Teil 1
„Leben
ist ein göttliches Geschenk.
Menschliches Leben ist heilig und muss deshalb immer geschützt
werden.
Jeder Mensch ist von großer Bedeutung für die gesamte
Menschheit.
Ebenso ist er von unbegrenztem Wert und besitzt eine unantastbare Würde.
Kein Mensch ist wertvoller oder weniger wertvoll,
oder von größerer oder geringerer Bedeutung
als irgendein anderer Mensch auf Erden.
DAS IST DAS ERSTE PRINZIP
***
Ich bin
Jonathan Galt. Und heute habe ich endlich erkannt, dass ich meinen
Namen hasse. Im Augenblick gehe ich gerade meinen Tunnel entlang.
Nein,
eigentlich muss ich zugeben, dass dies nicht mehr wirklich mein
Tunnel ist. Als ich ihn vor ein paar Wochen gegraben habe, ist er nur
ein Kriechgang gewesen. Und er war damals auch sehr viel kürzer, nur
ein paar Dutzend Meter lang, abgehend von der Kanalisation und dann
unter der Mauer hindurch und von dort bis nach oben, zur äußeren
Welt.
Für
mich und Luscinia ist es gar nicht so einfach gewesen, die Decke mit
dem schlafenden Kind hindurch zu zerren. Aber jetzt können meine
Begleiter und ich ganz normal aufrecht gehen.
Und der
Tunnel ist jetzt auch viel breiter als vorher... und viel länger,
über 16 Kilometer ist er jetzt lang und reicht nun den ganzen Weg
bis zum nächsten Dorf.
Hunderte
von Leuten haben daran gearbeitet, den Tunnel zu vergrößern. Und
das war auch absolut notwendig, denn tausende sollen später mir und
meinen Begleitern folgen.
Aber
genau wie ich zuvor, so mussten auch diejenigen, die den Tunnel in
den letzten paar Tagen gegraben haben, die Arbeit ohne große
Maschinen ausführen, denn sie mussten leise sein-- sehr, sehr leise.
Jeder
verdächtige Laut hätte jemandem auffallen können, und das wäre
einer Katastrophe gleichgekommen. Wir hätten den Plan aufgeben
müssen. Und dann wäre nur noch eine einzige Alternative geblieben.
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, und das ist nicht nur ein
Kälteschauder.
Ich
denke an Luscinia. Sie wollte mich begleiten. Aber ich habe nein
gesagt. Sie wird drüben für tot gehalten, und jemand könnte sie
dort vielleicht erkennen.
Natürlich
ist das einfach nur eine Sache der Vernunft, und außerdem hätten
die anderen es ohnehin nicht erlaubt, sie mitzunehmen. Aber in diesem
Augenblick wünsche ich mir die ganze Vernunft sonst wohin.
Ich
brauche Luscinia, ihren Trost, ihr Vertrauen, ihre Liebe. Ohne sie
hätte ich niemals den Mut gefunden wegzugehen... und jetzt
zurückzukehren.
Wir
haben die Kanalisation mit ihren typischen Gerüchen von Abfall und
Verwesung erreicht. Im Schein unserer Taschenlampen erkenne ich eine
Ratte, die unseren Pfad kreuzt. Ich sehe mich nach meinen Begleitern
um.
Mr
Wang's Gesicht zeigt denselben mürrischen Ausdruck wie sonst auch.
Es scheint einfach unvorstellbar, dass von all den Leuten in
Spesaeterna es ausgerechnet Mr Wang ist, der diesen Plan entwickelt
hat. Obwohl es eigentlich nicht wirklich überrascht, dass er damit
im Gegensatz zur Meinung fast aller anderen im Dorf stand und dann,
gegen jegliche Opposition, an ihm festgehalten hat.
Unter seiner aufgeknöpften Jacke kann man die traditionelle
Kleidung seines Dorfes erkennen. Und auf seiner Brust glitzert im
schwachen Licht der Lampen das goldene Abbild seines Dharma Chakra.
Ich
nehme mir vor, ihn daran zu erinnern, dass er oben die Jacke auf
jeden Fall zugeknöpft halten muss.
Ich
wende meinen Blick zu Ms Alba. Sie ist ebenso alt wie Mr Wang, über
10 Jahre älter als mein Vater, aber sie sieht so stark aus, physisch
und auch sonst. Und ihre Bewegungen sind die einer viel jüngeren
Person.
Wo ich
herkomme, erreichen wenige dieses Alter, und mit Sicherheit sind
keine Frauen darunter. Meine Mutter war gerade einmal 47, als sie in
einem Venus Projekt starb.
Eine
Welle von Schmerz und fast unkontrollierbarer Wut steigt in mir auf.
Venus, die Göttin der Liebe, oder so hat man es mir einmal
beigebracht; was für ein Witz, was für ein unglaublich perverser
Witz.
Ich
atme tief durch. Ich muss ruhig bleiben. Ich darf mich nicht von
meinen Emotionen leiten lassen, weder von Zorn noch von Furcht. Jede
Nervosität könnte tödlich sein.
Wenn
der Plan gelingen soll, brauche ich eine eiskalte Rationalität.
Alles hängt jetzt von mir ab.
Ich
sehe zu Ms Alba hinüber. Sie hat mir nie vertraut. Einmal hat sie
mich sogar den Sohn des Teufels genannt.
Sie
hält den kleinen Kasten fest in der Hand. Sicherlich, es ist
eigentlich nur ein Kommunikator, aber es könnte ebenso gut der
Auslöser sein. Wenn sie einmal den roten Knopf gedrückt hat, dann
ist alles vorbei...für uns alle. Ein Schalter wird anderswo betätigt
werden, Raketen werden starten, und dann in einem einzigen
Augenblick, gibt es Nephilim City nicht mehr...aufgelöst und
ausgelöscht von der Erde, zusammen mit dem Land um die Stadt herum
und allem und jedem unter der Erde.
Ms Alba
hat auf diese Notmaßnahme bestanden, und die anderen haben ihr
zugestimmt.
Warum
sie überhaupt ihre Meinung so weit geändert haben, ist mir immer
noch ein Rätsel.
Ich war
so naiv, als ich mit der Aufnahme zu ihnen kam, aber sobald ich
angefangen hatte sie abzuspielen, und ich die atemlose Stille um mich
fühlte, da wusste ich, was die Reaktion sein würde. Sie wäre
einfach nur natürlich gewesen. Und dann, ja dann haben sie plötzlich
umgeschwenkt, wegen gar nichts..., wegen einer kleinen Geschichte aus
der Vergangenheit.
Und als
sie diese Kehrtwende machten, weg von dem was vorher so logisch
schien, da habe ich es erkannt: So sehr ich mich auch danach sehne,
zu Spesaeterna zu gehören und zu den Leuten dort, so ist das einfach
nicht der Fall. Ich kann sie immer noch nicht verstehen, und ich
bezweifle, dass ich jemals so weit sein werde.
Geboren
und aufgewachsen in Nephilim City, kann ich meine Wurzeln nicht
verleugnen, und die klare Logik meiner Stadt, eine Logik, an der es
meinen Begleitern und deren ganzer Gesellschaft dort zu mangeln
scheint; allen außer Ms Alba vielleicht.
Aber
zur Zeit wird auch sie weniger von ihrer Rationalität als von etwas
anderem geleitet. Und doch, denke ich mit ein wenig Selbstironie,
gerade jetzt handele ich ja auch unter dem Einfluss von diesem
“anderen”, nach deren Logik und nicht nach meiner eigenen.
Ich
werfe einen Blick auf den dritten meiner Begleiter, einen Mann, der
kaum jünger ist als die beiden anderen. Er war einmal derselbe David
Morgan, der vor langer Zeit der beste Freund meines Vaters war. Aber
für mich scheint dieser Mann der mysteriöseste von allen zu sein.
Jetzt nennen sie ihn nur den Professor. Er ist Wissenschaftler und
sollte eigentlich ein Mann der Vernunft sein, aber er ist auch ein
Mönch. Er hat sicherlich einen Sinn für Logik, aber es ist eine,
die ich nicht durchschauen kann. Der Professor wirft mir ein
ermutigendes Lächeln zu. Der Ausdruck auf seinem Gesicht deutet an,
dass er irgendwie weiß, was ich denke, fast als habe er meine
Gedanken gelesen.
Das
ist auf der einen Seite irgendwie beunruhigend, anderseits gibt mir
sein Lächeln auch Auftrieb. Ich fühle mich weniger verkrampft, und
ich sehe sie wieder vor mir, das kleine Mädchen, das alles verändert
hat.
Ich
konzentriere mich jetzt auf den kaum sichtbaren Weg vor mir.
Endlich
- der Ausstieg, wir sind an unserem ersten Ziel angekommen. Ich
klettere die Leiter hinauf, öffne den Kanaldeckel und sehe mich
vorsichtig um. Es ist eine ziemlich verlassene Gegend.
Während
ich meinen Fluchttunnel gebaut habe, bin ich unzählige Male diese
Leiter hinauf- und hinuntergestiegen. Und genau wie damals, ist auch
heute niemand da, der den Ausstieg beobachtet. Ich gebe den anderen
ein Zeichen, mir zu folgen. Als sie alle oben angekommen sind,
schließe ich den Deckel wieder. Und obwohl es unwahrscheinlich ist,
dass Kameras oder Mikrofone an diesem Ort installiert sind, rede ich
doch nur sehr leise. Mit einer vor Ironie triefenden Stimme, soweit
das bei einem Flüstern überhaupt möglich ist, erkläre ich:
„Willkommen
in Orange Country!”
***
Im dunkelsten Augenblick tiefster Sinnlosigkeit,
als ihm nichts mehr geblieben war als
Verzweiflung,
da kam die Hoffnung.
Sie war noch klein, vielleicht sogar winzig,
aber eines Tages würde sie geboren werden.
---
David
Ragnarsson stand da, ganz still und allein - mit geschlossenen Augen,
um die letzten Zweifel zu vertreiben. Und als er die Augen wieder
öffnete, da hatte er seine Entscheidung getroffen. Er stand direkt
auf dem weißen Streifen, der anzeigen sollte, wo der letzte Wagon
halten würde. Vor ihm war die gelbe Linie, der Sicherheitsstreifen.
Kein Fahrgast sollte diese Grenze überschreiten, bevor die Bahn zum
Halt gekommen war.
Aber David
hatte nicht vor ein Fahrgast dieser Bahn zu werden, nicht jetzt...
nie wieder. Er ließ den Blick nach oben schweifen. Dort hing eine
digitale Uhr fast direkt über seinem Kopf. Die letzte Ziffer
veränderte sich mit einem Klick. Die Uhr zeigte nun 11:56, vier
Minuten vor Mitternacht in der Spesveniat U-Bahn Station.
Er konnte
das leise Dröhnen, das die baldige Ankunft des Zuges ankündigte,
bereits hören. Und im Tunnel waren auch schon ganz klein die Lichter
der vorderen Scheinwerfer zu erkennen.
Jetzt
würde es nicht mehr lange dauern... nur noch ein paar Sekunden und
dann zwei Schritte bis zum Ende... dem großen Vergessen, dem
Frieden, den er suchte - dem einzigen Frieden, den es für ihn noch
geben konnte.
So kurz
hinter dem Tunnel würde es für den Fahrer unmöglich sein, die
Bahn noch rechtzeitig abzubremsen. Das Geräusch des Zuges war lauter
geworden und das Scheinwerferlicht, in das er starrte, blendete ihn
bereits.
David
verlagerte das Gewicht vom einen auf den anderen Fuß. Er war bereit.
„Nein,
nicht springen. DU DARFST NICHT SPRINGEN!“
David
hatte das Gefühl als hätte ihn ein Blitz getroffen. Seine Nerven,
die schon zuvor zum Zerreißen gespannt gewesen waren, ließen ihn
zusammenzucken. Und jetzt war es, als ob ein Donner seinen ganzen
Körper durchschüttelte.
Die Stimme
war durchdringend, laut und schrill, und doch ganz eindeutig war es
die Stimme eines Kindes. David drehte seinen Kopf nach links. Und ja,
da war sie. Sie stand direkt neben ihm. Das Kind, ein Mädchen,
starrte ihm ins Gesicht und das mit Augen von so intensivem Blau, wie
er sie vorher nie anders als auf einer Kinoleinwand gesehen hatte.
Verwirrt und immer noch zitternd starrte David zurück.
Für ihn
fühlte es sich an, als sei er aus einem Traum gerissen worden, einem
dunklen Traum sicherlich, und doch einem, der ihm das Gefühl gab,
dass er unbedingt wissen wollte, wie er endete.
Die Bahn,
mit ihrem ohrenbetäubenden Quietschen der Bremsen, riss David aus
seiner Trance und brachte ihn in die Realität zurück. Er hatte
seine Chance verpasst... für den Augenblick zumindest. Aber es würde
andere Züge geben...auch heute Nacht noch.
David
schaute sich um. Das Mädchen schien allein zu sein. Ein paar Leute
warteten am anderen Ende des Bahnsteigs, keiner von ihnen schien zu
ihr zu gehören. Wo war sie hergekommen? Warum hatte er sie zuvor
nicht bemerkt. Und wie zum Geier hatte sie gewusst, was er tun
wollte. Konnte sie Gedanken lesen?
Wenn es um
diese Art von Phänomenen ging, dann war David immer ein
unbekehrbarer Skeptiker gewesen. Nein, sie war keine Telepatin, nur
eine kleine Person mit einer besonders guten Beobachtungsgabe.
Manchmal wurde so etwas auch weibliche Intuition genannt.
Die U-Bahn
war endlich zum Halten gekommen, und die Türen öffneten sich. David
sah das Mädchen mit einem falschen Lächeln an - einem, das
unausgesprochen ausdrücken sollte: 'Ich habe zwar nicht genau
gehört, was du gesagt hast, aber ich bin höflich genug um
zuzugeben, dass du mit mir geredet hast, habe aber kein Interesse an
einem weiteren Gespräch.'
Dann
drehte er sich um, um mit ein paar wenigen großen Schritten die
letzte Tür der Bahn zu erreichen. Das Mädchen folgte ihm - oder
genauer gesagt, ging sie direkt neben ihm - nur wenige Zentimeter von
seinem linken Ellenbogen entfernt.
Gemeinsam
betraten sie den Wagon, und als David sich auf eine der langen Bänke
fallen ließ, setzte sie sich neben ihn. Das wurde langsam störend.
David fand es immer schwerer, sie einfach zu ignorieren.
Und doch
gab er sich alle Mühe, um genau das zu tun. Er starrte geradeaus vor
sich hin, während die Türen sich schlossen und der Zug langsam
Fahrt aufnahm, um dann den erleuchteten Bahnsteig hinter sich zu
lassen und im nächsten Tunnel die Fenster wieder zu schwärzen.
So spät
am Abend waren kaum noch andere Fahrgäste im Wagon. Die meisten
saßen am anderen Ende des Abteils. Keiner von ihnen schenkte David
oder dem Kind auch nur die geringste Beachtung.
„Wahrscheinlich
denken sie, sie ist meine Tochter oder so was,“ dachte er und sah
sich um.
An ihrem
Ende des Abteils und auf ihrer eigenen Bank saß nur noch ein anderer
Fahrgast, ein stoppelbärtiger Afroamerikaner, der -mit geschlossenen
Augen und dem Kopf nach hinten an die Wand gelehnt- rhythmische
Schnarch-Geräusche von sich gab. Der Mann war wahrscheinlich
betrunken, und dem schmutzigen Jackett, der abgetragenen und der an
einem Knie zerrissenen Hose nach zu schließen, war er vermutlich
auch noch obdachlos und hatte keinen anderen Ort zum Schlafen
gefunden.
David
gegenüber saßen zwei Jugendliche, die damit beschäftigt waren
herauszufinden, wer von beiden den anderen schneller von der Bank
schubsen konnte, während eine Frau mittleren Alters versuchte sich
so weit wie möglich von den Jungen fernzuhalten.
Die Frau
war wahrscheinlich eine Krankenschwester, die nach ihrer Spätschicht
in der nahegelegenen Geburts- und Notfallklinik auf dem Weg nach
Hause war.
David
dachte er hätte den Rock der Schwesterntracht erkannt, der unter
ihrem kurzen Mantel gerade noch sichtbar war. Er hatte einmal eine
ganze Reihe der Klinikangestellten interviewt, als staatliche
Kürzungen dazu geführt hatten, dass Personal abgebaut worden war.
Die daraus resultierenden verlängerten Wartezeiten hatten dann
zumindest einem Kind das Leben gekostet. Das kleine Mädchen war
gestorben, als es auf eine Notoperation gewartet hatte.
