Teil 1


Leben ist ein göttliches Geschenk.
Menschliches Leben ist heilig und muss deshalb immer geschützt werden.
Jeder Mensch ist von großer Bedeutung für die gesamte Menschheit.
Ebenso ist er von unbegrenztem Wert und besitzt eine unantastbare Würde.
Kein Mensch ist wertvoller oder weniger wertvoll,
oder von größerer oder geringerer Bedeutung
als irgendein anderer Mensch auf Erden.

DAS IST DAS ERSTE PRINZIP

***

Ich bin Jonathan Galt. Und heute habe ich endlich erkannt, dass ich meinen Namen hasse. Im Augenblick gehe ich gerade meinen Tunnel entlang.
Nein, eigentlich muss ich zugeben, dass dies nicht mehr wirklich mein Tunnel ist. Als ich ihn vor ein paar Wochen gegraben habe, ist er nur ein Kriechgang gewesen. Und er war damals auch sehr viel kürzer, nur ein paar Dutzend Meter lang, abgehend von der Kanalisation und dann unter der Mauer hindurch und von dort bis nach oben, zur äußeren Welt.
Für mich und Luscinia ist es gar nicht so einfach gewesen, die Decke mit dem schlafenden Kind hindurch zu zerren. Aber jetzt können meine Begleiter und ich ganz normal aufrecht gehen.
Und der Tunnel ist jetzt auch viel breiter als vorher... und viel länger, über 16 Kilometer ist er jetzt lang und reicht nun den ganzen Weg bis zum nächsten Dorf.
Hunderte von Leuten haben daran gearbeitet, den Tunnel zu vergrößern. Und das war auch absolut notwendig, denn tausende sollen später mir und meinen Begleitern folgen.
Aber genau wie ich zuvor, so mussten auch diejenigen, die den Tunnel in den letzten paar Tagen gegraben haben, die Arbeit ohne große Maschinen ausführen, denn sie mussten leise sein-- sehr, sehr leise.
Jeder verdächtige Laut hätte jemandem auffallen können, und das wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Wir hätten den Plan aufgeben müssen. Und dann wäre nur noch eine einzige Alternative geblieben. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, und das ist nicht nur ein Kälteschauder.
Ich denke an Luscinia. Sie wollte mich begleiten. Aber ich habe nein gesagt. Sie wird drüben für tot gehalten, und jemand könnte sie dort vielleicht erkennen.
Natürlich ist das einfach nur eine Sache der Vernunft, und außerdem hätten die anderen es ohnehin nicht erlaubt, sie mitzunehmen. Aber in diesem Augenblick wünsche ich mir die ganze Vernunft sonst wohin.
Ich brauche Luscinia, ihren Trost, ihr Vertrauen, ihre Liebe. Ohne sie hätte ich niemals den Mut gefunden wegzugehen... und jetzt zurückzukehren.
Wir haben die Kanalisation mit ihren typischen Gerüchen von Abfall und Verwesung erreicht. Im Schein unserer Taschenlampen erkenne ich eine Ratte, die unseren Pfad kreuzt. Ich sehe mich nach meinen Begleitern um.
Mr Wang's Gesicht zeigt denselben mürrischen Ausdruck wie sonst auch. Es scheint einfach unvorstellbar, dass von all den Leuten in Spesaeterna es ausgerechnet Mr Wang ist, der diesen Plan entwickelt hat. Obwohl es eigentlich nicht wirklich überrascht, dass er damit im Gegensatz zur Meinung fast aller anderen im Dorf stand und dann, gegen jegliche Opposition, an ihm festgehalten hat.
Unter seiner aufgeknöpften Jacke kann man die traditionelle Kleidung seines Dorfes erkennen. Und auf seiner Brust glitzert im schwachen Licht der Lampen das goldene Abbild seines Dharma Chakra.
Ich nehme mir vor, ihn daran zu erinnern, dass er oben die Jacke auf jeden Fall zugeknöpft halten muss.
Ich wende meinen Blick zu Ms Alba. Sie ist ebenso alt wie Mr Wang, über 10 Jahre älter als mein Vater, aber sie sieht so stark aus, physisch und auch sonst. Und ihre Bewegungen sind die einer viel jüngeren Person.
Wo ich herkomme, erreichen wenige dieses Alter, und mit Sicherheit sind keine Frauen darunter. Meine Mutter war gerade einmal 47, als sie in einem Venus Projekt starb.
Eine Welle von Schmerz und fast unkontrollierbarer Wut steigt in mir auf. Venus, die Göttin der Liebe, oder so hat man es mir einmal beigebracht; was für ein Witz, was für ein unglaublich perverser Witz.
Ich atme tief durch. Ich muss ruhig bleiben. Ich darf mich nicht von meinen Emotionen leiten lassen, weder von Zorn noch von Furcht. Jede Nervosität könnte tödlich sein.
Wenn der Plan gelingen soll, brauche ich eine eiskalte Rationalität. Alles hängt jetzt von mir ab.
Ich sehe zu Ms Alba hinüber. Sie hat mir nie vertraut. Einmal hat sie mich sogar den Sohn des Teufels genannt.
Sie hält den kleinen Kasten fest in der Hand. Sicherlich, es ist eigentlich nur ein Kommunikator, aber es könnte ebenso gut der Auslöser sein. Wenn sie einmal den roten Knopf gedrückt hat, dann ist alles vorbei...für uns alle. Ein Schalter wird anderswo betätigt werden, Raketen werden starten, und dann in einem einzigen Augenblick, gibt es Nephilim City nicht mehr...aufgelöst und ausgelöscht von der Erde, zusammen mit dem Land um die Stadt herum und allem und jedem unter der Erde.
Ms Alba hat auf diese Notmaßnahme bestanden, und die anderen haben ihr zugestimmt.
Warum sie überhaupt ihre Meinung so weit geändert haben, ist mir immer noch ein Rätsel.
Ich war so naiv, als ich mit der Aufnahme zu ihnen kam, aber sobald ich angefangen hatte sie abzuspielen, und ich die atemlose Stille um mich fühlte, da wusste ich, was die Reaktion sein würde. Sie wäre einfach nur natürlich gewesen. Und dann, ja dann haben sie plötzlich umgeschwenkt, wegen gar nichts..., wegen einer kleinen Geschichte aus der Vergangenheit.
Und als sie diese Kehrtwende machten, weg von dem was vorher so logisch schien, da habe ich es erkannt: So sehr ich mich auch danach sehne, zu Spesaeterna zu gehören und zu den Leuten dort, so ist das einfach nicht der Fall. Ich kann sie immer noch nicht verstehen, und ich bezweifle, dass ich jemals so weit sein werde.
Geboren und aufgewachsen in Nephilim City, kann ich meine Wurzeln nicht verleugnen, und die klare Logik meiner Stadt, eine Logik, an der es meinen Begleitern und deren ganzer Gesellschaft dort zu mangeln scheint; allen außer Ms Alba vielleicht.
Aber zur Zeit wird auch sie weniger von ihrer Rationalität als von etwas anderem geleitet. Und doch, denke ich mit ein wenig Selbstironie, gerade jetzt handele ich ja auch unter dem Einfluss von diesem “anderen”, nach deren Logik und nicht nach meiner eigenen.
Ich werfe einen Blick auf den dritten meiner Begleiter, einen Mann, der kaum jünger ist als die beiden anderen. Er war einmal derselbe David Morgan, der vor langer Zeit der beste Freund meines Vaters war. Aber für mich scheint dieser Mann der mysteriöseste von allen zu sein.
Jetzt nennen sie ihn nur den Professor. Er ist Wissenschaftler und sollte eigentlich ein Mann der Vernunft sein, aber er ist auch ein Mönch. Er hat sicherlich einen Sinn für Logik, aber es ist eine, die ich nicht durchschauen kann. Der Professor wirft mir ein ermutigendes Lächeln zu. Der Ausdruck auf seinem Gesicht deutet an, dass er irgendwie weiß, was ich denke, fast als habe er meine Gedanken gelesen.
Das ist auf der einen Seite irgendwie beunruhigend, anderseits gibt mir sein Lächeln auch Auftrieb. Ich fühle mich weniger verkrampft, und ich sehe sie wieder vor mir, das kleine Mädchen, das alles verändert hat.
Ich konzentriere mich jetzt auf den kaum sichtbaren Weg vor mir.
Endlich - der Ausstieg, wir sind an unserem ersten Ziel angekommen. Ich klettere die Leiter hinauf, öffne den Kanaldeckel und sehe mich vorsichtig um. Es ist eine ziemlich verlassene Gegend.
Während ich meinen Fluchttunnel gebaut habe, bin ich unzählige Male diese Leiter hinauf- und hinuntergestiegen. Und genau wie damals, ist auch heute niemand da, der den Ausstieg beobachtet. Ich gebe den anderen ein Zeichen, mir zu folgen. Als sie alle oben angekommen sind, schließe ich den Deckel wieder. Und obwohl es unwahrscheinlich ist, dass Kameras oder Mikrofone an diesem Ort installiert sind, rede ich doch nur sehr leise. Mit einer vor Ironie triefenden Stimme, soweit das bei einem Flüstern überhaupt möglich ist, erkläre ich:
Willkommen in Orange Country!”


***
Im dunkelsten Augenblick tiefster Sinnlosigkeit,
als ihm nichts mehr geblieben war als Verzweiflung,
da kam die Hoffnung.
Sie war noch klein, vielleicht sogar winzig,
aber eines Tages würde sie geboren werden.
---


