht etwas ist, woran ich mich gewöhnen sollte.
Die ersten Total-Decontaminationen haben bereits begonnen. Die
Computer-Stimme tönt gerade: „Biologisches Gefahrenleck Labor 9!
Alles Personal in die Dekontaminationsbereiche! Schließung des
Labors erfolgt in zwei Minuten!“
Und danach verkündet sie: „Total-Dekontamination des Labor 3
beginnt jetzt!“
Sehr gut, alles läuft wie geplant. Ich weiß genau, wie diese
Total-Dekontamination funktioniert. Zuerst wird wie immer Ozon-Gas
aus den Sprinkler-Anlagen auf die Arbeiter in den
Dekontaminationsbereichen abgelassen, danach aber sorgt ein
Hoch-Hitze Laserstrahl dafür, dass innerhalb der Labors und des
Lagers, einschließlich aller Container, kein biologisches Material
mehr überlebt.
Jetzt ist es an der Zeit, sich zu den Gen-Laboren zu begeben. Und
genau wie ich das im Büro meines Vaters einprogrammiert habe, so
sind die Türen offen, und es gibt keine Zugangsprotokolle mehr. Von
den zehn Männern, denen ich vorher begegnet war, sind nur noch zwei
anwesend. Ms Alba schockt sie sofort, während ich die
Betäubungsfunktion meiner Waffe benutze.
Ms Alba öffnet die Tasche, die sie bei sich führt, und reicht
mir wortlos einen der beiden dosenförmigen Behälter, die aus
speziellem organischem Material hergestellt wurden und Nano-Bots
enthalten. Wir wissen beide, was wir damit tun müssen. Man drückt
auf einen Spenderknopf und besprüht so systematisch jede
Arbeitsplatte und jedes Gerät, jedes Mikroskop und jedes
Reagenzglas, alles was benötigt wird um gen-manipulierte Insekten
oder post-humane Embryos herzustellen.
Danach gehen wir in den angrenzenden Raum. Nur ein Mann ist dort.
Bevor Ms Alba ihn schocken kann, stoppe ich sie.
„Das
ist Mr Tanner, mein Lehrer“, erkläre ich ihr.
Mr Tanner zeigt keinerlei Überraschung. Er sieht sogar erfreut
aus.
„Du
hast es in die äußere Welt geschafft, Jonathan“, stellt er
einfach fest. „Ich bin so froh darüber. Das ist es, was ich für
dich erhofft habe.“
Er dreht sich zu Ms
Alba um: „Sie schließen die Anlage, nicht wahr?“
Ms Alba antwortet: „Für so lange, wie nur irgend möglich.“
„Gut.“
Es liegt jetzt tiefe Befriedigung in Mr Tanners Stimme.
„Du
solltest mit uns kommen“, schlage ich vor. „Mein Vater wird
zornig sein, wenn er aufwacht. Er wird nach einem Schuldigen suchen,
und er könnte dich dafür verantwortlich machen, was ich getan
habe.“
„Ich
werde das Baby nicht allein lassen“, Mr Tanner deutet auf die große
Glaswand hinter sich. Durch das Glas kann man in einen kleinen Raum
sehen, der als Kinderzimmer angelegt ist. Baby Alpha sitzt auf einem
Teppich und sortiert konzentriert kleine Bauklötze um sich herum,
anscheinend nach Farben. Er hat bereits einen Turm mit den roten
Klötzchen gebaut.
„Er
ist nicht menschlich“, zische ich. „Er wird niemals Gefühle für
jemanden haben – warum sollte er dir nicht egal sein?“
„Ich
glaube, du hast Unrecht, Jonathan,“ antwortet Mr Tanner ruhig,
„aber selbst wenn du Recht hättest, dann macht das keinen
Unterschied für mich. Es scheint, ich habe einen wichtigen Teil bei
deiner Erziehung ausgelassen. Gleichgültig was er in der Lage ist
zu fühlen oder nicht zu fühlen, so ist Alpha immer noch ein kleiner
Junge. Und ich verlasse ihn nicht, weil er mich braucht. Für deinen
Vater ist der kleine Alpha nichts anderes als ein Werkzeug für seine
grandiosen Pläne. Aber egal, was dein Vater ihm angetan hat, für
mich ist er einfach nur ein kleines Kind. Und er braucht einen
Menschen, der ihm das sagt, genau wie du das einmal gebraucht hast,
Jonathan.“
„In
Ordnung“, stimme ich nach kurzem Zögern und einem Blick zu Ms Alba
zu, die nichts sagt und auch keine Anzeichen dafür gibt, wie sie
darüber denkt, „dann nimm ihn halt mit.“
Ohne Zögern öffnet Mr Tanner die Tür zum Kinderzimmer, tritt
ein und nimmt das Baby auf den Arm. Alpha verzerrt das Gesicht,
offensichtlich mag er es nicht, bei seiner Aufgabe gestört zu
werden. Und als die beiden aus dem Zimmer kommen, höre ich ihn
trotzig verlangen: „Ich will meine Klötze, ich will meine Klötze!“
Ich drehe mich zur anderen Tür, die vom Labor abgeht. Aber Mr
Tanner verstellt mir den Weg: „Bitte Jonathan, zerstör die
Brutkästen nicht, da sind Babies drin.“
„Die
sind nicht menschlich“, protestiere ich wieder. „Und außerdem
musst du doch wissen, dass mein Vater wirklich tausende von diesen
Embryos zerstört hat. Er nannte sie fehlgeschlagene Experimente und
nicht lebensfähig.“
„Einige
sind jetzt lebensfähig“, antwortet Mr Tanner, während er uns in
den Raum führt und auf die erste Maschine zu seiner Linken deutet.
„Schau dort drüben ist Alphas Zwillingsbruder, er hat dieselbe DNA
wie Alpha. Dein Vater wird ihn mit Sicherheit am Leben lassen.“
„Du
meinst vielleicht, das ist Alphas Klon,“ zische ich, während ich
den Glasbehälter betrachte, in dem ein etwa sechs Monate alter Fötus
scheinbar schlafend in einer halbdurchsichtigen Flüssigkeit liegt,
während ein Monitor daneben einen konstanten, regulären Herzton
anzeigt. Der Name 'Betha' ist auf einem Schild an dem Brutkasten
angebracht.
Baby Alpha, der auf Mr Tanners Schulter aufgehört hat zu jammern,
hat seinen Kopf zur Seite geneigt. Er scheint sehr interessiert an
seinem angeblichen Zwillingsbruder zu sein.
Ich
zögere und sehe Ms Alba wieder fragend an. Ms Alba sieht von Alpha
zu dem Fötus und wieder zurück, dann sagt sie einfach: „Lass uns
gehen.“
Während wir das Labor verlassen, drückt mir Mr Tanner unerwartet
Alpha einfach in den Arm und behauptet: „Er sieht wie du aus,
Jonathan.“
„Kann
sein,“ stimme ich zu, „so viel wie mein Vater von sich selbst
hält, hat er wahrscheinlich seine eigene DNA als Grundlage für den
da genommen.“
„Nein,“
widerspricht Mr Tanner und tätschelt Alphas Kopf, „er brauchte
frischere Stammzellen, also hat er sie aus einer eingefrorenen
Nabelschnur genommen... deiner Nabelschnur.“
Übelkeit steigt in mir auf, das habe ich nicht gewusst. Mein
Vater hat versucht eine perfektere Version von mir herzustellen...
ja, das macht Sinn.
Mr Tanner dreht sich jetzt weg: „Ich muss noch Medizin für
Alpha aus dem Apothekenraum holen. Ich bin gleich zurück.“
„Aber,“
frage ich überrascht und sehe mir voll Abscheu und Argwohn diese
alternative Version meiner selbst auf meinem Arm genauer an, „ich
dachte, der sollte doch das perfekte humanoide Exemplar sein, wozu
braucht der noch Medizin?“ Alpha beäugt mich auch, mit in etwa
demselben Argwohn.
„Das
erklär ich dir später“, erwidert Mr Tanner. „Geh schon vor, ich
komme nach“, fügt er hinzu, während er sich bereits um die
nächste Ecke entfernt.
Sonderbarerweise hat Ms Alba während meines Gesprächs mit Mr
Tanner kaum ein Wort gesagt. Ich hätte erwartet, dass sie laut
dagegen protestiert hätte, als ich vorschlug dieses
nicht-menschliche Baby mitzunehmen. Stattdessen hat sie sogar das
Leben der Embryos in den Brutkästen verschont. Still und ohne
jegliche Erklärung geht sie jetzt neben mir in Richtung des nächsten
Aufzugs.
Plötzlich hören wir lautes Gebrüll hinter uns: „Du Bastard,
ich hätte es schon längst wissen müssen!“
Mein Herz setzt aus. Ich kenne die Stimme nur zu gut. Und
natürlich habe ich immer gewusst, dass sich das Büro meines Vaters
direkt gegenüber dem Apothekenraum befindet. Warum war er bereits
wieder wach?
Ich drücke Ms Alba das Baby in den Arm und renne so schnell mich
meine Füße tragen zum Ursprung dieser Stimme.
„Du
warst es, der das alles meinem Sohn in den Kopf gepflanzt hat,
stimmt's? Du widerwärtiger Verräter! Und du wolltest den Geist
meines post-humanen Jungen auch vergiften! Du dreckiger Bastard
hättest nie geboren werden sollen. Ich werde es nicht zulassen, nie
wieder...“
Ich höre einen Schrei, der abrupt abbricht. Mit einer dunklen
Ahnung renne ich um die Ecke, die Waffe bereits im Anschlag. Aber die
Szene, die sich mir bietet ist schlimmer als all meine Befürchtungen.
Mr Tanner, der immer noch eine große braune Tüte umklammert, die
anscheinend Alpha's Medizin enthält, sinkt zu Boden, während John
Galt ein Messer aus dessen Unterleib in einer Springflut von Blut
herauszieht.
Ich drücke ab, und auch mein Vater sinkt in Krämpfen zu Boden.
Instinktiv lasse ich die Waffe fallen, knie mich neben Mr Tanner und
drücke verzweifelt meine Hände auf seine Wunde, um die Blutung zu
stoppen. Das Messer aber hat eine Arterie durchbohrt, und hilflos
muss ich zusehen wie das Blut zwischen meinen Fingern
hindurchsickert.
„Nicht
sterben, Mr Tanner, oh nein, bitte nicht sterben!“ Bete ich
verzweifelt. Und doch fließt das Leben konstant aus meinem Lehrer
heraus.