Es war ein
wichtiger Artikel gewesen, und er hatte zu Reaktionen geführt. Die
Entrüstung der Öffentlichkeit hatte Druck auf die Stadtverwaltung
ausgeübt, und die Entscheidung wurde getroffen den Etat zumindest
dieser Klinik wieder auf den vorherigen Stand anzuheben.
Aber das
war eine Nachricht vom letzten Jahr. Und für einen Journalisten ist
oft sogar gestern schon eine Ewigkeit her.
Für David
Ragnarsson, ehemaliger Star-Reporter der angesehensten Zeitung des
Landes, ist letztes Jahr nicht einmal mehr Teil seiner Wirklichkeit.
Und die Nachrichten von heute würden nicht von ihm geschrieben
werden...Er würde nie wieder einen Artikel schreiben...
„Das
kannst du nicht wissen. Und selbst wenn, dann ist das trotzdem kein
ausreichender Grund, um vor diese Bahn zu springen.“
Genau wie
zuvor, so war auch diesmal die Stimme des Kindes zu laut und zu klar.
Und sie war zutiefst aufwühlend. Es schien als ob die Kleine
wirklich seine Gedanken lesen könne.
Und
diesmal hatte David keine Wahl. Vorzugeben er hätte ihre Bemerkung
nicht gehört, funktionierte einfach nicht mehr, außer er würde
auch noch so tun, als sei er stocktaub. David sah noch einmal zu den
drei Leuten hin, die ihm gegenüber saßen. Die schienen immer noch
kein Interesse an ihm oder dem Mädchen neben ihm zu haben, dann
wandte er sich ihr zu.
„Von
was zum Geier redest du da eigentlich?“ murmelte er leise.
Das Kind
gab sich keine Mühe die Stimme zu senken: „Ich rede davon, dass du
Selbstmord begehen willst, indem du vor diese Untergrund-Bahn
springst. Und ich sage dir, dass du so was nicht tun sollst.“
Leugnen
war die einzig mögliche Antwort darauf: „Was für ein
hirnverbrannter Schwachsinn ist dir da eingefallen? Läufst du immer
herum und denkst dir Geschichten über Fremde aus, die du in der
U-Bahn triffst?“
Leugnen
war die erste, Angriff die zweite Strategie: „Wo wir schon von
U-Bahn sprechen, was hast du mitten in der Nacht ganz alleine in
einer U-Bahn überhaupt zu suchen? Du kannst doch nicht älter als
zehn oder elf sein.“
„Ich
bin letzten Monat dreizehn geworden!“ Jetzt klang die Stimme des
Mädchens ganz schön beleidigt.
Dreizehn....
David hätte nicht gedacht, dass sie schon ein Teenager wäre, und
das nicht nur deshalb, weil sie ziemlich klein für ihr Alter war.
Viel mehr lag es an der Art wie sich kleidete.
Sie trug
etwas, was man vielleicht einen Jogging Anzug hätte nennen können,
aber es war keiner den er je an einem Mädchen ihres Alter gesehen
hatte. Der leicht glitzernde Stoff hatte eine hell violette Farbe,
und das Oberteil war mit etwa einem Dutzend unterschiedlich großer,
farbiger Flicken bedeckt, die entweder angenäht oder angeklebt
waren.
Obwohl ihr
Gesicht, ihre Hände und ihre dünnen Handgelenke auf eine schlanke
Figur schließen ließen, zeigte ihr Outfit nichts von dieser Figur.
Das Unterteil des Anzugs erinnerte an Pluderhosen mit Bündchen an
den Fußgelenken. Und das Oberteil reichte von den breiten
Schulterpolstern in gerader Linie direkt hinunter, bis etwa zwei
handbreit über die Knie. Keinerlei weibliche Formen waren zu
erkennen. Und David fragte sich, warum er eigentlich so sicher war,
dass dieses Kind wirklich ein Mädchen war.
Ihr Kopf
war mit einer mit chinesischen Schriftzeichen bestickten Schirmmütze
bedeckt, unter der nur ein paar dunkle Locken an der Stirn
hervortraten. Ihre hellbraune Haut stand im Kontrast zu ihren
strahlend blauen Augen. Sie hatte mit Sicherheit sowohl afrikanische
als auch europäische Vorfahren. Und wer weiß, dachte David, als er
auf ihre mocassinartigen Schuhe hinuntersah, ein paar indianische
Vorfahren könnten da auch darunter gewesen sein.
Das ganze
Outfit erinnerte weniger an etwas, das junge Mädchen heutzutage
trugen als an das, was man in der Kleinkind-Abteilung eines
Kaufhauses sehen konnte. David hatte so ähnliche Anzüge gesehen,
als er einmal mit Tina Kleidung für Mikey gekauft hatte, als dieser
zwei oder drei war.
Und es
mussten die Kleider sein, die sie trug, die dem Mädchen eine Aura
kindlicher Unschuld gaben, und das obwohl sie so dunkle Worte von
sich gab wie 'Selbstmord'. Nicht einmal in seinen eigenen Gedanken
hatte David selbst dieses Wort gebraucht. Es schien ihm nicht der
richtige Begriff für das zu sein, was er vorhatte.
„Dreizehn
ist immer noch zu jung, um so spät noch draußen zu sein. Du
solltest zu Hause sein, bei deinen Eltern.“
„Ich
kann nicht bei ihnen sein,“ antwortete das Mädchen. „Mein Papa
ist tot und meine Mama ist fort auf einer Kampf Mission.“
Sie war
also eine dieser vorübergehenden Kriegswaisen, dachte David.
Vor ein
paar Jahren hatte er einen Artikel über alleinstehende Mütter im
Militär geschrieben. Wenn diese an die Front nach Afghanistan oder
in den Irak geschickt wurden, dann mussten deren Kinder bei
Pflegeeltern untergebracht werden oder, wenn sie Glück hatten,
konnten Verwandte sich um sie kümmern.
„Das,
was du jetzt denkst über meine Mama, ist nicht wahr.“ Das Mädchen
hatte einen entschiedenen Ton in der Stimme.
„Was
denke ich denn?“ fragte David
„Du
denkst, sie ist gerade dabei zu schießen oder Bomben abzuwerfen, um
Menschen zu töten.“
„Nein,
das denke ich nicht,“ widersprach David. „Und im Augenblick ist
das auch von keinerlei Interesse für mich. Ich wollte nur wissen,
wer sich um dich kümmert, und warum du nicht genau in diesem
Augenblick bei diesen Leuten bist, zu Hause im Bett.“
„Während
meine Mama fort ist, sind meine beiden jüngeren Geschwister bei Oma
und Opa. Und ich bleibe in der Zeit bei Großonkel Professor.“
Großonkel
Professor, was für ein sonderbarer Name, dachte David, aber das ging
ihn natürlich nichts an. „Weiß dein Onkel, wo du gerade bist?“
„Aber
sicher,“ antwortete das Mädchen ohne Umschweife, „er hat mich
schließlich hierher zu dir geschickt.“
Das hörte
sich nun wirklich sehr sonderbar an. „Er hat dich mitten in der
Nacht zu einer U-Bahn Station geschickt, um mit einem fremden Mann zu
reden?“
„Ja,
das war nämlich die einzige Zeit, in der man dich erreichen konnte.
Und du bist nicht wirklich ein Fremder. Und das wirst du alles
verstehen, wenn du mich nur ein bisschen besser kennenlernst. Und
dann erzähl ich dir, woher ich bin, und wie ich hier hergekommen
bin.“
Das Ganze
schien ja noch schlimmer zu sein, als das Schicksal der Kriegswaisen,
über die David in seinem Artikel berichtet hatte. Das Jugendamt war
anscheinend dann doch noch die bessere Alternative für solche
Kinder, jedenfalls besser als bei irgend so einem zwielichtigen
Verwandten untergebracht zu werden.
„Ich
habe genug gehört,“ erklärte David entschieden. “Aber ich
glaube die Polizei würde von dir sicherlich gern noch etwas über
deinen Großonkel Professor hören. Da vorne ist der Schaffner gerade
ins Abteil gekommen. Du bleibst hier sitzen, und ich rede mit ihm. Er
wird die Polizei anrufen, und heute Nacht schläfst du an einem
sauberen und sicheren Ort.“
David
stand auf, und das Mädchen folgte ihm wie angeklebt.
„Ich
würde das nicht tun, wenn ich du wäre,“ sagte sie entschieden,
„wirklich nicht“.
„Du
musst keine Angst haben,“ versuchte David sie zu beruhigen. „Die
Polizei und das Jugendamt werden dir nichts Schlimmes antun. Sie
werden einfach nur mit deinem Onkel sprechen. Und dann werden sie
vermutlich entscheiden, dass du lieber bei deinen Großeltern wohnen
solltest, genau wie deine Geschwister.“
„Ich
habe keine Angst vor der Polizei oder vor diesem Amt. Aber ich denke
du solltest trotzdem nicht mit ihnen reden oder mit dem Schaffner,
weil das nicht gut für dich wäre,“ sagte das Mädchen
geheimnisvoll.
„Für
mich?“ David sah sie überrascht an. Drohte sie ihm etwa? Sie sah
nicht aus, als ob sie der Typ dafür wäre.
Das
Mädchen biss sich auf die Unterlippe: „Du musst das verstehen. Die
werden mich nicht sehen, und deshalb werden sie dir nicht glauben.“
„Die
werden dich nicht sehen?“ Jetzt war David völlig verwirrt.
„Sie
können es nicht, weil ich nämlich nicht wirklich hier bin, ich
meine hier in deiner Zeit an diesem Ort.“
„Was
bist du nicht?“ David versuchte seine Hand auf die Schulter des
Mädchens zu legen, da verschwand sie plötzlich, nur um
augenblicklich ein paar Zentimeter von seiner Hand entfernt wieder
aufzutauchen. Noch einmal versuchte er sie an der Schulter
festzuhalten, und dasselbe geschah, nur dass er diesmal das
Gleichgewicht verlor und fast auf die Krankenschwester auf der
gegenüberliegenden Sitzbank gefallen wäre. Der Krankenschwester
schien das überhaupt nicht zu gefallen, zuerst rückte sie aus
Davids Reichweite und dann stand sie auf, um mit schnellen Schritten
am anderen Ende des Abteils die sichere Nähe des Schaffners und der
anderen Fahrgäste dort zu suchen.
„Sie
kann mich nicht sehen, und die dort drüben können es auch nicht,“
behauptete das Mädchen und deutete auf die beiden Jugendlichen.
Die hatten
ihr Schubs-Spiel zeitweise unterbrochen und flüsterten einander
grinsend etwas zu, wobei sie David von der Seite anstarrten.
„Die
denken, dass du dich komisch benimmst. Du redest mit dir selber und
versuchst die Luft einzufangen,“ erklärte sie.
David ließ
sich wieder auf die Sitzbank zurückfallen. Er fühlte sich
geschlagen, erschöpft und leer. Der Zug war gerade dabei, für die
nächste Haltestelle zu bremsen. Und als die Türen sich öffneten,
stiegen einige der Fahrgäste vom anderen Ende aus, unter ihnen die
Krankenschwester. Die beiden Jugendlichen blieben im Abteil. Sie
hatten das Interesse an David verloren. Der Zug fuhr wieder an.
David war
nichts davon mehr wichtig. Er saß da und hatte nur einen einzigen
Gedanken: „Ich bin verrückt, ich habe endgültig meinen Verstand
verloren, gestört ...durchgeknallt...wahnsinnig.“
„Nein,
das bist du nicht,“ sagte die Stimme. „Du bist nicht verrückt,
DU BIST ES NICHT!“
David
wollte nicht mehr zuhören. Eine Stimme in seinem Kopf, die ihm
sagte, dass er nicht verrückt sei, war nicht gerade eine besonders
zuverlässige Zeugin, dachte er.
In den
letzten paar Monaten hatte David angefangen zu trinken, und das nicht
nur zu gesellschaftlichen Anlässen. Um genau zu sein, hatte er
überhaupt nicht mehr in Gesellschaft getrunken, sondern
ausschließlich alleine in seiner Ein-Zimmer Kellerwohnung. Er hatte
praktisch kaum noch irgendjemanden getroffen. Sein häufigster
Außenkontakt war der Verkäufer im Alkoholladen gewesen. Und David
hatte viel getrunken. Und doch hätte er nicht gedacht, dass er schon
so weit abgerutscht war.
Sie nennen
es Delirium Tremens oder so was ähnliches, dachte David. Er
betrachtete die Hände in seinem Schoß. Er hob sie leicht an. Sie
zitterten nicht. Aber vielleicht kamen die Halluzinationen auch schon
vor dem Zittern, die weißen Mäuse und die rosa Elefanten.
„Ich
bin kein Elefant und auch keine Maus!“ Die Halluzination redete mit
David und zwar so laut, dass er Kopfschmerzen im Anzug fühlte.
„Und
ich bin auch keine Halluzination. Ich bin Hope, Hope Morgan und ich
komme aus der Zukunft.“
„Aber
sicher,“ stimmte David der Halluzination zu. „Und außerdem bist
du ein formwandelndes Alien vom Planeten Zorax. Und du bist gekommen,
um meinen Körper zu übernehmen, oder ihn vielleicht auch nur in
dein Raumschiff zu teleportieren, um ihn da aufzuschneiden und
irgendwelche Sender einzusetzen oder sonstige Experimente damit
anzustellen.“
Die Jungen
von der gegenüber liegenden Sitzbank schienen das gehört zu haben,
denn sie hatten wieder angefangen zu lachen und David Seitenblicke
zuzuwerfen. Aber als er ihnen dann direkt in die Augen sah, standen
sie auf und bewegten sich ziemlich schnell in Richtung Tür, um dort
auf die nächste Haltestelle zu warten.
Jetzt bin
ich ein Kinderschreck geworden; sogar große Kinder haben Angst vor
mir, dachte David. Wahnsinnige Leute sind angsteinflößend, sie
könnten jeden Moment gewalttätig werden.
Die Stimme
in Davids Kopf widersprach: „Du bist nicht wahnsinnig. Auch wenn
ich in dieser Zeit und an diesem Ort nur in deinem Kopf bin, so bin
ich doch wirklich. Ich existiere, nur nicht in deiner Zeit.“
David
antwortete nicht, und er versuchte auch nicht zu denken. Er starrte
einfach nur gebannt aus dem dunklen Fenster und konzentrierte sich
auf das monotone Geräusch des Zuges, das nur vom Quietschen der
Bremsen unterbrochen wurde, ebenso wie die Dunkelheit des Tunnels vom
Licht einer weiteren U-Bahnstation abgelöst wurde. Die Stimme hatte
aufgehört zu reden, aber aus den Augenwinkeln konnte David erkennen,
dass das halluzinierte Kind immer noch da war.
Noch eine
Haltestelle und er würde aussteigen. Von dort wären es dann nur
noch fünf Minuten bis zu seiner von Kakerlaken geplagten Wohnung.
Ich mag
Kakerlaken, dachte David. Die sind normal, die sind nicht verrückt.
Die haben zwar kein besonders großes Gehirn, dafür können sie aber
einen Atomangriff überleben.
Wieder
bremste der Zug ab und blieb dann am Bahnsteig stehen. Die Türen
öffneten sich und David stand auf. Seine Beine fühlten sich so
schwach an, dass sie kaum noch sein Gewicht tragen konnten. Raus aus
der Tür, rüber zur Treppe und dann der langsame Aufstieg... Er
musste sich am Geländer festhalten, um aufrecht stehen zu können.
Er sah die Halluzination neben sich nicht an, obwohl er ihre
Gegenwart bei jedem Schritt spürte. Und er schaute auch nicht zum
Zug zurück.
Er würde
es heute Nacht nicht tun... nicht während sie da war und ihn
beobachtete. Sie war vielleicht nur eine Halluzination - natürlich
war sie das - aber trotzdem... sie sah nun einmal aus wie ein Kind.
Er konnte es einfach nicht vor einem Kind tun.
Oben
angekommen begrüßte ihn die dunkle Kühle der Nacht. Natürlich war
es nicht wirklich dunkel. Dies war New York, die South Bronx, die
Ecke von der 149. Straße und der Grand Sacrecors, eine
Einkaufsstraße. Die Lichter hier leuchteten die ganze Nacht, auch
wenn die Geschäfte geschlossen und die Gitter heruntergelassen
waren. Ich sollte von hier nach Süden zum Krankenhaus an der
nächsten Ecke gehen, dachte David. 'Kennedy Medical and Mental
Health Center' hieß es, und deren psychiatrische Abteilung würde
ihn in seinem Zustand sicherlich aufnehmen. Aber andererseits war
David sich ziemlich sicher, dass seine Krankenversicherung
ausgelaufen war, und so wandte er sich stattdessen in Richtung
Homines Community College.