David Ragnarsson stand da, ganz still und allein - mit geschlossenen Augen, um die letzten Zweifel zu vertreiben. Und als er die Augen wieder öffnete, da hatte er seine Entscheidung getroffen. Er stand direkt auf dem weißen Streifen, der anzeigen sollte, wo der letzte Wagon halten würde. Vor ihm war die gelbe Linie, der Sicherheitsstreifen. Kein Fahrgast sollte diese Grenze überschreiten, bevor die Bahn zum Halt gekommen war.
Aber David hatte nicht vor ein Fahrgast dieser Bahn zu werden, nicht jetzt... nie wieder. Er ließ den Blick nach oben schweifen. Dort hing eine digitale Uhr fast direkt über seinem Kopf. Die letzte Ziffer veränderte sich mit einem Klick. Die Uhr zeigte nun 11:56, vier Minuten vor Mitternacht in der Spesveniat U-Bahn Station.
Er konnte das leise Dröhnen, das die baldige Ankunft des Zuges ankündigte, bereits hören. Und im Tunnel waren auch schon ganz klein die Lichter der vorderen Scheinwerfer zu erkennen.
Jetzt würde es nicht mehr lange dauern... nur noch ein paar Sekunden und dann zwei Schritte bis zum Ende... dem großen Vergessen, dem Frieden, den er suchte - dem einzigen Frieden, den es für ihn noch geben konnte.
So kurz hinter dem Tunnel würde es für den Fahrer unmöglich sein, die Bahn noch rechtzeitig abzubremsen. Das Geräusch des Zuges war lauter geworden und das Scheinwerferlicht, in das er starrte, blendete ihn bereits.
David verlagerte das Gewicht vom einen auf den anderen Fuß. Er war bereit.
Nein, nicht springen. DU DARFST NICHT SPRINGEN!“
David hatte das Gefühl als hätte ihn ein Blitz getroffen. Seine Nerven, die schon zuvor zum Zerreißen gespannt gewesen waren, ließen ihn zusammenzucken. Und jetzt war es, als ob ein Donner seinen ganzen Körper durchschüttelte.
Die Stimme war durchdringend, laut und schrill, und doch ganz eindeutig war es die Stimme eines Kindes. David drehte seinen Kopf nach links. Und ja, da war sie. Sie stand direkt neben ihm. Das Kind, ein Mädchen, starrte ihm ins Gesicht und das mit Augen von so intensivem Blau, wie er sie vorher nie anders als auf einer Kinoleinwand gesehen hatte. Verwirrt und immer noch zitternd starrte David zurück.
Für ihn fühlte es sich an, als sei er aus einem Traum gerissen worden, einem dunklen Traum sicherlich, und doch einem, der ihm das Gefühl gab, dass er unbedingt wissen wollte, wie er endete.
Die Bahn, mit ihrem ohrenbetäubenden Quietschen der Bremsen, riss David aus seiner Trance und brachte ihn in die Realität zurück. Er hatte seine Chance verpasst... für den Augenblick zumindest. Aber es würde andere Züge geben...auch heute Nacht noch.
David schaute sich um. Das Mädchen schien allein zu sein. Ein paar Leute warteten am anderen Ende des Bahnsteigs, keiner von ihnen schien zu ihr zu gehören. Wo war sie hergekommen? Warum hatte er sie zuvor nicht bemerkt. Und wie zum Geier hatte sie gewusst, was er tun wollte. Konnte sie Gedanken lesen?
Wenn es um diese Art von Phänomenen ging, dann war David immer ein unbekehrbarer Skeptiker gewesen. Nein, sie war keine Telepatin, nur eine kleine Person mit einer besonders guten Beobachtungsgabe. Manchmal wurde so etwas auch weibliche Intuition genannt.
Die U-Bahn war endlich zum Halten gekommen, und die Türen öffneten sich. David sah das Mädchen mit einem falschen Lächeln an - einem, das unausgesprochen ausdrücken sollte: 'Ich habe zwar nicht genau gehört, was du gesagt hast, aber ich bin höflich genug um zuzugeben, dass du mit mir geredet hast, habe aber kein Interesse an einem weiteren Gespräch.'
Dann drehte er sich um, um mit ein paar wenigen großen Schritten die letzte Tür der Bahn zu erreichen. Das Mädchen folgte ihm - oder genauer gesagt, ging sie direkt neben ihm - nur wenige Zentimeter von seinem linken Ellenbogen entfernt.
Gemeinsam betraten sie den Wagon, und als David sich auf eine der langen Bänke fallen ließ, setzte sie sich neben ihn. Das wurde langsam störend. David fand es immer schwerer, sie einfach zu ignorieren.
Und doch gab er sich alle Mühe, um genau das zu tun. Er starrte geradeaus vor sich hin, während die Türen sich schlossen und der Zug langsam Fahrt aufnahm, um dann den erleuchteten Bahnsteig hinter sich zu lassen und im nächsten Tunnel die Fenster wieder zu schwärzen.
So spät am Abend waren kaum noch andere Fahrgäste im Wagon. Die meisten saßen am anderen Ende des Abteils. Keiner von ihnen schenkte David oder dem Kind auch nur die geringste Beachtung.
Wahrscheinlich denken sie, sie ist meine Tochter oder so was,“ dachte er und sah sich um.
An ihrem Ende des Abteils und auf ihrer eigenen Bank saß nur noch ein anderer Fahrgast, ein stoppelbärtiger Afroamerikaner, der -mit geschlossenen Augen und dem Kopf nach hinten an die Wand gelehnt- rhythmische Schnarch-Geräusche von sich gab. Der Mann war wahrscheinlich betrunken, und dem schmutzigen Jackett, der abgetragenen und der an einem Knie zerrissenen Hose nach zu schließen, war er vermutlich auch noch obdachlos und hatte keinen anderen Ort zum Schlafen gefunden.
David gegenüber saßen zwei Jugendliche, die damit beschäftigt waren herauszufinden, wer von beiden den anderen schneller von der Bank schubsen konnte, während eine Frau mittleren Alters versuchte sich so weit wie möglich von den Jungen fernzuhalten.
Die Frau war wahrscheinlich eine Krankenschwester, die nach ihrer Spätschicht in der nahegelegenen Geburts- und Notfallklinik auf dem Weg nach Hause war.
David dachte er hätte den Rock der Schwesterntracht erkannt, der unter ihrem kurzen Mantel gerade noch sichtbar war. Er hatte einmal eine ganze Reihe der Klinikangestellten interviewt, als staatliche Kürzungen dazu geführt hatten, dass Personal abgebaut worden war. Die daraus resultierenden verlängerten Wartezeiten hatten dann zumindest einem Kind das Leben gekostet. Das kleine Mädchen war gestorben, als es auf eine Notoperation gewartet hatte.
Es war ein wichtiger Artikel gewesen, und er hatte zu Reaktionen geführt. Die Entrüstung der Öffentlichkeit hatte Druck auf die Stadtverwaltung ausgeübt, und die Entscheidung wurde getroffen den Etat zumindest dieser Klinik wieder auf den vorherigen Stand anzuheben.
Aber das war eine Nachricht vom letzten Jahr. Und für einen Journalisten ist oft sogar gestern schon eine Ewigkeit her.
Für David Ragnarsson, ehemaliger Star-Reporter der angesehensten Zeitung des Landes, ist letztes Jahr nicht einmal mehr Teil seiner Wirklichkeit. Und die Nachrichten von heute würden nicht von ihm geschrieben werden...Er würde nie wieder einen Artikel schreiben...
Das kannst du nicht wissen. Und selbst wenn, dann ist das trotzdem kein ausreichender Grund, um vor diese Bahn zu springen.“
Genau wie zuvor, so war auch diesmal die Stimme des Kindes zu laut und zu klar. Und sie war zutiefst aufwühlend. Es schien als ob die Kleine wirklich seine Gedanken lesen könne.
Und diesmal hatte David keine Wahl. Vorzugeben er hätte ihre Bemerkung nicht gehört, funktionierte einfach nicht mehr, außer er würde auch noch so tun, als sei er stocktaub. David sah noch einmal zu den drei Leuten hin, die ihm gegenüber saßen. Die schienen immer noch kein Interesse an ihm oder dem Mädchen neben ihm zu haben, dann wandte er sich ihr zu.
Von was zum Geier redest du da eigentlich?“ murmelte er leise.
Das Kind gab sich keine Mühe die Stimme zu senken: „Ich rede davon, dass du Selbstmord begehen willst, indem du vor diese Untergrund-Bahn springst. Und ich sage dir, dass du so was nicht tun sollst.“
Leugnen war die einzig mögliche Antwort darauf: „Was für ein hirnverbrannter Schwachsinn ist dir da eingefallen? Läufst du immer herum und denkst dir Geschichten über Fremde aus, die du in der U-Bahn triffst?“
Leugnen war die erste, Angriff die zweite Strategie: „Wo wir schon von U-Bahn sprechen, was hast du mitten in der Nacht ganz alleine in einer U-Bahn überhaupt zu suchen? Du kannst doch nicht älter als zehn oder elf sein.“
Ich bin letzten Monat dreizehn geworden!“ Jetzt klang die Stimme des Mädchens ganz schön beleidigt.
Dreizehn.... David hätte nicht gedacht, dass sie schon ein Teenager wäre, und das nicht nur deshalb, weil sie ziemlich klein für ihr Alter war. Viel mehr lag es an der Art wie sich kleidete.
Sie trug etwas, was man vielleicht einen Jogging Anzug hätte nennen können, aber es war keiner den er je an einem Mädchen ihres Alter gesehen hatte. Der leicht glitzernde Stoff hatte eine hell violette Farbe, und das Oberteil war mit etwa einem Dutzend unterschiedlich großer, farbiger Flicken bedeckt, die entweder angenäht oder angeklebt waren.
Obwohl ihr Gesicht, ihre Hände und ihre dünnen Handgelenke auf eine schlanke Figur schließen ließen, zeigte ihr Outfit nichts von dieser Figur. Das Unterteil des Anzugs erinnerte an Pluderhosen mit Bündchen an den Fußgelenken. Und das Oberteil reichte von den breiten Schulterpolstern in gerader Linie direkt hinunter, bis etwa zwei handbreit über die Knie. Keinerlei weibliche Formen waren zu erkennen. Und David fragte sich, warum er eigentlich so sicher war, dass dieses Kind wirklich ein Mädchen war.
Ihr Kopf war mit einer mit chinesischen Schriftzeichen bestickten Schirmmütze bedeckt, unter der nur ein paar dunkle Locken an der Stirn hervortraten. Ihre hellbraune Haut stand im Kontrast zu ihren strahlend blauen Augen. Sie hatte mit Sicherheit sowohl afrikanische als auch europäische Vorfahren. Und wer weiß, dachte David, als er auf ihre mocassinartigen Schuhe hinuntersah, ein paar indianische Vorfahren könnten da auch darunter gewesen sein.
Das ganze Outfit erinnerte weniger an etwas, das junge Mädchen heutzutage trugen als an das, was man in der Kleinkind-Abteilung eines Kaufhauses sehen konnte. David hatte so ähnliche Anzüge gesehen, als er einmal mit Tina Kleidung für Mikey gekauft hatte, als dieser zwei oder drei war.
Und es mussten die Kleider sein, die sie trug, die dem Mädchen eine Aura kindlicher Unschuld gaben, und das obwohl sie so dunkle Worte von sich gab wie 'Selbstmord'. Nicht einmal in seinen eigenen Gedanken hatte David selbst dieses Wort gebraucht. Es schien ihm nicht der richtige Begriff für das zu sein, was er vorhatte.
Dreizehn ist immer noch zu jung, um so spät noch draußen zu sein. Du solltest zu Hause sein, bei deinen Eltern.“
Ich kann nicht bei ihnen sein,“ antwortete das Mädchen. „Mein Papa ist tot und meine Mama ist fort auf einer Kampf Mission.“
Sie war also eine dieser vorübergehenden Kriegswaisen, dachte David.
Vor ein paar Jahren hatte er einen Artikel über alleinstehende Mütter im Militär geschrieben. Wenn diese an die Front nach Afghanistan oder in den Irak geschickt wurden, dann mussten deren Kinder bei Pflegeeltern untergebracht werden oder, wenn sie Glück hatten, konnten Verwandte sich um sie kümmern.
Das, was du jetzt denkst über meine Mama, ist nicht wahr.“ Das Mädchen hatte einen entschiedenen Ton in der Stimme.
Was denke ich denn?“ fragte David
Du denkst, sie ist gerade dabei zu schießen oder Bomben abzuwerfen, um Menschen zu töten.“
Nein, das denke ich nicht,“ widersprach David. „Und im Augenblick ist das auch von keinerlei Interesse für mich. Ich wollte nur wissen, wer sich um dich kümmert, und warum du nicht genau in diesem Augenblick bei diesen Leuten bist, zu Hause im Bett.“
Während meine Mama fort ist, sind meine beiden jüngeren Geschwister bei Oma und Opa. Und ich bleibe in der Zeit bei Großonkel Professor.“
Großonkel Professor, was für ein sonderbarer Name, dachte David, aber das ging ihn natürlich nichts an. „Weiß dein Onkel, wo du gerade bist?“
Aber sicher,“ antwortete das Mädchen ohne Umschweife, „er hat mich schließlich hierher zu dir geschickt.“
Das hörte sich nun wirklich sehr sonderbar an. „Er hat dich mitten in der Nacht zu einer U-Bahn Station geschickt, um mit einem fremden Mann zu reden?“
Ja, das war nämlich die einzige Zeit, in der man dich erreichen konnte. Und du bist nicht wirklich ein Fremder. Und das wirst du alles verstehen, wenn du mich nur ein bisschen besser kennenlernst. Und dann erzähl ich dir, woher ich bin, und wie ich hier hergekommen bin.“
Das Ganze schien ja noch schlimmer zu sein, als das Schicksal der Kriegswaisen, über die David in seinem Artikel berichtet hatte. Das Jugendamt war anscheinend dann doch noch die bessere Alternative für solche Kinder, jedenfalls besser als bei irgend so einem zwielichtigen Verwandten untergebracht zu werden.
Ich habe genug gehört,“ erklärte David entschieden. “Aber ich glaube die Polizei würde von dir sicherlich gern noch etwas über deinen Großonkel Professor hören. Da vorne ist der Schaffner gerade ins Abteil gekommen. Du bleibst hier sitzen, und ich rede mit ihm. Er wird die Polizei anrufen, und heute Nacht schläfst du an einem sauberen und sicheren Ort.“
David stand auf, und das Mädchen folgte ihm wie angeklebt.
Ich würde das nicht tun, wenn ich du wäre,“ sagte sie entschieden, „wirklich nicht“.
Du musst keine Angst haben,“ versuchte David sie zu beruhigen. „Die Polizei und das Jugendamt werden dir nichts Schlimmes antun. Sie werden einfach nur mit deinem Onkel sprechen. Und dann werden sie vermutlich entscheiden, dass du lieber bei deinen Großeltern wohnen solltest, genau wie deine Geschwister.“
Ich habe keine Angst vor der Polizei oder vor diesem Amt. Aber ich denke du solltest trotzdem nicht mit ihnen reden oder mit dem Schaffner, weil das nicht gut für dich wäre,“ sagte das Mädchen geheimnisvoll.
Für mich?“ David sah sie überrascht an. Drohte sie ihm etwa? Sie sah nicht aus, als ob sie der Typ dafür wäre.
Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe: „Du musst das verstehen. Die werden mich nicht sehen, und deshalb werden sie dir nicht glauben.“
Die werden dich nicht sehen?“ Jetzt war David völlig verwirrt.
Sie können es nicht, weil ich nämlich nicht wirklich hier bin, ich meine hier in deiner Zeit an diesem Ort.“
Was bist du nicht?“ David versuchte seine Hand auf die Schulter des Mädchens zu legen, da verschwand sie plötzlich, nur um augenblicklich ein paar Zentimeter von seiner Hand entfernt wieder aufzutauchen. Noch einmal versuchte er sie an der Schulter festzuhalten, und dasselbe geschah, nur dass er diesmal das Gleichgewicht verlor und fast auf die Krankenschwester auf der gegenüberliegenden Sitzbank gefallen wäre. Der Krankenschwester schien das überhaupt nicht zu gefallen, zuerst rückte sie aus Davids Reichweite und dann stand sie auf, um mit schnellen Schritten am anderen Ende des Abteils die sichere Nähe des Schaffners und der anderen Fahrgäste dort zu suchen.
Sie kann mich nicht sehen, und die dort drüben können es auch nicht,“ behauptete das Mädchen und deutete auf die beiden Jugendlichen.
Die hatten ihr Schubs-Spiel zeitweise unterbrochen und flüsterten einander grinsend etwas zu, wobei sie David von der Seite anstarrten.
Die denken, dass du dich komisch benimmst. Du redest mit dir selber und versuchst die Luft einzufangen,“ erklärte sie.
David ließ sich wieder auf die Sitzbank zurückfallen. Er fühlte sich geschlagen, erschöpft und leer. Der Zug war gerade dabei, für die nächste Haltestelle zu bremsen. Und als die Türen sich öffneten, stiegen einige der Fahrgäste vom anderen Ende aus, unter ihnen die Krankenschwester. Die beiden Jugendlichen blieben im Abteil. Sie hatten das Interesse an David verloren. Der Zug fuhr wieder an.
David war nichts davon mehr wichtig. Er saß da und hatte nur einen einzigen Gedanken: „Ich bin verrückt, ich habe endgültig meinen Verstand verloren, gestört ...durchgeknallt...wahnsinnig.“
Nein, das bist du nicht,“ sagte die Stimme. „Du bist nicht verrückt, DU BIST ES NICHT!“
David wollte nicht mehr zuhören. Eine Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass er nicht verrückt sei, war nicht gerade eine besonders zuverlässige Zeugin, dachte er.
In den letzten paar Monaten hatte David angefangen zu trinken, und das nicht nur zu gesellschaftlichen Anlässen. Um genau zu sein, hatte er überhaupt nicht mehr in Gesellschaft getrunken, sondern ausschließlich alleine in seiner Ein-Zimmer Kellerwohnung. Er hatte praktisch kaum noch irgendjemanden getroffen. Sein häufigster Außenkontakt war der Verkäufer im Alkoholladen gewesen. Und David hatte viel getrunken. Und doch hätte er nicht gedacht, dass er schon so weit abgerutscht war.
Sie nennen es Delirium Tremens oder so was ähnliches, dachte David. Er betrachtete die Hände in seinem Schoß. Er hob sie leicht an. Sie zitterten nicht. Aber vielleicht kamen die Halluzinationen auch schon vor dem Zittern, die weißen Mäuse und die rosa Elefanten.
Ich bin kein Elefant und auch keine Maus!“ Die Halluzination redete mit David und zwar so laut, dass er Kopfschmerzen im Anzug fühlte.
Und ich bin auch keine Halluzination. Ich bin Hope, Hope Morgan und ich komme aus der Zukunft.“
Aber sicher,“ stimmte David der Halluzination zu. „Und außerdem bist du ein formwandelndes Alien vom Planeten Zorax. Und du bist gekommen, um meinen Körper zu übernehmen, oder ihn vielleicht auch nur in dein Raumschiff zu teleportieren, um ihn da aufzuschneiden und irgendwelche Sender einzusetzen oder sonstige Experimente damit anzustellen.“
Die Jungen von der gegenüber liegenden Sitzbank schienen das gehört zu haben, denn sie hatten wieder angefangen zu lachen und David Seitenblicke zuzuwerfen. Aber als er ihnen dann direkt in die Augen sah, standen sie auf und bewegten sich ziemlich schnell in Richtung Tür, um dort auf die nächste Haltestelle zu warten.
Jetzt bin ich ein Kinderschreck geworden; sogar große Kinder haben Angst vor mir, dachte David. Wahnsinnige Leute sind angsteinflößend, sie könnten jeden Moment gewalttätig werden.
Die Stimme in Davids Kopf widersprach: „Du bist nicht wahnsinnig. Auch wenn ich in dieser Zeit und an diesem Ort nur in deinem Kopf bin, so bin ich doch wirklich. Ich existiere, nur nicht in deiner Zeit.“
David antwortete nicht, und er versuchte auch nicht zu denken. Er starrte einfach nur gebannt aus dem dunklen Fenster und konzentrierte sich auf das monotone Geräusch des Zuges, das nur vom Quietschen der Bremsen unterbrochen wurde, ebenso wie die Dunkelheit des Tunnels vom Licht einer weiteren U-Bahnstation abgelöst wurde. Die Stimme hatte aufgehört zu reden, aber aus den Augenwinkeln konnte David erkennen, dass das halluzinierte Kind immer noch da war.
Noch eine Haltestelle und er würde aussteigen. Von dort wären es dann nur noch fünf Minuten bis zu seiner von Kakerlaken geplagten Wohnung.
Ich mag Kakerlaken, dachte David. Die sind normal, die sind nicht verrückt. Die haben zwar kein besonders großes Gehirn, dafür können sie aber einen Atomangriff überleben.
Wieder bremste der Zug ab und blieb dann am Bahnsteig stehen. Die Türen öffneten sich und David stand auf. Seine Beine fühlten sich so schwach an, dass sie kaum noch sein Gewicht tragen konnten. Raus aus der Tür, rüber zur Treppe und dann der langsame Aufstieg... Er musste sich am Geländer festhalten, um aufrecht stehen zu können. Er sah die Halluzination neben sich nicht an, obwohl er ihre Gegenwart bei jedem Schritt spürte. Und er schaute auch nicht zum Zug zurück.
Er würde es heute Nacht nicht tun... nicht während sie da war und ihn beobachtete. Sie war vielleicht nur eine Halluzination - natürlich war sie das - aber trotzdem... sie sah nun einmal aus wie ein Kind. Er konnte es einfach nicht vor einem Kind tun.
Oben angekommen begrüßte ihn die dunkle Kühle der Nacht. Natürlich war es nicht wirklich dunkel. Dies war New York, die South Bronx, die Ecke von der 149. Straße und der Grand Sacrecors, eine Einkaufsstraße. Die Lichter hier leuchteten die ganze Nacht, auch wenn die Geschäfte geschlossen und die Gitter heruntergelassen waren. Ich sollte von hier nach Süden zum Krankenhaus an der nächsten Ecke gehen, dachte David. 'Kennedy Medical and Mental Health Center' hieß es, und deren psychiatrische Abteilung würde ihn in seinem Zustand sicherlich aufnehmen. Aber andererseits war David sich ziemlich sicher, dass seine Krankenversicherung ausgelaufen war, und so wandte er sich stattdessen in Richtung Homines Community College.
Da brannten auch noch Lichter ein paar Studenten vielleicht, die noch bis spät in die Nacht studierten oder auch deren Lehrer? Aber wahrscheinlich waren es eher die Putzkräfte. Aber wenn er die Nachbarschaft hier bedachte, wäre David auch nicht besonders überrascht, wenn da drin Leute wären, die überhaupt keine legitime Berechtigung hatten dort zu sein
David hatte noch nicht sehr lange in dieser Gegend gewohnt. Erst seit Tina aus ihrem gemeinsamen Manhattan Apartment ausgezogen war und Mikey mitgenommen hatte. Und als dann die Miete für den nächsten Monat fällig war, da musste David natürlich ausziehen. Manhattan Mieten gingen weit über die Verhältnisse eines arbeitslosen Reporters hinaus. Aber jetzt würde auch bald die South Bronx über Davids Verhältnisse gehen.
Er ließ das Community College hinter sich und bog in die Veriton Avenue ein. David warf der stillen Gestalt des Mädchens neben ihm, die immer noch sichtbar war, na ja zumindest für ihn noch sichtbar, einen verstohlenen Blick zu. Wenn er nicht vorher schon gewusst hätte, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war, dann wüsste er es spätestens jetzt. Das Mädchen leuchtete in der Dunkelheit. Es war nicht so, als ob sie ihre Umgebung erleuchtete, es sah eher aus, als ob das Licht völlig in ihr gefangen wäre.
David hatte genug. Er blieb stehen und drehte sich direkt ihr zu: „Warum sagst du nichts mehr?“
Das Mädchen zuckte die Achseln: „Du hast nicht zugehört. Du warst viel zu sehr damit beschäftigt, dir selbst einzureden, dass du verrückt bist. Und außerdem bin ich nur hierher geschickt worden, um dich daran zu hindern, dich selbst umzubringen. Und das machst du ja gerade nicht. Dann muss ich auch nichts sagen.“
Was geht es dich eigentlich an, Mädchen aus der Zukunft, ob ich mich umbringe oder nicht?“ fragte David verärgert. „Es ist mein Leben. Warum kann ich damit nicht tun, was ich will... es loswerden, wenn ich das will?“
Weil es eine Sünde ist,“ war die überraschende Antwort, „eine sehr schwere Sünde!“
Eine Sünde? David öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Eine Halluzination war normalerweise eine Projektion des eigenen Unterbewusstseins. Aber David war nicht religiös. Er war ein überzeugter Atheist und das schon mindestens, seit er 14 war. Und in all der Zeit seither hatte er nie eine religiöse Person getroffen, ganz besonders keine christliche, die er ernst genug genommen hätte, dass ihre Ansichten ein Teil seines Unterbewusstseins hätten werden können. Aber da war sie, sie stand direkt vor ihm, eine religiöse Halluzination.
Es hatte nur eine Person in seinem Leben gegeben, die mit ihm über Gott gesprochen und ihm sogar ein paar Gebete beigebracht hatte, das war seine isländische Großmutter gewesen. Sie war gestorben, als er erst zehn Jahre alt gewesen war.
Hatte sie mit ihm über Sünde gesprochen? Das musste sie wohl getan haben. Und jetzt aus den Erinnerungen seiner Kindheit, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins, hier war die Stimme seiner Amma.
Eigentlich“, sagte die Stimme, die überhaupt nicht klang, wie die seiner Amma, „eigentlich bin ich nicht die Stimme deiner Großmutter. Du könntest eher sagen, ich bin die Stimme deiner Ur-ur-ur-,“ sie begann an den Fingern zu zählen, „-ur-ur-enkelin.“
Du bist meine... du behauptest ich bin dein was?!" David konnte das mit seinem Verstand noch nicht ganz erfassen.
Ja, du bist mein Ur-ur-ur-ur-ur-großvater. Und das ist der Grund, warum ich herkommen konnte. Anders wäre das nicht möglich gewesen.“
Warum nicht?“ David beschloss so zu tun als ob. Vielleicht konnte er ja damit sein Unterbewusstsein so weit beruhigen, dass es ihn dann in Ruhe ließ.
Wenn du eine Bewusstseins-Zeitreise machst, dann musst du zuerst ein Bewusstsein finden, dessen Gehirn dieselben Deltawellen produziert wie dein eigenes, und das ist nur bei sehr nahen Verwandten der Fall.“
Aha, so ist das,“ sagte David ohne große Überzeugung.
Du glaubst mir immer noch nicht,“ beschuldigte ihn seine Ur-ur-irgendwas-Enkelin.
Es hört sich ein bisschen weit hergeholt an,“ gab David zu, „Deltawellen und so was...“
Ich weiß, dass es kompliziert ist,“ gab das Mädchen zu, gerade als ihnen zwei junge Männer in dunklen Hoodies entgegen kamen, die offensichtlich etwas Härteres als Alkohol intus hatten und David mit ziemlich aggressiven Blicken beäugten.
Das unsichtbare Mädchen schien das auch bemerkt zu haben und fuhr deshalb fort: „Aber komm, gehen wir zuerst nach Hause zu dir und dann erklär ich dir das...“
In Ordnung,“ David nickte und setzte seinen Heimweg fort. Schweigend gingen sie die Veriton Avenue hinauf, bis sie vor dem am meisten heruntergekommenen Gebäude der ganzen Straße haltmachten. Genau wie die umliegenden Häuser war es ein Backsteingebäude. Es war teilweise rot verputzt, teilweise, weil mehr als die Hälfte des Putzes abgebröckelt war. Eine Außentreppe führte zur Eingangstür im ersten Stock hinauf, ein Teil der Farbe und des Betons der Stufen fehlte.
David ging nicht die Treppe hinauf. Sein Eingang war links unter der Treppe. Er schloss die Tür auf und betrat etwas, was man nur mit viel Fantasie ein Wohnzimmer nennen konnte oder auch ein Schlafzimmer, denn die Klappcouch diente ihm als Bett. In der rechten Ecke führte eine geöffnete Tür in die Küche, die so klein war, dass wenn man die Tür schloss, zwei Leute darin kaum Platz hätten. Neben der Küche war ein Badezimmer mit Dusche, Toilette und Miniwaschbecken auf einem einzigen Quadratmeter.
Die Wohnung war eigentlich ziemlich sauber; keine Pizzaschachteln auf dem Tisch und auch keine leeren Cola-Dosen oder Whiskey-Flaschen darunter, oder schmutzige Kleider auf dem Fußboden oder der Couch. David hatte am Morgen saubergemacht, wahrscheinlich das erste Mal in drei Monaten, in der Annahme, dass die Polizei oder zumindest sein Vermieter bald auftauchen würden, und man wollte doch nicht als letzten Eindruck hinterlassen, dass man durch und durch schlampig war, oder so was ähnliches hatte David am Morgen gedacht.
Und jetzt, nachdem er das Licht angeschaltet hatte, war David eigentlich ganz froh, dass es bei ihm einiger Maßen sauber war, denn immerhin hatte er ja doch eine Besucherin, obwohl sie weder von der Polizei, noch ganz real war.
Aber als er sich dann auf sein Sofa fallen gelassen hatte, fühlte David wie völlige Erschöpfung sein Bewusstsein und seinen Körper überflutete. Es war wirklich ein langer Tag gewesen, ein sehr langer Tag.
Er hatte damit begonnen, dass David aufgewacht war und festgestellt hatte, dass ihm sowohl der Whiskey als auch die Aspirin ausgegangen waren. Der Gedanke, ein weiteres Mal zum Alkoholladen zu schlurfen, hatte ihn ebenso deprimiert, wie der Gedanke an einen anderen sinnlosen Tag…einen Tag ohne die Arbeit, die er so sehr geliebt hatte, einen Tag ohne Tina und am allermeisten, einen Tag ohne Mikey.
Er erinnerte sich noch genau an die Zeit, wo er Tag und Nacht gearbeitet hatte, ohne sich Zeit für Tina oder Mikey zu nehmen. Sicher, Tina war mit der Situation eigentlich ganz zufrieden gewesen. Sie hatte mit ihrer eigenen Karriere selbst mehr als genug zu tun gehabt. Und sie war ebenso ehrgeizig, wie er es damals gewesen war.
Aber Mikey, oh Mikey...
Sie hatten eine gute Nanny für ihn angeheuert, und die hatte sehr gute Arbeit geleistet. Aber David war kein guter Vater gewesen, obwohl er es damals immer verdrängt hatte. Und jetzt war das einzige, wonach er sich noch sehnte, noch einmal eine Chance zu bekommen, nur noch eine Chance ein guter Dad zu sein.
Aber die würde er nicht bekommen. Er hatte das Besuchsrecht für Mikey verloren. Und es gab sogar eine gerichtliche Verfügung, die besagte, dass er sich Tina und Mikey in keinster Weise nähern durfte. Und seit letzter Woche lag der gesamte Kontinent zwischen ihnen.
Wenn Tina Mikey nicht so völlig aus Davids Leben genommen hätte, dann hätte seine eigene Existenz noch eine Bedeutung. Was auch immer falsch lief mit der Welt und mit ihm, da wäre immer noch Mikey. Mikey war das, was gut war auf dieser Welt. Aber David hatte seine Arbeit verloren und jede Chance, irgendwann einmal wieder von einer respektablen Zeitung oder einem Nachrichtenmagazin angestellt zu werden, und er hatte Mikey verloren. Was blieb ihm da noch?
Und so war David zu dem Schluss gekommen, dass es nichts mehr gab, für das es sich zu leben lohnte. Er hatte seine Wohnung aufgeräumt und war dann den Rest des Tages ziellos durch die Stadt geschlurft. Dann hatte er die U-Bahn Nummer 4 genommen von Norden nach Süden und wieder zurück. Und das hatte ihn auf die Idee gebracht, dass die U-Bahn genau der Ort war, um es zu tun. Und so um vier Minuten vor Mitternacht war David an der Spesveniat Haltestelle auf dem Bahnsteig gestanden und hatte auf den Zug nach Süden gewartet.
Der Zug hatte sechs Minuten Verspätung gehabt, während das Mädchen, das behauptete seine Ur-ur-ur-ur-ur-Enkelin zu sein, gerade rechtzeitig da war. Rechtzeitig wofür, darüber war David sich nicht ganz im Klaren.
Er sah sie noch einmal an, diese sonderbare Vision, die schweigend zurückstarrte, wie sie ihm so auf dem einzigen Stuhl im Zimmer gegenüber saß.
Zu erschöpft um noch einen klaren Gedanken fassen zu können, wollte David heute Abend nichts mehr hören.
Du hast mir gesagt, die Sache mit den Deltawellen sei kompliziert. Können wir die Erklärungen bitte auf morgen verschieben? Außer, du musst heute Nacht bereits wieder verschwinden.“
Nein, ich bleibe eine Weile,“ versprach das Mädchen, und David war sich nicht ganz sicher, ob das nicht eher eine Drohung war.
Ich vermute, dass ich dir nichts zu essen anbieten kann, da du ja nicht wirklich hier bist, und du deshalb auch keinen wirklichen Mund oder Magen hast.“
Das Mädchen nickte zustimmend.
Dann gute Nacht,“ sagte David einfach, als er sich auf der Couch ausstreckte und sich in den Teppich wickelte, der zuvor die abgeschabten Polster bedeckt hatte, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, sich auszuziehen. Die Zeit, das Licht auszuschalten, nahm er sich auch nicht, - er wollte es nicht unbedingt riskieren, mitten in der Nacht einem leuchtenden Gespenst gegenüber aufzuwachen.
Er schloss die Augen und schlief fast sofort ein.
Sonderbare Visionen bevölkerten seine Träume: Ein dröhnender Zug verfolgte ihn. Dann schwebte ein leuchtendes Kind auf einer Wolke heran. Es streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn hoch auf die Wolke. Mikey saß auch dort auf der Wolkenbank, mit einem breiten Lächeln auf seinem kleinen Gesicht und die Beine vergnügt schaukelnd. Aber als David sich ihm nähern wollte, stand Mikey auf, drehte sich um und hüpfte auf eine andere Wolke. David wollte ihm folgen, aber er konnte seine Füße nicht bewegen. Mikey's Wolke verschwand am Horizont. Und dann war David nicht mehr in den Wolken sondern wieder auf der Erde. Über ihm flogen Bomberjets, und neben ihm explodierte etwas. Um sich herum konnte er das Rattern von Maschinengewehren hören. Und wohin er auch blickte, sah er tote oder verwundete Kinder liegen, und die verängstigte Stimme eines Kindes schrie: „Nein, nicht zu den dunklen Zeiten... den dunklen Zeiten, den dunklen Zeiten...“