„Es
ist meine Schuld, alles ist meine Schuld“, klage ich mich selbst
an. „Er hat nicht die volle Dosis vom Betäubungsmittel bekommen.
Ich hätte darauf achten müssen, hätte noch mehr injizieren müssen.
Warum habe ich das nicht getan, warum?“
„Nicht
deine Schuld, Jonathan“, Mr Tanner's Stimme ist so schwach, jedes
Wort scheint ihm so viel Anstrengungen zu kosten, und doch ist da
auch eine große Dringlichkeit. „Du musst mir versprechen... du
kümmerst dich um das Baby... versprich es... Mein kleiner Al...“
Mr Tanner kann nicht mehr sprechen, die Dringlichkeit ist nur noch
in seinen Augen.
„Ich
verspreche es, ich verspreche es, aber bitte stirb nicht! Bitte nicht
sterben...“, meine Stimme ist jetzt zu einem Flüstern abgesunken.
Ich habe angefangen zu weinen, während ich sehe wie ein Rinnsal von
Blut langsam aus Mr Tanners Mundwinkel tropft, dann auf sein Kinn und
seinen Hals hinunter.
Mr Tanner schließt seine Augen und hört auf zu atmen, während
ich ihn immer noch anstarre.
In diesem Augenblick höre ich das vertraute Geräusch einer
Elektroschock-Waffe. Ich drehe mich um und sehe wie mein Vater, immer
noch mit dem Messer in der Hand, beinahe auf mich fällt. Ich habe
nicht einmal bemerkt wie er aufgestanden ist. Aber Ms Alba hat es
gesehen, und da steht sie nun schwer atmend mit dem Baby auf dem
linken Arm und der Waffe in der rechten Hand.
Ein unmenschlicher Schrei löst sich aus meiner Kehle. Ich drehe
mich zu meinem am Boden liegenden Vater um und entreiße ihm das
Messer aus seinen verkrampften Fingern. Es ist ein Skalpell, das er
hin und wieder für Sezierungen benutzt hat. Warum er es in seinem
Büro aufbewahrt hat, werde ich nie erfahren.
Aber jetzt hat John Galt, der ultra-geniale Wissenschaftler,
meinen Lehrer, Mr Tanner, mit Hilfe eines so primitiven Werkzeugs,
wie es dieses Messer ist, ermordet. Ich knie mich über meinen Vater,
und ich schreie hysterisch: „Du bist der Bastard! Du bist das
Monster, das nie hätte geboren werden sollen... und ich auch nicht“,
füge ich in Selbsthass hinzu.
Mit beiden blutigen Händen packe ich das Messer und senke es in
Richtung von John Galt's Gesicht. Die Wut überflutet mich und füllt
mich mit einem Hass, wie ich ihn nie zuvor gefühlt habe. Im Geist
sehe ich bereits, wie ich das Messer direkt in seine Augen steche, in
seinen Mund, seine Kehle und wie ich ihn dann völlig in Stücke
schneide, jeden Teil von ihm in dieses blutige Rot verwandle, wie es
jetzt die ganze Welt füllt.
„Nein,
Jonathan, tu es nicht! Hör auf“ reißt mich Ms Albas
durchdringende Stimme aus meiner Fantasie.
„Ihnen
kann es doch egal sein“, zische ich sie an. „Sie wollten ihn doch
selbst umbringen... und alle anderen hier auch, jeden in der ganzen
Stadt, haben Sie das vergessen?“
„Das
habe ich nicht vergessen“, erwidert sie mit jetzt sanfterer Stimme,
„aber du wolltest es nicht, Jonathan.“
Und in noch sanfterem Ton: „Und deine Mutter würde es auch
nicht wollen, genauso wenig wie Luscinia...“
Das bringt mich zu mir selbst zurück, und ich beginne wieder zu
atmen.
Nein, Luscinia würde niemals wollen, dass ich so etwas tue. Ich
könnte das auch niemals vor ihr rechtfertigen. John Galt ist es
nicht wert, dass ich Luscinia seinetwegen verliere. Er war nie ein
richtiger Vater für mich gewesen, hatte mich nie wirklich geliebt,
sich nie um mich gesorgt wie Mr Tanner. Und weder Mr Tanner noch
meine Mutter hätten so eine Rache gewollt.
Ich lasse das Messer fallen, stehe auf und kicke es so weit weg
von mir, wie ich kann. Inzwischen kniet sich Ms Alba, immer noch mit
dem Baby im Arm, neben John Galt und verpasst ihm die
Betäubungsinjektion. Dann dreht sie sich zu Mr Tanners Leiche um und
nimmt die braune Tüte mit Alphas Medizin an sich.
Bis jetzt ist das Baby überraschend still geblieben, während es
die verwirrenden Ereignisse betrachtet, die es vermutlich nicht
versteht.
Aber als wir uns abwenden, um wegzugehen, beginnt Alpha zu
protestieren. Er streckt seine kleinen Arme in Richtung des am Boden
liegenden Körpers aus und schreit: „Ich will Mr Tanner, ich will
Mr Tanner!“
„Du
kannst ihn nicht haben“, zische ich das Kind an. Für so was habe
ich jetzt keine Zeit, „er ist tot.“
Das Geschrei wird nur lauter.
„Alles
wird gut, alles wird gut...“ versucht Ms Alba das Kind zu
beruhigen, während sie es auf dem Arm schaukelt.
“Dein
großer Bruder Jonathan wird auf dich aufpassen“, verspricht sie
sanft, und drückt mir zu meiner Überraschung das Kind wieder in den
Arm.
Wieder sehe ich es ohne viel Gefühl an, und mein Zynismus kehrt
zurück: „Zwei Söhne des Teufels, nicht wahr Ms Alba?“
Ms Alba schüttelt den Kopf: „Ich hatte Unrecht. Es tut mir
Leid, dass ich das gesagt habe.“
Die Falten auf ihrem Gesicht sind tiefer geworden und zum ersten
Mal sieht man ihr ihre über 70 Jahre an: „John Galt ist nichts als
eine bemitleidenswerte Kreatur. Und du Jonathan, bist nicht im
geringsten wie er.“
Dann tätschelt sie den Kopf des Babys und wiederholt: „Dein
Bruder wird sich gut um dich kümmern. Und seine zukünftige Frau
Luscinia wird die beste Mama für dich sein, die du dir wünschen
könntest, Alpha.“
„Was
ist Mama“, fragt der kleine Junge.
Irgendwie erweicht sich plötzlich mein Herz dem Kind in meinen
Armen gegenüber.
„Eine
Mama gibt dir zu essen und sie hält dich im Arm“, erkläre ich ihm
und erinnere mich an meine eigene Kindheit. „Und wenn sie dich
hält, dann fühlst du dich warm und sicher.“
„Ich
will Mama“, sagt der kleine Junge, der niemals in einem Mutterleib
gewesen ist. Mit leiser Stimme wiederholt er jetzt immer wieder: „Ich
will Mama, ich will Mama.“
Es war weniger eine Forderung, mehr ein Brummen, um sich selbst zu
beruhigen und sich die Angst davor zu nehmen, allein gelassen zu
werden, als ob er Frieden im Klang seiner eigenen Stimme suche.
Sanfte Wärme überflutet mich, und auf einmal spüre ich, wie ich
anfange, das Kind gern zu haben. Und irgendwie bin ich mir auch ganz
sicher, dass meine so liebevolle Luscinia dem Kleinen ebenfalls ihre
Liebe schenken wird. Der Kopf des erschöpften Babys liegt jetzt auf
meiner Schulter, und ich flüstere ihm ins Ohr: „Du wirst sie bald
sehen, sehr bald schon.“
Und während das Kind einschläft, gehen Ms Alba und ich langsam
zum Aufzug, und als wir den verlassen, sind wir wieder in der
Eingangshalle, wo wir Mr Wang, den Professor und die anderen treffen.
Als die mich so mit meinen blutbeschmierten Händen und Kleidern
sehen, ist ihr Entsetzen deutlich hörbar, aber Ms Alba schüttelt
nur den Kopf: „Kurz gesagt haben wir das Gen-Labor ausreichend mit
Nanobots besprüht. Die Transhumanisten werden lange brauchen, um es
wieder aufzubauen. Den Rest erklären wir euch später.“
„Aber
wer ist das“, fragt Vance Drake und betrachtet das schlafende Kind
argwöhnisch.“Ist das nicht das Alpha-Ding, der König oder war es
doch der Prinz des Universums?“ Tiefer Sarkasmus liegt in seiner
Stimme.
Ich schüttele nur den Kopf und erkläre entschieden: „Das ist
mein kleiner Bruder Al, einfach nur Al.“
Vance Drake schnieft, zuckt mit den Achseln und dreht sich weg.
Die Männer seines Teams murmeln etwas untereinander, geben aber
keinen lauten Kommentar ab. Ich vermute mal, sie denken, dass die
ganze Sache nicht ihre Kopfschmerzen sein werden, und auch nicht die
von ihren eigenen Heimatdörfern.
Was auch immer dieses Kind ist, sei es nun menschlich oder
nicht-menschlich, wenn sie mich nach Spesaeterna zurückkommen
lassen, dann müssen die Leute dort damit umgehen. Vance Drake sieht
für einen Augenblick zu Mr Wang und dem Professor hinüber, aber
deren Minen sind undurchdringlich.
Wir alle verlassen das Gebäude gemeinsam, Vance und sein Team
allerdings, machen sich in eine andere Richtung auf als die Leute von
Spesaeterna mit mir und dem Baby. Die Texaner werden für mindestens
noch einen Tag im Land bleiben.
Während wir zum Parkplatz gehen, informiert Mr
Wang Ms Alba und mich, über das, was er und der Professor geschafft
haben:
„Wir
haben jedes einzelne der Fluggeräte, einschließlich der Motoren und
der Kontroll-Funktionen, besprüht. In ein paar Stunden werden die
alle wie Schweizer Käse aussehen“, prahlt Mr Wank, ganz
uncharakteristisch fröhlich.
Schweizer Käse... das bringt mich beinahe zum Lächeln, aber ich
denke an Mr Tanner, seufze stattdessen und schlucke meine Tränen
hinunter. Wenn ich in Spesaeterna lebe, dann kann ich vielleicht
irgendwann einmal diesen Ort besuchen, den Mr Tanner so geliebt
hat... Wir werden dort zusammen hingehen, beschließe ich hier und
jetzt, Luscinia und ich... und Al.