Da
brannten auch noch Lichter ein paar Studenten vielleicht, die noch
bis spät in die Nacht studierten oder auch deren Lehrer? Aber
wahrscheinlich waren es eher die Putzkräfte. Aber wenn er die
Nachbarschaft hier bedachte, wäre David auch nicht besonders
überrascht, wenn da drin Leute wären, die überhaupt keine legitime
Berechtigung hatten dort zu sein
David
hatte noch nicht sehr lange in dieser Gegend gewohnt. Erst seit Tina
aus ihrem gemeinsamen Manhattan Apartment ausgezogen war und Mikey
mitgenommen hatte. Und als dann die Miete für den nächsten Monat
fällig war, da musste David natürlich ausziehen. Manhattan Mieten
gingen weit über die Verhältnisse eines arbeitslosen Reporters
hinaus. Aber jetzt würde auch bald die South Bronx über Davids
Verhältnisse gehen.
Er ließ
das Community College hinter sich und bog in die Veriton Avenue ein.
David warf der stillen Gestalt des Mädchens neben ihm, die immer
noch sichtbar war, na ja zumindest für ihn noch sichtbar, einen
verstohlenen Blick zu. Wenn er nicht vorher schon gewusst hätte,
dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war, dann wüsste er es
spätestens jetzt. Das Mädchen leuchtete in der Dunkelheit. Es war
nicht so, als ob sie ihre Umgebung erleuchtete, es sah eher aus, als
ob das Licht völlig in ihr gefangen wäre.
David
hatte genug. Er blieb stehen und drehte sich direkt ihr zu: „Warum
sagst du nichts mehr?“
Das
Mädchen zuckte die Achseln: „Du hast nicht zugehört. Du warst
viel zu sehr damit beschäftigt, dir selbst einzureden, dass du
verrückt bist. Und außerdem bin ich nur hierher geschickt worden,
um dich daran zu hindern, dich selbst umzubringen. Und das machst du
ja gerade nicht. Dann muss ich auch nichts sagen.“
„Was
geht es dich eigentlich an, Mädchen aus der Zukunft, ob ich mich
umbringe oder nicht?“ fragte David verärgert. „Es ist mein
Leben. Warum kann ich damit nicht tun, was ich will... es loswerden,
wenn ich das will?“
„Weil
es eine Sünde ist,“ war die überraschende Antwort, „eine sehr
schwere Sünde!“
Eine
Sünde? David öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Eine
Halluzination war normalerweise eine Projektion des eigenen
Unterbewusstseins. Aber David war nicht religiös. Er war ein
überzeugter Atheist und das schon mindestens, seit er 14 war. Und in
all der Zeit seither hatte er nie eine religiöse Person getroffen,
ganz besonders keine christliche, die er ernst genug genommen hätte,
dass ihre Ansichten ein Teil seines Unterbewusstseins hätten werden
können. Aber da war sie, sie stand direkt vor ihm, eine religiöse
Halluzination.
Es hatte
nur eine Person in seinem Leben gegeben, die mit ihm über Gott
gesprochen und ihm sogar ein paar Gebete beigebracht hatte, das war
seine isländische Großmutter gewesen. Sie war gestorben, als er
erst zehn Jahre alt gewesen war.
Hatte sie
mit ihm über Sünde gesprochen? Das musste sie wohl getan haben. Und
jetzt aus den Erinnerungen seiner Kindheit, aus den Tiefen seines
Unterbewusstseins, hier war die Stimme seiner Amma.
„Eigentlich“,
sagte die Stimme, die überhaupt nicht klang, wie die seiner Amma,
„eigentlich bin ich nicht die Stimme deiner Großmutter. Du
könntest eher sagen, ich bin die Stimme deiner Ur-ur-ur-,“ sie
begann an den Fingern zu zählen, „-ur-ur-enkelin.“
„Du
bist meine... du behauptest ich bin dein was?!" David konnte das
mit seinem Verstand noch nicht ganz erfassen.
„Ja,
du bist mein Ur-ur-ur-ur-ur-großvater. Und das ist der Grund, warum
ich herkommen konnte. Anders wäre das nicht möglich gewesen.“
„Warum
nicht?“ David beschloss so zu tun als ob. Vielleicht konnte er ja
damit sein Unterbewusstsein so weit beruhigen, dass es ihn dann in
Ruhe ließ.
„Wenn
du eine Bewusstseins-Zeitreise machst, dann musst du zuerst ein
Bewusstsein finden, dessen Gehirn dieselben Deltawellen produziert
wie dein eigenes, und das ist nur bei sehr nahen Verwandten der
Fall.“
„Aha,
so ist das,“ sagte David ohne große Überzeugung.
„Du
glaubst mir immer noch nicht,“ beschuldigte ihn seine
Ur-ur-irgendwas-Enkelin.
„Es
hört sich ein bisschen weit hergeholt an,“ gab David zu,
„Deltawellen und so was...“
„Ich
weiß, dass es kompliziert ist,“ gab das Mädchen zu, gerade als
ihnen zwei junge Männer in dunklen Hoodies entgegen kamen, die
offensichtlich etwas Härteres als Alkohol intus hatten und David
mit ziemlich aggressiven Blicken beäugten.
Das
unsichtbare Mädchen schien das auch bemerkt zu haben und fuhr
deshalb fort: „Aber komm, gehen wir zuerst nach Hause zu dir und
dann erklär ich dir das...“
„In
Ordnung,“ David nickte und setzte seinen Heimweg fort. Schweigend
gingen sie die Veriton Avenue hinauf, bis sie vor dem am meisten
heruntergekommenen Gebäude der ganzen Straße haltmachten. Genau wie
die umliegenden Häuser war es ein Backsteingebäude. Es war
teilweise rot verputzt, teilweise, weil mehr als die Hälfte des
Putzes abgebröckelt war. Eine Außentreppe führte zur Eingangstür
im ersten Stock hinauf, ein Teil der Farbe und des Betons der Stufen
fehlte.
David ging
nicht die Treppe hinauf. Sein Eingang war links unter der Treppe. Er
schloss die Tür auf und betrat etwas, was man nur mit viel Fantasie
ein Wohnzimmer nennen konnte oder auch ein Schlafzimmer, denn die
Klappcouch diente ihm als Bett. In der rechten Ecke führte eine
geöffnete Tür in die Küche, die so klein war, dass wenn man die
Tür schloss, zwei Leute darin kaum Platz hätten. Neben der Küche
war ein Badezimmer mit Dusche, Toilette und Miniwaschbecken auf einem
einzigen Quadratmeter.
Die
Wohnung war eigentlich ziemlich sauber; keine Pizzaschachteln auf dem
Tisch und auch keine leeren Cola-Dosen oder Whiskey-Flaschen
darunter, oder schmutzige Kleider auf dem Fußboden oder der Couch.
David hatte am Morgen saubergemacht, wahrscheinlich das erste Mal in
drei Monaten, in der Annahme, dass die Polizei oder zumindest sein
Vermieter bald auftauchen würden, und man wollte doch nicht als
letzten Eindruck hinterlassen, dass man durch und durch schlampig
war, oder so was ähnliches hatte David am Morgen gedacht.
Und jetzt,
nachdem er das Licht angeschaltet hatte, war David eigentlich ganz
froh, dass es bei ihm einiger Maßen sauber war, denn immerhin hatte
er ja doch eine Besucherin, obwohl sie weder von der Polizei, noch
ganz real war.
Aber als
er sich dann auf sein Sofa fallen gelassen hatte, fühlte David wie
völlige Erschöpfung sein Bewusstsein und seinen Körper
überflutete. Es war wirklich ein langer Tag gewesen, ein sehr langer
Tag.
Er hatte
damit begonnen, dass David aufgewacht war und festgestellt hatte,
dass ihm sowohl der Whiskey als auch die Aspirin ausgegangen waren.
Der Gedanke, ein weiteres Mal zum Alkoholladen zu schlurfen, hatte
ihn ebenso deprimiert, wie der Gedanke an einen anderen sinnlosen
Tag…einen Tag ohne die Arbeit, die er so sehr geliebt hatte, einen
Tag ohne Tina und am allermeisten, einen Tag ohne Mikey.
Er
erinnerte sich noch genau an die Zeit, wo er Tag und Nacht gearbeitet
hatte, ohne sich Zeit für Tina oder Mikey zu nehmen. Sicher, Tina
war mit der Situation eigentlich ganz zufrieden gewesen. Sie hatte
mit ihrer eigenen Karriere selbst mehr als genug zu tun gehabt. Und
sie war ebenso ehrgeizig, wie er es damals gewesen war.
Aber
Mikey, oh Mikey...
Sie hatten
eine gute Nanny für ihn angeheuert, und die hatte sehr gute Arbeit
geleistet. Aber David war kein guter Vater gewesen, obwohl er es
damals immer verdrängt hatte. Und jetzt war das einzige, wonach er
sich noch sehnte, noch einmal eine Chance zu bekommen, nur noch eine
Chance ein guter Dad zu sein.
Aber die
würde er nicht bekommen. Er hatte das Besuchsrecht für Mikey
verloren. Und es gab sogar eine gerichtliche Verfügung, die besagte,
dass er sich Tina und Mikey in keinster Weise nähern durfte. Und
seit letzter Woche lag der gesamte Kontinent zwischen ihnen.
Wenn Tina
Mikey nicht so völlig aus Davids Leben genommen hätte, dann hätte
seine eigene Existenz noch eine Bedeutung. Was auch immer falsch lief
mit der Welt und mit ihm, da wäre immer noch Mikey. Mikey war das,
was gut war auf dieser Welt. Aber David hatte seine Arbeit verloren
und jede Chance, irgendwann einmal wieder von einer respektablen
Zeitung oder einem Nachrichtenmagazin angestellt zu werden, und er
hatte Mikey verloren. Was blieb ihm da noch?
Und so war
David zu dem Schluss gekommen, dass es nichts mehr gab, für das es
sich zu leben lohnte. Er hatte seine Wohnung aufgeräumt und war dann
den Rest des Tages ziellos durch die Stadt geschlurft. Dann hatte er
die U-Bahn Nummer 4 genommen von Norden nach Süden und wieder
zurück. Und das hatte ihn auf die Idee gebracht, dass die U-Bahn
genau der Ort war, um es zu tun. Und so um vier Minuten vor
Mitternacht war David an der Spesveniat Haltestelle auf dem Bahnsteig
gestanden und hatte auf den Zug nach Süden gewartet.
Der Zug
hatte sechs Minuten Verspätung gehabt, während das Mädchen, das
behauptete seine Ur-ur-ur-ur-ur-Enkelin zu sein, gerade rechtzeitig
da war. Rechtzeitig wofür, darüber war David sich nicht ganz im
Klaren.
Er sah sie
noch einmal an, diese sonderbare Vision, die schweigend
zurückstarrte, wie sie ihm so auf dem einzigen Stuhl im Zimmer
gegenüber saß.
Zu
erschöpft um noch einen klaren Gedanken fassen zu können, wollte
David heute Abend nichts mehr hören.
„Du
hast mir gesagt, die Sache mit den Deltawellen sei kompliziert.
Können wir die Erklärungen bitte auf morgen verschieben? Außer, du
musst heute Nacht bereits wieder verschwinden.“
„Nein,
ich bleibe eine Weile,“ versprach das Mädchen, und David war sich
nicht ganz sicher, ob das nicht eher eine Drohung war.
„Ich
vermute, dass ich dir nichts zu essen anbieten kann, da du ja nicht
wirklich hier bist, und du deshalb auch keinen wirklichen Mund oder
Magen hast.“
Das
Mädchen nickte zustimmend.
„Dann
gute Nacht,“ sagte David einfach, als er sich auf der Couch
ausstreckte und sich in den Teppich wickelte, der zuvor die
abgeschabten Polster bedeckt hatte, ohne sich auch nur die Zeit zu
nehmen, sich auszuziehen. Die Zeit, das Licht auszuschalten, nahm er
sich auch nicht, - er wollte es nicht unbedingt riskieren, mitten in
der Nacht einem leuchtenden Gespenst gegenüber aufzuwachen.
Er schloss
die Augen und schlief fast sofort ein.
Sonderbare
Visionen bevölkerten seine Träume: Ein dröhnender Zug verfolgte
ihn. Dann schwebte ein leuchtendes Kind auf einer Wolke heran. Es
streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn hoch auf die Wolke. Mikey
saß auch dort auf der Wolkenbank, mit einem breiten Lächeln auf
seinem kleinen Gesicht und die Beine vergnügt schaukelnd. Aber als
David sich ihm nähern wollte, stand Mikey auf, drehte sich um und
hüpfte auf eine andere Wolke. David wollte ihm folgen, aber er
konnte seine Füße nicht bewegen. Mikey's Wolke verschwand am
Horizont. Und dann war David nicht mehr in den Wolken sondern wieder
auf der Erde. Über ihm flogen Bomberjets, und neben ihm explodierte
etwas. Um sich herum konnte er das Rattern von Maschinengewehren
hören. Und wohin er auch blickte, sah er tote oder verwundete Kinder
liegen, und die verängstigte Stimme eines Kindes schrie: „Nein,
nicht zu den dunklen Zeiten... den dunklen Zeiten, den dunklen
Zeiten...“
***
Professor
Morgan und Mr Wang haben mit den in ihren Armbandkontrollern
eingebauten Scannern die Gasse ausgekundschaftet. Es gibt hier
wirklich keine Überwachungskameras oder versteckte Mikrofone. Es
ist hier auch keine einzige lebende Seele zu sehen.
Nur
wenige Fenster der umliegenden Häuser lassen einen Blick auf die
Gasse zu, keins davon ist ebenerdig. Es ist immer noch früh am
Morgen und deshalb unwahrscheinlich, dass die Bewohner dieser
heruntergekommenen Gegend bereits wach oder auch nur klar genug sind,
um sich für die kleine Gruppe von Leuten zu interessieren, die hier
um einen Gullideckel herumstehen.
Ja, ich
kann mir gratulieren, ich habe wirklich den passendsten Ort für den
Eingang zu meinem Fluchttunnel gewählt.
Der
Professor öffnet wieder den Kanaldeckel und klopft leicht auf seinen
Armbandkontroller. Ein dunkelhäutiger Mann von etwa Mitte zwanzig,
der bereits auf der Leiter gewartet hat, steigt jetzt von unten
herauf. Gekleidet ist er in schwarze Jeans und eine offene Jacke aus
demselben Stoff über einem leuchtend roten T-Shirt. Auf seinem
Rücken trägt er einen riesigen grauen Rucksack, gefüllt mit
schwerem Gerät.
Ich
habe ihn noch nie zuvor gesehen, aber er scheint den Professor und Mr
Wang zu kennen, würdigt deren Anwesenheit jedoch nur mit einem
schwachen Kopfnicken, bevor er sich hinunterbeugt, um mehrere
ähnliche Taschen, die ihm von unten hoch gereicht werden, an die
Oberfläche zu hieven.
Danach
steigen neun weitere Männer aus dem Kanal, deren Kleidung sich nur
in der Farbe ihrer T-Shirts vom ersten Mann unterscheiden.
Mit
einem kaum gemurmelten Gruß machen die Freiwilligen sich sofort ans
Werk, die Gegend abzusichern.
Ich
weiß natürlich, was sie da tun. Sie installieren die gesamte Gasse
entlang elektronische Abschirmprojektoren, um die nachfolgenden
Freiwilligen, ebenso wie die später erwarteten Flüchtlinge, vor
einem potentiellen Angriff zu schützen. Die Abschirmprojektoren
reflektieren das Licht auf eine so geniale Weise, dass es den ganzen
Ort und jeden Menschen darin für alle unsichtbar macht, die sich
nicht in dem abgeschirmten Bereich aufhalten.
Die
Arbeit ist schon weit fortgeschritten, als der erste Mann sich
endlich dazu bequemt sich vorzustellen. Er dreht sich zu mir mit den
Worten um:
„Oh
übrigens, ich bin Darryl Kenneth. Sie sind Jonathan Galt, stimmt's?“
Ich
nicke einfach nur.