***






Professor Morgan und Mr Wang haben mit den in ihren Armbandkontrollern eingebauten Scannern die Gasse ausgekundschaftet. Es gibt hier wirklich keine Überwachungskameras oder versteckte Mikrofone. Es ist hier auch keine einzige lebende Seele zu sehen.
Nur wenige Fenster der umliegenden Häuser lassen einen Blick auf die Gasse zu, keins davon ist ebenerdig. Es ist immer noch früh am Morgen und deshalb unwahrscheinlich, dass die Bewohner dieser heruntergekommenen Gegend bereits wach oder auch nur klar genug sind, um sich für die kleine Gruppe von Leuten zu interessieren, die hier um einen Gullideckel herumstehen.
Ja, ich kann mir gratulieren, ich habe wirklich den passendsten Ort für den Eingang zu meinem Fluchttunnel gewählt.
Der Professor öffnet wieder den Kanaldeckel und klopft leicht auf seinen Armbandkontroller. Ein dunkelhäutiger Mann von etwa Mitte zwanzig, der bereits auf der Leiter gewartet hat, steigt jetzt von unten herauf. Gekleidet ist er in schwarze Jeans und eine offene Jacke aus demselben Stoff über einem leuchtend roten T-Shirt. Auf seinem Rücken trägt er einen riesigen grauen Rucksack, gefüllt mit schwerem Gerät.
Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, aber er scheint den Professor und Mr Wang zu kennen, würdigt deren Anwesenheit jedoch nur mit einem schwachen Kopfnicken, bevor er sich hinunterbeugt, um mehrere ähnliche Taschen, die ihm von unten hoch gereicht werden, an die Oberfläche zu hieven.
Danach steigen neun weitere Männer aus dem Kanal, deren Kleidung sich nur in der Farbe ihrer T-Shirts vom ersten Mann unterscheiden.
Mit einem kaum gemurmelten Gruß machen die Freiwilligen sich sofort ans Werk, die Gegend abzusichern.
Ich weiß natürlich, was sie da tun. Sie installieren die gesamte Gasse entlang elektronische Abschirmprojektoren, um die nachfolgenden Freiwilligen, ebenso wie die später erwarteten Flüchtlinge, vor einem potentiellen Angriff zu schützen. Die Abschirmprojektoren reflektieren das Licht auf eine so geniale Weise, dass es den ganzen Ort und jeden Menschen darin für alle unsichtbar macht, die sich nicht in dem abgeschirmten Bereich aufhalten.
Die Arbeit ist schon weit fortgeschritten, als der erste Mann sich endlich dazu bequemt sich vorzustellen. Er dreht sich zu mir mit den Worten um:
Oh übrigens, ich bin Darryl Kenneth. Sie sind Jonathan Galt, stimmt's?“
Ich nicke einfach nur.
Darryl Kenneth deutet auf sein Team: „Dies sind Tom Parshon, Jim Lavon, Jess Porter und Vance Drake. Sie sind wie ich aus dem Dorf 'Roads End' und da drüben sind Cass Dakota und Brent Spanner aus 'Desert Spring' und Patrick Covat, Derrick Kelly und Antonio Fernandez sind aus 'DeSoto Southwestcorner'.“
Stolz fügt er dann hinzu: „Wir sind alle aus der Nation Texas. Und die Teams aus unseren Dörfern und fünfzehn weiteren, die noch im Kanal unterwegs sind, waren die ersten, die sich freiwillig gemeldet haben, gleich als wir von dem Problem gehört haben.“
'Problem' ist wahrscheinlich die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich weiß nicht Recht, wie ich darauf antworten soll. Deshalb sage ich einfach: „Ihre Leute scheinen gut vorbereitet zu sein.“
Nach dem, was ich gehört habe, wurden die Texaner und ein paar andere Teams aus den westlichen Nationen von Nordamerika vor allem deshalb ausgewählt, weil ihre Kleidung kaum Änderungen bedarf, um sich der Nephilim City Umgebung anzupassen, wo die männliche Nicht-Eliten Bevölkerung meist auch schwarze und blaue Jeanskleidung und bunte T-Shirts trägt.
Das ist natürlich ein ganz anderer Stil als der von der Spesaeterna Gruppe, die jetzt ihre heimische Kleidung mit den verdächtigen Symbolen unter den neuen und schlechtsitzenden Jeanshosen und Jacken verstecken muss.
Mr Wang dreht sich zu Darryl um und brummt in seiner typisch abrupten Art: „Wir haben einen engen Zeitplan. Sind Sie und Ihre Männer bereit für die nächsten Schritt der Operation, Mr Kenneth?“
Natürlich,“ Darryl klopft auf seinen Armbandkontroller. Im selben Augenblick drehen sich die anderen Texaner um und überlassen die Arbeit an den Projektoren einer neuen Gruppe von Freiwilligen, die gerade aus dem Kanal gestiegen sind. Zusammen folgen Darryl und seine Männer mir und meinen Begleitern aus der Gasse.