Ms Alba informiert jetzt die anderen über das, was mit Mr Tanner
geschehen ist, und warum wir den kleinen Alpha mitgenommen haben. Das
setzt der Freude über die Erfolge des Tages einen Dämpfer auf, und
alle verfallen in Schweigen bis wir zum Auto kommen.
Als ich versuche Ms Alba das Kind wieder zu übergeben, wacht es
beinahe auf. Ms Alba schüttelt den Kopf und erklärt zu meiner
Überraschung: „Ich kann dieses Fahrzeug fahren.“
Dann verwandelt sich ihr Gesichtsausdruck mit dem ersten Lächeln,
das ich je an ihr beobachtet habe. „In dem Dorf, in dem ich
aufgewachsen bin, da haben sie immer noch so ähnliche Fahrzeuge
benutzt, und ich habe gelernt sie zu fahren.“
Sie nimmt mir die Schlüssel ab und reicht die braune Tüte, die
sie getragen hat, dem Professor. Danach setzt sie sich auf den
Fahrersitz des Autos, Mr Wang setzt sich neben sie, der Professor und
ich steigen hinten ein. Und ja, Ms Alba ist wirklich eine kompetente
Fahrerin, die vorsichtig durch den dichten Verkehr von Nephilim City
manövriert.
Der Professor liest von seinem Armbandkontroller ab, und
informiert uns alle über den Erfolg der restlichen Mission.
Darryls Team hat jetzt die vollständige Kontrolle über das
Sicherheitszentrum erlangt. Sie haben die Überwachung der
implantierten Ortungschips ausgeschaltet, ebenso wie das landesweite
Kamera- und Abhörnetzwerk, die Kommunikationsnetze der
Sicherheitsvollstrecker und vor allem die Netzverbindungen zu den
militärischen Trainingslagern außerhalb von Nephilim City. Und
natürlich haben sie alle Systeme mit Nanobots eingesprüht.
Die Evakuierung der Frauen aus den Projekten hat ebenfalls
begonnen. Cass Dakota berichtet, dass jetzt vor jedem einzelnen der
494 Venus-Projekte ein Freiwilligen-Team steht, und diese bereits
begonnen haben, in sie einzudringen und den Frauen dort die Ausreise
aus dem Land anzubieten.
Patrick und seine Leute haben ihre Nanobots überall in der
Drohnen-Fertigungsanlage verteilt, und die Zerstörung der Anlage ist
bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Bis jetzt ist den Teams
noch keine relevante Gegenwehr begegnet. Die wenigen Schüsse, die
abgegeben wurden, konnten die elektronischen Schilde nicht
durchdringen
Wenn die transhumanistischen Führer allerdings irgendwann die
Kommunikation zu den Trainingslagern vor der Stadt wieder hergestellt
haben, dann wird mit Sicherheit ein effektiverer Widerstand gegen
unsere Operation zu erwarten sein. Das ist der Grund, warum wir alle
Teil-Operationen so schnell wie nur möglich durchführen und zum
Ende bringen sollten, um so größeres Blutvergießen unter den
Freiwilligen und den Flüchtlingen zu vermeiden.
„Die
Erfindungen meines Vaters und die Waffen von Nephilim City waren
eigentlich nie eine wirkliche Bedrohung für die äußere Welt, wenn
man sieht wie schnell und effektiv die Technologie sich dort anpassen
kann“, stelle ich mit leiser Stimme fest, um das Baby nicht
aufzuwecken.
Der Professor stimmt mir zu: „Die halbe Menschheit auszulöschen
und die Welt zu übernehmen, war mit Sicherheit nichts als ein
grandioses Fantasiegespinst der Transhumanisten. Allerdings, wenn sie
das Überraschungsmoment gehabt hätten, dann hätten sie mit
Sicherheit enormen Schaden und großes Leid anrichten können. Viele
Menschen wären gestorben. Deshalb ist es wirklich gut, dass ihr
beiden, du und Luscinia, rechtzeitig gekommen seid, um uns zu
warnen.“
Ich denke an meinen Vater, der dort unten in der Anlage liegt,
gleich neben dem toten Mr Tanner. Bald wird er aufwachen und Mr
Wurner auch. Ihre Träume die Menschheit durch eine neue Spezies ohne
Frauen zu ersetzen, haben sich nicht geändert. Und sie sind nicht
die einzigen in Nephilim City, die so denken. Es läuft mir eiskalt
den Rücken hinunter.
„Der
Hass dieser Transhumanisten ist immer noch da“, stelle ich in
leisem Ton fest. „Irgendwann werden sie ihre Technologie auch
angepasst haben, genau wie ihr das getan habt. Und dann könnten sie
das alles noch einmal versuchen.“
Mit einem Blick auf Ms Albas Rücken füge ich hinzu: „Das
Damokles-Schwert hängt immer noch über der Menschheit.“
Der Professor nickt: „Es wird immer dort sein. Wir nennen es die
menschliche Natur. Aber dieses Schwert hängt nicht über uns, es ist
tief in uns verborgen und sticht uns, es droht jeden Anstand, jede
Integrität, jedes Mitgefühl und alle Liebe wegzuschneiden. Mit
jeder Gewalttat, die wir begehen oder die wir zulassen, schneidet es
ein bisschen mehr von uns ab, bis nichts mehr übrig ist als Hass und
Gier.“
Ich denke eine Weile darüber nach, und widerstrebend muss ich
zustimmen. Heute habe ich dieses Schwert selbst genauso stark in
meinem Herzen gespürt, wie ich das Messer in meiner Hand gefühlt
habe.
Ms Alba stoppt, wir sind am Ziel angekommen. Wir lassen das Auto
stehen und betreten die Gasse zu Fuß. Ein Freiwilliger, den ich
nicht kenne, der uns aber offensichtlich erkennt, bewacht den
Eingang. Wortlos lässt er uns vorbei. Sobald wir hinter dem
elektronischen Schild sind, können wir erkennen, dass sich seit
heute Morgen dort viel verändert hat. Jetzt ist die Gasse in
keinster Weise mehr verlassen und leer.
Mehrere lange Reihen von Menschen warten zur Zeit darauf in den
Kanalisationsschacht hinunterzuklettern. Es sind meist Frauen, aber
auch einige Elternpaare mit ihren Kindern sind unter ihnen. Ich
erkenne Nanami und Pedro Allegri ganz vorne in der Schlange, und ich
bin froh. Ihre kleine Tochter hat sich in den letzten drei Wochen
fast jede Nacht in den Schlaf geweint, während Luscinia versucht
hat, sie mit dem Versprechen zu trösten, dass ihre Eltern sie bald
abholen würden. Jetzt würde Natsuki ihre Eltern endlich
wiedersehen.
Da Nephilim Citys Sicherheitskräfte noch immer völlig verstreut
sind und keine Möglichkeit haben, miteinander zu kommunizieren,
haben sie den Ort der Infiltration und die Fluchtroute noch nicht
entdeckt. Aber ich vermute, dass sich das in ein paar Stunden ändern
könnte. Zum Plan gehört jedoch, dass Darryl Kenneth und die anderen
Texaner bis dahin ein paar dutzend neue Zugänge geöffnet haben. Wir
hoffen auch, dass in der Zwischenzeit auch ein paar Transmitter mit
Lautsprechern aufgebaut werden können, mit denen die äußere Welt
Botschaften an die Bewohner von Orange Country übermitteln kann.
Wenn alles gut geht, dann könnten diese Transmitter dann auch zu
einer permanenten Verbindung des ganzen Landes zum Friedensnetz
werden. Allerdings liegt dies noch völlig im Ungewissen.
Wie alle anderen so wartet auch unsere kleine Gruppe geduldig
darauf, bis wir an die Reihe kommen, um nach unten zu klettern. Als
wir endlich vorn angekommen sind, stelle ich erleichtert fest, dass
bereits eine Halterung installiert wurde, mit der kleine Kinder in
einem Korb nach unten hinabgelassen werden können.
Zuerst klettert Ms Alba, dann Mr Wang, dann der Professor und zum
Schluss ich selbst die Leiter hinunter. Hinterher warte ich darauf,
dass der Korb mit Alpha herabgelassen wird, wobei der Professor, der
neben mir steht, ganz beiläufig bemerkt: „Dieses Kind großzuziehen
wird nicht leicht sein.“
Ich werfe dem Professor einen ärgerlichen Blick zu. Natürlich
weiß ich das. Mir wurde im Detail von John Galt selbst erklärt,
was seine gen-technische Veränderungen in Alphas Gehirn bewirken
sollten. Und außer diesen gewollten Effekten, waren da dann auch
noch die ungewollten Nebenwirkungen, die immer da sind, wenn man mit
der Natur herumgepfuscht hat.
Vorsichtig hebe ich das immer noch schlafende Kind aus dem Korb
und lege ihn mit dem Kopf auf meine Schulter. Furchteinflößende
Voraussagen würden das Ganze nicht einfacher machen.
Nachdem wir ein paar Schritte nebeneinander hergegangen sind,
wiederholt der Professor seine Vorhersage: „Es wird schwierig sein,
ihn zu erziehen.“ Dann fügt er hinzu: „Genauso schwierig war es,
mich zu erziehen.“
Genau wie zu Beginn dieses langen und harten Tages wirft mir der
Professor wieder einen ermutigenden Blick zu, bevor er schneller geht
und mich hinter sich lässt. Ich erinnere mich daran, dass der
Professor der Großonkel des kleinen Mädchens ist, des Mädchens mit
der Geschichte, Hope Morgan.
Immer noch mit der braunen Tüte in der Hand, die er von Ms Alba
übernommen hat, der Tüte, für die Mr Tanner sein Leben gegeben
hat, geht der Professor jetzt voran. Ich folge ihm vorsichtig. Jeder
Schritt bringt mich und das Baby näher zum Ende des Tunnels, zum
sicheren Ausgang und in die Arme Luscinias.
Während ich dem gleichmäßigen Atmen des Kindes zuhöre, löst
sich eine schwere Last von meinen Schultern. Ich denke an Betha und
die anderen genetisch manipulierten Kinder. Ich bin froh, dass mich
Mr Tanner überredet hat, sie am Leben zu lassen. Und ich bin mir
ganz sicher, dass Luscinia nach allem, was sie selbst durchgemacht
hat, auch froh darüber sein wird, dass ich so gehandelt habe.
Und ganz gleich, was John Galt diesen Kindern genetisch angetan
hat, so bin ich mir doch sicher, dass es da zwischen dem Professor,
Luscinia und mir immer noch eine Menge Hoffnung gibt, zumindest für
meinen kleinen Bruder Al.