Darryl
Kenneth deutet auf sein Team: „Dies sind Tom Parshon, Jim Lavon,
Jess Porter und Vance Drake. Sie sind wie ich aus dem Dorf 'Roads
End' und da drüben sind Cass Dakota und Brent Spanner aus 'Desert
Spring' und Patrick Covat, Derrick Kelly und Antonio Fernandez sind
aus 'DeSoto Southwestcorner'.“
Stolz
fügt er dann hinzu: „Wir sind alle aus der Nation Texas. Und die
Teams aus unseren Dörfern und fünfzehn weiteren, die noch im Kanal
unterwegs sind, waren die ersten, die sich freiwillig gemeldet haben,
gleich als wir von dem Problem gehört haben.“
'Problem'
ist wahrscheinlich die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich weiß
nicht Recht, wie ich darauf antworten soll. Deshalb sage ich einfach:
„Ihre Leute scheinen gut vorbereitet zu sein.“
Nach
dem, was ich gehört habe, wurden die Texaner und ein paar andere
Teams aus den westlichen Nationen von Nordamerika vor allem deshalb
ausgewählt, weil ihre Kleidung kaum Änderungen bedarf, um sich der
Nephilim City Umgebung anzupassen, wo die männliche Nicht-Eliten
Bevölkerung meist auch schwarze und blaue Jeanskleidung und bunte
T-Shirts trägt.
Das ist
natürlich ein ganz anderer Stil als der von der Spesaeterna Gruppe,
die jetzt ihre heimische Kleidung mit den verdächtigen Symbolen
unter den neuen und schlechtsitzenden Jeanshosen und Jacken
verstecken muss.
Mr
Wang dreht sich zu Darryl um und brummt in seiner typisch abrupten
Art: „Wir haben einen engen Zeitplan. Sind Sie und Ihre Männer
bereit für die nächsten Schritt der Operation, Mr Kenneth?“
„Natürlich,“
Darryl klopft auf seinen Armbandkontroller. Im selben Augenblick
drehen sich die anderen Texaner um und überlassen die Arbeit an den
Projektoren einer neuen Gruppe von Freiwilligen, die gerade aus dem
Kanal gestiegen sind. Zusammen folgen Darryl und seine Männer mir
und meinen Begleitern aus der Gasse.
***
David
wachte auf, und es war Morgen. Das schwache Licht, das durch sein
Kellerfenster drang, stand in Konkurrenz zu dem der Glühbirne, die
von der Decke baumelte. Das Tageslicht war dabei den Wettbewerb zu
gewinnen, aber nur knapp.
David
setzte sich und rieb sich die Augen. Die Halluzination war immer noch
da, dort auf dem Stuhl gegenüber. Und sie starrte ihn an.
„Ich
heiße Hope,“ sagte sie entschieden.
Hope, die
Hoffnung, ist wohl weiblich in jeder Sprache, dachte David, aber
Hoffnung auf was?
Dann
fragte er frustriert: „Liest du eigentlich alle meine Gedanken, und
weißt du alles über mich?“
„Nein,
nicht alles,“ erklärte ihm Hope, "nur das, was in deinem
Bewusstsein ganz vorne ist, worauf du dich gerade konzentrierst. All
die anderen Sachen sind so schwach, ich kann sie zwar fühlen, aber
nicht verstehen."
Dann
fragte sie ganz unerwartet: „Wer ist Mikey?“ Und als David
zögerte, fügte sie hinzu: „Du weißt schon, der kleine Junge auf
der Wolke.“
„Du
bist also auch in meine Träume eingebrochen.“ Da lag eine Anklage
in Davids Stimme.
„Vielleicht
bist du in meine eingebrochen,“ verteidigte sich Hope. "Ich
habe auch geschlafen."
„Wirklich?“
David war nicht ganz überzeugt, trotzdem antwortete er widerwillig:
"Also, wenn du es unbedingt wissen willst, Mikey ist mein Sohn.
Er ist vier."
Und weil
er das Thema nicht weiter verfolgen wollte, stand David auf. „Und
jetzt muss ich ins Bad.“
Hope
machte alle Anstalten ihm zu folgen.
„Du
wirst mir doch wohl nicht auf die Toilette folgen?“ Jetzt machte
sich fast ein bisschen Verzweiflung in David breit. Er musste
wirklich dringend. „Ich kann auf keinen Fall duschen und... andere
Sachen, während du mich dabei anstarrst.“
Hope biss
sich auf die Lippe, das schien eine Gewohnheit von ihr zu sein. „Ich
muss die ganze Zeit bei dir bleiben oder ich verliere die
Verbindung,“ erklärte sie.
Doch dann
kam ihr eine Idee: „Ich denke, ich könnte mich auf andere Dinge
konzentrieren, während du im Badezimmer bist.“
Im
gleichen Augenblick verschwand das Bild des Mädchens und wurde von
einer schwachen Vision von blauem Himmel und weißen Wolken ersetzt.
Die Wolken bewegten sich langsam. Das Ganze erinnerte ihn an die
schwache Reflektion von ihm selbst, wenn er in ein Schaufenster sah,
wobei hinter dem eigenen Spiegelbild die Auslagen im Fenster weit
sichtbarer waren. Gerade war die Vision nur in seinem linken
Augenwinkel erkennbar. Gleichzeitig hörte er eine schwache Musik und
ein leises Singen, aber die Worte konnte er nicht ausmachen.
Dann
änderte sich die Vision, und statt des Himmels sah er nun von oben
auf eine bewaldete Landschaft hinab, die von Wiesen und Häuserblocks
unterbrochen wurde. Es war als sähe er alles aus der
Vogelperspektive oder vielleicht aus der eines sehr langsamen und
tieffliegenden Flugzeuges. Jeder Häuserblock wurde von Gebilden
umrahmt, die an Zirkuszelte erinnerten.
Die
Vision änderte sich wieder abrupt, und David konnte jetzt das Innere
eines Gebäudes erkennen, das wie eine Kirche aussah, mit einem Kreuz
vorn und Heiligenstatuen darunter. Die Worte des Liedes wurden etwas
klarer, und David dachte, er höre etwas, das wie Gott und Jesus
klang.
David
fragte sich, ob Hope vielleicht gerade betete... dann änderte sich
die Vision wieder zu der Vogelperspektive der Landschaft.
David
beschloss, die Visionen zu ignorieren und ging zum Schrank, um sich
frische Kleider und Handtücher zu holen. Er duschte sich heiß und
rieb danach den beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken ab.
Er
betrachtete sein Gesicht und musste zugeben, dass es kein Wunder war,
dass die Krankenschwester und die beiden Jugendlichen letzte Nacht
Angst vor ihm gehabt hatten. Er sah ja auch wirklich ganz schön
furchteinflößend aus.
Als er
noch seinen Job hatte, da hatte er immer großen Wert auf seine
äußere Erscheinung gelegt. Nicht, dass er immer Anzüge getragen
hätte; Anzüge waren oft nicht das richtige Outfit für einen
Reporter. Aber auch in Jeans und Sweatshirt war er immer darauf
bedacht gewesen, sauber und frisch auszusehen. Es war genau dieses
junge, unschuldige Image, das ihm damals so viele Türen geöffnet
hatte.
Jetzt sah
er aus, als wäre er weit über seine 32 Lebensjahre hinaus. Er hatte
sich seit mindestens drei Monaten die Haare nicht mehr schneiden
lassen, so dass dunkelblonde Locken seine Ohren bedeckten und ihm
tief im Nacken hingen. Und während die Dusche seine Haare etwas
gezähmt hatte, so wusste er doch, dass sie letzte Nacht mit
Sicherheit ungekämmt wild in die Luft gestanden hatten.
Er hatte
sich auch seit einer Woche nicht mehr rasiert und dunkle Schatten
umrahmten seine grau-blauen Augen. Und da seine Nahrung in den
letzten paar Wochen hauptsächlich flüssiger Natur gewesen war,
hatte er auch einiges an Gewicht verloren. Das war wohl dann der
Grund dafür, dass seine Wangenknochen so stark hervorstanden, dass
sie wie die Gewölbe zweier gammliger Höhlen wirkten, die von Moos
bedeckt waren.
Na gut,
dachte er, rasieren wird vermutlich den Anblick ein klein wenig
verbessern, obwohl höchstwahrscheinlich nicht all zu viel.
Als David
aus dem Badezimmer kam, rasiert und in sauberen Kleidern, rief er:
„He du, äh, he Hope! Du kannst wieder rauskommen!“
Die
Gestalt der kleinen Hope wurde sofort wieder sichtbar, wobei
gleichzeitig die Waldlandschaft, die gerade in seinem Augenwinkel
dahingezogen war, verschwand.
David
nickte ihr zu und ging dann in die Küche, um sich den Inhalt des
Kühlschranks zu betrachten. Er hatte plötzlich Hunger. Aber wie er
ganz richtig vermutet hatte, war nichts Essbares darin zu erblicken,
außer vielleicht einer einsamen Cola ganz hinten. Mit einem
spöttischen Lächeln bot er sie Hope an. Als sie den Kopf
schüttelte, öffnete er die Dose und trank den gesamtem Inhalt in
einem einzigen Zug aus.
Dann
lehnte er sich an den Kühlschrank und sagte skeptisch: „Wenn du
wirklich irgendwo in Raum und Zeit eine echte Person bist, dann
müsstest du doch irgendwann einmal hungrig oder durstig sein.“
„Während
mein Bewusstsein hier ist“, erklärte Hope, „wird mein Körper
intravenös ernährt. „Das bedeutet, die Nahrung wird direkt durch
einen dünnen Schlauch und eine Kanüle ins Blut getropft.“
„Ich
weiß, was intravenös bedeutet,“ David lächelte. Er war leicht
amüsiert darüber, dass er von einem kleinen Mädchen eine Lektion
in medizinischen Fachbegriffen bekam.
„Du
fühlst dich jetzt besser,“ bemerkte Hope. „Und bald wirst du
bestimmt auch besser aussehen, wenn du einmal gegessen und frische
Luft geschnappt hast. Eigentlich siehst du wirklich nicht so alt aus,
wie du denkst, nur ein bisschen müde.“
„Du
warst also doch mit mir im Badezimmer, wo du doch versprochen hast,
dein Bewusstsein woanders hinzubewegen!“ beschuldigte sie David
„Ich
war nur für einen Augenblick da, wirklich nur einen ganz kleinen.
Das war, als du gerade in den Spiegel gesehen hast,“ erwiderte Hope
ein wenig kleinlaut. „Ich musste einfach wissen, wie du aussiehst.“
„Du
hast mir doch seit gestern Abend ständig ins Gesicht gestarrt,“
David schüttelte den Kopf. „Inzwischen müsstest du es in und
auswendig kennen.“
„Ich
hab in dein Bewusstsein geschaut, aber nicht so richtig in dein
Gesicht,“ erklärte Hope ihm. „Eigentlich sehe ich nur das, was
du mit deine Augen siehst. Bis jetzt konnte ich mir nur vorstellen,
wie du aussiehst. Bevor ich dich im Spiegel gesehen habe, da habe ich
dich angesehen, und dein Gesicht war trotzdem nur so was wie ein
verschwommener Fleck für mich.“
„Am
besten du erklärst mir jetzt, wie das mit dieser Zeitreise
funktioniert,“ forderte David das Mädchen auf.
„In
Ordnung,“ Hope atmete tief und begann:
„Also
wie ich dir bereits letzte Nacht erklärt habe, so hat der Prozess
des Zeitreisens etwas mit bestimmten Hirnströmen zu tun, die
Deltawellen genannt werden. Mein Großonkel und einige seiner
Wissenschaftlerfreunde aus anderen Dörfern haben entdeckt, dass
diese Wellen irgendwie durch Raum und Zeit hindurch stoßen können
und zwar von einem Gehirn in ein anderes.
Sie haben
eine Maschine entwickelt, so etwas wie einen Verstärker mit einer
Zielerfassungsapparatur, und jetzt können sie diesen Prozess
kontrollieren und ausrichten. Mit dieser Apparatur kann jemand sein
ganzes Bewusstsein durch diese Deltawellen in das Gehirn einer
anderen Person reisen lassen, aber nur dann, wenn das Gehirn des
Empfängers dieselben Deltawellen produziert wie das des Senders.
Das geschieht eigentlich nur bei sehr nahen Verwandten, und selbst
dann ist so eine Reise nicht immer durchführbar.“
„Dann
nehme ich mal an, dass Leute aus deiner Zeit diese
Bewusstseins-Zeitreisen schon überall hin gemacht haben, ich meine
in alle Zeiten?“ David fand den Gedanken schon irgendwie
faszinierend. „Hast du denn deine Vorfahren im alten Rom oder in
der Steinzeit auch bereits besucht?“
„Natürlich
nicht,“ Hope wies diesen naiven Vorschlag zurück. „Wie ich dir
das gerade eben erklärt habe, ist das Zeitreisen ein sehr
komplizierter und spezifischer Prozess. Zuerst einmal brauchst du
Leute deren Hirnwellen zueinander passen. Und dann musst auch noch
die genaue Zeit und den Ort wissen, worauf du die Wellen ausrichten
musst. Denn wenn du sie zu den falschen Raum-Zeit-Koordinaten
schickst, dann verpuffen sie einfach in Zeit und Raum. Bis jetzt
konnte die Bewusstseins-Zeitreise nur bei eineiigen Zwillingen und
dann auch nur über einen Zeitunterschied von ein paar Stunden oder
höchstens von einem oder zwei Tagen durchgeführt werden. Du bist
der erste Empfänger, der jemals außerhalb unserer eigenen
Zeitperiode gelebt hat.“
„Hmm,
lass mich mal nachdenken...“ David kratzte sich am Kopf, während
er versuchte das, was er gerade gehört hatte, einzuordnen. „Das
würde doch bedeuten, dass du irgendwie an meine
Raum-Zeit-Koordinaten gekommen bist, und zwar genau dort letzte Nacht
auf dem Bahnsteig der U-Bahn ...und die hast du dann in etwa, sagen
wir mal zweihundert Jahren in der Zukunft bekommen...
Wie
bitteschön, hast du das denn fertig gebracht? Werden die Daten der
Sicherheitskameras wirklich für die gesamte Ewigkeit aufbewahrt?
Kann ich mir eher nicht vorstellen.“
„Ich
habe keine Ahnung von diesen Kameradaten,“ antwortete Hope. „Aber
Großonkel Professor hat mir erklärt, er habe deine Daten in einem
kleinen Metallzylinder gefunden. Und diesen Zylinder hat er vor
langer Zeit einmal von seiner eigenen Großmutter bekommen, als er
selber noch ein Junge so ungefähr in meinem Alter war.“
Plötzlich
tauchte direkt vor Davids Augen ein kleines Objekt auf, das in der
Luft schwebte. Es sah aus wie ein ganz normaler silberfarbener
Flash-Speicher-Stick.
Hope fuhr
mit ihren Erklärungen fort: „Allerdings war dieser Metallzylinder
irgendwie beschädigt worden, und die Daten darauf waren kaum noch
lesbar. Deshalb konnte er nur einen ganz kleinen Teil dieser Daten
entziffern. Aber deine Koordinaten von gestern Nacht, die waren ganz
eindeutig. Und das waren somit die einzigen, die mein Großonkel für
dich hatte, also die einzige Zeit, wo man dich erreichen konnte. Und
das ist das, was ich gestern Nacht schon versucht habe, dir zu
erklären.“
„In
Ordnung,“ sagte David, aber er sah den Flash-Stick, der immer noch
in der Luft schwebte, ziemlich skeptisch an „Du hast vielleicht
irgendwie gewusst, wo ich zu einer bestimmten Zeit war. Aber was ist
dann mit den Deltawellen, von denen du geredet hast, die nur bei
wirklich nahen Verwandten übereinstimmen. Ein fünf-mal entfernter
Urgroßvater ist ja nicht unbedingt ein sehr naher Verwandter. Warum
sollten also die Wellen von uns beiden so gut zusammenpassen?“
„Na
ja...“ Der Flash-Stick verschwand, und Hope biss sich mal wieder
auf die Unterlippe. „ich glaube, das muss wohl ein göttliches
Wunder gewesen sein.“
Ein
göttliches Wunder... David atmete laut aus und ärgerte sich über
sich selbst. Er hatte fast schon geglaubt, dass dieses Kind real war,
und dass es hier wirklich eine wissenschaftliche Erklärung für all
dies gab, und zwar eine andere als, dass er nur einfach den Verstand
verloren hatte. Und jetzt kam sie schon wieder mit diesem
Religionsschwachsinn. Wie hatte er sich auch nur für einen Moment
dazu verleiten lassen können, zu glauben, eine Zeitreisende würde
ihn besuchen? Das war doch völlig irre.
Hope
starrte David, nur schweigend an, und er erinnerte sich daran, dass
sie ja wusste, was er dachte. Klar wusste sie es, schließlich war
sie nur...
„Du
hast mir gesagt, du hast einen Sohn,“ unterbrach Hope Davids
Gedanken. „Du hast einen Sohn, und trotzdem hattest du vor, dich
umzubringen und ihn zu einem Waisenkind zu machen?“
„Er
wäre kein Waisenkind geworden,“ verteidigte sich David schwach.