***






David wachte auf, und es war Morgen. Das schwache Licht, das durch sein Kellerfenster drang, stand in Konkurrenz zu dem der Glühbirne, die von der Decke baumelte. Das Tageslicht war dabei den Wettbewerb zu gewinnen, aber nur knapp.
David setzte sich und rieb sich die Augen. Die Halluzination war immer noch da, dort auf dem Stuhl gegenüber. Und sie starrte ihn an.
Ich heiße Hope,“ sagte sie entschieden.
Hope, die Hoffnung, ist wohl weiblich in jeder Sprache, dachte David, aber Hoffnung auf was?
Dann fragte er frustriert: „Liest du eigentlich alle meine Gedanken, und weißt du alles über mich?“
Nein, nicht alles,“ erklärte ihm Hope, "nur das, was in deinem Bewusstsein ganz vorne ist, worauf du dich gerade konzentrierst. All die anderen Sachen sind so schwach, ich kann sie zwar fühlen, aber nicht verstehen."
Dann fragte sie ganz unerwartet: „Wer ist Mikey?“ Und als David zögerte, fügte sie hinzu: „Du weißt schon, der kleine Junge auf der Wolke.“
Du bist also auch in meine Träume eingebrochen.“ Da lag eine Anklage in Davids Stimme.
Vielleicht bist du in meine eingebrochen,“ verteidigte sich Hope. "Ich habe auch geschlafen."
Wirklich?“ David war nicht ganz überzeugt, trotzdem antwortete er widerwillig: "Also, wenn du es unbedingt wissen willst, Mikey ist mein Sohn. Er ist vier."
Und weil er das Thema nicht weiter verfolgen wollte, stand David auf. „Und jetzt muss ich ins Bad.“
Hope machte alle Anstalten ihm zu folgen.
Du wirst mir doch wohl nicht auf die Toilette folgen?“ Jetzt machte sich fast ein bisschen Verzweiflung in David breit. Er musste wirklich dringend. „Ich kann auf keinen Fall duschen und... andere Sachen, während du mich dabei anstarrst.“
Hope biss sich auf die Lippe, das schien eine Gewohnheit von ihr zu sein. „Ich muss die ganze Zeit bei dir bleiben oder ich verliere die Verbindung,“ erklärte sie.
Doch dann kam ihr eine Idee: „Ich denke, ich könnte mich auf andere Dinge konzentrieren, während du im Badezimmer bist.“
Im gleichen Augenblick verschwand das Bild des Mädchens und wurde von einer schwachen Vision von blauem Himmel und weißen Wolken ersetzt. Die Wolken bewegten sich langsam. Das Ganze erinnerte ihn an die schwache Reflektion von ihm selbst, wenn er in ein Schaufenster sah, wobei hinter dem eigenen Spiegelbild die Auslagen im Fenster weit sichtbarer waren. Gerade war die Vision nur in seinem linken Augenwinkel erkennbar. Gleichzeitig hörte er eine schwache Musik und ein leises Singen, aber die Worte konnte er nicht ausmachen.
Dann änderte sich die Vision, und statt des Himmels sah er nun von oben auf eine bewaldete Landschaft hinab, die von Wiesen und Häuserblocks unterbrochen wurde. Es war als sähe er alles aus der Vogelperspektive oder vielleicht aus der eines sehr langsamen und tieffliegenden Flugzeuges. Jeder Häuserblock wurde von Gebilden umrahmt, die an Zirkuszelte erinnerten.
Die Vision änderte sich wieder abrupt, und David konnte jetzt das Innere eines Gebäudes erkennen, das wie eine Kirche aussah, mit einem Kreuz vorn und Heiligenstatuen darunter. Die Worte des Liedes wurden etwas klarer, und David dachte, er höre etwas, das wie Gott und Jesus klang.
David fragte sich, ob Hope vielleicht gerade betete... dann änderte sich die Vision wieder zu der Vogelperspektive der Landschaft.
David beschloss, die Visionen zu ignorieren und ging zum Schrank, um sich frische Kleider und Handtücher zu holen. Er duschte sich heiß und rieb danach den beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken ab.
Er betrachtete sein Gesicht und musste zugeben, dass es kein Wunder war, dass die Krankenschwester und die beiden Jugendlichen letzte Nacht Angst vor ihm gehabt hatten. Er sah ja auch wirklich ganz schön furchteinflößend aus.
Als er noch seinen Job hatte, da hatte er immer großen Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt. Nicht, dass er immer Anzüge getragen hätte; Anzüge waren oft nicht das richtige Outfit für einen Reporter. Aber auch in Jeans und Sweatshirt war er immer darauf bedacht gewesen, sauber und frisch auszusehen. Es war genau dieses junge, unschuldige Image, das ihm damals so viele Türen geöffnet hatte.
Jetzt sah er aus, als wäre er weit über seine 32 Lebensjahre hinaus. Er hatte sich seit mindestens drei Monaten die Haare nicht mehr schneiden lassen, so dass dunkelblonde Locken seine Ohren bedeckten und ihm tief im Nacken hingen. Und während die Dusche seine Haare etwas gezähmt hatte, so wusste er doch, dass sie letzte Nacht mit Sicherheit ungekämmt wild in die Luft gestanden hatten.
Er hatte sich auch seit einer Woche nicht mehr rasiert und dunkle Schatten umrahmten seine grau-blauen Augen. Und da seine Nahrung in den letzten paar Wochen hauptsächlich flüssiger Natur gewesen war, hatte er auch einiges an Gewicht verloren. Das war wohl dann der Grund dafür, dass seine Wangenknochen so stark hervorstanden, dass sie wie die Gewölbe zweier gammliger Höhlen wirkten, die von Moos bedeckt waren.
Na gut, dachte er, rasieren wird vermutlich den Anblick ein klein wenig verbessern, obwohl höchstwahrscheinlich nicht all zu viel.
Als David aus dem Badezimmer kam, rasiert und in sauberen Kleidern, rief er: „He du, äh, he Hope! Du kannst wieder rauskommen!“
Die Gestalt der kleinen Hope wurde sofort wieder sichtbar, wobei gleichzeitig die Waldlandschaft, die gerade in seinem Augenwinkel dahingezogen war, verschwand.
David nickte ihr zu und ging dann in die Küche, um sich den Inhalt des Kühlschranks zu betrachten. Er hatte plötzlich Hunger. Aber wie er ganz richtig vermutet hatte, war nichts Essbares darin zu erblicken, außer vielleicht einer einsamen Cola ganz hinten. Mit einem spöttischen Lächeln bot er sie Hope an. Als sie den Kopf schüttelte, öffnete er die Dose und trank den gesamtem Inhalt in einem einzigen Zug aus.
Dann lehnte er sich an den Kühlschrank und sagte skeptisch: „Wenn du wirklich irgendwo in Raum und Zeit eine echte Person bist, dann müsstest du doch irgendwann einmal hungrig oder durstig sein.“
Während mein Bewusstsein hier ist“, erklärte Hope, „wird mein Körper intravenös ernährt. „Das bedeutet, die Nahrung wird direkt durch einen dünnen Schlauch und eine Kanüle ins Blut getropft.“
Ich weiß, was intravenös bedeutet,“ David lächelte. Er war leicht amüsiert darüber, dass er von einem kleinen Mädchen eine Lektion in medizinischen Fachbegriffen bekam.
Du fühlst dich jetzt besser,“ bemerkte Hope. „Und bald wirst du bestimmt auch besser aussehen, wenn du einmal gegessen und frische Luft geschnappt hast. Eigentlich siehst du wirklich nicht so alt aus, wie du denkst, nur ein bisschen müde.“
Du warst also doch mit mir im Badezimmer, wo du doch versprochen hast, dein Bewusstsein woanders hinzubewegen!“ beschuldigte sie David
Ich war nur für einen Augenblick da, wirklich nur einen ganz kleinen. Das war, als du gerade in den Spiegel gesehen hast,“ erwiderte Hope ein wenig kleinlaut. „Ich musste einfach wissen, wie du aussiehst.“
Du hast mir doch seit gestern Abend ständig ins Gesicht gestarrt,“ David schüttelte den Kopf. „Inzwischen müsstest du es in und auswendig kennen.“
Ich hab in dein Bewusstsein geschaut, aber nicht so richtig in dein Gesicht,“ erklärte Hope ihm. „Eigentlich sehe ich nur das, was du mit deine Augen siehst. Bis jetzt konnte ich mir nur vorstellen, wie du aussiehst. Bevor ich dich im Spiegel gesehen habe, da habe ich dich angesehen, und dein Gesicht war trotzdem nur so was wie ein verschwommener Fleck für mich.“
Am besten du erklärst mir jetzt, wie das mit dieser Zeitreise funktioniert,“ forderte David das Mädchen auf.
In Ordnung,“ Hope atmete tief und begann:
Also wie ich dir bereits letzte Nacht erklärt habe, so hat der Prozess des Zeitreisens etwas mit bestimmten Hirnströmen zu tun, die Deltawellen genannt werden. Mein Großonkel und einige seiner Wissenschaftlerfreunde aus anderen Dörfern haben entdeckt, dass diese Wellen irgendwie durch Raum und Zeit hindurch stoßen können und zwar von einem Gehirn in ein anderes.
Sie haben eine Maschine entwickelt, so etwas wie einen Verstärker mit einer Zielerfassungsapparatur, und jetzt können sie diesen Prozess kontrollieren und ausrichten. Mit dieser Apparatur kann jemand sein ganzes Bewusstsein durch diese Deltawellen in das Gehirn einer anderen Person reisen lassen, aber nur dann, wenn das Gehirn des Empfängers dieselben Deltawellen produziert wie das des Senders. Das geschieht eigentlich nur bei sehr nahen Verwandten, und selbst dann ist so eine Reise nicht immer durchführbar.“
Dann nehme ich mal an, dass Leute aus deiner Zeit diese Bewusstseins-Zeitreisen schon überall hin gemacht haben, ich meine in alle Zeiten?“ David fand den Gedanken schon irgendwie faszinierend. „Hast du denn deine Vorfahren im alten Rom oder in der Steinzeit auch bereits besucht?“
Natürlich nicht,“ Hope wies diesen naiven Vorschlag zurück. „Wie ich dir das gerade eben erklärt habe, ist das Zeitreisen ein sehr komplizierter und spezifischer Prozess. Zuerst einmal brauchst du Leute deren Hirnwellen zueinander passen. Und dann musst auch noch die genaue Zeit und den Ort wissen, worauf du die Wellen ausrichten musst. Denn wenn du sie zu den falschen Raum-Zeit-Koordinaten schickst, dann verpuffen sie einfach in Zeit und Raum. Bis jetzt konnte die Bewusstseins-Zeitreise nur bei eineiigen Zwillingen und dann auch nur über einen Zeitunterschied von ein paar Stunden oder höchstens von einem oder zwei Tagen durchgeführt werden. Du bist der erste Empfänger, der jemals außerhalb unserer eigenen Zeitperiode gelebt hat.“
Hmm, lass mich mal nachdenken...“ David kratzte sich am Kopf, während er versuchte das, was er gerade gehört hatte, einzuordnen. „Das würde doch bedeuten, dass du irgendwie an meine Raum-Zeit-Koordinaten gekommen bist, und zwar genau dort letzte Nacht auf dem Bahnsteig der U-Bahn ...und die hast du dann in etwa, sagen wir mal zweihundert Jahren in der Zukunft bekommen...
Wie bitteschön, hast du das denn fertig gebracht? Werden die Daten der Sicherheitskameras wirklich für die gesamte Ewigkeit aufbewahrt? Kann ich mir eher nicht vorstellen.“
Ich habe keine Ahnung von diesen Kameradaten,“ antwortete Hope. „Aber Großonkel Professor hat mir erklärt, er habe deine Daten in einem kleinen Metallzylinder gefunden. Und diesen Zylinder hat er vor langer Zeit einmal von seiner eigenen Großmutter bekommen, als er selber noch ein Junge so ungefähr in meinem Alter war.“
Plötzlich tauchte direkt vor Davids Augen ein kleines Objekt auf, das in der Luft schwebte. Es sah aus wie ein ganz normaler silberfarbener Flash-Speicher-Stick.
Hope fuhr mit ihren Erklärungen fort: „Allerdings war dieser Metallzylinder irgendwie beschädigt worden, und die Daten darauf waren kaum noch lesbar. Deshalb konnte er nur einen ganz kleinen Teil dieser Daten entziffern. Aber deine Koordinaten von gestern Nacht, die waren ganz eindeutig. Und das waren somit die einzigen, die mein Großonkel für dich hatte, also die einzige Zeit, wo man dich erreichen konnte. Und das ist das, was ich gestern Nacht schon versucht habe, dir zu erklären.“
In Ordnung,“ sagte David, aber er sah den Flash-Stick, der immer noch in der Luft schwebte, ziemlich skeptisch an „Du hast vielleicht irgendwie gewusst, wo ich zu einer bestimmten Zeit war. Aber was ist dann mit den Deltawellen, von denen du geredet hast, die nur bei wirklich nahen Verwandten übereinstimmen. Ein fünf-mal entfernter Urgroßvater ist ja nicht unbedingt ein sehr naher Verwandter. Warum sollten also die Wellen von uns beiden so gut zusammenpassen?“
Na ja...“ Der Flash-Stick verschwand, und Hope biss sich mal wieder auf die Unterlippe. „ich glaube, das muss wohl ein göttliches Wunder gewesen sein.“
Ein göttliches Wunder... David atmete laut aus und ärgerte sich über sich selbst. Er hatte fast schon geglaubt, dass dieses Kind real war, und dass es hier wirklich eine wissenschaftliche Erklärung für all dies gab, und zwar eine andere als, dass er nur einfach den Verstand verloren hatte. Und jetzt kam sie schon wieder mit diesem Religionsschwachsinn. Wie hatte er sich auch nur für einen Moment dazu verleiten lassen können, zu glauben, eine Zeitreisende würde ihn besuchen? Das war doch völlig irre.
Hope starrte David, nur schweigend an, und er erinnerte sich daran, dass sie ja wusste, was er dachte. Klar wusste sie es, schließlich war sie nur...
Du hast mir gesagt, du hast einen Sohn,“ unterbrach Hope Davids Gedanken. „Du hast einen Sohn, und trotzdem hattest du vor, dich umzubringen und ihn zu einem Waisenkind zu machen?“
Er wäre kein Waisenkind geworden,“ verteidigte sich David schwach. „Er hat immer ja noch seine Mutter, Tina meine Freundin, oder eigentlich meine ex-Freundin...“
Du wolltest ihn verlassen. Du bist ein schlechter Vater!“
Er hat mich verlassen... das heißt, Tina hat ihn mitgenommen und ist mit ihm nach Los Angeles umgezogen,“ David war in der Defensive.
Du bist ein schlechter Vater,“ wiederholte Hope.
Ich darf überhaupt kein Vater mehr sein.... nie wieder,“ begehrte David verzweifelt auf. „Tina hat einen Gerichtsbeschluss gegen mich erwirkt, der besagt, dass ich mich den beiden nicht weiter als... 200 Meter nähern darf, ich glaube das war die Distanz,“ David fühlte sich wie immer hundsmiserabel, wenn er nur daran dachte.
Du bist ein schlechter Vater,“ sagte Hope zum dritten Mal.
Nun fühlte David, wie die Wut in ihm hochkochte: „Ich dachte du wurdest geschickt, damit du mir hilfst, mich besser zu fühlen, so dass ich mich nicht umbringe. Aber du machst mich ja noch depressiver!“
Und nachdem er in Hope's steinernes Gesicht gesehen hatte, fügte er hinzu: „Projizierst du nicht einfach irgendetwas in mich hinein, weil dein eigener Vater dich verlassen hat?“
David bereute seine Worte im selben Augenblick, in dem sie seinem Mund entschlüpft waren. Er konnte reißenden Schmerz in Hope fühlen, der wie eine Welle über ihn schwappte, während er sah, wie sie schluckte. Dann sagte sie langsam und deutlich: „Mein Vater hat mich nicht verlassen. Er wurde getötet... getötet von so jemandem wie dir hier!“
Vom mir?!..“ David war schockiert. „Du gibst mir die Schuld für...“
Nicht dir persönlich, aber deinen Leuten, die aus den dunklen Zeiten... Die haben meinen Vater getötet.“
Aus den dunklen Zeiten?“ David war verwirrt.
Deine Zeit,“ brach es aus Hope hervor. „Er ist nur zu einer Eisbrecher-Mission gegangen, nur für kurze Zeit... und er hat versprochen, er sei bald wieder zu Hause...“
Hope verschwand, und eine andere Vision formierte sich vor David's Augen. Das schwache Bild einer jüngeren Hope erschien. Sie stand in einem Flur und hielt die Hände eines großen dunkelhäutigen Mannes, der sich hinunter gebückt hatte, um ihr direkt in die Augen zu sehen. David blinzelte und entdeckte, dass das Bild klarer wurde, wenn der die Augen schloss. Und so hielt er sie geschlossen, um besser sehen zu können.
Der Mann trug eine Schirmmütze wie Hope, nur war sie mit anderen chinesischen Buchstaben bestickt.
Der Mann war auch fast ebenso gekleidet wie Hope, nur dass die Flicken auf seinem Oberteil fehlten, stattdessen schmückten schmale Streifen eines ziemlich altmodisch gestickten Musters den Kragen und die Außenseiten der Ärmel.
Komm meine kleine Honigbiene, lass meine Hände los,“ sagte der Mann. Und irgendwie wusste David vom ersten Augenblick an, dass dies Hope's Vater war, genauso wie er wusste, dass sie im Flur von Hope's Wohnung standen.
Wenn ich jetzt nicht loslege, dann komme ich zu spät,“ drängte Hope's Vater. „Schau mich nicht so an, als ginge ich für immer weg. In drei Wochen bin ich schon wieder da. Die sind ruck-zuck vorbei.“
Drei Wochen sind vielleicht eine kurze Zeit für dich“, jammerte die kleine Hope, „aber für mich fühlen sie sich viel, viel länger an. Sensei hat uns erklärt, dass für Kinder die Zeit scheinbar viel langsamer vergeht als für Erwachsene. Der Grund ist, dass Kinder viel kürzer gelebt haben, und dass deshalb für sie die Relation zu einer Zeitspanne anders ist als für Erwachsene, die ja schon viel länger gelebt haben.“ Die kleinere Hope hatte anscheinend ihren Belehrungston bereits gut geübt.
Wenn ich zurückkomme, muss ich mich wohl mal mit deinem Lehrer unterhalten. Er hat dich schon viel zu klug gemacht,“ sagte Hope's Vater mit gespielter Ernsthaftigkeit in der Stimme.
Das war dann doch zu hoch für die kleine Hope.
Magst du es nicht, wenn ich klug bin?“ fragte sie mit hörbarer Besorgnis in der Stimme.
Aber meine kleine Honigbiene, das war doch nur ein Witz. Natürlich finde ich es großartig, dass du so klug bist,“ beruhigte ihr Vater sie und fügte hinzu: „Ich bin sogar sehr, sehr stolz auf dich. Außerdem hatte ich schon immer eine Schwäche für kluge Frauen. Deshalb habe ich schließlich deine Mutter geheiratet! Und jetzt tanzen wir noch einmal eine kleine Runde bevor ich endgültig gehen muss.“
Er hob die kleine Hope hoch und wirbelte sie im Kreis durch die Luft, während sie begeistert juchzte.
Und dann änderte sich die Vision mit einem Schlag. Hope war jetzt nicht im Flur, sondern in der Küche der Wohnung. Sie saß an einem Tisch. Zwei jüngere Kinder, ein Junge und ein Mädchen saßen ihr gegenüber. Und wieder wusste David genau, wer die beiden waren, als ob Hope's Wissen zu seinem geworden war. Es waren Sissy und Lillebro, Hope's Geschwister.
Hope und Sissy lachten, während Lillebro versuchte, eine Gabel auf seiner Nase zu balancieren. Eine Frau, die beinahe eine erwachsene Ausgabe von Hope zu sein schien, war gerade dabei ein Soufflee-Gericht auf den Tisch zu stellen.
Wie ihr Ehemann so trug auch sie einen Anzug derselben Form und aus demselben glitzernd violetten Stoff wie ihre Kinder, aber mit einem gestickten Muster an den Ärmeln und am Oberteil. Allerdings war diese Stickerei viel breiter auf ihrer Kleidung als auf der ihres Mannes, und sie bedeckte auch mehr als ein Drittel des gesamten Oberteils.
Auf der linken Brustseite befand sich ein sonderbares Symbol, das von der restlichen Stickerei abgehoben war und von dieser umrahmt wurde. Es war dasselbe Symbol wie es die Kinder und Hope's Vater an derselben Stelle ihrer Kleidung trugen. Das Oberteil von Hope's Mutter war allerdings etwas länger als das der Kinder und ihres Mannes und reichte ihr etwa bis zu den Knien. Es bedeckte einen Großteil der weiten Hosen darunter.
Ihre langen Haare, die fast so dunkel aber weniger lockig waren als die von Hope und ihren Geschwistern, hatte sie im Nacken zusammengebunden. Genau wie diese trug sie zwar gerade keine Mütze, aber David sah vier Schirmmützen aufgereiht auf einem Regal liegen. Das war direkt über der Bank angebracht, auf der die kleineren Kinder gerade saßen. Jede der Mützen hatte eine andere Kombination von chinesischen Zeichen über dem Schirm eingestickt.
Hope's Mutter lächelte nachsichtig über die akrobatischen Kunststücke ihres Sohnes und sagte dann mit bemüht strenger Stimme: „Und jetzt spielen wir nicht mehr. Das Essen ist auf dem Tisch. Wer möchte heute...“
Ein melodischer Glockenton unterbrach sie, und sie stand auf und ging zur Tür. Sofort liefen ihr auch alle drei Kinder hinterher, um einen Blick auf den unerwarteten Besuch zu werfen. Ein Mann stand in der Eingangstür. Hope hatte ihn gleich erkannt, und deshalb kannte auch David seinen Namen. Es war Mr Jones vom Informationsbüro. Aber er war nicht allein. Hinter ihm standen Oma und Opa, und alle sahen sie sehr ernst aus. David spürte wie langsam eine unbestimmte Angst in Hope aufstieg. Mr Jones redete leise mit ihrer Mutter. Sie konnte sehen, wie diese blass wurde und zu zittern begann. Dann schwankte, als ob sie nicht mehr stehen konnte. Opa drängte sich an Mr Jones vorbei und fing sie auf.
Irgendetwas war geschehen, etwas furchtbar Schlimmes, Hope erkannte das sofort. Oma kam jetzt auch herein und lief gleich zu den Kindern hinüber. Die hatten sich am Kücheneingang aneinander gedrängt. Als Oma sich bückte und ihre Arme öffnete, hatte sie Tränen in den Augen: „Es ist etwas geschehen... etwas mit eurem Papa.“ Ihre Stimme zitterte „...da war ein Unfall.... und er... ist gestorben...“
Oma hatte sich hingekniet, und Sissy und Lillebro in die Arme genommen. Sie sah Hope an.
Nein, das ist nicht wahr,“ Hope's Stimme war schrill. „Das kann gar nicht stimmen. Papa ist nicht alt, nicht so wie Urgroßvater oder wie Ms Miner. Er ist es nicht. Er kann nicht gestorben sein. Er kann es einfach nicht!“
Ohne die anderen Kinder loszulassen, streckte Oma eine Hand nach Hope aus. Aber Hope entzog sich ihr Schritt um Schritt rückwärts gehend, bis sie endlich an die Wand stieß. Sie wollte nicht angefasst werden. Sie wollte Oma nicht einmal anschauen
Hope sah zu ihrer Mutter hinüber, aber Mama hatte die Hände vors Gesicht gelegt. Opa führte sie vorsichtig zur Wohnzimmercouch, und dann setzte er sich neben sie und legte seine Arme um sie. Noch mehr Leute standen jetzt um den Eingang herum, die Nachbarn. Alle waren sie ganz still, sie sahen zu Hope und ihren Geschwistern hinüber. In ihren Augen waren sowohl Mitleid als auch Hilflosigkeit zu erkennen.
Und dann drängte sich jemand durch die Menge. Es war die stämmige Gestalt von Großonkel Professor, die dort auftauchte.
Er steuerte direkt auf Hope zu. Die hatte sich nun so fest gegen die Wand hinter ihr gepresst, dass es schien, als ob sie darin verschwinden wollte. Mit bösen Augen starrte sie die Leute an. Sie wollte kein Mitleid von denen. Es waren alles Lügner, dachte sie, alles Lügner.
Großonkel Professor ließ sich von Hope's wütendem Blick nicht abschrecken. Er hob sie einfache hoch, hielt sie in den Armen und schaukelte sie wie ein Baby hin und her: „Mein Kleines, oh mein Kleines. Es tut mir so Leid, so furchtbar Leid... Ich wusste, dass irgendetwas mit deinem Vater geschehen würde, aber ich wusste nicht was oder wann... Ich wusste einfach nicht genug...wenn ich nur mehr hätte entziffern können... wenn ich nur... ich hätte dann. Es tut mir so Leid, so schrecklich, schrecklich Leid... mein Kleines...“
Die jüngere Hope hatte keine Ahnung, worüber ihr Großonkel da gerade redete, aber sie spürte wie eine Träne auf ihre Stirn tropfte, und diese Träne ließ Omas Worte endlich zur Wirklichkeit werden. Hope's Zorn löste sich auf und wurde von unendlicher Traurigkeit ersetzt, einer Traurigkeit die so tief saß, dass es sich anfühlte, als wäre sie in einen Abgrund ohne Boden gefallen. Aber weinen konnte sie nicht...
Die Vision löste sich auf, und die ältere Hope kehrte zurück. Einen Augenblick lang schien sie so verzweifelt traurig zu sein, wie die jüngere Hope es gewesen war. Dann riss sie sich aus ihren Erinnerungen und sah David an: „Hast du das gesehen,“ fragte sie.
Als David nickte, schien sie nicht glücklich darüber zu sein. „Ich habe nicht gewusst, dass ich das kann, dir meine Erinnerungen so zu zeigen. Ich wollte nicht, dass du....“
Ihre Worte wurden zum Flüstern, dann noch schwächer, bis gar nichts mehr zu hören war.
Es tut mir Leid...“ sagte David und meinte es. „Es tut mir ehrlich Leid, was ich vorhin gesagt habe... über dich und deinen Vater.“
Hope riss sich nun zusammen. Ihre Stimme, die jetzt kalt und sachlich klang, strafte die Wellen von Schmerz Lügen, die David immer noch spürte, wie sie von ihr ausgingen und sein eigenes Bewusstsein überschwemmten.
Mein Vater wurde getötet, als er auf einer Eisbrecher-Mission in Antarktika stationiert war, zusammen mit neun Freiwilligen, die er zu der Zeit anleitete.
Das Gebiet war zwar zuvor gescannt worden, aber als der nukleare Sprengsatz von unserem führendem Eisbrecher-Schiff abgefeuertauf das Eis worden war, da löste er dort einen anderen Sprengsatz aus. Dieser war dort irgendwann einmal von einem Militär aus den dunklen Zeiten hinterlassen worden. Das hat dann eine Kettenreaktion bewirkt, die die gewöhnliche Sprengkraft tausendfach vergrößerte. Die Explosion war so enorm, dass sie ein Gebiet von 250 Quadratkilometern zerstörte, einschließlich der Eisbrecher-Station, von der aus mein Vater und seine Gruppe von Freiwilligen ihre Laser-Eisbrecher-Maschinen operierten.“
David presste seine Lippen zusammen. Es gab nichts, was er dazu hätte sagen können. Er war schon immer davon überzeugt gewesen, dass zukünftige Generationen einmal für die Fehler der heutigen Zeit würden leiden müssen, aber so konkret hatte er sich das nicht vorgestellt.
Dann erinnerte er sich an etwas: „Letzte Nacht in meinem Traum habe ich eine Stimme gehört, die rief 'Nicht zu den dunklen Zeiten!' Du hast mir gesagt, dass du auch geträumt hast. Du wolltest nicht herkommen, stimmt's?“
Ja, ich wollte es nicht,“ gab Hope zu
Hat dich dein Großonkel dazu gezwungen?“
Natürlich nicht,“ Hope war entrüstet. „Es war meine eigene Entscheidung, aber...“
Wieder formte sich ein Bild vor David's Augen. Er schloss sie, um es klarer erscheinen zu lassen.
Hope stand vor einer sonderbaren Maschine. Sie sah ihren Großonkel mit einem verzweifelten Blick an: „Ja, natürlich will ich mit deiner Maschine in die Vergangenheit reisen. Aber ich will nicht in die dunklen Zeiten, zu diesen schrecklichen Leuten. Ich will keine 200 Jahre zurückgehen nur vier, bitte nur vier!“
Ihr Großonkel erwiderte traurig: „Ich weiß, dass du das willst. Und ich gäbe alles dafür, wenn das möglich wäre. Aber das ist es nun einmal nicht. Eure Wellen stimmen nicht überein.“
Und als Hope ihren Mund öffnete, um zu protestieren, kam der Professor ihr zuvor: „Und du kannst auch nicht zu jemandem anderen zurückgehen, der deinen Vater vielleicht warnen könnte. Meine Freunde und ich haben bereits versucht einen Menschen länger als ein, zwei Tage zurückzuschicken, aber irgendwie scheint das nicht zu funktionieren. Es scheint, als können unsere Apparaturen nur noch ungenau fokussieren, wenn die Zeit weiter von uns entfernt ist. Es ist als ob sich die Vergangenheit vor uns verschließt, sich gegen unsere Einmischung wehrt.
Es gab eine Zeit, wo ich das selbst weder verstehen noch akzeptieren konnte. Naiv hatte ich geglaubt, dass wenn ich nur mehr von den Informationen hier drin hätte entziffern können...“
Hope's Großonkel öffnete seine Hand und der silberfarbene USB Schlüssel, den David zuvor schon gesehen hatte, kam zum Vorschein.
...dann hätte ich den Unfall deines Vaters verhindern können. Als ich dann endlich das wahre Prinzip der Zeit verstanden hatte, da erst wurde das Zeitreisen zur Realität.
Und doch gibt es eine Ausnahme zu dieser Regel, eine einzige, von der ich gesicherte Beweise habe. Jemand ist länger zurückgegangen... 214 Jahre zurück, um genau zu sein.“
Es ist so unfair, Großonkel. Warum kann ich zurück zu diesem alten Vorfahren von uns, aber nicht zu meinem eigenen Vater. Er war so ein guter Mensch, ein wirklich, wirklich guter Mensch. Und er wüsste, was zu tun wäre in unseren schrecklichen Schwierigkeiten, wo nicht einmal du weißt, was man machen kann.“
Es lag eine bittere Anklage in Hope's Stimme: „Ich weiß, er würde es wissen, ich weiß es einfach....Warum hat Gott ihn sterben lassen? Warum gibt er mir jetzt keine Chance, ihn zu retten?“
Ich weiß es nicht, meine Kleine. Der Wille Gottes ist oft ein Mysterium für uns. Wir werden das Schicksal, das uns zuteil wird, vielleicht nie begreifen. Aber manchmal, nur ganz selten, gelangen wir zu einer Erkenntnis, aber das geschieht immer nur zu seiner Zeit.
Für jetzt aber, kann ich dir nur eines sagen: Ich weiß, dass du deinen Vater nicht retten kannst, aber du kannst einen anderen Menschen aus einem schwarzen Loch befreien. Und ich bin davon überzeugt, dass du die einzige bist, die das tun kann.“
Er lebt in den dunklen Zeiten.“ Hope verzog ihr Gesicht: „Ich kann ihn da nicht rausholen, und ich will es auch gar nicht.“
Als ob er Hope's Widerstand gegen seinen Vorschlag akzeptiert hätte, so hatte Großonkel Professor Hope jetzt den Rücken zugewandt. Er zögerte für einen Augenblick, dann redete er in einer sanften, klaren und neutralen Stimme weiter: „Ja sicher, dieser Mann lebt in den dunklen Zeiten, aber was ihn umgibt ist sogar noch dunkler. Das Mädchen, das in der Zeit zurückging, weil sie allein die Fähigkeit besaß, ihn zu treffen, hieß Hope. Auch wenn er in einer Zeit und Kultur lebt, die wir nicht verstehen, so hatte sein Leben damals, wie das eines jeden Menschen heute, doch einen Wert. Die Möglichkeit diesen Mann zu retten lag in Hope's Händen.“
Der Professor drehte sich wieder um und sah seine Großnichte nun direkt an: "Es liegt in deiner Hand. Und du wirst diese Möglichkeit doch nutzen, oder hast du das Erste Prinzip vergessen?"
In einem Wimpernschlag verschwand das Bild von der zukünftigen Hope und wurde von der gegenwärtigen Hope ersetzt, die mit den Schultern zuckte und sagte: „Und dann musste ich kommen; ich konnte keine andere Entscheidung treffen.“
Wegen dieses ersten Prinzips?“ David war nicht sicher, ob er das richtig verstanden hatte.
Hope nickte.
Was ist denn dann dieses Prinzip, von dem dein Großonkel gesprochen hat?“
Es ist das, worauf unsere Hausgemeinschaft, unser Dorf, unser Distrikt, unsere Nation und die gesamte Welt aufgebaut ist,“ antwortete Hope mit hörbarem Stolz in der Stimme. Aber dann verdunkelte sich ihre Miene, und sie verbesserte sich selbst: „Ich meine fast die ganze Welt... jeder Ort außerhalb von Orange Country.“
„Was ist Orange Country?“ fragte David.
Die Hölle,“ war die kurze Antwort.