***
EPILOG
Als
David aufwachte, war es bereits Nachmittag. Die Sonne schien durch
die Fenster seiner Kellerwohnung und ließ alles in einem
freundlicheren und sanfteren Licht erscheinen als in den letzten
Tagen.
David spürte die Verzweiflung nicht mehr, die ihn vor zwei Tagen so
tief niedergedrückt hatte, aber er fühlte sich sogar noch einsamer,
beinahe so als ob ein Teil seiner selbst jetzt fehlte.
Und dann kamen die Zweifel, wie eine Welle der Zerstörung wuschen
sie über sein Bewusstsein. War gestern wirklich geschehen, oder die
Nacht davor, die Spesveniat U-Bahn-Station?
David griff in die Taschen seiner Jacke. Ja, die Bus-Tickets und die
Besucherkarte für die Aussichtsplattform des Vampire State Buildings
waren noch da, und ebenso war da die Visitenkarte von Antonio
Santini, dem Besitzer des Bella Italia. David hatte gestern wirklich
mit Mr Santini gesprochen, und es gab eine echte Chance, dass ihm
heute Abend ein neuer Job angeboten würde.
Aber das reichte ihm nicht. Mr Santini hatte Hope nicht gesehen, und
auch die Leute auf der Aussichtsplattform hatten das nicht. Aber es
gab eine einzige Person, die Hope auch gesehen hatte, Jeremy Johnson.
Klar jemand, der immer ein unsichtbares grünes Männchen bei sich
hatte, der war nicht unbedingt der allerglaubwürdigste Zeuge. Und
trotzdem brauchte David ihn. Jeremy hatte Hope gesehen, und mit ihm
könnte David vielleicht über sie sprechen. Das würde sie natürlich
nicht zurückbringen, aber zumindest würde es sie vielleicht doch
realer erscheinen lassen. Und David wünschte sich von ganzem
Herzen, dass Hope real war, viel mehr noch als er sich den Job
wünschte, den Mr Santinis Freunde ihm vielleicht anbieten würden.
Aber Jeremy war obdachlos. Wo findet man denn eine obdachlose
Person...? Und dann erinnerte sich David, in der St. Marys
Unterkunft, natürlich.
Jeremy hatte David erzählt, dass er dort übernachtet hätte, wenn
die Unterkunft nicht voll gewesen wäre, und dass er sich auch dort
manchmal Bücher von einer Schwester Veronica auslieh.
David duschte, rasierte sich gründlich und zog sich so an, dass er
bei der Obdachlosen-Unterkunft hoffentlich nicht mit einem der
regulären Gäste verwechselt würde.
Bevor er seine Wohnung verließ, fiel sein Blick noch einmal auf den
Laptop auf dem Wohnzimmertisch. Es gab da noch etwas, das er
unbedingt tun musste, und zwar so schnell wie möglich. Hope's
Geschichte musste er aufschreiben... und seine, von der ersten
Sekunde an, in der er ihre Stimme gehört hatte, bis zu dem
Augenblick, als sie ihn verlassen hatte, das heißt, wenn sie
überhaupt je real gewesen war, natürlich. Also nahm David seinen
Laptop mit, er könnte ihn ja benutzen, wenn es irgendwo eine
Wartezeit gab.
Obwohl er dem kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, so erinnerte sich
David vage, dass er schon einmal an der St. Marys Unterkunft
vorbeigegangen war. Sie war nicht allzu weit entfernt von seiner
Straße, nur auf der anderen Seite von St. Francis Park und auch gar
nicht weit vom Bella Italia.
Als David die Straße entlang ging, sah er sich nach der Frau mit dem
Einkaufswagen um. Er konnte sie nirgendwo entdecken, genauso wenig
wie die beiden Jungen von letzter Nacht. Die waren wahrscheinlich
noch in der Schule oder nein doch nicht, es war ja immer noch der 1.
Mai. Aber vielleicht waren sie ja bei 'Granny'.
Auf der anderen Seite der Straße, genau gegenüber der Bank, auf der
David fast die ganze letzte Nacht verbracht hatte, befand sich ein
Laden für Computer Zubehör. Natürlich, dachte David, da war da
noch etwas wichtiges. Und ja, in der Auslage lag genau der silberne
USB-Schlüssel, den er unbedingt haben musste.
Als David an der Obdachlosen-Unterkunft angekommen war, sah er dort
sieben oder acht Männer im Hof warten. Ein paar saßen auf den
beiden Bänken vor dem Haus, wo sie vor sich hin in die Luft
starrten, andere standen einfach an die Wand gelehnt, rauchten oder
redeten miteinander.
Als David nach Jeremy Johnson fragte, bekam er erst mal nur ein paar
leere Blicke oder ein Kopfschütteln zur Antwort. Endlich sagte ein
Mann mit einem graugescheckten Bart: „Jeremy hat hier letzte Nacht
geschlafen. Heute Morgen hat er dann mit Schwester Veronica in ihrem
Büro gesprochen, danach ist er weggegangen.“
Der Mann deutete auf die offene Tür hinter sich. David dankte ihm
und betrat das Gebäude. Im Eingangsbereich stand eine Art
Rezeptionstresen, der zur Zeit allerdings nicht besetzt war. Die
Stühle, Bänke und das alte Sofa, die an den Wänden aufreiht waren,
waren jedoch alle besetzt.
Eine Doppeltür, die vom Eingangsbereich abging, trug die Aufschrift:
'Suppenküche'. Durch die Scheibe in der Tür konnte David erkennen,
dass dahinter zwei Männer gerade dabei waren, den Boden und die
Tische abzuwischen. Sie schienen genau wie alle anderen hier auch
obdachlos zu sein. Eine zweite massive Tür trug die Aufschrift:
'Unterkünfte'. Sie war zur Zeit verschlossen.
Die dritte, kleinere Tür daneben, die als Büro gekennzeichnet war,
stand offen. Durch sie konnte man in einen kleinen Raum blicken, wo
eine Nonne in einer blauen Tracht, hinter einem Schreibtisch saß.
Von ihrem Stuhl aus hatte sie den Eingangsbereich gut im Blickfeld.
Sie schrieb gerade etwas in eine Akte.
Als David an die offene Tür klopfte, sah sie auf und lächelte.
David lächelte entschuldigend zurück und brachte seine Frage vor:
„Entschuldigen Sie bitte, Schwester, für die Störung, wo sie
gerade so beschäftigt sind. Aber mir wurde gesagt, dass Jeremy
Johnson heute Morgen mit Ihnen geredet hat. Er ist ein Freund von
mir, und ich müsste unbedingt mit ihm sprechen. Können Sie mir
vielleicht sagen, wo er sich zur Zeit aufhält?“
„Im
Augenblick sollte Jeremy in einem Flugzeug nach Alabama sein mit
anschließender Busfahrt nach Castelberry,“ antwortete die Nonne
mit einem noch breiteren Lächeln. Und mit einem freudigen Ton in der
Stimme fügte sie hinzu: „Er fliegt nach Hause.“
„Nach
Hause?“ David war enttäuscht und gleichzeitig verwirrt. „Aber
gerade gestern noch hat mir Jeremy gesagt, er könne nicht nach Hause
gehen. Er könnte es einfach nicht ertragen, die Kinder dort zu
sehen.“
„Ja“,
nickte die Schwester, „das hat er ständig gesagt. Aber heute
Morgen hat er seine Meinung geändert. Ich hatte schon lange einen
Gutschein für ein Flugticket für ihn in der Schublade, das war von
einer Veteranen-Organisation bezahlt worden. Ich habe ihm dann den
Flug und das Busticket gebucht, als Jeremy mir heute endlich
erklärte, dass er bereit sei nach Hause zu gehen. Ein paar Freunde
hätten ihn davon überzeugt, eine Hope Morgan und ein David.
Die Schwester sah ihn einen Augenblick an. Dann stellte sie fest:
„Sie müssen David sein. Ich bin übrigens Schwester Veronica.“
„Ja
Schwester, mein Name ist David Ragnarsson, tut mir Leid, dass ich
mich nicht gleich vorgestellt habe“, entschuldigte sich David. Dann
fragte er vorsichtig: „Ist... Mr Green immer noch bei ihm?“
„Ja,
und ich glaube, Jeremy wird Mr Green wohl noch für eine ganze Weile
brauchen“, erwiderte die Nonne lächelnd.
David nickte und fügte hinzu: „...damit er ihm sagt, dass er immer
noch ein Mensch ist.“
„Jeremy
hat mir gesagt, dass Ihre Freundin Hope, so etwas ähnliches ist, wie
Mr Green“, kommentierte Schwester Veronica.
Das war David jetzt ziemlich peinlich und er erklärte: „Sie ist
wieder nach Hause gegangen, war nur für ein paar Tage hier. Und sie
war nicht ganz so, wie Mr Green, wirklich nicht“...
Die Schwester nickte nachdenklich: „Sie war hier, als sie sie
gebraucht haben, nicht wahr?“
David seufzte und gab zu: „Ja, das war sie, das war sie wirklich.“
„Dann
ist das alles, was zählt“, schloss Schwester Veronica das Thema
ab.
David nickte in vorsichtiger Zustimmung und wechselte dann das Thema:
„Jeremy hat mir erzählt, dass er öfters Bücher von ihnen
ausgeliehen hat, Schwester, meistens Dickens.“
Schwester Veronica lachte sanft: „Ja, Jeremy ist ein fleißiger
Leser. Er meinte auch, dass Sie vielleicht auch einmal hierher kommen
würden, vielleicht auch um ein Buch auszuleihen...“
David lächelte: „Wer weiß, Schwester, vielleicht komme ich
wirklich eines Tages. Aber im Augenblick besitze ich immer noch einen
Bücherei-Ausweis.“
Unwillkürlich fiel Davids Blick auf das gut-bestückte Bücherregal
hinter dem Schreibtisch von Schwester Veronica. Ja, da gab es viele
Bücher von Charles Dickens, gleich neben denen über einige Heilige.
Auf einem Regal standen mehrere Bibeln in verschiedenen Sprachen, was
nur natürlich war, aber gleich daneben im Regal standen zwei Korane,
einer auf Englisch und einer auf Arabisch.
Schwester Veronica war seinem erstaunten Blick gefolgt und
kommentierte: „Es sind nicht nur Christen, die zu uns in die
Unterkunft kommen, wissen Sie.“
Schließlich fiel Davids Blick auf ein kleines Buch, das im Regal
direkt unter den religiösen Klassikern stand. Das trug den Titel
'Eine kurze Geschichte der Zeit'.