„Er hat immer ja noch seine Mutter, Tina meine Freundin, oder
eigentlich meine ex-Freundin...“
„Du
wolltest ihn verlassen. Du bist ein schlechter Vater!“
„Er
hat mich verlassen... das heißt, Tina hat ihn mitgenommen und ist
mit ihm nach Los Angeles umgezogen,“ David war in der Defensive.
„Du
bist ein schlechter Vater,“ wiederholte Hope.
„Ich
darf überhaupt kein Vater mehr sein.... nie wieder,“ begehrte
David verzweifelt auf. „Tina hat einen Gerichtsbeschluss gegen mich
erwirkt, der besagt, dass ich mich den beiden nicht weiter als... 200
Meter nähern darf, ich glaube das war die Distanz,“ David fühlte
sich wie immer hundsmiserabel, wenn er nur daran dachte.
„Du
bist ein schlechter Vater,“ sagte Hope zum dritten Mal.
Nun fühlte
David, wie die Wut in ihm hochkochte: „Ich dachte du wurdest
geschickt, damit du mir hilfst, mich besser zu fühlen, so dass ich
mich nicht umbringe. Aber du machst mich ja noch depressiver!“
Und
nachdem er in Hope's steinernes Gesicht gesehen hatte, fügte er
hinzu: „Projizierst du nicht einfach irgendetwas in mich hinein,
weil dein eigener Vater dich verlassen hat?“
David
bereute seine Worte im selben Augenblick, in dem sie seinem Mund
entschlüpft waren. Er konnte reißenden Schmerz in Hope fühlen,
der wie eine Welle über ihn schwappte, während er sah, wie sie
schluckte. Dann sagte sie langsam und deutlich: „Mein Vater hat
mich nicht verlassen. Er wurde getötet... getötet von so jemandem
wie dir hier!“
„Vom
mir?!..“ David war schockiert. „Du gibst mir die Schuld für...“
„Nicht
dir persönlich, aber deinen Leuten, die aus den dunklen Zeiten...
Die haben meinen Vater getötet.“
„Aus
den dunklen Zeiten?“ David war verwirrt.
„Deine
Zeit,“ brach es aus Hope hervor. „Er ist nur zu einer
Eisbrecher-Mission gegangen, nur für kurze Zeit... und er hat
versprochen, er sei bald wieder zu Hause...“
Hope
verschwand, und eine andere Vision formierte sich vor David's Augen.
Das schwache Bild einer jüngeren Hope erschien. Sie stand in einem
Flur und hielt die Hände eines großen dunkelhäutigen Mannes, der
sich hinunter gebückt hatte, um ihr direkt in die Augen zu sehen.
David blinzelte und entdeckte, dass das Bild klarer wurde, wenn der
die Augen schloss. Und so hielt er sie geschlossen, um besser sehen
zu können.
Der Mann
trug eine Schirmmütze wie Hope, nur war sie mit anderen chinesischen
Buchstaben bestickt.
Der
Mann war auch fast ebenso gekleidet wie Hope, nur dass die Flicken
auf seinem Oberteil fehlten, stattdessen schmückten schmale Streifen
eines ziemlich altmodisch gestickten Musters den Kragen und die
Außenseiten der Ärmel.
„Komm
meine kleine Honigbiene, lass meine Hände los,“ sagte der Mann.
Und irgendwie wusste David vom ersten Augenblick an, dass dies Hope's
Vater war, genauso wie er wusste, dass sie im Flur von Hope's Wohnung
standen.
„Wenn
ich jetzt nicht loslege, dann komme ich zu spät,“ drängte Hope's
Vater. „Schau mich nicht so an, als ginge ich für immer weg. In
drei Wochen bin ich schon wieder da. Die sind ruck-zuck vorbei.“
„Drei
Wochen sind vielleicht eine kurze Zeit für dich“, jammerte die
kleine Hope, „aber für mich fühlen sie sich viel, viel länger
an. Sensei hat uns erklärt, dass für Kinder die Zeit scheinbar viel
langsamer vergeht als für Erwachsene. Der Grund ist, dass Kinder
viel kürzer gelebt haben, und dass deshalb für sie die Relation zu
einer Zeitspanne anders ist als für Erwachsene, die ja schon viel
länger gelebt haben.“ Die kleinere Hope hatte anscheinend ihren
Belehrungston bereits gut geübt.
„Wenn
ich zurückkomme, muss ich mich wohl mal mit deinem Lehrer
unterhalten. Er hat dich schon viel zu klug gemacht,“ sagte Hope's
Vater mit gespielter Ernsthaftigkeit in der Stimme.
Das war
dann doch zu hoch für die kleine Hope.
„Magst
du es nicht, wenn ich klug bin?“ fragte sie mit hörbarer Besorgnis
in der Stimme.
„Aber
meine kleine Honigbiene, das war doch nur ein Witz. Natürlich finde
ich es großartig, dass
du so klug bist,“ beruhigte ihr Vater sie und fügte hinzu: „Ich
bin sogar sehr, sehr stolz auf dich. Außerdem hatte ich schon immer
eine Schwäche für kluge Frauen. Deshalb habe ich schließlich deine
Mutter geheiratet! Und jetzt tanzen wir noch einmal eine kleine Runde
bevor ich endgültig gehen muss.“
Er hob die
kleine Hope hoch und wirbelte sie im Kreis durch die Luft, während
sie begeistert juchzte.
Und dann
änderte sich die Vision mit einem Schlag. Hope war jetzt nicht im
Flur, sondern in der Küche der Wohnung. Sie saß an einem Tisch.
Zwei jüngere Kinder, ein Junge und ein Mädchen saßen ihr
gegenüber. Und wieder wusste David genau, wer die beiden waren, als
ob Hope's Wissen zu seinem geworden war. Es waren Sissy und Lillebro,
Hope's Geschwister.
Hope und
Sissy lachten, während Lillebro versuchte, eine Gabel auf seiner
Nase zu balancieren. Eine Frau, die beinahe eine erwachsene Ausgabe
von Hope zu sein schien, war gerade dabei ein Soufflee-Gericht auf
den Tisch zu stellen.
Wie ihr
Ehemann so trug auch sie einen Anzug derselben Form und aus demselben
glitzernd violetten Stoff wie ihre Kinder, aber mit einem gestickten
Muster an den Ärmeln und am Oberteil. Allerdings war diese Stickerei
viel breiter auf ihrer Kleidung als auf der ihres Mannes, und sie
bedeckte auch mehr als ein Drittel des gesamten Oberteils.
Auf der
linken Brustseite befand sich ein sonderbares Symbol, das von der
restlichen Stickerei abgehoben war und von dieser umrahmt wurde. Es
war dasselbe Symbol wie es die Kinder und Hope's Vater an derselben
Stelle ihrer Kleidung trugen. Das Oberteil von Hope's Mutter war
allerdings etwas länger als das der Kinder und ihres Mannes und
reichte ihr etwa bis zu den Knien. Es bedeckte einen Großteil der
weiten Hosen darunter.
Ihre
langen Haare, die fast so dunkel aber weniger lockig waren als die
von Hope und ihren Geschwistern, hatte sie im Nacken
zusammengebunden. Genau wie diese trug sie zwar gerade keine Mütze,
aber David sah vier Schirmmützen aufgereiht auf einem Regal liegen.
Das war direkt über der Bank angebracht, auf der die kleineren
Kinder gerade saßen. Jede der Mützen hatte eine andere Kombination
von chinesischen Zeichen über dem Schirm eingestickt.
Hope's
Mutter lächelte nachsichtig über die akrobatischen Kunststücke
ihres Sohnes und sagte dann mit bemüht strenger Stimme: „Und jetzt
spielen wir nicht mehr. Das Essen ist auf dem Tisch. Wer möchte
heute...“
Ein
melodischer Glockenton unterbrach sie, und sie stand auf und ging zur
Tür. Sofort liefen ihr auch alle drei Kinder hinterher, um einen
Blick auf den unerwarteten Besuch zu werfen. Ein Mann stand in der
Eingangstür. Hope hatte ihn gleich erkannt, und deshalb kannte auch
David seinen Namen. Es war Mr Jones vom Informationsbüro. Aber er
war nicht allein. Hinter ihm standen Oma und Opa, und alle sahen sie
sehr ernst aus. David spürte wie langsam eine unbestimmte Angst in
Hope aufstieg. Mr Jones redete leise mit ihrer Mutter. Sie konnte
sehen, wie diese blass wurde und zu zittern begann. Dann schwankte,
als ob sie nicht mehr stehen konnte. Opa drängte sich an Mr Jones
vorbei und fing sie auf.
Irgendetwas
war geschehen, etwas furchtbar Schlimmes, Hope erkannte das sofort.
Oma kam jetzt auch herein und lief gleich zu den Kindern hinüber.
Die hatten sich am Kücheneingang aneinander gedrängt. Als Oma sich
bückte und ihre Arme öffnete, hatte sie Tränen in den Augen: „Es
ist etwas geschehen... etwas mit eurem Papa.“ Ihre Stimme zitterte
„...da war ein Unfall.... und er... ist gestorben...“
Oma hatte
sich hingekniet, und Sissy und Lillebro in die Arme genommen. Sie sah
Hope an.
„Nein,
das ist nicht wahr,“ Hope's Stimme war schrill. „Das kann gar
nicht stimmen. Papa ist nicht alt, nicht so wie Urgroßvater oder wie
Ms Miner. Er ist es nicht. Er kann nicht gestorben sein. Er kann es
einfach nicht!“
Ohne die
anderen Kinder loszulassen, streckte Oma eine Hand nach Hope aus.
Aber Hope entzog sich ihr Schritt um Schritt rückwärts gehend, bis
sie endlich an die Wand stieß. Sie wollte nicht angefasst werden.
Sie wollte Oma nicht einmal anschauen
Hope sah
zu ihrer Mutter hinüber, aber Mama hatte die Hände vors Gesicht
gelegt. Opa führte sie vorsichtig zur Wohnzimmercouch, und dann
setzte er sich neben sie und legte seine Arme um sie. Noch mehr Leute
standen jetzt um den Eingang herum, die Nachbarn. Alle waren sie ganz
still, sie sahen zu Hope und ihren Geschwistern hinüber. In ihren
Augen waren sowohl Mitleid als auch Hilflosigkeit zu erkennen.
Und dann
drängte sich jemand durch die Menge. Es war die stämmige Gestalt
von Großonkel Professor, die dort auftauchte.
Er
steuerte direkt auf Hope zu. Die hatte sich nun so fest gegen die
Wand hinter ihr gepresst, dass es schien, als ob sie darin
verschwinden wollte. Mit bösen Augen starrte sie die Leute an. Sie
wollte kein Mitleid von denen. Es waren alles Lügner, dachte sie,
alles Lügner.
Großonkel
Professor ließ sich von Hope's wütendem Blick nicht abschrecken. Er
hob sie einfache hoch, hielt sie in den Armen und schaukelte sie wie
ein Baby hin und her: „Mein Kleines, oh mein Kleines. Es tut mir so
Leid, so furchtbar Leid... Ich wusste, dass irgendetwas mit deinem
Vater geschehen würde, aber ich wusste nicht was oder wann... Ich
wusste einfach nicht genug...wenn ich nur mehr hätte entziffern
können... wenn ich nur... ich hätte dann. Es tut mir so Leid, so
schrecklich, schrecklich Leid... mein Kleines...“
Die
jüngere Hope hatte keine Ahnung, worüber ihr Großonkel da gerade
redete, aber sie spürte wie eine Träne auf ihre Stirn tropfte, und
diese Träne ließ Omas Worte endlich zur Wirklichkeit werden. Hope's
Zorn löste sich auf und wurde von unendlicher Traurigkeit ersetzt,
einer Traurigkeit die so tief saß, dass es sich anfühlte, als wäre
sie in einen Abgrund ohne Boden gefallen. Aber weinen konnte sie
nicht...
Die Vision
löste sich auf, und die ältere Hope kehrte zurück. Einen
Augenblick lang schien sie so verzweifelt traurig zu sein, wie die
jüngere Hope es gewesen war. Dann riss sie sich aus ihren
Erinnerungen und sah David an: „Hast du das gesehen,“ fragte sie.
Als David
nickte, schien sie nicht glücklich darüber zu sein. „Ich habe
nicht gewusst, dass ich das kann, dir meine Erinnerungen so zu
zeigen. Ich wollte nicht, dass du....“
Ihre
Worte wurden zum Flüstern, dann noch schwächer, bis gar nichts mehr
zu hören war.
„Es
tut mir Leid...“ sagte David und meinte es. „Es tut mir ehrlich
Leid, was ich vorhin gesagt habe... über dich und deinen Vater.“
Hope riss
sich nun zusammen. Ihre Stimme, die jetzt kalt und sachlich klang,
strafte die Wellen von Schmerz Lügen, die David immer noch spürte,
wie sie von ihr ausgingen und sein eigenes Bewusstsein
überschwemmten.
„Mein
Vater wurde getötet, als er auf einer Eisbrecher-Mission in
Antarktika stationiert war, zusammen mit neun Freiwilligen, die er zu
der Zeit anleitete.
Das Gebiet
war zwar zuvor gescannt worden, aber als der nukleare Sprengsatz von
unserem führendem Eisbrecher-Schiff abgefeuertauf das Eis worden
war, da löste er dort einen anderen Sprengsatz aus. Dieser war dort
irgendwann einmal von einem Militär aus den dunklen Zeiten
hinterlassen worden. Das hat dann eine Kettenreaktion bewirkt, die
die gewöhnliche Sprengkraft tausendfach vergrößerte. Die Explosion
war so enorm, dass sie ein Gebiet von 250 Quadratkilometern
zerstörte, einschließlich der Eisbrecher-Station, von der aus mein
Vater und seine Gruppe von Freiwilligen ihre
Laser-Eisbrecher-Maschinen operierten.“
David
presste seine Lippen zusammen. Es gab nichts, was er dazu hätte
sagen können. Er war schon immer davon überzeugt gewesen, dass
zukünftige Generationen einmal für die Fehler der heutigen Zeit
würden leiden müssen, aber so konkret hatte er sich das nicht
vorgestellt.
Dann
erinnerte er sich an etwas: „Letzte Nacht in meinem Traum habe ich
eine Stimme gehört, die rief 'Nicht zu den dunklen Zeiten!' Du hast
mir gesagt, dass du auch geträumt hast. Du wolltest nicht herkommen,
stimmt's?“
„Ja,
ich wollte es nicht,“ gab Hope zu
„Hat
dich dein Großonkel dazu gezwungen?“
„Natürlich
nicht,“ Hope war entrüstet. „Es war meine eigene Entscheidung,
aber...“
Wieder
formte sich ein Bild vor David's Augen. Er schloss sie, um es klarer
erscheinen zu lassen.
Hope stand
vor einer sonderbaren Maschine. Sie sah ihren Großonkel mit einem
verzweifelten Blick an: „Ja, natürlich will ich mit deiner
Maschine in die Vergangenheit reisen. Aber ich will nicht in die
dunklen Zeiten, zu diesen schrecklichen Leuten. Ich will keine 200
Jahre zurückgehen nur vier, bitte nur vier!“
Ihr
Großonkel erwiderte traurig: „Ich weiß, dass du das willst. Und
ich gäbe alles dafür, wenn das möglich wäre. Aber das ist es nun
einmal nicht. Eure Wellen stimmen nicht überein.“
Und als
Hope ihren Mund öffnete, um zu protestieren, kam der Professor ihr
zuvor: „Und du kannst auch nicht zu jemandem anderen zurückgehen,
der deinen Vater vielleicht warnen könnte. Meine Freunde und ich
haben bereits versucht einen Menschen länger als ein, zwei Tage
zurückzuschicken, aber irgendwie scheint das nicht zu funktionieren.
Es scheint, als können unsere Apparaturen nur noch ungenau
fokussieren, wenn die Zeit weiter von uns entfernt ist. Es ist als ob
sich die Vergangenheit vor uns verschließt, sich gegen unsere
Einmischung wehrt.
Es gab
eine Zeit, wo ich das selbst weder verstehen noch akzeptieren konnte.
Naiv hatte ich geglaubt, dass wenn ich nur mehr von den Informationen
hier drin hätte entziffern können...“
Hope's
Großonkel öffnete seine Hand und der silberfarbene USB Schlüssel,
den David zuvor schon gesehen hatte, kam zum Vorschein.
„...dann
hätte ich den Unfall deines Vaters verhindern können. Als ich dann
endlich das wahre Prinzip der Zeit verstanden hatte, da erst wurde
das Zeitreisen zur Realität.