***






Nachdem Mr Wang und ich den Autohandel betreten haben, erkennen wir sofort, dass wir heute die ersten Kunden sind.
Vier der Texaner -Brent, Patrick, Kelly und Antonio- sind bereits zu ihrem nächsten Auftrag in einem öffentlichen Transportmittel aufgebrochen. Um das Fahrgeld zu zahlen, mussten sie ihre falschen Chips testen. Brent hat daraufhin Darryl elektronisch übermittelt, dass die Chips ausgezeichnet funktionieren.
Die anderen haben beschlossen draußen zu warten, und zwar in weiten Abständen entlang der Straße. Sie mussten darauf achten, keinen Verdacht zu erregen, was eine ungewöhnlich große Gruppe mit Sicherheit tun würde. Ich habe ihnen erklärt, dass Sicherheitsvollstrecker die einzigen in Nephilim City seien, die jemals in der Öffentlichkeit in Gruppen zu sehen waren.
Tom, Jim, Jesse, Vance und Cass warten darauf, das nächste öffentliche Fahrzeug in die andere Richtung zu nehmen. Darryl wird mich und das Spesaeterna Team später in dem privaten Fahrzeug begleiten, das ich hier kaufen will. Das kleine Auto, das mir gehörte bevor ich Orange Country verlassen habe, ist zur Zeit in einem der Meeresdörfer geparkt. Als ich es dort abgestellt habe, dachte ich, es wäre eine gute Idee gewesen. Mein Vater sollte so nicht vorzeitig erfahren, dass ich nicht mehr im Land war.
Die Gebrauchtwagen stehen auf der linken Seite des Ladens. Alle sind frisch lackiert, damit sie neuer aussehen als sie wirklich sind. Dahinter sehe ich die Tür des Verkaufsbüros halboffen stehen. Eine laute, despotische Stimme dringt jetzt aus dem Raum hinter der Tür:
Sie sind der schlechteste Verkäufer, den unsere Firma je beschäftigt hat. Sie einen totalen Versager zu nennen, beginnt nicht einmal Sie zu beschreiben!“
Der ersten Stimme antwortet eine ängstliche, viel leisere: „Es tut mir wirklich so Leid, Boss, und ich werd mich von jetzt an sicherlich mehr anstrengen...“
Anstrengen? Das ist einfach nicht gut genug. Schauen Sie sich Ihre Zahlen von letzter Woche an: Kein Verkaufsabschluss, kein Verkaufsabschluss, kein Verkaufsabschluss, dann der Verkauf eines einzigen Wagens und dabei auch noch das billigste Modell, das wir im Laden haben, und dann wurde am nächsten Tag wieder kein einziger Wagen von Ihnen verkauft. Und die Woche davor war es kein bisschen besser. Sie sind entlassen und zwar fristlos!“
Boss, bitte, das können Sie doch nicht tun! Was ist mit meinem Vertrag?“
Ihr Vertrag? Machen Sie Witze? Haben Sie den überhaupt gelesen? Da steht es schwarz auf weiß, dass er Null und Nichtig wird, sobald Sie länger als eine Woche die erwartete Leistung nicht bringen.“
Aber das können Sie doch nicht machen, Boss. Bitte, wenn ich den Jahresvertrag in dieser Firma nicht durcharbeite, dann werde ich niemals mehr einen neuen Job finden. Dann werde ich meine Versicherung nicht mehr bezahlen können, und Sie wissen, was dann mit mir passiert...“
Das kann nicht meine Sorge sein. Wenn ich Ihnen erlaube weiterhin ein Gehalt von dieser Firma zu beziehen, dann werden das meine Vorgesetzten nicht einsehen, meine eigene Stellung steht dann auf dem Spiel und mein Vertrag und meine Versicherungszahlungen.“
Nach einer kurzen Pause schlägt die erste Stimme einen um eine Nuance versöhnlicher klingenden Ton an:
In Ordnung, ich gebe Ihnen noch einen Tag, einen einzigen Tag. Und es muss ein großer Verkaufstag sein, sag ich Ihnen. Ansonsten brauchen Sie morgen gar nicht mehr zu erscheinen.“
In diesem Augenblick taucht ein Verkäufer hinter einer Reihe von Wagen auf.
Meine Herren,“ ruft er eifrig, „Sie sind genau zum richtigen Ort gekommen! Wir haben hier eine Auswahl der besten Automobile von ganz Nephilim City.“
Ich schüttele den Kopf und Mr Wang bedeutet dem Verkäufer mit einer Handbewegung, dass wir nicht interessiert sind. Dieser dreht sich enttäuscht auf dem Absatz um.
Wir warten ein paar Sekunden, während wir die offene Bürotür beobachten bis ein kleiner Mann mit spärlich behaartem Kopf und tief gebeugten Schultern aus dem Büro geschlurft kommt, ohne uns auch nur zu bemerken.
Wir wollen ein Auto kaufen,“ bemerke ich mit leicht erhobener Stimme, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf mich zu lenken.
Der kleine Mann sieht auf: „Aber natürlich, mein Herr. An welche spezielle Preislage hatten Sie denn da gedacht?“ fragt er.
Er ist wirklich kein guter Verkäufer.
Ich glaube, ich muss mich mal vorstellen,“ erkläre ich ihm und packe ihn an der rechten Hand, um sie zu schütteln. Sobald sich unsere Handflächen berühren, ertönt ein schwacher Glockenton aus unseren beiden Armbandkontrollern. Der kleine Mann sieht sich seinen Display an, und sein Mund öffnet sich schockiert.
Oh, Mr Galt,“ flüstert er, und dann fügt er mit etwas kräftiger Stimme hinzu: „Sie wollen natürlich den besten.“
Nur den allerbesten,“ bestätige ich mit einem Nicken. Und dann folgen Mr Wang und ich dem kleinen Mann in die Abteilung mit den größten und glänzendsten Wagen, bis wir vor einem roten Chrom blitzenden Automobil stehen, das etwa zweimal die Größe irgendeines der anderen Vehikel zu haben scheint.