Er deutete auf das Buch und fragte: „Haben Sie das gelesen?“
„Tatsächlich
habe ich das“, antwortete Schwester Veronica zu Davids
Überraschung.
„Was
denken Sie darüber“, fragte David, „wenn der Autor das Universum
ohne einen Gott erklärt?“
„Ob
das meinen Glauben in Frage stellt, meinen Sie?“ interpretierte
Schwester Veronica Davids Frage.
Sie schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich brauche Gott nicht,
um mir das Universum zu erklären, aber ich brauche Ihn, um mich
selbst zu erklären.“
Das fand David interessant: „Sie selbst, Schwester, wie meinen Sie
das?“
„Kennen
Sie die Geschichte von Moses und dem brennenden Busch“, fragte
Schwester Veronica zurück.
David erinnerte sich vage, dass seine isländische Großmutter ihm
einmal so eine Geschichte aus einer Kinderbibel vorgelesen hatte. Er
nickte.
Schwester Veronica erklärte weiter: „Als die Stimme Gottes zu
Moses durch den brennenden Busch sprach, da fragte Moses Gott, bei
welchem Namen sein Volk Ihn nennen sollte. Und Gott antwortete, sage
ihnen: 'Ich bin, der Ich bin hat dich ausgesandt'.
Gott ist der absolute 'Ich bin', derjenige, der existiert und sich
seiner eigenen Existenz bewusst ist. Und er hat uns als kleine 'ich
bin's' erschaffen, als Wesen, die auch ihre eigene Existenz bewusst
wahrnehmen können. Und im Unterschied zu allen anderen Lebewesen auf
der Erde, sind wir auch in der Lage, die große Frage 'Warum' zu
stellen.
Und so wird für uns kleine 'ich bin's' der Gott, der uns erschaffen
hat, zum großen 'Du' über uns. Und wann immer ich die Verbindung zu
dem großen 'Du' über mir verliere, dann verliere ich bald auch die
Verbindung zu dem 'du' neben mir oder zu 'dir', der genau vor mir
steht. Du wirst dann zu einem 'Es', einem Objekt, das ich benutzen
und wegwerfen kann.
Und wenn das einmal geschieht, dann verblasst auch das 'ich' in mir
mit der Zeit. Mein eigenes Leben wird jetzt zu einem Objekt, nicht
anders als andere Objekte, eines das benutzt wird und abgenutzt, nur
damit es am Ende weggeworfen werden kann, wenn es seinen Nutzen
verliert.“
Schwester Veronica hielt für einen Moment inne, und der
nachdenkliche Blick, mit dem sie David musterte, bereitete ihm
Unbehagen. Es schien ihm, als ob sie direkt in seine Seele sah, in
deren tiefste Winkel, um dort sein dunkelstes Geheimnis auszumachen,
den Moment als er dort vor zwei Nächten direkt unter der digitalen
Uhr der Spesveniat U-Bahn Station stand.
Glücklicherweise für Davids psychische Verfassung, gab es jetzt ein
lautes Geschrei in der Halle hinter ihm. Irgendjemand hatte wütend
aufgeschrien, was nun von einer anderen zornigen Stimme beantwortet
wurde.
Schwester Veronica sah durch die Tür hinter David. „Tut mir leid,
aber ich muss mich jetzt um etwas kümmern,“ entschuldigte sie
sich. „Aber Sie sind herzlich eingeladen, jederzeit wieder
herzukommen, und dann können wir unser kleines Gespräch gern
fortsetzen. Wenn Sie jedoch jetzt sofort noch ein bisschen mit
jemandem sprechen möchten, dann gehen Sie doch nach nebenan“, sie
deutete nach rechts. „Dort ist immer jemand mit einem offenen Ohr,
der nie zu beschäftigt ist, um zuzuhören.“
Damit lief Schwester Veronica an David vorbei, um den Sturm zu
beruhigen, der gerade im Anzug war, während dieser noch in der
verbalen Phase verharrte.
Langsam verließ David die Unterkunft. Schwester Veronica schien ihn
irgendwie durchschaut zu haben, und das war ihm äußerst unangenehm.
Es gab Dinge, von denen er wollte, dass niemand von ihnen wusste,
außer Hope natürlich...
Rechts neben der St. Marys Unterkunft war natürlich die Kirche von
St. Mary.
David dachte an Hope. Jeremy Johnson hatte Schwester Veronica von ihr
erzählt. Das sollte doch jetzt genau die Bestätigung ihrer
wirklichen Existenz sein, nach der sich David so sehr gesehnt hatte
oder nicht? Aber die Zweifel quälten ihn natürlich immer noch,
Jeremy war einfach kein besonders verlässlicher Zeuge.
Andererseits war es für David dann doch so, als ob die Erinnerung an
Hope nach diesem Gespräch mit der Nonne ein klein wenig realer
schien als vorher.
Was tut sie jetzt wohl gerade, fragte er sich. Vermutlich bereitet
sie sich auf die Dorfratsversammlung vor. Würden die Leute auf sie
hören, würde man ihr überhaupt erlauben, daran teilzunehmen?
Vielleicht redete sie gerade in diesem Augenblick mit ihrem Großonkel
oder Mr Wang...
In diesem Augenblick? David konnte nur über sich selbst lachen. Hope
war ja noch nicht einmal geboren, würde erst in über 200 Jahren
leben... wenn überhaupt...wenn sie jemals existieren würde...
David seufzte, die Zeit schien mehr und mehr ein Paradoxon zu sein,
unerklärlich oder zumindest unbegreiflich für ihn. Er sah die
Kirche an. Für sich selbst würde er nie so einen Ort betreten,
gleichgültig, was Schwester Veronica vorschlug, aber er wünschte,
er wäre gestern dort hinein gegangen. Hope hätte es sicher
gefallen. Und so betrat David trotzdem, beinahe gegen seinen eigenen
Willen, die Kirche von St. Mary.
Drinnen war es ziemlich dunkel. Die bemalten Mosaik-Fenster ließen
nicht viel Tageslicht eindringen. Die hellsten Lichtflecken
leuchteten von einem Kerzenständer, neben der Statue der Jungfrau
Maria. Die stand beinahe lebensgroß auf der linken Seite der Kirche,
ein wenig unterhalb des Hauptaltars.
Schwester Veronica hatte Unrecht gehabt, dachte David. Hier war im
Augenblick kein Priester und auch kein anderer Kirchenangestellter,
mit dem man hätte sprechen können. Ein paar wenige Leute knieten in
Bänken und beteten. Die hatten sicher ihre eigenen Probleme und
bestimmt keine Zeit, ihm zuzuhören.
David näherte sich der Statue der Jungfrau neben den Kerzen. Zu
seiner Überraschung faszinierte ihn diese Skulptur. Der Bildhauer
musste eher modern eingestellt gewesen sein, denn er hatte die Maria
nicht wie sonst üblich als eine weiße, europäisch aussehende Frau
porträtiert. Diese sah weit eher wie eine Frau aus dem Nahen Osten
aus, die sie ja in der Realität gewesen sein musste.
Aber der Künstler hatte etwas noch Faszinierenderes in seine Arbeit
eingebracht. Es war der Ausdruck auf dem Gesicht und der
Körperhaltung der Figur. Oder vielleicht war es ja auch nur der
Schein der Kerzen, die diesen bestimmten Eindruck erweckten. Aber
irgendwie erinnerte David die Statue an Hope, und zwar genau wie er
sie zuletzt gesehen hatte, eine junge Frau, die eine schwere Last auf
sich genommen hat und bereit ist sie zu tragen, weil sie sich um
andere mehr sorgt, als um sich selbst...
'Eine Kerze 50 Cent' stand auf dem Schild der Sammelbüchse neben dem
Kerzenständer. David suchte nach Kleingeld in seinen Taschen. Er
fand ein paar Münzen, die im Ganzen einen Wert von knapp über 2
Dollar hatten. Ohne viel nachzudenken warf er sie alle in die Büchse,
nahm den Kerzenanzünder, der daneben lag, und zündete die erste
Kerze an:
Eine Kerze für Hope und für ihre Welt, die in so großer Gefahr
schwebt, dachte er. Die nächste war für seine eigene Welt, die noch
viel mehr Probleme hatte. Und die dritte... David zögerte für einen
Moment und traf dann die Entscheidung. Diese Kerze war für ihn
selbst und für seine eigene Zukunft. Und die vierte...nein, David
schüttelte den Kopf, drei Kerzen waren genug. Hope würde drei
mögen.
Nach einem letzten Blick auf die Statue, drehte David sich um und
ging aus der Kirche.
Als er einmal draußen war, atmete er tief ein, er schüttelte seinen
Kopf und fragte sich, was da eigentlich in ihn gefahren war. Kerzen
anzünden für irgendetwas, war das nicht der Gipfel des
Aberglaubens? Na ja, zumindest hatte ihn niemand dabei gesehen. Es
war einfach so, dass die letzten paar Tage seinen Sinn für die
Realität ziemlich durcheinander gebracht hatten
Aber Hope, ja Hope war etwas völlig anderes. In welcher Realität
sie auch existierte, war irrelevant, David musste unbedingt dieses
eine für sie tun. Er berührte den USB-Schlüssel in seiner
Jackentasche. Ja, er würde all dies niederschreiben, woran er sich
von gestern und der vorherigen Nacht erinnern konnte, und ganz
besonders, diese Raum-Zeit-Koordinaten, von denen Hope gesprochen
hatte. Er musste sie einfach auf einer Datei verewigen, weil es ja
doch sein könnte, nur vielleicht...
David wandte sich in Richtung des 'Bella Italia' Restaurants.
Schließlich erwartete ihn Mr Santini dort, und David hatte Hunger.
Er hatte sich nun entschieden. Ja, er würde diesen Job ganz bestimmt
annehmen, wenn er ihm wirklich angeboten würde. Und ja, das würde
ihn auch mit Sicherheit wieder auf dem Radar dieses 'Clubs'
erscheinen lassen, des Clubs, in dem sein früherer Freund Ed ein so
treues Mitglied war.
David dachte an die unabhängigen Journalisten, die so glaubwürdig
'Selbstmord' begangen hatten, indem zum Beispiel zwei Kugeln
hintereinander in den Kopf geschossen wurden; oder an die, welche
furchtbare 'Unfälle' erlitten hatten, zum Beispiel in einem
Mercedes, dem doch angeblich sichersten Auto der Welt, das vor einen
Baum gefahren und in einem Feuerball explodiert war. Ja auf so einem
Club-Radar zu sein, war nicht unbedingt der sicherste Ort der Welt.