Und
doch gibt es eine Ausnahme zu dieser Regel, eine einzige, von der
ich gesicherte Beweise habe. Jemand ist länger zurückgegangen...
214 Jahre zurück, um genau zu sein.“
„Es
ist so unfair, Großonkel. Warum kann ich zurück zu diesem alten
Vorfahren von uns, aber nicht zu meinem eigenen Vater. Er war so ein
guter Mensch, ein wirklich, wirklich guter Mensch. Und er wüsste,
was zu tun wäre in unseren schrecklichen Schwierigkeiten, wo nicht
einmal du weißt, was man machen kann.“
Es lag
eine bittere Anklage in Hope's Stimme: „Ich weiß, er würde es
wissen, ich weiß es einfach....Warum hat Gott ihn sterben lassen?
Warum gibt er mir jetzt keine Chance, ihn zu retten?“
„Ich
weiß es nicht, meine Kleine. Der Wille Gottes ist oft ein Mysterium
für uns. Wir werden das Schicksal, das uns zuteil wird, vielleicht
nie begreifen. Aber manchmal, nur ganz selten, gelangen wir zu einer
Erkenntnis, aber das geschieht immer nur zu seiner Zeit.
Für jetzt
aber, kann ich dir nur eines sagen: Ich weiß, dass du deinen Vater
nicht retten kannst, aber du kannst einen anderen Menschen aus einem
schwarzen Loch befreien. Und ich bin davon überzeugt, dass du die
einzige bist, die das tun kann.“
„Er
lebt in den dunklen Zeiten.“ Hope verzog ihr Gesicht: „Ich kann
ihn da nicht rausholen, und ich will es auch gar nicht.“
Als ob er
Hope's Widerstand gegen seinen Vorschlag akzeptiert hätte, so hatte
Großonkel Professor Hope jetzt den Rücken zugewandt. Er zögerte
für einen Augenblick, dann redete er in einer sanften, klaren und
neutralen Stimme weiter: „Ja sicher, dieser Mann lebt in den
dunklen Zeiten, aber was ihn umgibt ist sogar noch dunkler. Das
Mädchen, das in der Zeit zurückging, weil sie allein die Fähigkeit
besaß, ihn zu treffen, hieß Hope. Auch wenn er in einer Zeit und
Kultur lebt, die wir nicht verstehen, so hatte sein Leben damals, wie
das eines jeden Menschen heute, doch einen Wert. Die Möglichkeit
diesen Mann zu retten lag in Hope's Händen.“
Der
Professor drehte sich wieder um und sah seine Großnichte nun direkt
an: "Es liegt in deiner Hand. Und du wirst diese Möglichkeit
doch nutzen, oder hast du das Erste Prinzip vergessen?"
In einem
Wimpernschlag verschwand das Bild von der zukünftigen Hope und wurde
von der gegenwärtigen Hope ersetzt, die mit den Schultern zuckte und
sagte: „Und dann musste ich kommen; ich konnte keine andere
Entscheidung treffen.“
„Wegen
dieses ersten Prinzips?“ David war nicht sicher, ob er das richtig
verstanden hatte.
Hope
nickte.
„Was
ist denn dann dieses Prinzip, von dem dein Großonkel gesprochen
hat?“
„Es
ist das, worauf unsere Hausgemeinschaft, unser Dorf, unser Distrikt,
unsere Nation und die gesamte Welt aufgebaut ist,“ antwortete Hope
mit hörbarem Stolz in der Stimme. Aber dann verdunkelte sich ihre
Miene, und sie verbesserte sich selbst: „Ich meine fast die ganze
Welt... jeder Ort außerhalb von Orange Country.“
„Was ist Orange
Country?“ fragte David.
„Die
Hölle,“ war die kurze Antwort.
***
Nachdem
Mr Wang und ich den Autohandel betreten haben, erkennen wir sofort,
dass wir heute die ersten Kunden sind.
Vier
der Texaner -Brent, Patrick, Kelly und Antonio- sind bereits zu ihrem
nächsten Auftrag in einem öffentlichen Transportmittel
aufgebrochen. Um das Fahrgeld zu zahlen, mussten sie ihre falschen
Chips testen. Brent hat daraufhin Darryl elektronisch übermittelt,
dass die Chips ausgezeichnet funktionieren.
Die
anderen haben beschlossen draußen zu warten, und zwar in weiten
Abständen entlang der Straße. Sie mussten darauf achten, keinen
Verdacht zu erregen, was eine ungewöhnlich große Gruppe mit
Sicherheit tun würde. Ich habe ihnen erklärt, dass
Sicherheitsvollstrecker die einzigen in Nephilim City seien, die
jemals in der Öffentlichkeit in Gruppen zu sehen waren.
Tom,
Jim, Jesse, Vance und Cass warten darauf, das nächste öffentliche
Fahrzeug in die andere Richtung zu nehmen. Darryl wird mich und das
Spesaeterna Team später in dem privaten Fahrzeug begleiten, das ich
hier kaufen will. Das kleine Auto, das mir gehörte bevor ich Orange
Country verlassen habe, ist zur Zeit in einem der Meeresdörfer
geparkt. Als ich es dort abgestellt habe, dachte ich, es wäre eine
gute Idee gewesen. Mein Vater sollte so nicht vorzeitig erfahren,
dass ich nicht mehr im Land war.
Die
Gebrauchtwagen stehen auf der linken Seite des Ladens. Alle sind
frisch lackiert, damit sie neuer aussehen als sie wirklich sind.
Dahinter sehe ich die Tür des Verkaufsbüros halboffen stehen. Eine
laute, despotische Stimme dringt jetzt aus dem Raum hinter der Tür:
„Sie
sind der schlechteste Verkäufer, den unsere Firma je beschäftigt
hat. Sie einen totalen Versager zu nennen, beginnt nicht einmal Sie
zu beschreiben!“
Der
ersten Stimme antwortet eine ängstliche, viel leisere: „Es tut mir
wirklich so Leid, Boss, und ich werd mich von jetzt an sicherlich
mehr anstrengen...“
„Anstrengen?
Das ist einfach nicht gut genug. Schauen Sie sich Ihre Zahlen von
letzter Woche an: Kein Verkaufsabschluss, kein Verkaufsabschluss,
kein Verkaufsabschluss, dann der Verkauf eines einzigen Wagens und
dabei auch noch das billigste Modell, das wir im Laden haben, und
dann wurde am nächsten Tag wieder kein einziger Wagen von Ihnen
verkauft. Und die Woche davor war es kein bisschen besser. Sie sind
entlassen und zwar fristlos!“
„Boss,
bitte, das können Sie doch nicht tun! Was ist mit meinem Vertrag?“
„Ihr
Vertrag? Machen Sie Witze? Haben Sie den überhaupt gelesen? Da steht
es schwarz auf weiß, dass er Null und Nichtig wird, sobald Sie
länger als eine Woche die erwartete Leistung nicht bringen.“
„Aber
das können Sie doch nicht machen, Boss. Bitte, wenn ich den
Jahresvertrag in dieser Firma nicht durcharbeite, dann werde ich
niemals mehr einen neuen Job finden. Dann werde ich meine
Versicherung nicht mehr bezahlen können, und Sie wissen, was dann
mit mir passiert...“
„Das
kann nicht meine Sorge sein. Wenn ich Ihnen erlaube weiterhin ein
Gehalt von dieser Firma zu beziehen, dann werden das meine
Vorgesetzten nicht einsehen, meine eigene Stellung steht dann auf dem
Spiel und mein Vertrag und meine Versicherungszahlungen.“
Nach
einer kurzen Pause schlägt die erste Stimme einen um eine Nuance
versöhnlicher klingenden Ton an:
„In
Ordnung, ich gebe Ihnen noch einen Tag, einen einzigen Tag. Und es
muss ein großer Verkaufstag sein, sag ich Ihnen. Ansonsten brauchen
Sie morgen gar nicht mehr zu erscheinen.“
In
diesem Augenblick taucht ein Verkäufer hinter einer Reihe von Wagen
auf.
„Meine
Herren,“ ruft er eifrig, „Sie sind genau zum richtigen Ort
gekommen! Wir haben hier eine Auswahl der besten Automobile von ganz
Nephilim City.“
Ich
schüttele den Kopf und Mr Wang bedeutet dem Verkäufer mit einer
Handbewegung, dass wir nicht interessiert sind. Dieser dreht sich
enttäuscht auf dem Absatz um.
Wir
warten ein paar Sekunden, während wir die offene Bürotür
beobachten bis ein kleiner Mann mit spärlich behaartem Kopf und tief
gebeugten Schultern aus dem Büro geschlurft kommt, ohne uns auch nur
zu bemerken.
„Wir
wollen ein Auto kaufen,“ bemerke ich mit leicht erhobener Stimme,
um die Aufmerksamkeit des Mannes auf mich zu lenken.
Der
kleine Mann sieht auf: „Aber natürlich, mein Herr. An welche
spezielle Preislage hatten Sie denn da gedacht?“ fragt er.
Er ist
wirklich kein guter Verkäufer.
„Ich
glaube, ich muss mich mal vorstellen,“ erkläre ich ihm und packe
ihn an der rechten Hand, um sie zu schütteln. Sobald sich unsere
Handflächen berühren, ertönt ein schwacher Glockenton aus unseren
beiden Armbandkontrollern. Der kleine Mann sieht sich seinen Display
an, und sein Mund öffnet sich schockiert.
„Oh,
Mr Galt,“ flüstert er, und dann fügt er mit etwas kräftiger
Stimme hinzu: „Sie wollen natürlich den besten.“
„Nur
den allerbesten,“ bestätige ich mit einem Nicken. Und dann folgen
Mr Wang und ich dem kleinen Mann in die Abteilung mit den größten
und glänzendsten Wagen, bis wir vor einem roten Chrom blitzenden
Automobil stehen, das etwa zweimal die Größe irgendeines der
anderen Vehikel zu haben scheint.
***
Hope
presste ihre Lippen zusammen und David spürte, dass sie nicht mehr
reden wollte. Gedankenverloren blickte er auf die leere Cola-Dose in
seiner Hand, dann warf er sie in Recyclingeimer.
„Komm
mit mir nach draußen,“ forderte er Hope danach auf. „Ich brauche
etwas zu essen, ich bin immer noch hungrig. Und außerdem brauche ich
ein bisschen Tageslicht und frische Luft und du vielleicht auch.“
David
griff sich seine braune, pelzgefütterte Wildlederjacke vom
Kleiderständer in der Ecke und zog sie an. Obwohl es bereits Ende
April war, war es immer noch ziemlich kalt. Dann öffnete er die Tür,
um nach draußen zu gehen, nur um gleich darauf über ein weiches
Hindernis zu stolpern und danach ein unterdrücktes Stöhnen zu
hören.
Überrascht
schaute er nach unten, und fand dort einen Mann mit dem Kopf unter
der Treppe liegen. Seine Füße waren es, die den Eingang
blockierten. Der Mann zog langsam seine Beine ein und stand auf,
immer noch leise stöhnend.
"Was
zum Geier haben sie da gemacht?" fragte David nicht gerade sehr
freundlich.
"Geschlafen,"
bestätigte der Mann das nur allzu Offensichtliche, während er Kopf
und Schultern bewegte, um seine steifen Glieder wieder zu
durchbluten. Er hatte, wie es aussah, den Hohlraum unter der Treppe
als Unterschlupf und Schlafgelegenheit genutzt. Eine schwarze
Plastiktüte hatte ihm als Matratze gedient und eine weiße
Papiertüte, die anscheinend ein Buch enthielt, war sein Kopfkissen
gewesen; er hatte immerhin eine echte Decke benutzt, obwohl auch
diese ziemlich dünn zu sein schien und außerdem ein Stück zu kurz
für seine lange Gestalt.
"Das
kann ich sehen," erwiderte David. "Aber warum hier?"
Der Mann
zuckte mit den Achseln: "Das ist genau so ein guter Ort wie
jeder andere. Die Obdachlosenunterkünfte von St. Mary's waren letzte
Nacht voll, und der Schaffner war gerade dabei mich aus der Bahn zu
werfen."
Jetzt
erkannte David den Mann. Er hatte ihm gestern zwar keines zweiten
Blicks gewürdigt, aber trotzdem, er musste es sein: Schwarz,
unrasiert, eine fleckige Jacke, eine zerknitterte und schmutzige
Hose, die über einem Knie einen Riss hatte....der Penner von letzter
Nacht.
Diese
Erkenntnis beunruhigte David dann doch ein wenig. Der Mann musste ihm
von der Bahn aus nachgegangen sein, und das, obwohl David nicht
einmal bemerkt hatte, dass jemand anders an derselben Haltestelle
ausgestiegen war.
David
verzog sein Gesicht zu einem humorlosen Grinsen... also war Hope
nicht die einzige, die ihm letzte Nacht nach Hause gefolgt war. Aber
warum ihm? Als David sich dann an sein eigenes Spiegelbild erinnerte,
das er vor kurzem noch so kritisch betrachtet hatte, und an die
Tatsache, dass er wirklich keine Ahnung hatte, wovon er die nächste
Miete zahlen sollte, da fand er es mit einem Anflug von Sarkasmus gar
nicht so unwahrscheinlich, dass dieser Obdachlose in ihm einen
baldigen Leidensgenossen erkannt hatte.
„Vielleicht
muss er mal duschen, damit er sich besser fühlt, so wie du,“
unterbrach Hope David's Gedanken. Sie brachte ihn etwas aus dem
Gleichgewicht, und deshalb antwortete er ihr laut: „Du meinst ich
soll ihn ins Haus einladen?“
„Ja,“
antwortete Hope ohne Umschweife und fügte dann hinzu: „Und
rasieren sollte er sich auch.“
„Leute
tun so was hier nicht,“ murmelte David jetzt. „Wir laden völlig
Fremde nicht einfach in unsere Wohnungen ein.“
Der Mann
hatte David beobachtet. Und ohne jegliche Überraschung in der Stimme
bemerkte er: „Jemand redet mit Ihnen.“
„Nur
mein Gewissen,“ antwortete David leicht verärgert, während es ihm
gleichzeitig auch ziemlich peinlich war.
„Yeah,
meins macht das auch die ganze Zeit,“ konterte der Mann, „reden,
meine ich. Was für eine Farbe hat es?“
„Farbe?
Mein Gewissen?“ David sah Hope an und fühlte einen Anflug von
Humor in sich aufsteigen, und so antwortete er: „Lila, denk ich
mal.“
„Lila
ist eine hübsche Farbe,“ komplimentierte der Mann. „Meins ist
grün. Er ist ungefähr so groß,“ erklärte er, wobei er seine
Hände etwa 20 Zentimeter auseinander hielt. „Er hat mir nie seinen
Namen genannt, aber ich nenne ihn Mr Green, weil ...“
„er
grün ist,“ beendete David den Satz.
„Ja,
das stimmt,“ bestätigte der Mann. „Hat Ihres auch einen Namen?“
„Oh
ja, ihr Name ist Hope, Hope Morgan. Sie ist ein kleines Mädchen, nur
ein ganz klein bisschen größer als Ihr Mr Green, aber nicht viel.“
Das Gespräch hatte jetzt angefangen, David Spaß zu machen, während
er Hope's ziemlich beleidigtes Gesicht betrachtete.
„Freut
mich Sie kennenzulernen, Miss Morgen.“ Der obdachlose Mann
verbeugte sich leicht in Hope's Richtung, die er überraschenderweise
ziemlich genau einschätzte, als ob er sie wirklich neben David's
linken Ellenbogen stehen sehen konnte. „Ich heiße Jeremy Johnson
und komme aus Castleberry, im Staat Alabama, wo sie die besten
Erdbeeren des ganzen Landes züchten.“
Hope's
Gesicht hellte sich auf, und sie lächelte. Sie verbeugte sich auch
ein bisschen und erwiderte die Begrüßung: „Guten Morgen Mr
Johnson... und Mr Green,“ und dann stellte sie sich ebenfalls vor:
"Ich heiße Hope Morgen und komme aus der
Nachtigallen-Nachbarschaft von dem Dorf Spesaeterna, im 46. Distrikt
der Nation New-York-New-Jersey. Und ich mag Erdbeeren sehr gerne.“
David
wandte sich zu Mr Johnson und übersetzte: "Meine Hope sagt sie
kommt von hier in der Gegend, und dass sie gerne Erdbeeren isst."
„Das
hätte ich auch gedacht,“ bestätigte Mr Johnson. „Alle Kinder
mögen Erdbeeren!“
Dann
fügte er sehnsuchtsvoll hinzu. „Und deshalb ist Castleberry ein
guter Ort, um dort aufzuwachsen.“
David
hatte sich endlich entschieden. Jeremy Johnson war zwar ziemlich
durchgeknallt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach harmlos.