***


Hope presste ihre Lippen zusammen und David spürte, dass sie nicht mehr reden wollte. Gedankenverloren blickte er auf die leere Cola-Dose in seiner Hand, dann warf er sie in Recyclingeimer.
Komm mit mir nach draußen,“ forderte er Hope danach auf. „Ich brauche etwas zu essen, ich bin immer noch hungrig. Und außerdem brauche ich ein bisschen Tageslicht und frische Luft und du vielleicht auch.“
David griff sich seine braune, pelzgefütterte Wildlederjacke vom Kleiderständer in der Ecke und zog sie an. Obwohl es bereits Ende April war, war es immer noch ziemlich kalt. Dann öffnete er die Tür, um nach draußen zu gehen, nur um gleich darauf über ein weiches Hindernis zu stolpern und danach ein unterdrücktes Stöhnen zu hören.
Überrascht schaute er nach unten, und fand dort einen Mann mit dem Kopf unter der Treppe liegen. Seine Füße waren es, die den Eingang blockierten. Der Mann zog langsam seine Beine ein und stand auf, immer noch leise stöhnend.
"Was zum Geier haben sie da gemacht?" fragte David nicht gerade sehr freundlich.
"Geschlafen," bestätigte der Mann das nur allzu Offensichtliche, während er Kopf und Schultern bewegte, um seine steifen Glieder wieder zu durchbluten. Er hatte, wie es aussah, den Hohlraum unter der Treppe als Unterschlupf und Schlafgelegenheit genutzt. Eine schwarze Plastiktüte hatte ihm als Matratze gedient und eine weiße Papiertüte, die anscheinend ein Buch enthielt, war sein Kopfkissen gewesen; er hatte immerhin eine echte Decke benutzt, obwohl auch diese ziemlich dünn zu sein schien und außerdem ein Stück zu kurz für seine lange Gestalt.
"Das kann ich sehen," erwiderte David. "Aber warum hier?"
Der Mann zuckte mit den Achseln: "Das ist genau so ein guter Ort wie jeder andere. Die Obdachlosenunterkünfte von St. Mary's waren letzte Nacht voll, und der Schaffner war gerade dabei mich aus der Bahn zu werfen."
Jetzt erkannte David den Mann. Er hatte ihm gestern zwar keines zweiten Blicks gewürdigt, aber trotzdem, er musste es sein: Schwarz, unrasiert, eine fleckige Jacke, eine zerknitterte und schmutzige Hose, die über einem Knie einen Riss hatte....der Penner von letzter Nacht.
Diese Erkenntnis beunruhigte David dann doch ein wenig. Der Mann musste ihm von der Bahn aus nachgegangen sein, und das, obwohl David nicht einmal bemerkt hatte, dass jemand anders an derselben Haltestelle ausgestiegen war.
David verzog sein Gesicht zu einem humorlosen Grinsen... also war Hope nicht die einzige, die ihm letzte Nacht nach Hause gefolgt war. Aber warum ihm? Als David sich dann an sein eigenes Spiegelbild erinnerte, das er vor kurzem noch so kritisch betrachtet hatte, und an die Tatsache, dass er wirklich keine Ahnung hatte, wovon er die nächste Miete zahlen sollte, da fand er es mit einem Anflug von Sarkasmus gar nicht so unwahrscheinlich, dass dieser Obdachlose in ihm einen baldigen Leidensgenossen erkannt hatte.
Vielleicht muss er mal duschen, damit er sich besser fühlt, so wie du,“ unterbrach Hope David's Gedanken. Sie brachte ihn etwas aus dem Gleichgewicht, und deshalb antwortete er ihr laut: „Du meinst ich soll ihn ins Haus einladen?“
Ja,“ antwortete Hope ohne Umschweife und fügte dann hinzu: „Und rasieren sollte er sich auch.“
Leute tun so was hier nicht,“ murmelte David jetzt. „Wir laden völlig Fremde nicht einfach in unsere Wohnungen ein.“
Der Mann hatte David beobachtet. Und ohne jegliche Überraschung in der Stimme bemerkte er: „Jemand redet mit Ihnen.“
Nur mein Gewissen,“ antwortete David leicht verärgert, während es ihm gleichzeitig auch ziemlich peinlich war.
Yeah, meins macht das auch die ganze Zeit,“ konterte der Mann, „reden, meine ich. Was für eine Farbe hat es?“
Farbe? Mein Gewissen?“ David sah Hope an und fühlte einen Anflug von Humor in sich aufsteigen, und so antwortete er: „Lila, denk ich mal.“
Lila ist eine hübsche Farbe,“ komplimentierte der Mann. „Meins ist grün. Er ist ungefähr so groß,“ erklärte er, wobei er seine Hände etwa 20 Zentimeter auseinander hielt. „Er hat mir nie seinen Namen genannt, aber ich nenne ihn Mr Green, weil ...“
er grün ist,“ beendete David den Satz.
Ja, das stimmt,“ bestätigte der Mann. „Hat Ihres auch einen Namen?“
Oh ja, ihr Name ist Hope, Hope Morgan. Sie ist ein kleines Mädchen, nur ein ganz klein bisschen größer als Ihr Mr Green, aber nicht viel.“ Das Gespräch hatte jetzt angefangen, David Spaß zu machen, während er Hope's ziemlich beleidigtes Gesicht betrachtete.
Freut mich Sie kennenzulernen, Miss Morgen.“ Der obdachlose Mann verbeugte sich leicht in Hope's Richtung, die er überraschenderweise ziemlich genau einschätzte, als ob er sie wirklich neben David's linken Ellenbogen stehen sehen konnte. „Ich heiße Jeremy Johnson und komme aus Castleberry, im Staat Alabama, wo sie die besten Erdbeeren des ganzen Landes züchten.“
Hope's Gesicht hellte sich auf, und sie lächelte. Sie verbeugte sich auch ein bisschen und erwiderte die Begrüßung: „Guten Morgen Mr Johnson... und Mr Green,“ und dann stellte sie sich ebenfalls vor: "Ich heiße Hope Morgen und komme aus der Nachtigallen-Nachbarschaft von dem Dorf Spesaeterna, im 46. Distrikt der Nation New-York-New-Jersey. Und ich mag Erdbeeren sehr gerne.“
David wandte sich zu Mr Johnson und übersetzte: "Meine Hope sagt sie kommt von hier in der Gegend, und dass sie gerne Erdbeeren isst."
Das hätte ich auch gedacht,“ bestätigte Mr Johnson. „Alle Kinder mögen Erdbeeren!“
Dann fügte er sehnsuchtsvoll hinzu. „Und deshalb ist Castleberry ein guter Ort, um dort aufzuwachsen.“
David hatte sich endlich entschieden. Jeremy Johnson war zwar ziemlich durchgeknallt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach harmlos.
Hope einen Blick zuwerfend sprach er eine Einladung aus: „Meine Hope fragt, ob Sie vielleicht hereinkommen möchten, um mein Badezimmer zu benutzen, zum Duschen und vielleicht zum Rasieren?“
Mr Johnson drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite, als ob er jemandem zuhörte, dann lächelte er breit: „Mr Green sagt, dass ich da nich dagegen sein, sondern die Einladung annehmen sollte, Miss Morgan.“ Und dann hob er seine paar Sachen vom Boden auf und ging durch die Tür.
Als David zum Schrank ging, um ein Handtuch zu holen, redete Hope wieder: „Ich denke Mr Johnson braucht auch neue Kleider. Seine Hose ist ganz zerrissen, und seine Jacke ist nicht so warm wie deine. Ich glaube er hat keine andere, und du hast doch so viele hier drin.“
Wortlos nahm David eine Jeans, ein kariertes Hemd, Unterhosen, Socken und ein T-Shirt aus dem Schrank. Und weil er Hope's Augen auf sich gerichtet fühlte, wählte er nur ziemlich neue Sachen, keine alten und abgetragenen. Er nahm sogar seine zweitbeste und ziemlich teure Winterjacke vom Bügel.
Er drehte sich um und übergab Mr Johnson das Kleiderbündel zusammen mit dem Handtuch. „Meine Hope denkt auch, dass Sie vielleicht ein paar andere Kleider brauchen könnten, zum umziehen. Und sie glaubt, dass ich selber viel zu viele davon habe.“
Nach einer kurzen Pause mit seitlich gebeugtem Kopf, antwortete Jeremy Johnson: „Mr Green sagt, ich sollte auch nich gegen neue Kleider sein, und ich sollte mich bei Miss Morgan bedanken und bei Ihnen, Mr?“
Nennen Sie mich David. Ich...äh, wir wollten gerade ausgehen, um Essen zu kaufen, würden Sie... und Mr Green uns vielleicht beim Frühstück Gesellschaft leisten?“
Wir hätten nichts dagegen,“ antwortete der so Eingeladene, „obwohl Mr Green meist nich sehr hungrig ist.“
David lächelte: „Na ja, Miss Morgan ist es auch nicht, aber das sollte uns beide wohl nicht daran hindern etwas zu essen, oder? Ich bin bald wieder zurück.“
Mit diesen Worten verließ David die Wohnung, während sich Jeremy Johnson ins Badezimmer aufmachte.
David war kaum 20 Meter weiter, als er seine Entscheidung, den obdachlosen Mann in seiner Wohnung alleinzulassen, bereits bereute.
Ich wette, wenn ich zurückkomme, dann ist der Fernseher und mein Computer weg, zusammen mit Mr Johnson,“ murmelte er in Hope's Richtung
und Mr Green“ fügte er sarkastisch hinzu.
Ist der Fernseher nicht das rechteckige Ding, das an deine Wand angeschraubt ist?“ fragte Hope.
In Ordnung, eins zu null für dich,“ gab David zu, „Aber der Computer ist ein Laptop, und den kann man leicht in eine Tüte packen. Der liegt da einfach nur auf meinem Wohnzimmertisch und wartet nur darauf mitgenommen zu werden.“
Ich glaube nicht, dass Mr Johnson jemand ist, der das Eigentum anderer Leute wegnimmt,“ war Hope's Meinung.
Und du kennst ihn seit wie vielen Minuten,“ fragte David zynisch.
Seit genauso vielen wie du, und trotzdem verdächtigst du ihn bereits ein ziemlich schlimmer Regelbrecher zu sein. Das ist die typische Dunkel-Zeit-Paranoia.“
Die typische was?“ fragte David
"Die geistesgestörte Angst der Dunklen Zeiten, Sensei hat uns die ganz genau erklärt. Während der Dunklen Zeiten haben alle Leute das Schlimmste von allen andern angenommen, weil sie selbst so oft die schlimmsten Dinge taten, wann immer sie damit ungestraft davonkommen konnten. Und deshalb mussten sie ihr Eigentum immer gut einschließen und ihre Häuser und Wohnungen verriegeln, weil sie ständig Angst hatten, dass jemand ihnen etwas wegnehmen würde."
David sagte nichts dazu, aber er fühlte Ärger in sich hochsteigen.
Hope fuhr fort: "Da war zum Beispiel dieser Schriftsteller aus den Dunklen Zeiten, von dem Sensei uns erzählt hat. Der hat sich viele Geschichten über einen Mann ausgedacht, der Menschen tötete und für das Töten von anderen Leuten viele Dunkel-Zeiten-Coins bekam. Und diese hässlichen Geschichten von dem bezahlten Töten wurden von vielen tausend Lesern in den Dunklen Zeiten auch noch gerne gekauft.“
Unüberhörbare Verachtung klang nun aus Hope's Stimme, ob sie nun dem unbenannten Schriftsteller galt oder seinen Lesern.
Aber im wirklichen Leben hat dieser Schriftsteller in einem Kaffeehaus gesessen und sich vorgestellt, was für schlimme Dinge andere Leute mit ihm machen könnten, zum Beispiel seinen Computer stehlen oder gar ihn selbst entführen, wenn er in einem fremden Land wäre. Er hat dann an alle Leute geschrieben, die seine Geschichten gelesen haben, und hat ihnen erklärt, was sie tun sollten, damit niemand sie entführt oder ihnen ihre Computer in Kaffeehäusern stiehlt. Seine Leser sollten in jedem Menschen um sich herum einen potentiellen Feind sehen und dann auch immer wie so ein Feind denken. Und sie sollten Präventivmaßnahmen ergreifen, so wurde das in den Dunklen Zeiten genannt, so dass niemand ihnen etwas tun könnte. Und dann würden die Diebe und Entführer lieber andere Leute bestehlen oder entführen.“
Hope hatte sich in ihre Entrüstung hineingesteigert.
Und weißt du, was er seinen Lesern noch erklärt hat? Er sagte, wenn du und dein Freund vor einem Bär davonlaufen, dann musst du nicht schneller laufen als der Bär, nur schneller als dein Freund.“
Hope's Gesicht hatte jetzt einen Ausdruck völliger Abscheu. David hatte die Vermutung, dass in Hope's Welt niemand seinen Freund opfern oder auch nur irgendwelche Witze über so was reißen würde.
Die mussten ja eine ziemlich humorlose Bande sein, die dort in der Zukunft, dachte David. Außerdem hatte er diese "Dunkle Zeiten" Beleidigungen ziemlich satt, genau wie Hope's ständiges Überlegenheitsgetue, dass ihre Zeit so viel perfekter sei als seine. Er fühlte sich wie jemand dessen Land ständig verbal von einem Ausländer angegriffen und niedergemacht wurde.
Und obwohl David bei weitem kein fahnenschwenkender Patriot war, und den Fehlern seines eigenen Landes oft kritisch gegenüberstand, so würden solche Beleidigungen ihn doch auf dem schnellsten Wege ins Lager der Fahnenschwenker bringen. Aber unter diesen Umständen, wo er dauernd hören musste, wie sein gesamtes Zeitalter niedergemacht wurde, wie sollte er sich wohl nennen? Nationalist passte da nicht ganz, Zeit-onalist vielleicht?
Hope war stumm geblieben, während David in seine ärgerlichen Gedanken versunken war, aber als er sie jetzt ansah, hatte sie einen ganz anderen Ausdruck im Gesicht.
Ich war arrogant,“ sagte sie schuldbewusst, „und ich war eingebildet. Das ist schlimm, wirklich schlimm. Es tut mir Leid.“
Ihre Worte überraschten David wirklich. Hope's Schuldgefühle schienen echt zu sein, und Davids eigene Einstellung ihr gegenüber erwärmte sich ein bisschen.
Es war wirklich nicht so schlimm,“ murmelte er, und als er dann an die Szene aus ihren Erinnerungen dachte, fügte er hinzu: „Du hattest sicherlich deine Gründe.“
Den Rest des Weges gingen sie schweigend nebeneinander her. Als sie am Supermarkt ankamen, hatte David seinen Appetit verloren und konnte sich nichts Essbares vorstellen, das er sich jetzt wirklich kaufen wollte.
Was meinst du, was Mr Johnson wohl gern zum Frühstück hätte?“ fragte er Hope deshalb etwas lustlos und mit leiser Stimme, denn er wollte vor den anderen Kunden nicht unbedingt auffallen. „Schließlich bist du es gewesen, der ihn eingeladen hat.“
Ich hab ihn nur zum Duschen eingeladen, das warst du, der ihm ein Frühstück versprochen hat.“ Hope bestand auf der vollen Wahrheit, bevor sie vorschlug:
Ich denke, er mag vielleicht Erdbeeren und Sahne dazu oder vielleicht sogar einen Erdbeerkäsekuchen, das ist mein Lieblingsgericht!“ Sie zeigte auf einen der Flicken auf ihrer Kleidung. Der sah wirklich etwas wie ein Erdbeerkuchen aus, und der Flicken daneben sah aus wie...
Fischstäbchen! Das sind Fischstäbchen!“ entfuhr es David laut, als er auf den Flicken zeigte.
Ja, das ist mein zweites Lieblingsgericht,“ stimmte Hope ihm zu, „und mein drittes ist Falafel."
Das hörte sich wie die Mischspeisekarte eines typischen New-Yorkers an, Gerichte aus allen Ecken der Welt.
Fischstäbchen waren auch mein Lieblingsgericht als ich in deinem Alter war,“ sagte David sanft.
Fischstäbchen hatten ihn immer an Island erinnert und an seine Amma und ihren 'Fisch in Semmelbröseln' und an die Zeit, als seine Mom und sein Pabbi noch zusammen waren und alles noch gut war.
In deiner Zeit esst ihr immer noch solche Sachen?“ fragte David leicht erstaunt.
Aber sicher tun wir das. Die Kunst des Kochens hat eine lange Tradition. Einige Gerichte sind hunderte von Jahren alt, die gab es schon vor den 'Dunklen..' ich meine vor deiner Zeit."
Sind die anderen Flicken auch Lieblingsgerichte von dir?“ fragte David, während er den Einkaufswagen in die Obst- und Gemüseabteilung schob, um dort eine Packung Erdbeeren mitzunehmen.
Natürlich nicht,“ antwortete Hope, „dies hier sind meine Lieblingstiere, ein Kamel, eine Kuh und eine Nachtigall, und das dort sind meine Lieblingsblumen.“ Sie zeigte auf zwei andere Gruppen von Flicken. Und ja, die Tiere und Blumen waren leicht zu erkennen.
Und dies hier sind meine drei besten Freundinnen,“ fügte Hope hinzu, wobei sie auf Flicken mit chinesischen Schriftzeichen deutete.
Und deine Lieblingszahl ist drei,“ vermutete David, als er ein Sahne-Spray, eine Packung Speck und einen Karton Eier aus dem Kühlregal nahm. Hope grinste zustimmend.
Sind deine Freundinnen alle chinesisch,“ fragte David dann.
Nein, warum?“ fragte Hope zurück. „Oh ich verstehe.... du meinst wegen der Schriftzeichen. Das sind ihre Namen in Interlingua geschrieben: Jenny, Marcella und Ameenah.“
Was für eine Sprache ist Interlingua?“ fragte David jetzt interessiert.
Es ist die globale Kommunikationssprache, es ist die Sprache, die alle in der Welt in der Schule lernen, so dass sie mit Leuten aus anderen Ländern auf dem Friedensnetz reden können, oder wenn sie in andere Länder als Touristen kommen, oder wenn sie zusammen mit Leuten aus anderen Ländern an Projekten arbeiten.“
Und wird dieses Interlingua in chinesischen Schriftzeichen geschrieben,“ war David's nächste Frage.
Oh nein, das wäre zu kompliziert. Nur Namen werden chinesisch geschrieben und alles andere in lateinischen Buchstaben. Und die Worte kommen aus allen Sprachen, aber die meisten aus dem Spanischen, dem Englischen, dem Chinesischen, dem Arabischen, dem Japanischen, dem Französischen und aus Swahili und Hindi.“ Hope zählte an ihren Fingern ab um sicherzugehen, dass sie ihr auswendiggelerntes Wissen auch vollständig wiedergab.
Aber da macht etwas nun aber gar keinen Sinn,“ unterbrach sie David während er ein Brot aus dem Regal nahm. „Wie kann man zum Beispiel westliche Namen in chinesischen Schriftzeichen schreiben? Die sind nicht phonetisch wie unsere Buchstaben.“
Stimmt,“ Hope lächelte, „aber jeder Name hat eine Bedeutung oder hatte sie zumindest einmal. Und für jede Bedeutung haben wir eines oder ein paar Zeichen. Wie mein Name zum Beispiel, der hat immer noch dieselbe Bedeutung.“
Sie deutete auf die Zeichen auf ihrer Kappe: „Dies hier bedeutet Hoffnung auf chinesisch. Und ich kenne auch die Bedeutung von deinem Namen.“
Hope lächelte jetzt mit fast liebevoller Wärme. "Es ist nämlich so, dass Lillebro's richtiger Name David ist, so wie deiner. Und das bedeutet 'der, der geliebt wird' und es gibt ein Zeichen dafür.“
Ein weißes chinesisches Schriftzeichen erschien, um direkt vor Hope's Gesicht in der Luft zu schweben.
David stand jetzt in der Kassenschlange. 'Der, der geliebt wird,' nicht gerade ein sehr passender Name für mich, dachte David.
Als er bezahlt hatte, deutete David dann auf ein Bild, das nicht so war wie die anderen Flicken, sondern in den Stoff ihres Oberteils eingestickt zu sein schien, wobei es einen guten Teil der linken Seite bedeckte. Er hatte dasselbe Symbol auf der Kleidung der anderen Familienmitglieder gesehen und, wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte, dann war es auch auf der Kleidung von einigen der Nachbarn gewesen. Es sah aus wie ein X, das mit einem P verbunden war, über einer simplen Zeichnung eines Fisches mit einem kleinen Kreuz auf dem Bauch.
Was ist das für ein Symbol,” fragte David
Das ist natürlich meine Religion,” war die Antwort. “Ich bin Christin, die Buchstaben sind das griechische Chi und Rho, der Anfang von Christos, und der Fisch bedeutet, dass die ersten Christen Fischer waren. Meine Freundin Ameenah ist Muslimin. Sie hat so ein Zeichen auf ihrer Kleidung.” Eine dreieckig geformte Kombination von geschwungenen weißen Linien und Punkten erschien vor David's Augen. David erkannte es als die arabische Kalligraphie, die er einmal gesehen hatte, als er ein Interview in einer Moschee geführt hatte.
Hope erklärte: “Das bedeutet 'Im Namen Gottes des Gnädigen und Barmherzigen'.
Und unsere Nachbarn Chuan-Luan und Enlai sind Buddhisten, und sie haben ein Dharma-Chakra.“
Die Kalligraphie wurde von einem achtspeichigen Rad ersetzt.
Bevor Hope es ihm erklären konnte, kam David ihr zuvor: „Der ewige Kreislauf des Lebens.“
Du kennst dieses Symbol?“ fragte Hope.
David nickte: „Jemand hat es mir erklärt.“
Hope fuhr fort mit ihrer Erklärung: “Jede Religion hat ihr eigenes Symbol für ihre Gläubigen. Ich lebe in einer gemischten Hausgememeinschaft – Christen, Muslime und Buddhisten leben dort.“
Hat jeder solche religiösen Symbole auf seiner Jacke?“ fragte David mit wachsendem Interesse.
In unserem Dorf hat das jeder, und in manchen anderen Dörfern auch. Aber in den meisten Dörfern auf der Welt tragen die Leute so etwas nicht,“ antwortete Hope.