David war durch seine eigene Hölle gegangen, und er war
zurückgekommen. Das Leben und vor allem die Zukunft sahen jetzt viel
besser aus, hoffnungsvoller. Er wusste jetzt, dass er an diesem Leben
hing.
Im Geist sah David Hope und ihre Welt, und er atmete tief ein. Es gab
aber Zeiten, wo es für einen Mann einfach notwendig war, an mehr zu
denken als nur an sich selbst, ein bisschen Mut zu zeigen und etwas
zu riskieren. Und genau so eine Zeit war es jetzt. Aber zuerst musste
er etwas aufschreiben.
Aber dann blieb er stehen. Nein, was er jetzt nicht unbedingt
gebrauchen konnte war, dass Mr Santini ihm über die Schulter
schaute, während er die Erlebnisse mit einem unsichtbaren Kind und
die Sache mit dem Selbstmordversuch niederschrieb. Das könnte dann
seine Aussichten auf den Job ziemlich schnell radikal verringern.
David war gerade an einem Lokal mit dem Namen 'Every Day Diner'
vorbeigegangen. Er drehte sich um und beschloss, dass dies genau der
richtige Ort war, um mit seiner Geschichte zu beginnen. Er hatte dort
schon früher ein paar Mal gegessen. Der Laden war sauber, dass Essen
war annehmbar und die Bedienung schnell und effizient. Am wichtigsten
aber war, dass man dort so lange ungestört sitzen konnte, wie man
wollte. Er hatte da auch schon andere gesehen, die dort drin auf
ihren Laptop eintippten.
David betrat das Diner und sah sich nach einem freien Tisch möglichst
weit hinten um. Er fand einen gleich neben dem Eingang zur Küche. Am
nächsten Tisch saß ein einsamer kleiner Junge vor einem
Sprudel-Getränk, der seinen Kopf tief in einem Buch vergraben hatte.
Seine Schultasche stand unter seinem Stuhl.
Am Tisch gegenüber war eine junge Familie mit zwei Kindern gerade
dabei aufzubrechen, und David nahm an, dass das jetzt bedeutete, dass
seine Ecke ziemlich ruhig sein würde, da das Diner nun beinahe leer
war, und neue Kunden sich sicherlich bessere Tische aussuchen würden.
Als die Bedienung kam, bestellte David einen Schinkenburger mit
Pommes, was an diesem Tag das preis-reduzierte Gericht war, und dann
holte er den Laptop aus seiner Tasche.
Wie sollte er diese sonderbare Geschichte beginnen, eine Geschichte,
die vielleicht oder vielleicht auch nicht, irgendwann einmal in der
Zukunft gelesen werden würde...?
Sie sollte wohl mit einer persönlichen Wahrheit anfangen, beschloss
David und begann zu schreiben:
Im dunkelsten Augenblick tiefster Sinnlosigkeit, als ihm nichts
mehr geblieben war als Verzweiflung,... da kam die Hoffnung zu ihm...
Sie war noch klein, vielleicht sogar winzig.... aber eines Tages
würde sie geboren werden.
…
oder sollte er eher schreiben, sie könnte geboren
werden...? Natürlich konnte er sich da nicht sicher sein..., würde
es nie sein....
Schon wieder kamen diese bedrückenden Zweifel in ihm hoch, sie
störten seine Konzentration.
David seufzte und sah hoch. Da war irgendeine Unruhe im Raum, jemand
strich schnell an seinem Tisch vorbei, nahe genug, dass er den
unangenehmen Geruch, der von ihm ausging, tief in die Nase bekam. Der
junge Mann steuerte auf den nächsten Tisch zu, worauf immer noch
halbvolle Teller standen. Die Kinder der Familie, die gerade gegangen
waren, waren offensichtlich nicht besonders hungrig gewesen. Dieser
junge Mann allerdings war es mit Sicherheit.
David lächelte, dies war das dritte Mal in zwei Tagen, dass ihm eine
obdachlose Person aufgefallen war, nicht mitgerechnet die Leute bei
und in der Obdachlosen-Unterkunft, natürlich. Er hatte
wahrscheinlich jeden Tag Obdachlose gesehen, er hatte sie nur kaum
jemals angesehen. Für seine bewusste Wahrnehmung waren sie meist
unsichtbar gewesen.
David vermutete, dass der junge Mann etwa Anfang zwanzig sein musste.
Und seinem Zittern und ausgemergelten Gesicht nach zu schließen, war
er wahrscheinlich auf Entzug. Der Mann setzte sich nicht hin, sondern
stopfte sich im Stehen sofort hungrig eine Hand voll Pommes in den
Mund.
Die
Bedienung, die vorgehabt hatte, den Tisch abzuräumen, drehte sich um
und beschäftigte sich damit, einen anderen Tisch abzuwischen.
Plötzlich platzte jemand mit lautem Prusten aus der Küche. Aus
seiner Haltung und seinem unangenehm herrischen Ton zu schließen,
war er wohl der Manager des Lokals. Dieser bedachte den jungen Mann
mit jeder Menge Beschimpfungen, woraufhin sich letzterer schnellsten
aus dem Staub machte, sich vorher aber noch eine weitere Handvoll
Pommes und einen halbgegessen Hamburger grabschte.
Nachdem sein erstes Opfer verschwunden war, drehte sich der Manager
zu der Kellnerin um: „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht,
diesem Stück Dreck zu erlauben, unser Essen zu stehlen?! Und sagen
Sie mir nicht, Sie haben das nicht gesehen! Ich habe die ganze Sache
genau beobachtet!“
Die Frau leugnete nicht, den Mann gesehen zu haben, sondern erwiderte
mit leiser, entschuldigender Stimme: „Er hat nicht wirklich von uns
gestohlen. Das Essen war bereits bezahlt.“
Das reichte dem Manager keinesfalls: „ Jedenfalls, nicht von ihm;
wenn wir solchen Typen erlauben, von unseren Tischen zu klauen und
das ganze Lokal voll zu stinken, dann werden wir bald überhaupt
keine zahlenden Gäste mehr haben. Dies ist hier keine Suppenküche
und auch keine Wärmestube. Dies ist ein Unternehmen und keine
Wohltätigkeitsorganisation, auch wenn man das aus Ihrem Schildchen
da vielleicht schließen könnte!“
Der Manager stupste mit dem Zeigefinger hart auf das Namensschild der
Bedienung namens Charity. Diese wich einen Schritt zurück.
Er war allerdings noch nicht fertig mit ihr: „Und wo wir gerade
schon davon sprechen, dann sind wir hier auch kein Kinderhort. Ich
habe sehr wohl bemerkt, dass Ihr Junge hier schon über eine Stunde
herumsitzt. Wann geht der endlich nach Hause?“
Jetzt war Charity's Tonfall weit weniger defensiv: „Er hat ein
Recht hier zu sein, ich habe für sein Essen bezahlt, und jetzt
trinkt er noch sein Getränk aus.“
Der Manager war nicht zufrieden: „Er hat bereits seit einer Stunde
aufgegessen, und ein Glas auszutrinken dauert auch nicht so lange.“
„Bitte,
Mr Sanchez“, bat Charity jetzt, „Matthew hat vor nur zwei Wochen
seine Großmutter verloren. Meine Mutter hat sich vorher immer um ihn
gekümmert, während ich gearbeitet habe. Er kann einfach nicht
allein in der leeren Wohnung bleiben.“
Der Manager redete jetzt leiser, aber seine Stimme bekam einen
schmierigen Ton: „Und ich sollte dir nun in dieser Sache behilflich
sein, stimmt's? Wann hast du mir je irgendeine Wertschätzung
gezeigt?“
Mit diesen Worten rückte der Mann näher an seine Angestellte heran,
und begann ihr langsam über den Rücken nach unten zu streicheln.
Charity ging noch einmal zwei Schritte zurück, bis sie ganz an den
Tresen gepresst war.
„Na,
tu nicht so, als seist du die heilige Jungfrau“, zischte der
Manager, „oder woher kommt denn der kleine Bastard dort, aus
unbefleckter Empfängnis vielleicht, Fräulein Morgan,“ der Manager
betonte die beiden letzten Worte höhnisch.
David sah schnell zum nächsten Tisch hinüber und zu dem kleinen
Jungen, der dort saß. Der Kleine hatte seinen Kopf noch tiefer in
sein Buch begraben, während die Hände, die es hielten schneeweiß
geworden waren.
„Die
Rechnung bitte, die Rechnung“, rief David laut. Der Manager drehte
sich überrascht um. Er hatte irgendwie gar nicht bemerkt, dass er
ein Publikum hatte. Er drehte sich nun ganz um und lief schnell
durch den Kücheneingang, während die Bedienung sich Davids Tisch
näherte.
David sah Charity Morgan ins Gesicht, Tränen standen ihr in den
Augen.
Und dann traf es ihn wie ein Blitz. Diese Augen... die Farbe der
Augen... sie waren so intensiv blau, so eine tiefblaue Farbe hatte er
nur einmal außerhalb einer Kinoleinwand gesehen... und das erst so
kürzlich...
Charity Morgan, dachte er, Charity Morgan... er hätte es wissen
müssen, es erraten können...
David hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Er war viel
zu vernunftgesteuert für so etwas. Aber die Gefühle, die ihn jetzt
fast überwältigten, die mussten so was ähnliches sein...
Charity Morgan war keine besonders schöne Frau. Sie war keineswegs
übergewichtig, aber mit ihren kurzen Beinen machte sie einen plumpen
Eindruck. Ihr Gesicht war völlig ohne Make-up, und die Hände, mit
denen sie jetzt die Rechnung ausstellte, sahen aus als ob sie außer
servieren auch noch häufig den Abwasch gemacht hätten.
David nahm an, dass Charity etwa in seinem Alter war, und im
Augenblick sah sie auch keineswegs jünger aus. Tiefe Schatten lagen
unter ihren Augen, die Bände über schlaflose Nächte und einen erst
kurz zurückliegenden Trauerfall sprachen.
Charity Morgans Erscheinung zeigte weder die Klasse, die Bildung noch
die Eleganz, die Tina hatte. In der Tat hatte sie nicht die geringste
Ähnlichkeit mit irgendeiner der Frauen, mit denen David je
ausgegangen war. Sie sollte ganz und gar nicht Davids Typ sein.