Hope einen
Blick zuwerfend sprach er eine Einladung aus: „Meine Hope fragt, ob
Sie vielleicht hereinkommen möchten, um mein Badezimmer zu benutzen,
zum Duschen und vielleicht zum Rasieren?“
Mr Johnson
drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite, als ob er jemandem zuhörte,
dann lächelte er breit: „Mr Green sagt, dass ich da nich dagegen
sein, sondern die Einladung annehmen sollte, Miss Morgan.“ Und dann
hob er seine paar Sachen vom Boden auf und ging durch die Tür.
Als David
zum Schrank ging, um ein Handtuch zu holen, redete Hope wieder: „Ich
denke Mr Johnson braucht auch neue Kleider. Seine Hose ist ganz
zerrissen, und seine Jacke ist nicht so warm wie deine. Ich glaube er
hat keine andere, und du hast doch so viele hier drin.“
Wortlos
nahm David eine Jeans, ein kariertes Hemd, Unterhosen, Socken und ein
T-Shirt aus dem Schrank. Und weil er Hope's Augen auf sich gerichtet
fühlte, wählte er nur ziemlich neue Sachen, keine alten und
abgetragenen. Er nahm sogar seine zweitbeste und ziemlich teure
Winterjacke vom Bügel.
Er drehte
sich um und übergab Mr Johnson das Kleiderbündel zusammen mit dem
Handtuch. „Meine Hope denkt auch, dass Sie vielleicht ein paar
andere Kleider brauchen könnten, zum umziehen. Und sie glaubt, dass
ich selber viel zu viele davon habe.“
Nach einer
kurzen Pause mit seitlich gebeugtem Kopf, antwortete Jeremy Johnson:
„Mr Green sagt, ich sollte auch nich gegen neue Kleider sein, und
ich sollte mich bei Miss Morgan bedanken und bei Ihnen, Mr?“
„Nennen
Sie mich David. Ich...äh, wir wollten gerade ausgehen, um Essen zu
kaufen, würden Sie... und Mr Green uns vielleicht beim Frühstück
Gesellschaft leisten?“
„Wir
hätten nichts dagegen,“ antwortete der so Eingeladene, „obwohl
Mr Green meist nich sehr hungrig ist.“
David
lächelte: „Na ja, Miss Morgan ist es auch nicht, aber das sollte
uns beide wohl nicht daran hindern etwas zu essen, oder? Ich bin bald
wieder zurück.“
Mit diesen
Worten verließ David die Wohnung, während sich Jeremy Johnson ins
Badezimmer aufmachte.
David war
kaum 20 Meter weiter, als er seine Entscheidung, den obdachlosen Mann
in seiner Wohnung alleinzulassen, bereits bereute.
„Ich
wette, wenn ich zurückkomme, dann ist der Fernseher und mein
Computer weg, zusammen mit Mr Johnson,“ murmelte er in Hope's
Richtung
„und
Mr Green“ fügte er sarkastisch hinzu.
„Ist
der Fernseher nicht das rechteckige Ding, das an deine Wand
angeschraubt ist?“ fragte Hope.
„In
Ordnung, eins zu null für dich,“ gab David zu, „Aber der
Computer ist ein Laptop, und den kann man leicht in eine Tüte
packen. Der liegt da einfach nur auf meinem Wohnzimmertisch und
wartet nur darauf mitgenommen zu werden.“
„Ich
glaube nicht, dass Mr Johnson jemand ist, der das Eigentum anderer
Leute wegnimmt,“ war Hope's Meinung.
„Und
du kennst ihn seit wie vielen Minuten,“ fragte David zynisch.
„Seit
genauso vielen wie du, und trotzdem verdächtigst du ihn bereits ein
ziemlich schlimmer Regelbrecher zu sein. Das ist die typische
Dunkel-Zeit-Paranoia.“
„Die
typische was?“ fragte David
"Die
geistesgestörte Angst der Dunklen Zeiten, Sensei hat uns die ganz
genau erklärt. Während der Dunklen Zeiten haben alle Leute das
Schlimmste von allen andern angenommen, weil sie selbst so oft die
schlimmsten Dinge taten, wann immer sie damit ungestraft davonkommen
konnten. Und deshalb mussten sie ihr Eigentum immer gut einschließen
und ihre Häuser und Wohnungen verriegeln, weil sie ständig Angst
hatten, dass jemand ihnen etwas wegnehmen würde."
David
sagte nichts dazu, aber er fühlte Ärger in sich hochsteigen.
Hope fuhr
fort: "Da war zum Beispiel dieser Schriftsteller aus den Dunklen
Zeiten, von dem Sensei uns erzählt hat. Der hat sich viele
Geschichten über einen Mann ausgedacht, der Menschen tötete und für
das Töten von anderen Leuten viele Dunkel-Zeiten-Coins bekam. Und
diese hässlichen Geschichten von dem bezahlten Töten wurden von
vielen tausend Lesern in den Dunklen Zeiten auch noch gerne gekauft.“
Unüberhörbare
Verachtung klang nun aus Hope's Stimme, ob sie nun dem unbenannten
Schriftsteller galt oder seinen Lesern.
„Aber
im wirklichen Leben hat dieser Schriftsteller in einem Kaffeehaus
gesessen und sich vorgestellt, was für schlimme Dinge andere Leute
mit ihm machen könnten, zum Beispiel seinen Computer stehlen oder
gar ihn selbst entführen, wenn er in einem fremden Land wäre. Er
hat dann an alle Leute geschrieben, die seine Geschichten gelesen
haben, und hat ihnen erklärt, was sie tun sollten, damit niemand sie
entführt oder ihnen ihre Computer in Kaffeehäusern stiehlt. Seine
Leser sollten in jedem Menschen um sich herum einen potentiellen
Feind sehen und dann auch immer wie so ein Feind denken. Und sie
sollten Präventivmaßnahmen ergreifen, so wurde das in den Dunklen
Zeiten genannt, so dass niemand ihnen etwas tun könnte. Und dann
würden die Diebe und Entführer lieber andere Leute bestehlen oder
entführen.“
Hope hatte
sich in ihre Entrüstung hineingesteigert.
„Und
weißt du, was er seinen Lesern noch erklärt hat? Er sagte, wenn du
und dein Freund vor einem Bär davonlaufen, dann musst du nicht
schneller laufen als der Bär, nur schneller als dein Freund.“
Hope's
Gesicht hatte jetzt einen Ausdruck völliger Abscheu. David hatte die
Vermutung, dass in Hope's Welt niemand seinen Freund opfern oder auch
nur irgendwelche Witze über so was reißen würde.
Die
mussten ja eine ziemlich humorlose Bande sein, die dort in der
Zukunft, dachte David. Außerdem hatte er diese "Dunkle Zeiten"
Beleidigungen ziemlich satt, genau wie Hope's ständiges
Überlegenheitsgetue, dass ihre Zeit so viel perfekter sei als seine.
Er fühlte sich wie jemand dessen Land ständig verbal von einem
Ausländer angegriffen und niedergemacht wurde.
Und obwohl
David bei weitem kein fahnenschwenkender Patriot war, und den Fehlern
seines eigenen Landes oft kritisch gegenüberstand, so würden solche
Beleidigungen ihn doch auf dem schnellsten Wege ins Lager der
Fahnenschwenker bringen. Aber unter diesen Umständen, wo er dauernd
hören musste, wie sein gesamtes Zeitalter niedergemacht wurde, wie
sollte er sich wohl nennen? Nationalist passte da nicht ganz,
Zeit-onalist vielleicht?
Hope war
stumm geblieben, während David in seine ärgerlichen Gedanken
versunken war, aber als er sie jetzt ansah, hatte sie einen ganz
anderen Ausdruck im Gesicht.
„Ich
war arrogant,“ sagte sie schuldbewusst, „und ich war eingebildet.
Das ist schlimm, wirklich schlimm. Es tut mir Leid.“
Ihre Worte
überraschten David wirklich. Hope's Schuldgefühle schienen echt zu
sein, und Davids eigene Einstellung ihr gegenüber erwärmte sich ein
bisschen.
„Es
war wirklich nicht so schlimm,“ murmelte er, und als er dann an die
Szene aus ihren Erinnerungen dachte, fügte er hinzu: „Du hattest
sicherlich deine Gründe.“
Den Rest
des Weges gingen sie schweigend nebeneinander her. Als sie am
Supermarkt ankamen, hatte David seinen Appetit verloren und konnte
sich nichts Essbares vorstellen, das er sich jetzt wirklich kaufen
wollte.
„Was
meinst du, was Mr Johnson wohl gern zum Frühstück hätte?“ fragte
er Hope deshalb etwas lustlos und mit leiser Stimme, denn er wollte
vor den anderen Kunden nicht unbedingt auffallen. „Schließlich
bist du es gewesen, der ihn eingeladen hat.“
„Ich
hab ihn nur zum Duschen eingeladen, das warst du, der ihm ein
Frühstück versprochen hat.“ Hope bestand auf der vollen Wahrheit,
bevor sie vorschlug:
„Ich
denke, er mag vielleicht Erdbeeren und Sahne dazu oder vielleicht
sogar einen Erdbeerkäsekuchen, das ist mein Lieblingsgericht!“ Sie
zeigte auf einen der Flicken auf ihrer Kleidung. Der sah wirklich
etwas wie ein Erdbeerkuchen aus, und der Flicken daneben sah aus
wie...
„Fischstäbchen!
Das sind Fischstäbchen!“ entfuhr es David laut, als er auf den
Flicken zeigte.
„Ja,
das ist mein zweites Lieblingsgericht,“ stimmte Hope ihm zu, „und
mein drittes ist Falafel."
Das hörte
sich wie die Mischspeisekarte eines typischen New-Yorkers an,
Gerichte aus allen Ecken der Welt.
„Fischstäbchen
waren auch mein Lieblingsgericht als ich in deinem Alter war,“
sagte David sanft.
Fischstäbchen
hatten ihn immer an Island erinnert und an seine Amma und ihren
'Fisch in Semmelbröseln' und an die Zeit, als seine Mom und sein
Pabbi noch zusammen waren und alles noch gut war.
„In
deiner Zeit esst ihr immer noch solche Sachen?“ fragte David leicht
erstaunt.
„Aber
sicher tun wir das. Die Kunst des Kochens hat eine lange Tradition.
Einige Gerichte sind hunderte von Jahren alt, die gab es schon vor
den 'Dunklen..' ich meine vor deiner Zeit."
„Sind
die anderen Flicken auch Lieblingsgerichte von dir?“ fragte David,
während er den Einkaufswagen in die Obst- und Gemüseabteilung
schob, um dort eine Packung Erdbeeren mitzunehmen.
„Natürlich
nicht,“ antwortete Hope, „dies hier sind meine Lieblingstiere,
ein Kamel, eine Kuh und eine Nachtigall, und das dort sind meine
Lieblingsblumen.“ Sie zeigte auf zwei andere Gruppen von Flicken.
Und ja, die Tiere und Blumen waren leicht zu erkennen.
„Und
dies hier sind meine drei besten Freundinnen,“ fügte Hope hinzu,
wobei sie auf Flicken mit chinesischen Schriftzeichen deutete.
„Und
deine Lieblingszahl ist drei,“ vermutete David, als er ein
Sahne-Spray, eine Packung Speck und einen Karton Eier aus dem
Kühlregal nahm. Hope grinste zustimmend.
„Sind
deine Freundinnen alle chinesisch,“ fragte David dann.
„Nein,
warum?“ fragte Hope zurück. „Oh ich verstehe.... du meinst wegen
der Schriftzeichen. Das sind ihre Namen in Interlingua geschrieben:
Jenny, Marcella und Ameenah.“
„Was
für eine Sprache ist Interlingua?“ fragte David jetzt
interessiert.
„Es
ist die globale Kommunikationssprache, es ist die Sprache, die alle
in der Welt in der Schule lernen, so dass sie mit Leuten aus anderen
Ländern auf dem Friedensnetz reden können, oder wenn sie in andere
Länder als Touristen kommen, oder wenn sie zusammen mit Leuten aus
anderen Ländern an Projekten arbeiten.“
„Und
wird dieses Interlingua in chinesischen Schriftzeichen geschrieben,“
war David's nächste Frage.
„Oh
nein, das wäre zu kompliziert. Nur Namen werden chinesisch
geschrieben und alles andere in lateinischen Buchstaben. Und die
Worte kommen aus allen Sprachen, aber die meisten aus dem Spanischen,
dem Englischen, dem Chinesischen, dem Arabischen, dem Japanischen,
dem Französischen und aus Swahili und Hindi.“ Hope zählte an
ihren Fingern ab um sicherzugehen, dass sie ihr auswendiggelerntes
Wissen auch vollständig wiedergab.
„Aber
da macht etwas nun aber gar keinen Sinn,“ unterbrach sie David
während er ein Brot aus dem Regal nahm. „Wie kann man zum Beispiel
westliche Namen in chinesischen Schriftzeichen schreiben? Die sind
nicht phonetisch wie unsere Buchstaben.“
„Stimmt,“
Hope lächelte, „aber jeder Name hat eine Bedeutung oder hatte sie
zumindest einmal. Und für jede Bedeutung haben wir eines oder ein
paar Zeichen. Wie mein Name zum Beispiel, der hat immer noch dieselbe
Bedeutung.“
Sie
deutete auf die Zeichen auf ihrer Kappe: „Dies hier bedeutet
Hoffnung auf chinesisch. Und ich kenne auch die Bedeutung von deinem
Namen.“
Hope
lächelte jetzt mit fast liebevoller Wärme. "Es ist nämlich
so, dass Lillebro's richtiger Name David ist, so wie deiner. Und das
bedeutet 'der, der geliebt wird' und es gibt ein Zeichen dafür.“
Ein weißes
chinesisches Schriftzeichen erschien, um direkt vor Hope's Gesicht in
der Luft zu schweben.
David
stand jetzt in der Kassenschlange. 'Der, der geliebt wird,' nicht
gerade ein sehr passender Name für mich, dachte David.
Als er
bezahlt hatte, deutete David dann auf ein Bild, das nicht so war wie
die anderen Flicken, sondern in den Stoff ihres Oberteils eingestickt
zu sein schien, wobei es einen guten Teil der linken Seite bedeckte.
Er hatte dasselbe Symbol auf der Kleidung der anderen
Familienmitglieder gesehen und, wenn ihn seine Erinnerung nicht
täuschte, dann war es auch auf der Kleidung von einigen der Nachbarn
gewesen. Es sah aus wie ein X, das mit einem P verbunden war, über
einer simplen Zeichnung eines Fisches mit einem kleinen Kreuz auf dem
Bauch.
“Was
ist das für ein Symbol,” fragte David
“Das
ist natürlich meine Religion,” war die Antwort. “Ich bin
Christin, die Buchstaben sind das griechische Chi und Rho, der Anfang
von Christos, und der Fisch bedeutet, dass die ersten Christen
Fischer waren. Meine Freundin Ameenah ist Muslimin. Sie hat so ein
Zeichen auf ihrer Kleidung.” Eine dreieckig geformte Kombination
von geschwungenen weißen Linien und Punkten erschien vor David's
Augen. David erkannte es als die arabische Kalligraphie, die er
einmal gesehen hatte, als er ein Interview in einer Moschee geführt
hatte.
Hope
erklärte: “Das bedeutet 'Im Namen Gottes des Gnädigen und
Barmherzigen'.
Und unsere
Nachbarn Chuan-Luan und Enlai sind Buddhisten, und sie haben ein
Dharma-Chakra.“
Die
Kalligraphie wurde von einem achtspeichigen Rad ersetzt.
Bevor Hope
es ihm erklären konnte, kam David ihr zuvor: „Der ewige Kreislauf
des Lebens.“
„Du
kennst dieses Symbol?“ fragte Hope.
David
nickte: „Jemand hat es mir erklärt.“
Hope fuhr
fort mit ihrer Erklärung: “Jede Religion hat ihr eigenes Symbol
für ihre Gläubigen. Ich lebe in einer gemischten Hausgememeinschaft
– Christen, Muslime und Buddhisten leben dort.“
„Hat
jeder solche religiösen Symbole auf seiner Jacke?“ fragte David
mit wachsendem Interesse.
„In
unserem Dorf hat das jeder, und in manchen anderen Dörfern auch.
Aber in den meisten Dörfern auf der Welt tragen die Leute so etwas
nicht,“ antwortete Hope.