Nun kam David's nächste Frage: „Aber was ist mit den Leuten, die keine Religion haben. Haben die auch Symbole auf der Kleidung?“
Leute ohne Religion? Du meinst vielleicht Leute aus kleineren Religionen,“ vermutete Hope. „ Die haben auch Symbole, und in einigen Dörfern da tragen sie die auf ihrer Kleidung, die oft ganz anders aussieht als unsere. Aber meistens leben solche Leute in ihren eigenen Dörfern, weil sie Angst haben, dass zwischen Leuten von den drei großen Religionen ihre eigenen Sitten und ihr eigener Glaube verloren gehen könnten.“
Nein, das habe ich nicht gemeint,“ widersprach David. „Ich spreche über die Leute, die denken, dass es niemals eine übernatürliche Kraft gegeben hat, die für die menschliche Existenz verantwortlich ist oder für die Existenz von irgendetwas anderem auf der Welt. Haben die auch Symbole auf der Kleidung?“
Hope schien ein Licht aufzugehen: „Ach so, du meinst die Leute, die eine Religion ohne einen Gott haben, so etwas wird Philosophien genannt, sagt mein Großonkel. Und viele Leute in deiner Zeit haben an solche Religionen ohne Gott geglaubt. Also in unserem Dorf gibt es keine solchen Leute. Es gibt sie vielleicht in anderen Dörfern, aber ich habe noch nie so jemanden getroffen. Die würden wahrscheinlich in Dörfern leben, wo sich die Leute ganz anders anziehen als bei uns, wo jeder unterschiedliche Kleidung trägt und niemand irgendwelche Symbole hat.“
Eine Philosophie ist keine Religion,“ war alles, was David zu dieser Erklärung sagen konnte, „eine Philosophie ist ein Gedankengebäude der Vernunft.“
Hope schüttelte den Kopf in völliger Ablehnung: „Aber es ist doch total unvernünftig, keine Religion zu haben.“
Unvernünftig? Was meinst du damit?“ David konnte sich kaum genug beherrschen, um leise zu sprechen, als sie den Laden verließen. „Es sind die Religionen, die unvernünftig sind. Religion ist so ziemlich das Gegenteil von Vernunft!“
Hope sah ihn nur an als wäre er verrückt. Sie antwortete nicht, aber er konnte ihre Gedanken spüren: „Der Wahnsinn der Dunklen Zeiten...“
Und David dachte, dass es wirklich eine sonderbare und gänzlich unerwartete Zukunft war, aus der Hope gekommen war, eine in der er sicherlich nicht leben wollte. Er vermutete, dass es in dieser Welt für jemanden wie ihn vielleicht nicht einmal einen Platz zum Leben gab. Stattdessen war diese Zukunft zur Vergangenheit zurückgekehrt, vom Zeitalter der Vernunft hatte sie sich in ein Zeitalter des Aberglaubens zurückentwickelt.
Wieder einmal fühlte er den tiefen Graben, der zwischen ihm und dem Mädchen lag, das behauptete seine fünfmal entfernte Ur-enkelin zu sein. Es war derselbe Graben, den er jedes Mal spürte, wenn er religiöse Leute für seine Zeitung interviewte. Mit solchen Leuten konnte man einfach nicht vernünftig reden.
In diesem Augenblick war David aber nicht in der Stimmung, eine Diskussion über die Irrationalität von Religion zu beginnen, und das auch noch auf leeren Magen. Also ging er stumm neben Hope her und versuchte dabei seine Gedanken vor ihr abzuschirmen, soweit das überhaupt möglich war.
Als sie um die Ecke in seine Straße eingebogen waren, fragte sich David, ob es ihm nicht sogar lieber wäre, wenn Jeremy Johnson wirklich aus seiner Wohnung verschwunden wäre und zwar zusammen mit seinem Laptop, einfach nur um Hope zu beweisen, dass sie mit ihrer Paranoia Behauptung Unrecht hatte.
David hatte sich immer als einen erdgebundenen Menschen gesehen, einen Realisten, der sich auf seine Vernunft verließ. In jeder früheren Lebenskrise hatte er an diesem Selbstbild festgehalten. Und sogar sein Selbstmordversuch war das Resultat eines vernünftigen Gedankengangs gewesen. Er hatte all das verloren, was seinem Leben Sinn gegeben hatte, er hatte keine Aussichten, das Verlorene wiederzubekommen. Sein Leben hatte keinen Wert für ihn selbst oder irgendjemanden sonst. Also warum sollte er noch leben?
Anzunehmen, dass ein Obdachloser ohne Geld einen Computer oder einen teuren Fernseher stehlen würde und alles andere, was in David's Wohnung nicht niet- und nagelfest war, um an Geld zu kommen, das war keine Paranoia, sondern einfach nur eine vernünftige Einschätzung der Realität.
Aber als David die Wohnungstür öffnete, musste er erkennen, dass Mr Johnson ihm den Gefallen nicht getan hatte. Er war immer noch da, frisch geduscht, rasiert und in den Kleidern, die David ihm gegeben hatte. Der Fernseher war immer noch an die Wand geschraubt, und der Laptop lag unberührt auf seinem Wohnzimmertisch.
Mr Johnson saß im Sessel und las ein Buch. Und es war sein eigenes Buch, das er aus einer weißen Tüte genommen hatte. Aber bevor er zu lesen begonnen hatte, hatte Mr Johnson noch den Tisch in der Küche gedeckt. Durch die offene Tür konnte David dort einen Wasserkrug, vier Gläser, viermal Besteck und vier Teller - zwei große und zwei kleine - auf dem Tisch stehen sehen.
Jeremy Johnson war David's Blick gefolgt und sagte nun entschuldigend: „Ich dachte, nur falls Mr Green und Miss Morgan vielleicht doch hungrig sind...“
David nickte, und dann öffnete er seine Einkaufstüte: „Ich habe Erdbeeren gekauft. Sie können sie waschen, während ich uns ein paar Eier und Speck brate.“
Als sie sich dann zum Essen hinsetzten, bemerkte David, dass die Kleider, die er Mr Johnson gegeben hatte, diesem ziemlich gut passten, so dass er und Johnson etwa gleich groß sein mussten. Und als er dessen glattrasiertes Gesicht betrachtete, konnte David einschätzen, dass sie wahrscheinlich auch etwa gleich alt waren.
Johnson aß mit gutem Appetit, und überraschenderweise, David's Vorurteile Lügen strafend, hatte er auch sehr gute Tischmanieren.
Dann bemerkte David das Buch, das sein Gast auf den Tisch gelegt hatte - Nicholas Nickleby - noch eine Überraschung.
Sie lesen Dickens?!“ fragte David
Also früher hab ich nich so viel gelesen, da war ich mehr so für Filme und Fernsehen. Aber heutzutage kann ich nich so viel fernsehen, und fürs Kino hab ich kein Geld, und deshalb leiht Schwester Veronica von der St. Mary's Obdachlosenunterkunft mir manchmal ein Buch aus. Sie hat natürlich die Bibel und all diese Kirchenbücher, und aus denen liest sie dann was vor für die Leute dort. Aber außer den Kirchenbüchern sind die meisten anderen von ihren Büchern von diesem Typen Dickens.
Und die gefallen mir eigentlich ganz gut. Natürlich muss man sich ein bisschen an die altmodische Sprache gewöhnen. Der Mann hat schließlich vor mehr als hundert Jahren gelebt, und dann war er auch noch ein Engländer.
Aber nach 'ner Weile merkst du das kaum noch. Die Leute, über die er schreibt in seinen Büchern, die könnte man ebenso gut hier in den Straßen von New York treffen oder in der U-Bahn, alle von denen, die netten und die miesen auch.
Sie denken also, dass sich nicht viel verändert hat seit den Zeiten von Charles Dickens?“ fragte David mit wachsendem Interesse.
Jeremy Johnson zuckte mit den Achseln: „Nix wichtiges, vielleicht die technischen Sachen und so, aber nix was so Leute angeht.“
Sie meinen also, dass was Menschen angeht, das New York des 21.Jahrhunderts nicht anders ist als das London des 19. Jahrhunderts?“ David fand Johnson's Ansichten ziemlich faszinierend. „Würden Sie dann dasselbe auch von Castleberry sagen, Castleberry in Alabama?“
Jeremy Johnson schüttelte entschieden den Kopf: „Nein, das würd ich nich. Castleberry ist anders, ganz anders.“
Andersartige Menschen ?“ fragte David
Johnson nickte.
Aber warum sollte es da anders sein? Vielleicht, weil es kleiner ist als New York?“ fragte David während er Johnson, der seine Eier und Speck zusammen mit mehreren Brotscheiben bereits aufgegessen hatte, dabei zusah, wie er seinen Teller nun mit einem Haufen Erdbeeren füllte und diese mit Sahne besprühte.
Oder ist es wegen der Erdbeeren, Sie haben gesagt, dass es dort die besten Erdbeeren gibt. Dann denke ich mal, dass die besser sind als die, die man hier kaufen kann. Wenn sie die Castleberry Erdbeeren essen, werden die Leute dann anders?“
Vielleicht,“ meinte Jeremy Johnson, „aber ich denke mal, es ist weil Castleberry mein Zuhause ist.“
Dann wechselte er das Thema: „Sie haben nich zufälligerweise ein paar Tropfen Whiskey im Haus, um das Essen runterzuspülen?“
David schüttelte den Kopf: „Ich hab es aufgegeben. Wollen Sie vielleicht noch ein bisschen Wasser?“
Johnson lehnte das Wasser ab und seufzte: „Mr Green sagt mir auch immer, dass ich es aufgeben soll. Aber grad kann ich das nich. Ich brauch die Drinks für die Schmerzen.“
Sind Sie krank?“ David fragte sich, ob Johnson vielleicht AIDS-infiziert war.
Ich weiß nich, ob ich krank bin oder nich, aber ich hab so viel Schmerzen, hier und hier,“ Mr Johnson deutete auf seinen Kopf und seine Brust, „und manchmal im ganzen Körper.“
Hope, die bis dahin nur als Beobachterin still zugehört hatte, unterbrach jetzt das Gespräch: „Frag Mr Johnson, warum er nicht nach Hause geht in sein Dorf und zu seiner Familie. Vielleicht könnten die ihn von seinen Schmerzen heilen, und er würde wieder gesund werden.“
David übermittelte die Frage an Jeremy Johnson: „Meine Hope denkt, Sie sollten nach Hause gehen, nach Castleberry und zu Ihren Leuten. Vielleicht könnte man dort etwas für Sie tun und ihre Schmerzen lindern. Oder vielleicht würden Sie sich schon besser fühlen, wenn Sie einfach zu Hause sind.“
Eines Tages, da werde ich nach Hause gehen. Aber grade jetzt, da kann ich das einfach nich....“ mit einem tieftraurigen Ausdruck im Gesicht sah Jeremy Johnson in Hope's ungefähre Richtung: „Ich kann einfach nich in die Augen der kleinen Kinder dort schauen, dort zu Hause, nich in ihre Augen...“
Es gibt auch Kinder in New York, aber die sind so weit weg, du kannst sie kaum sehen. Aber zu Hause, da sind die Kinder nah. Sie schauen dich direkt an; sie schauen dir ins Gesicht. Das könnt ich nich ertragen.“
Warum nicht,“ fragten Hope und David gleichzeitig.
Weil in den Augen von jedem Kind, das ich sehe, nun da sehe ich die gleichen Augen, und in jedem Gesicht, da sehe ich das gleiche Gesicht. Ich sehe das kleine Kind überall. Ihr müsst das verstehen – Ich hab ihre Mutter und ihren Vater und ihren Bruder und ihre Schwester und ihre Großmutter umgebracht.“
David stockte der Atem, und er fiel fast vom Stuhl, aber dann hielt er sich krampfhaft am Tisch fest. Völlig erschüttert und entsetzt von diesem Geständnis und nicht wissend, was er tun sollte, starrte er auf den Mann, der gerade erklärt hatte, dass er ein Massenmörder war. Davids Ausdruck spiegelte sich in Hope's Gesicht wieder. Sie war ganz blass geworden und zitterte.
Jeremy Johnson bemerkte keinerlei Veränderung in David. Er war in seiner eigenen Welt, getragen von schmerzhaften Erinnerungen: „Es waren drei von uns da, dort an dem Checkpoint, und wir wussten es nich, wir wussten es einfach nich, und dann haben wir geschossen und geschossen...“
David hielt sich an dem einen Wort fest, das Sinn machte: „Checkpoint...Sie meinen, Sie waren im Krieg? Waren Sie im Irak?“ David atmete erleichtert auf. Alles war in Ordnung. Es war nur ein Kriegserlebnis, worüber der Mann gesprochen hatte.
Aber Jeremy Johnson hatte die Frage nicht gehört; er war weit entfernt von allem, was um ihn herum geschah: „Ich hab meine Hand gehoben, und das Auto ist langsamer geworden, aber dann wurde es wieder schneller, und es fuhr durch. Die ham uns das nie gesagt, dass in Irak den Arm heben, heißt weiter und nich stoppen. Warum ham sie uns das nich gesagt? Warum? Warum? Wir habens nicht gewusst. Wirklich nich gewusst...“ Johnson redete nun gebetsmühlenartig, und David sah ihn mitleidig an. Aber Hope's Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Sie sah immer noch entsetzt aus, und sie zitterte unkontrolliert.
Johnson fuhr fort: „Das Auto beschleunigte, und da dachten wir...also ich dachte...nun wir hatten doch so viel von diesen Selbstmordattentätern an anderen Orten gehört, und das hat mir Angst gemacht, und die anderen hatten auch Angst, und dann ham wir angefangen zu schießen. Und wir ham geschossen und geschossen...bis das Auto endlich angehalten hat. Aber dann haben wir entdeckt, dass das keine Attentäter waren, sondern einfach nur Leute, ganz normale Leute.
Auf den Vordersitzen saßen ein Mann und eine Frau, das waren die Eltern. Und hinten saßen zwei Kinder und eine ältere Frau...Alle waren sie tot.
Aber dann haben wir sie gehört. Es war ein ganz unterdrücktes Weinen, aber wir haben gemerkt, dass da noch jemand am Leben war, auf dem Rücksitz, noch ein Kind. Wir haben sie unter den ganzen Leichen hervorgezogen. Sie war so klein, nicht älter als drei oder vier Jahre, und sie war von oben bis unten mit Blut beschmiert. Aber es war nich ihr Blut. Sie hatte keinen Kratzer abbekommen. Ihre Großmutter hatte sie mit ihrem eigenen Körper bedeckt, sie beschützt. Sie war so winzig, das kleine Mädchen, und sie weinte und weinte. Sie sah mich an, mit diesen großen Tränen erfüllten Augen sah sie mich an. Und dann hab ich sie in den Arm genommen und hab sie hin und her geschaukelt, hin und her, hin und her, damit sie aufhörte zu weinen.“
Johnson hatte jetzt seine Arme angewinkelt als hielte er darin ein unsichtbares Kind an sich gepresst. Dabei schaute er mit einem Blick totaler Abwesenheit die Wand an. Es war klar, dass sein Bewusstsein tausende von Meilen weit von Davids Küche entfernt war.
Er fuhr fort: „Und dann hat sie sich an mir festgehalten. An mir hat sie sich festgehalten, an mir, denn da war niemand anders mehr, an dem sie sich hätte festhalten können. Denn ich habe ihren Vater und ihre Mutter, ihren kleinen Bruder, ihre ältere Schwester und ihre Großmutter getötet... aber sie hat sich an mir festgehalten.
Selbst als wir im Krankenhaus angekommen sind, hat sie nich loslassen wollen. Sie hat so festgehalten, so feste, es war fast nich möglich sie loszureißen. Und als die Schwester sie auf den Arm genommen hat, da hat sie wieder geschrien. Sie hat geschrien bis sie nich mehr atmen konnte, und dann hat sie nur noch leise geweint...“
Ich seh sie jede Nacht in meinen Träumen, und ich hör sie weinen. Ich seh wie das Auto auf mich zukommt, und ich fang an zu schreien zu den anderen Jungs, „Nich schießen! Nich schießen!“ aber kein Laut kommt aus meinem Mund. Ich versuch mein Gewehr wegzuwerfen, aber es ist wie festgeklebt an meinen Händen. Ich will nich schießen, aber das Gewehr schießt von ganz alleine...und dann seh ich das ganze Blut, Blut überall... und dann seh ich ihre Augen, wie sie mich ansieht und ich fühle ihre Tränen an meinem Nacken und ihre kleinen Arme halten so feste...
Und immer, wenn ich aufwache, da sind da solche Schmerzen, so schlimme, nichts als Schmerz überall.
Als ich aus dem Irak zurück war, da sind die Schmerzen noch gewachsen. Und als ich gedacht hab, ich kann's nich mehr aushalten, da is Mr Green aufgetaucht, und er is bei mir geblieben und hat mit mir geredet und hat mir gesagt, dass ich immer noch ein Mensch bin...“
Als Jeremy Johnson aufgehört hatte zu reden, erschien es David, als ob die anschließende Stille wie ein Teppich über der Küche lag, einer der so schwer war, dass er einem die Luft raubte. Dann bemerkte er, dass Hope jetzt auch weinte.
Johnson atmete aus, und dann kam ein tiefer schwerer Atemzug. Er schien jetzt zurück in die Gegenwart gekommen zu sein.
Er sah David mit einem um Verständnis flehenden Blick an: „Und das bin ich doch, oder nich?“
Natürlich sind Sie das,“ antwortete David.
Nach einer Pause fragte er dann mitfühlend: „Und Sie trinken, damit Sie vergessen können?“
Nein, nein, nich vergessen!“ Johnson schüttelte entschieden seinen Kopf. „Mr Green sagt, ich muss mich erinnern, denn ich bin immer noch ein Mensch. Er sagt das immer wieder.“
Es war nicht Ihre Schuld,“ versuchte David ihn zu trösten. Aber dieser Satz hörte sich schwach an, wie eine leere Phrase, etwas das man immer sagt, wenn man jemandem begegnete, der von Schuldgefühlen zerfressen war. Aber es war etwas, das den Angesprochenen nie wirklich überzeugen konnte.
Aber Johnson sah David gar nicht an, hatte ihn vielleicht nicht einmal gehört, stattdessen sah er in Hope's Richtung und fragte sie: „Mr Green sagt doch die Wahrheit, stimmts?“
Hope antwortete mit sehr leiser Stimme, Tränen flossen ihr immer noch über die Wangen. Sie streckte ihre rechte Hand über den Tisch in der von Richtung Jeremy Johnson aus, und berührte seine beinahe: „Natürlich sind Sie immer noch ein Mensch, das werden Sie immer sein, ganz egal was! Das ist das erste Prinzip.“
Johnson nickte, als hätte er sie gehört, und dann sagte er zu David's Verblüffung:
Wein doch nicht kleine Hope, wein doch nicht.“
Dann bedeckte er Hope's Hand mit seiner eigenen.
Sie können sie ja sehen!“ David war fast sprachlos. „Sie können sie wirklich sehen!“
Johnson nickte: „Ich seh sie jetzt; sie weint.“
Aber wie...“ David's Stimme war nur noch ein Murmeln, dann fragte er: „Aber stört sie Sie nicht, so wie die anderen Kinder, die Sie nicht von nahem anschauen können?“
Jeremy schüttelte den Kopf: „Sie ist nicht wie die anderen Kinder, sie ist die Hope von morgen.“
Noch eine Überraschung für David – Jeremy wusste woher Hope gekommen war.
Wieder wandte sich Jeremy Hope zu: „Wein nicht um mich, kleine Hope, ich bin schon o.k., weil ich in mir drin das Gesicht sehen kann von dem kleinen Mädchen, das lebt, und mich an die anderen erinnern kann, die gestorben sind, und deshalb kann ich verstehn. Aber du verstehst doch, dass ich nich heimgehn kann...nich jetzt...?“
Hope nickte: „Aber, eines Tages werden Sie das tun.“
Eines Tages...“ Da lag so viel Sehnsucht in Jeremy Johnson's Stimme, „eines Tages.
Aber ich mach mir immer noch Sorgen um die anderen. Ich hab gehört, dass sie heutzutage unbemannte Dronen schicken. Und die Soldaten kontrollieren sie mit Joysticks wie so ein Computerspiel. Diejenigen, die schießen, können und nie die Gesichter von denen sehn, die sie mit ihren Raketen treffen. Wie können sie dann begreifen? Die haben keinen Mr Green, der ihnen sagt, dass sie immer noch Menschen sind...“
Hope trocknete sich die Tränen vom Gesicht und sah Jeremy direkt in die Augen. Dann erklärte sie mit tiefer Überzeugung: „Eines Tages werden sie es verstehen! Das verspreche ich Ihnen, eines Tages werden sie das.“
Jeremy nickte erleichtert und wandte sich dann David zu :“Ich sollte jetzt gehen. Schwester Veronica braucht ihr Buch wieder. Und ich... ich brauche...“ Er ging ins Wohnzimmer, steckte sein Buch in die weiße Papiertüte und nahm dann die schwarze Plastiktüte, die jetzt zusätzlich zu seiner dünnen Decke auch noch seine alten Kleider enthielt.
David folgte ihm zur Tür und öffnete sie für ihn: „Vielleicht sehe ich dich wieder mal, Jeremy?“
Jeremy antwortete mit einem Schulterzucken und sagte: „Good bye, David und good bye kleine Hope.“
Sie antworteten ihm gleichzeitig: „Good bye, Jeremy.“
Sie sahen Jeremy Johnson nach, wie er langsam die Straße entlang schlurfte, bis er um die nächste Ecke bog. Die Schultern tief gebeugt trug er seine schwarze Plastiktüte auf dem Rücken. Er war wieder ganz allein, verloren in seinem persönlichen Fegefeuer, nur getröstet von dem unsichtbaren Mr Green.