Und doch war es da, dieses Gefühl sprachloser Bewunderung, des
Abhebens und Schwebens, das seinen Geist und jede Ader und Faser
seines Körpers durchflutete, ein Gefühl, das den Verstand
überschritt, eines, das er nie zuvor erfahren hatte.
David Ragnarsson liebte Charity Morgan, und doch wusste er, dass er
jetzt ganz vorsichtig sein musste, damit sie es ihm nicht gleich
ansah. Was konnte er nur sagen, um sie nicht zu erschrecken, damit
sie nicht dachte, er sei völlig verrückt, vielleicht sogar
gefährlich?
„Sie
sollten diesem Kerl nicht erlauben, Sie so zu behandeln“, murmelte
David und wusste im selben Augenblick, dass dies die falschen Worte
waren.
Charitys Blick drückte aus: Das geht Sie nichts an.
Trotzdem antwortete sie höflich, wenn auch zurückhaltend: „Wenn
man das Geld braucht, hat man keine große Wahl. Gute Jobs fallen
einem heutzutage nicht so leicht in den Schoß.“
David nickte verständnisvoll, und dann hatte er eine Eingebung: „Ich
kenne einen Job, der wäre einfach perfekt für Sie. Einem Freund von
mir gehört ein Lokal, es ist ein kleines Familienrestaurant ganz
hier in der Nähe. Und gerade jetzt braucht er eine neue Bedienung,
weil seine Tochter hochschwanger ist und er nicht will, dass sie
immer noch so viel arbeitet.“
David hatte viel zu eifrig geklungen, und deshalb sah Charity Morgan
ihn nur argwöhnisch an: „Ich zweifle daran, dass Ihr Freund gerade
mich anstellen will. Da stehen wahrscheinlich Dutzende Mädchen dort
Schlange für den Job.“
David schüttelte den Kopf: „Er wollte erst heute eine Anzeige in
der Zeitung aufgeben.“
Und bevor Charity Morgan noch weitere Einwände vorbringen konnte,
fügte David hinzu: „Ich werde ihn jetzt sofort anrufen.“
David zog sein Handy hervor, froh, dass er es letzte Nacht seit
Wochen wieder einmal aufgeladen hatte, und wählte die Nummer auf Mr
Santinis Visitenkarte. Santini antwortete sofort, und als er David
erkannte, klang er sehr erfreut: „Ich habe schon mit meinen
Freunden geredet. Sie würden sich freuen, Sie heute Abend zu
treffen. Wann könnten Sie denn hier sein?“
„Wann
immer es Ihren Freunden am besten passt“, antwortete David ehrlich,
ohne vorzugeben irgendwie beschäftigt zu sein. „Aber ich rufe
gerade wegen etwas anderem an. Wenn der Job als Bedienung noch nicht
besetzt ist, dann ist hier eine junge Frau, die perfekt dafür wäre.
Ihr Name ist Charity Morgan, und sie hat sehr viel Erfahrung auf
diesem Gebiet. Sie ist sehr fleißig und zuverlässig.“
Mr Santini antwortete: „Der Job ist immer noch zu haben, die
Anzeige wäre ja erst morgen erschienen. Und wenn Sie für Ms Morgans
Charakter bürgen, da nehme ich Sie beim Wort. Bringen Sie sie
einfach her, so dass ich mit ihr reden kann. Sie könnte dann gleich
einen Arbeitsvertrag unterschreiben.“
David sah Charitys zweifelndes Gesicht an und dann auf deren Sohn,
der nicht mehr las, sondern das Gespräch von David mit seiner Mutter
neugierig beobachtete.
David setzte sein Telefonat mit Mr Santini fort: „Ms Morgan hat
einen kleinen Sohn im Grundschulalter, ein sehr stiller Junge, der
viel liest. Er benötigt einen Ort, wo er sich nach der Schule
hinsetzen und seine Bücher lesen kann.“
„Kein
Problem“, antwortete Mr Santini. „Ich bin sicher wir finden ein
Plätzchen für ihn, wo er in Ruhe lesen kann.“
David bedankte sich bei Mr Santini, versicherte ihm, dass sie
innerhalb einer Stunde bei ihm sein würden, und legte auf. Er
erklärte Charity dann, was Mr Santini gesagt hatte. Sie hatte immer
noch einen zweifelnden Ausdruck auf dem Gesicht. Das Angebot war
einfach zu schnell gekommen, zu unerwartet. Es war einfach zu gut, um
wahr zu sein. Da musste doch irgendein Haken an der Sache sein.
Und dann fiel er ihr ein: „Ich kann nicht sofort anfangen. Ich habe
meinen Lohn für den letzten Monat noch nicht erhalten. Wenn ich
nicht wenigsten zwei Wochen vorher kündige, dann zieht mir Mr
Sanchez diese Wochen vom Lohn ab. Ich kann es mir einfach nicht
leisten, dieses Geld zu verlieren.“
David schüttelte entschieden den Kopf: „Sie werden dieses Geld
nicht verlieren, ich werde mich darum kümmern.“
David stand auf und ging zum Kücheneingang, während er laut nach Mr
Sanchez rief. Das weckte das Interesse des Kochs und einer anderen
Bedienung, die sich gerade in der Küche miteinander unterhielten.
Als Mr Sanchez aus seinem Büro hinter der Küche kam, informierte
ihn David ohne lange Vorreden, dass Ms Morgan eine andere Arbeit
angeboten worden war, und sie deshalb den Job bei ihm kündigen
müsse.
„Sie
hat zwei Wochen Kündigungsfrist, oder es wird ihr vom Lohn
abgezogen,“ brummte Sanchez.
„Sie
wird sofort gehen, nachdem sie voll ausbezahlt wurde. Nichts wird
abgezogen werden“, stellte David mit kalter Stimme fest.
„Sie
hat einen Vertrag unterschrieben“, bestand Sanchez auf seinem
Standpunkt.
„Der
Vertrag ist nichtig,“ erwiderte David, „da hier eine sexuelle
Belästigung stattgefunden hat, von der ich selbst vor ein paar
Minuten Zeuge geworden bin. Das ist eindeutig ein Vertragsbruch.“
„Sie
können überhaupt nichts beweisen,“ behauptete Sanchez.
„Da
irren Sie sich aber gewaltig“, widersprach David. „Das Gericht
wird meine Zeugenaussage mit Sicherheit anerkennen. Und wenn ich mich
nicht ganz täusche, dann wird Ms Morgan auch noch andere Zeugen
vorweisen können.“
David sah die andere Bedienung fragend an, und diese antwortete mit
einem kaum sichtbaren Nicken.
„Und
ich bin mir auch sicher“, fügte David hinzu, „dass die
Lizenzhalter der Every Day's Diner Kette mit Sicherheit keinen
Manager weiter beschäftigen wollen, der ihnen die Unannehmlichkeit
eines hundert-tausend Dollar Prozesses eingebracht hat.“
„Hunderttausend
Dollar? Machen Sie sich doch nicht lächerlich“, schrie Sanchez,
der allerdings auf längst verlorenem Posten stand. „In Ordnung sie
bekommt ihren Lohn-Check.“
Während Sanchez sein Check-Buch herauszog, befahl David: „Vergessen
Sie nicht, den Lohn für heute auch noch hinzuzufügen.“ Er drehte
sich zu Charity um, die ihm in die Küche gefolgt war. „Wann haben
Sie heute mit der Arbeit begonnen?“
„Um
neun Uhr“, antwortete sie.
„Das
macht dann noch einmal sieben Stunden“, schloss David. „Außer,
sie wollen auch noch eine Kompensation für die Belästigung, die
Ihnen zugefügt wurde, Ms Morgan?“
Charity Morgan schüttelte den Kopf.
Nachdem der Manager den Check ausgestellt hatte, sah David diesen
genau an. Es war eine erbärmlich niedrige Summe für die Arbeit
eines gesamten Monats. Charity allerdings nickte nur und steckte den
Check ein.
„Ich
muss mich noch umziehen“, sagte sie und verschwand hinter einer
anderen Tür. Der Manager hatte sich schon in sein Büro
zurückgezogen. David nickte der anderen Bedienung und dem Koch noch
einmal zu und ging dann zurück in die Gaststätte.
Er erklärte dem kleinen Matthew, dass seine Mutter sich nur noch
umziehen müsse, und hinterher würden sie alle zusammen zu einem
anderen Restaurant gehen, wo sie einen neuen Job bekäme.
Der Junge nickte: „Das ist gut“, sagte er, „wir mögen es gar
nicht, hier zu sein.“
„Was
liest du denn da gerade“, fragte David den Jungen. Matthew zeigte
ihm wortlos den Umschlag des Buches, bevor er es in seine Schultasche
packte. Es war Harry Potter – Der Gefangene von Askaban.
David lächelte: „Ich habe diese Harry Potter Bücher auch gelesen,
als ich ein Kind war. Ich war nur ganz wenig älter als du, als das
erste Buch herauskam.“
Matthew erklärte: „Ich hab sie schon alle gelesen. Oder eigentlich
hat meine Oma mir die ersten beiden vorgelesen, und die anderen haben
wir dann zusammen gelesen. Ich habe immer den ersten Satz gelesen,
und sie den Rest der Seite.“
Matthew hatte nun die Augen niedergeschlagen und
seine Stimme zitterte. David verstand gut, warum er die Bücher
gerade jetzt noch einmal las.
David sagte sanft: „Meine Mom hat den 'Stein der Weisen' für mich
gekauft. Aber sie war damals schon sehr krank. Und darum habe ich ihr
das Buch vorgelesen, als sie im Krankenhaus lag.“
„Ist
sie gestorben?“ fragte Matthew.
David nickte und fügte hinzu: „Aber nicht bevor wir das Buch
ausgelesen hatten. Sie hat mir gesagt, dass sie es sehr gern mochte.“
„Meine
Oma mochte diese Bücher auch“, kommentierte Matthew, „genau wie
ich. Aber den Anfang von diesem hier mochten wir beide nicht so
gern.“
„Warum
denn nicht“, fragte David.
„In
all den anderen Büchern, da war Harry immer gut und nie böse“,
erklärte Matthew. „Und im allerletzen Buch, da hat er sogar seinen
schlimmsten Feind vor den Zauberflammen gerettet. Aber in diesem Buch
hat er seine Tante aufgeblasen.“
„Na,
ja“, verteidigte David den Roman-Helden, „er hat ihr nicht
wirklich weh getan. Sie ist einfach nur wie ein Ballon weggeflogen.