***






Ich fahre jetzt mit meinem neuen Wagen durch den morgendlichen Verkehr. Ms Alba sitzt neben mir, während Darryl und die beiden älteren Männer auf den Rücksitzen Platz genommen haben. Ohne mir von den anderen etwas anmerken zu lassen, verfluche ich innerlich meine eigene Dummheit. Warum musste ich auch unbedingt in dem Autohaus den großen Macker spielen.
Klar, ich habe unbegrenzte finanzielle Mittel. Dafür hat mein Vater schon gesorgt, und er hat auch gar nichts dagegen, dass ich so viel davon ausgebe, wie nur irgend möglich. Ein Automobil ist nun mal ein Statussymbol. Aber diese Luxuskarosse ist einfach zu auffällig. Sie erregt die Art von Aufmerksamkeit, die wir uns gerade jetzt einfach nicht leisten können. Einige der Leute, an denen wir vorbeifahren, drehen sich bereits nach uns um, einschließlich einem aus einer Gruppe von Sicherheitsvollstreckern.
Das ist nicht gut, das ist überhaupt nicht gut.
"Vorsicht!" ruft Ms Alba, aber ich habe es schon gesehen. Instinktiv bin ich bereits auf die Bremse gestiegen und habe sie fast durch den Boden gedrückt. Der Wagen hat mit quietschenden Reifen angehalten, und zwar nur wenige Zentimeter vor einer Frau, die gerade noch ihr kleines Kind aus dem Weg gerissen hat. Schwer atmend hält sie nun den Jungen fest an sich gedrückt, während die Einkaufstasche, die sie zuvor getragen hat unter den Vorderrädern meines neuen Luxuswagens gelandet ist.
Das Ganze hat mir einen ziemlichen Schock versetzt, aber der Frau auch:
Sind Sie verrückt,” schreit sie, während sie mit einer Hand auf die Motorhaube trommelt. “Haben Sie keine Augen im Kopf? Sie hätten uns fast umgebracht!”
Das Kind hat angefangen zu weinen. Es versucht sich aus den Armen seiner Mutter zu befreien und klopft dabei auch mit seinen kleinen Füßen auf die Motorhaube. Ich schätze den Jungen auf etwa fünf Jahre. Ich steige aus dem Wagen, um die Frau zu beruhigen, die immer noch herumbrüllt:
"Wir sind versichert," schreit sie, "hörn Sie mich, versichert! Da drüben sind die Sicherheitsvollstrecker Ich werd mit ihnen reden!"
Ich sehe mich um. In der Tat die Vollstrecker, an denen ich vor ein paar Augenblicken vorbeigefahren bin, sind auf dem Weg zu uns. Das ist nicht gut. Ich sehe, dass Mr Wang die Tür an seiner Seite geöffnet hat. Ich gebe ihm ein Zeichen, dass er im Wagen bleiben und sich still verhalten soll. Seine Art jeden gegen sich aufzubringen, den er trifft, würde uns jetzt bestimmt bei den Sicherheitsvollstreckern nicht helfen.
Da ich dabei bin, würden sie uns höchstwahrscheinlich nicht festhalten, aber sie haben Scanner und die falschen oder fehlenden Chips würden vielleicht einen Alarm auslösen.
Und dann ist da natürlich noch Ms Alba, die viel zu alte Frau in Männerkleidern. Wer weiß, wie schnell Nachrichten über solche Anomalien meinen Vater erreichen würden, und was er daraus schließen könnte. Er ist immer schon ein misstrauischer Mann gewesen.
Es ist mir klar, dass die Frau sich durch eine einfache Entschuldigung nicht beruhigen würde. Ich sehe mir die Motorhaube genauer an. Da sind jetzt ein paar Kratzer im Lack deutlich sichtbar, ein Kiesel muss sich wohl in die Schuhsohle des Kleinen gebohrt haben.
Gewaltsam packe ich die wütende Mutter an der rechten Hand. Und als unsere Handflächen sich berühren ertönt ihr Armband. Unwillkürlich sieht die Frau auf ihren Display und wird blass. Sie beginnt zu zittern.
Mit leiser aber eiskalter Stimme erkläre ich ihr: "Es war Ihr Sohn, der mir vors Auto gelaufen ist, und jetzt hat er es zerkratzt," dabei sehe ich mich nach den Vollstreckern um.
Oh nein, bitte,“ beginnt die Frau zu jammern, „lassen Sie ihn nicht bestrafen. Er hat das nicht gewollt. Ich war's, ich hab's gemacht. Wenn jemand bestraft werden muss, dann bin ich es.“
Ich drehe mich wieder zu den Vollstreckern um, die jetzt in Rufweite sind: „Es ist alles nur ein Missverständnis!“ winke ich ab.
Ein Missverständnis,“ wiederholt die Frau mit gebrochener Stimme, während sie hastig den zerquetschten Inhalt ihrer Einkaufstasche vom Boden aufsammelt.
Ich nicke den Vollstreckern zu und steige wieder ins Auto. Ich starte den Motor und fahre so schnell los, wie ich es verantworten kann ohne aufzufallen, während die Frau mit ihrem Kind auf dem einen Arm und ihrer kaputten Tasche auf dem anderen so schnell wie möglich über die Straße läuft, um im Eingang des nächsten Blocks zu verschwinden.
Ich wende mich zu Darryl um. „Sie müssen dafür sorgen, dass sie das Land heute noch verlässt. Die Sicherheitsvollstrecker haben uns zusammen gesehen, sie wird in Gefahr sein.“
Wir werden uns darum kümmern,“ antwortet Darryl. „Und auch der kleine Junge,“ füge ich hinzu.
Darryl tippt bereits etwas in seinen Armbandcontroller, eine Nachricht für seine Leute.
Ich glaube,“ murmele ich mehr für mich selbst als für die anderen, „der Junge ist etwa 5...“
Es war etwa eine Woche nach meinem 5. Geburtstag, als mein Vater eines Morgens in meinem Schlafzimmer auftauchte. Das war äußerst ungewöhnlich für John Galt. Das war nie zuvor passiert.
Ein grauhaariger Mann folgte ihm. Aber die Person, die sonst jeden Morgen da war, sie kam nicht, ich wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.
Sohn,“ begann mein Vater, „deine Mutter ist heute Nacht gestorben. Das hier ist Mr Tanner. Er wird sich von nun an um dich kümmern.
Ich will Mamma,“schrie ich.
Du kannst sie nicht haben,“ antwortete mein Vater mit kalter Stimme, „ sie ist tot, tot und kremiert.“
Ich verstand meinen Vater nicht, und starrte ihn nur an, und deshalb fügte John Galt noch hinzu: „Verbrannt im Feuer! Sie wird nicht zurückkommen, niemals!“
Tränen flossen mir über die Wangen.
Hör auf damit, das wird nichts ändern!“ herrschte mich mein Vater an, dann deutete er wieder auf den alten Mann.
Mr Tanner wird das für dich tun, was deine Mutter immer getan hat. Und mehr noch, er wird tun was sie nicht konnte, weil sie eine Frau war. Er wird dich unterrichten, dich bilden, so dass du eines Tages zu einem Mann von großem Wissen wirst, jemand der von Wert ist.“
Als ich nicht aufhörte zu weinen, drehte sich mein Vater zu Mr Tanner um. „Kümmern Sie sich um ihn,“ befahl er und verließ den Raum.
Mr Tanner nahm mich in seine Arme, trotzdem ich mich dagegen wehrte.
Er setzte sich dann mit mir in den Schaukelstuhl, Mama's Stuhl, und begann mit mir vor und zurück zu schaukeln.
Ich will Mamma,“ schrie ich aus Leibeskräften in tiefer Verzweiflung und hämmerte mit den Fäusten mit aller Kraft gegen Mr Tanner's Brust.
Ich schrie so lange bis ich außer Atem war, während Mr Tanner sich und mich, uns beide, weiter schaukelte. Nach einer Weile wandelten sich meine Schreie in ein leises Schluchzen: „Ich will Mama, ich will Mama.“
Es war jetzt keine Forderung mehr, nur noch ein leises Murmeln, um ein bisschen Frieden zu finden, im Klang meiner eigenen Stimme.
Ich legte meinen Kopf auf Mr Tanner's Schulter und Mr Tanner flüsterte mir ins Ohr: „Du wirst sie eines Tages wieder sehen, da bin ich mir ganz sicher, aber nicht hier.
Doch es wird eine Zeit und einen Ort geben, wo du sie wieder siehst.“


***

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