Und die Leute aus dem Ministerium haben sie dann wieder
zurückgebracht, und alles war wieder gut. Und außerdem hat sie
etwas richtig, richtig gemeines über seine Mutter gesagt.“
Matthew war nicht überzeugt: „Es war trotzdem falsch. Du kannst
nicht einfach jemanden aufblasen und verschwinden lassen, wenn er
etwas Gemeines über deine Mutter sagt.“ David erkannte nun, dass
es die Großmutter war, die durch den Mund ihres Enkels sprach.
Matthew sah in Richtung Kücheneingang, und David vermutete, dass es
vor ein paar Minuten ein sehr verführerisches Bild gewesen war,
jemanden in einen Ballon zu verwandeln und verschwinden zu lassen,
ein Bild, das Matthew jetzt aber zutiefst von sich wies.
„Ich
denke“, sagte David, „dass es Harry ziemlich leid getan hat, dass
er so was gemacht hat. Und am Ende, erinnerst du dich, da hat Harry
sogar das Leben von dem Kerl geschont, der eigentlich mit Schuld am
Tod seiner Eltern war, nicht wahr?“
„Genau“,
nickte Matthew „das war Wurmschwanz.“ Er sah immer noch zum
Kücheneingang.
In diesem Augenblick erschien seine Mutter. Matthew sprang vom Stuhl
auf und setzte sich seine Schultasche auf den Rücken. Er war mehr
als nur bereit, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
Charity hatte allerdings immer noch eine zweifelnde Mine. David
bemerkte das Goldkreuz um ihren Hals, das jetzt im Ausschnitt ihrer
Bluse zu sehen war. Natürlich..., dachte er, er hätte es wissen
müssen. Er dachte eine Weile darüber nach und überraschte sich
selbst damit, dass es ihm eigentlich überhaupt nichts ausmachte.
Sie verließen das Restaurant und gingen schweigend die Straße
hinunter. Nach ein paar Blocks bogen sie um die Ecke. Als das 'Bella
Italia' bereits in Sichtweite war, blieb Charity abrupt stehen und
stellte eine sehr vernünftige Frage: „Warum helfen Sie uns
eigentlich?“
Auch wenn ihre Frage sehr direkt war, hatte ihre Stimme für Davids
Ohren doch einen wunderbar melodischen Klang. Er sah Charity an. Die
Sonne schien auf ihre eigentlich hellbraunes Haare und gab diesem so
einen rot-goldenen Glanz.
Was sollte er ihr nur antworten, dachte David, dass er den Klang
ihrer Stimme liebte oder den rot-goldenen Glanz ihrer Haare?
„Nun“,
begann David langsam, „ich mag es einfach nicht, wenn Leute
schlecht behandelt werden.“ Dann fügte er noch hinzu: „Und weil
mir Ihr Name so gut gefällt.“
Diese Antwort überraschte Charity und brachte sie zum Lächeln. Und
dieses Lächeln verwandelte ihr Gesicht, und David erkannte, dass er
sich vorhin im Diner völlig geirrt hatte. Charity Morgan war in der
Tat wunderschön, eigentlich war sie die schönste Frau, die er je in
seinem Leben gesehen hatte.
„Mein
Name?“ wiederholte Charity, aber dann er erklärte sie: „Der ist
so was wie eine Familientradition. Der Name meiner Mutter war Hope“,
ein flüchtiger Schatten fiel über ihr Gesicht, sie verbannte ihn
aber schnell wieder, um hinzuzufügen: „Und der Name meiner
Schwester ist...“
„Warten
Sie, lassen Sie mich raten“, unterbrach sie David, „der Name
Ihrer Schwester ist Faith.“
Charity lächelte und nickte.
„Also
das ist eine Morgan Familientradition“, vermutete David
Charity schüttelte den Kopf: „Nein, eigentlich ist es eine
O'Malley Familien-Tradition. Das ist der Mädchenname meiner Mutter.“
David erklärte: „Aber es ist auch Ihr Familienname, der mir
gefällt.“
Jetzt lachte Charity laut auf: „Morgan? Also falls Sie denken, wir
sind mit der Morgan-Banker-Dynastie verwandt, da muss ich Sie leider
enttäuschen.“
David lachte nun auch: „Hätte ich nie erraten. Aber im Ernst, ich
finde der Namen Morgan ist etwas ganz besonders, und ich denke sie
sollten ihn nie ändern.“
„Sie
meinen, ich sollte niemals heiraten?“ Charitys Lachen war jetzt ein
klein bisschen sarkastisch. „Keine Sorge, das ist ohnehin eher
unwahrscheinlich.“
David schüttelte entschieden den Kopf: „Ich bin mir ganz sicher,
dass Sie irgendwann heiraten werden, aber das heißt dann noch lange
nicht, dass Sie Ihren Namen ändern müssen. Wir leben schließlich
im 21. Jahrhundert. Frauen müssen ihre Namen nicht mehr ändern,
wenn sie heiraten, manchmal machen das die Männer.“
Jetzt war Charity neugierig geworden: „Und warum glauben Sie, dass
der Name Morgan so außergewöhnlich ist, dass ich ihn nicht wechseln
sollte?“
David erklärte: „Weil er eine Bedeutung hat. In dem Land, in dem
ich geboren bin, dem Land meines Vaters, da bedeutet Morgan, wenn
auch ein bisschen anders geschrieben, sowohl der Beginn eines jeden
Tages als auch der nächste Tag.“
„Morgen
ist ein neuer Anfang, das ist ein schöner Gedanke“, sagte Charity,
„das ist so wie in dem Musical Annie, 'morgen geht die Sonne wieder
auf'.
Jetzt lächelte David breit: „Ich habe das Musical am Broadway
gesehen, als ich ein Kind war, zusammen mit meiner Mutter.“
Charity lächelte zurück: „Ich habe es auch mit meiner angeschaut.
Vielleicht waren wir ja in derselben Vorstellung.“
Uns dann gab sie zu: „Aber die ganze Zeit habe ich mir gewünscht,
dass Annie ihre richtigen Eltern wiederfindet. Und am Ende war ich
ein bisschen enttäuscht.“
„Enttäuscht?
Aber warum denn?“ lachte David, „sie wurde doch von einem
Milliardär adoptiert.“
„Na
klar“, erwiderte Charity ein wenig verächtlich, „ein Milliardär
mit nahmen WAR BUCKS also Kriegsgewinn.“
„Das
haben Sie bemerkt“, fragte David. „Sie müssen aber ein ziemlich
kluges Kind gewesen sein.“
„Nein“,
ein kleiner Schatten fiel wieder auf Charitys Gesicht, „aber ich
hatte eine kluge Mutter.“
David war einen Augenblick lang still, als er sich daran erinnerte,
dass ein Multimillionär-Großvater auch nicht gerade das Gelbe vom
Ei gewesen war.
Er schüttelte die Erinnerung ab und stellte fest: „Aber das Lied,
das war doch richtig gut, das Lied, das Annie gesungen hat, als sie
noch Waisenkind war, das aus dem Heim weggelaufen ist. Meinen Sie
nicht?“
Charity dachte eine Sekunde nach, dann begann sie mit sanfter leiser
Stimme zu singen:
“Morgen geht die Sonne auf...”
Und David, der sich gar nicht erst die Mühe machte, leise zu singen,
stimmte ein:
“...deinen letzten Dollar kannst du wetten
drauf – die Sonne geht auf!”
Jetzt zögerte David, aber Charity sang weiter, und David stimmte
wieder ein:
“Wenn ich nur denke an morgen –
vertreibt es Kummer und Sorgen - sie sind nicht mehr'!”
Jetzt war ihnen beiden der Text ausgegangen, und sie durchsuchten
ihre Gehirne nach der nächsten Zeile.
Matthew, der dem Gespräch erstaunt zugehört hatte, wunderte sich
darüber, wie diese beiden Erwachsenen, die es doch eigentlich besser
wissen müssten, sich mitten auf dem Bürgersteig lächerlich
machten. Und dann hatten sie auch noch den Text vergessen. Er
schüttelte den Kopf und beschloss ihnen zu helfen. Und so begann er
mit seinem klaren Jungen-Sopran.
“Wenn da ist der Tag – wo ich mich frag
– bin ich einsam,”
Während Charity David ins Ohr flüsterte: „Wir haben eine DVD
davon“, fuhr Matthew fort:
“Dann steh ich auf - und lauf - und sag –
oh!”
Jetzt stimmten Charity und David bei Matthew mit ein:
“Morgen geht die Sonne auf – So halt
nur aus, lass ihr ihren Lauf.”
Und da waren sie nun, mitten auf dem Bürgersteig einer kleinen
Straße in der South-Bronx von New York City, und gingen langsam auf
das 'Bella Italia' zu, während sie mit lauten Stimmen sangen, wobei
es ihnen völlig gleichgültig war, dass andere Leute sie anstarrten.
Sie waren drei verrückte Menschen, ein kleiner und zwei große, die
aus tiefstem Herzen erklärten:
“Oh morgen! Oh morgen! - Ich liebe dich
morgen! - Du bist immer ein Tag vor mir!”
Und während er die letzte Zeile wiederholte, dachte David:
Morgen bedeutet Hoffnung,
Hope Morgan
***
Danksagung:
Hier
möchte ich all meinen Lesern danken, die bis zum Ende der Geschichte
über Jonathan, David und Hope durchgehalten haben.
Dieses
Buch hätte nicht geschrieben werden können ohne die Hilfe und die
Ermutigung meiner Freunde, besonders meiner Lektoren April (für die
englische Ausgabe) und Irene (für die deutsche). Ganz besonders
danke ich meinen ersten beiden Leser und Zuhörer J., meinem
wichtigsten Unterstützer, und K., der mir durch seine konstruktive
Kritik geholfen hat, das Buch entscheidend zu verbessern .
Und
natürlich hätte ich nicht eine einzige Zeile in diesem Buch
schreiben können, ohne die Arbeit und Inspiration so vieler Denker,
Dichter und Autoren von vielen Orten der Welt und aus allen Zeiten
der menschlichen Geschichte.
***
Notizen:
Für
mehr Informationen zu den Themen, die in dieser Geschichte berührt
wurden, und zu den Kommentaren der Autorin darüber, warum sie das
Buch geschrieben hat, und welche Gedanken und wirklichen Ereignisse
hinter einzelnen Passagen und Figuren des Romans stecken, ist der
geneigte Leser eingeladen:
zu
ihrem Blog : Gedanken
sind frei
zu
ihrem Youtube Kanal: Eve
Human
oder
ihr auf Twitter zu folgen: @EveHuman1
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