Nun kam
David's nächste Frage: „Aber was ist mit den Leuten, die keine
Religion haben. Haben die auch Symbole auf der Kleidung?“
„Leute
ohne Religion? Du meinst vielleicht Leute aus kleineren Religionen,“
vermutete Hope. „ Die haben auch Symbole, und in einigen Dörfern
da tragen sie die auf ihrer Kleidung, die oft ganz anders aussieht
als unsere. Aber meistens leben solche Leute in ihren eigenen
Dörfern, weil sie Angst haben, dass zwischen Leuten von den drei
großen Religionen ihre eigenen Sitten und ihr eigener Glaube
verloren gehen könnten.“
„Nein,
das habe ich nicht gemeint,“ widersprach David. „Ich spreche über
die Leute, die denken, dass es niemals eine übernatürliche Kraft
gegeben hat, die für die menschliche Existenz verantwortlich ist
oder für die Existenz von irgendetwas anderem auf der Welt. Haben
die auch Symbole auf der Kleidung?“
Hope
schien ein Licht aufzugehen: „Ach so, du meinst die Leute, die eine
Religion ohne einen Gott haben, so etwas wird Philosophien genannt,
sagt mein Großonkel. Und viele Leute in deiner Zeit haben an solche
Religionen ohne Gott geglaubt. Also in unserem Dorf gibt es keine
solchen Leute. Es gibt sie vielleicht in anderen Dörfern, aber ich
habe noch nie so jemanden getroffen. Die würden wahrscheinlich in
Dörfern leben, wo sich die Leute ganz anders anziehen als bei uns,
wo jeder unterschiedliche Kleidung trägt und niemand irgendwelche
Symbole hat.“
„Eine
Philosophie ist keine Religion,“ war alles, was David zu dieser
Erklärung sagen konnte, „eine Philosophie ist ein Gedankengebäude
der Vernunft.“
Hope
schüttelte den Kopf in völliger Ablehnung: „Aber es ist doch
total unvernünftig, keine Religion zu haben.“
„Unvernünftig?
Was meinst du damit?“ David konnte sich kaum genug beherrschen, um
leise zu sprechen, als sie den Laden verließen. „Es sind die
Religionen, die unvernünftig sind. Religion ist so ziemlich das
Gegenteil von Vernunft!“
Hope sah
ihn nur an als wäre er verrückt. Sie antwortete nicht, aber er
konnte ihre Gedanken spüren: „Der Wahnsinn der Dunklen Zeiten...“
Und David
dachte, dass es wirklich eine sonderbare und gänzlich unerwartete
Zukunft war, aus der Hope gekommen war, eine in der er sicherlich
nicht leben wollte. Er vermutete, dass es in dieser Welt für
jemanden wie ihn vielleicht nicht einmal einen Platz zum Leben gab.
Stattdessen war diese Zukunft zur Vergangenheit zurückgekehrt, vom
Zeitalter der Vernunft hatte sie sich in ein Zeitalter des
Aberglaubens zurückentwickelt.
Wieder
einmal fühlte er den tiefen Graben, der zwischen ihm und dem Mädchen
lag, das behauptete seine fünfmal entfernte Ur-enkelin zu sein. Es
war derselbe Graben, den er jedes Mal spürte, wenn er religiöse
Leute für seine Zeitung interviewte. Mit solchen Leuten konnte man
einfach nicht vernünftig reden.
In diesem
Augenblick war David aber nicht in der Stimmung, eine Diskussion über
die Irrationalität von Religion zu beginnen, und das auch noch auf
leeren Magen. Also ging er stumm neben Hope her und versuchte dabei
seine Gedanken vor ihr abzuschirmen, soweit das überhaupt möglich
war.
Als sie um
die Ecke in seine Straße eingebogen waren, fragte sich David, ob es
ihm nicht sogar lieber wäre, wenn Jeremy Johnson wirklich aus seiner
Wohnung verschwunden wäre und zwar zusammen mit seinem Laptop,
einfach nur um Hope zu beweisen, dass sie mit ihrer Paranoia
Behauptung Unrecht hatte.
David
hatte sich immer als einen erdgebundenen Menschen gesehen, einen
Realisten, der sich auf seine Vernunft verließ. In jeder früheren
Lebenskrise hatte er an diesem Selbstbild festgehalten. Und sogar
sein Selbstmordversuch war das Resultat eines vernünftigen
Gedankengangs gewesen. Er hatte all das verloren, was seinem Leben
Sinn gegeben hatte, er hatte keine Aussichten, das Verlorene
wiederzubekommen. Sein Leben hatte keinen Wert für ihn selbst oder
irgendjemanden sonst. Also warum sollte er noch leben?
Anzunehmen,
dass ein Obdachloser ohne Geld einen Computer oder einen teuren
Fernseher stehlen würde und alles andere, was in David's Wohnung
nicht niet- und nagelfest war, um an Geld zu kommen, das war keine
Paranoia, sondern einfach nur eine vernünftige Einschätzung der
Realität.
Aber als
David die Wohnungstür öffnete, musste er erkennen, dass Mr Johnson
ihm den Gefallen nicht getan hatte. Er war immer noch da, frisch
geduscht, rasiert und in den Kleidern, die David ihm gegeben hatte.
Der Fernseher war immer noch an die Wand geschraubt, und der Laptop
lag unberührt auf seinem Wohnzimmertisch.
Mr Johnson
saß im Sessel und las ein Buch. Und es war sein eigenes Buch, das er
aus einer weißen Tüte genommen hatte. Aber bevor er zu lesen
begonnen hatte, hatte Mr Johnson noch den Tisch in der Küche
gedeckt. Durch die offene Tür konnte David dort einen Wasserkrug,
vier Gläser, viermal Besteck und vier Teller - zwei große und zwei
kleine - auf dem Tisch stehen sehen.
Jeremy
Johnson war David's Blick gefolgt und sagte nun entschuldigend: „Ich
dachte, nur falls Mr Green und Miss Morgan vielleicht doch hungrig
sind...“
David
nickte, und dann öffnete er seine Einkaufstüte: „Ich habe
Erdbeeren gekauft. Sie können sie waschen, während ich uns ein paar
Eier und Speck brate.“
Als sie
sich dann zum Essen hinsetzten, bemerkte David, dass die Kleider, die
er Mr Johnson gegeben hatte, diesem ziemlich gut passten, so dass er
und Johnson etwa gleich groß sein mussten. Und als er dessen
glattrasiertes Gesicht betrachtete, konnte David einschätzen, dass
sie wahrscheinlich auch etwa gleich alt waren.
Johnson aß
mit gutem Appetit, und überraschenderweise, David's Vorurteile Lügen
strafend, hatte er auch sehr gute Tischmanieren.
Dann
bemerkte David das Buch, das sein Gast auf den Tisch gelegt hatte -
Nicholas Nickleby - noch eine Überraschung.
„Sie
lesen Dickens?!“ fragte David
„Also
früher hab ich nich so viel gelesen, da war ich mehr so für Filme
und Fernsehen. Aber heutzutage kann ich nich so viel fernsehen, und
fürs Kino hab ich kein Geld, und deshalb leiht Schwester Veronica
von der St. Mary's Obdachlosenunterkunft mir manchmal ein Buch aus.
Sie hat natürlich die Bibel und all diese Kirchenbücher, und aus
denen liest sie dann was vor für die Leute dort. Aber außer den
Kirchenbüchern sind die meisten anderen von ihren Büchern von
diesem Typen Dickens.
Und die
gefallen mir eigentlich ganz gut. Natürlich muss man sich ein
bisschen an die altmodische Sprache gewöhnen. Der Mann hat
schließlich vor mehr als hundert Jahren gelebt, und dann war er auch
noch ein Engländer.
Aber nach
'ner Weile merkst du das kaum noch. Die Leute, über die er schreibt
in seinen Büchern, die könnte man ebenso gut hier in den Straßen
von New York treffen oder in der U-Bahn, alle von denen, die netten
und die miesen auch.
„Sie
denken also, dass sich nicht viel verändert hat seit den Zeiten von
Charles Dickens?“ fragte David mit wachsendem Interesse.
Jeremy
Johnson zuckte mit den Achseln: „Nix wichtiges, vielleicht die
technischen Sachen und so, aber nix was so Leute angeht.“
„Sie
meinen also, dass was Menschen angeht, das New York des
21.Jahrhunderts nicht anders ist als das London des 19.
Jahrhunderts?“ David fand Johnson's Ansichten ziemlich
faszinierend. „Würden Sie dann dasselbe auch von Castleberry
sagen, Castleberry in Alabama?“
Jeremy
Johnson schüttelte entschieden den Kopf: „Nein, das würd ich
nich. Castleberry ist anders, ganz anders.“
„Andersartige
Menschen ?“ fragte David
Johnson
nickte.
„Aber
warum sollte es da anders sein? Vielleicht, weil es kleiner ist als
New York?“ fragte David während er Johnson, der seine Eier und
Speck zusammen mit mehreren Brotscheiben bereits aufgegessen hatte,
dabei zusah, wie er seinen Teller nun mit einem Haufen Erdbeeren
füllte und diese mit Sahne besprühte.
„Oder
ist es wegen der Erdbeeren, Sie haben gesagt, dass es dort die besten
Erdbeeren gibt. Dann denke ich mal, dass die besser sind als die, die
man hier kaufen kann. Wenn sie die Castleberry Erdbeeren essen,
werden die Leute dann anders?“
„Vielleicht,“
meinte Jeremy Johnson, „aber ich denke mal, es ist weil Castleberry
mein Zuhause ist.“
Dann
wechselte er das Thema: „Sie haben nich zufälligerweise ein paar
Tropfen Whiskey im Haus, um das Essen runterzuspülen?“
David
schüttelte den Kopf: „Ich hab es aufgegeben. Wollen Sie vielleicht
noch ein bisschen Wasser?“
Johnson
lehnte das Wasser ab und seufzte: „Mr Green sagt mir auch immer,
dass ich es aufgeben soll. Aber grad kann ich das nich. Ich brauch
die Drinks für die Schmerzen.“
„Sind
Sie krank?“ David fragte sich, ob Johnson vielleicht AIDS-infiziert
war.
„Ich
weiß nich, ob ich krank bin oder nich, aber ich hab so viel
Schmerzen, hier und hier,“ Mr Johnson deutete auf seinen Kopf und
seine Brust, „und manchmal im ganzen Körper.“
Hope, die
bis dahin nur als Beobachterin still zugehört hatte, unterbrach
jetzt das Gespräch: „Frag Mr Johnson, warum er nicht nach Hause
geht in sein Dorf und zu seiner Familie. Vielleicht könnten die ihn
von seinen Schmerzen heilen, und er würde wieder gesund werden.“
David
übermittelte die Frage an Jeremy Johnson: „Meine Hope denkt, Sie
sollten nach Hause gehen, nach Castleberry und zu Ihren Leuten.
Vielleicht könnte man dort etwas für Sie tun und ihre Schmerzen
lindern. Oder vielleicht würden Sie sich schon besser fühlen, wenn
Sie einfach zu Hause sind.“
„Eines
Tages, da werde ich nach Hause gehen. Aber grade jetzt, da kann ich
das einfach nich....“ mit einem tieftraurigen Ausdruck im Gesicht
sah Jeremy Johnson in Hope's ungefähre Richtung: „Ich kann einfach
nich in die Augen der kleinen Kinder dort schauen, dort zu Hause,
nich in ihre Augen...“
Es gibt
auch Kinder in New York, aber die sind so weit weg, du kannst sie
kaum sehen. Aber zu Hause, da sind die Kinder nah. Sie schauen dich
direkt an; sie schauen dir ins Gesicht. Das könnt ich nich
ertragen.“
„Warum
nicht,“ fragten Hope und David gleichzeitig.
„Weil
in den Augen von jedem Kind, das ich sehe, nun da sehe ich die
gleichen Augen, und in jedem Gesicht, da sehe ich das gleiche
Gesicht. Ich sehe das kleine Kind überall. Ihr müsst das verstehen
– Ich hab ihre Mutter und ihren Vater und ihren Bruder und ihre
Schwester und ihre Großmutter umgebracht.“
David
stockte der Atem, und er fiel fast vom Stuhl, aber dann hielt er sich
krampfhaft am Tisch fest. Völlig erschüttert und entsetzt von
diesem Geständnis und nicht wissend, was er tun sollte, starrte er
auf den Mann, der gerade erklärt hatte, dass er ein Massenmörder
war. Davids Ausdruck spiegelte sich in Hope's Gesicht wieder. Sie war
ganz blass geworden und zitterte.
Jeremy
Johnson bemerkte keinerlei Veränderung in David. Er war in seiner
eigenen Welt, getragen von schmerzhaften Erinnerungen: „Es waren
drei von uns da, dort an dem Checkpoint, und wir wussten es nich, wir
wussten es einfach nich, und dann haben wir geschossen und
geschossen...“
David
hielt sich an dem einen Wort fest, das Sinn machte: „Checkpoint...Sie
meinen, Sie waren im Krieg? Waren Sie im Irak?“ David atmete
erleichtert auf. Alles war in Ordnung. Es war nur ein Kriegserlebnis,
worüber der Mann gesprochen hatte.
Aber
Jeremy Johnson hatte die Frage nicht gehört; er war weit entfernt
von allem, was um ihn herum geschah: „Ich hab meine Hand gehoben,
und das Auto ist langsamer geworden, aber dann wurde es wieder
schneller, und es fuhr durch. Die ham uns das nie gesagt, dass in
Irak den Arm heben, heißt weiter und nich stoppen. Warum ham sie uns
das nich gesagt? Warum? Warum? Wir habens nicht gewusst. Wirklich
nich gewusst...“ Johnson redete nun gebetsmühlenartig, und David
sah ihn mitleidig an. Aber Hope's Gesichtsausdruck hatte sich nicht
verändert. Sie sah immer noch entsetzt aus, und sie zitterte
unkontrolliert.
Johnson
fuhr fort: „Das Auto beschleunigte, und da dachten wir...also ich
dachte...nun wir hatten doch so viel von diesen Selbstmordattentätern
an anderen Orten gehört, und das hat mir Angst gemacht, und die
anderen hatten auch Angst, und dann ham wir angefangen zu schießen.
Und wir ham geschossen und geschossen...bis das Auto endlich
angehalten hat. Aber dann haben wir entdeckt, dass das keine
Attentäter waren, sondern einfach nur Leute, ganz normale Leute.
Auf den
Vordersitzen saßen ein Mann und eine Frau, das waren die Eltern. Und
hinten saßen zwei Kinder und eine ältere Frau...Alle waren sie tot.
Aber dann
haben wir sie gehört. Es war ein ganz unterdrücktes Weinen, aber
wir haben gemerkt, dass da noch jemand am Leben war, auf dem
Rücksitz, noch ein Kind. Wir haben sie unter den ganzen Leichen
hervorgezogen. Sie war so klein, nicht älter als drei oder vier
Jahre, und sie war von oben bis unten mit Blut beschmiert. Aber es
war nich ihr Blut. Sie hatte keinen Kratzer abbekommen. Ihre
Großmutter hatte sie mit ihrem eigenen Körper bedeckt, sie
beschützt. Sie war so winzig, das kleine Mädchen, und sie weinte
und weinte. Sie sah mich an, mit diesen großen Tränen erfüllten
Augen sah sie mich an. Und dann hab ich sie in den Arm genommen und
hab sie hin und her geschaukelt, hin und her, hin und her, damit sie
aufhörte zu weinen.“
Johnson
hatte jetzt seine Arme angewinkelt als hielte er darin ein
unsichtbares Kind an sich gepresst. Dabei schaute er mit einem Blick
totaler Abwesenheit die Wand an. Es war klar, dass sein Bewusstsein
tausende von Meilen weit von Davids Küche entfernt war.
Er fuhr
fort: „Und dann hat sie sich an mir festgehalten. An mir hat sie
sich festgehalten, an mir, denn da war niemand anders mehr, an dem
sie sich hätte festhalten können. Denn ich habe ihren Vater und
ihre Mutter, ihren kleinen Bruder, ihre ältere Schwester und ihre
Großmutter getötet... aber sie hat sich an mir festgehalten.
Selbst als
wir im Krankenhaus angekommen sind, hat sie nich loslassen wollen.
Sie hat so festgehalten, so feste, es war fast nich möglich sie
loszureißen. Und als die Schwester sie auf den Arm genommen hat, da
hat sie wieder geschrien. Sie hat geschrien bis sie nich mehr atmen
konnte, und dann hat sie nur noch leise geweint...“
Ich seh
sie jede Nacht in meinen Träumen, und ich hör sie weinen. Ich seh
wie das Auto auf mich zukommt, und ich fang an zu schreien zu den
anderen Jungs, „Nich schießen! Nich schießen!“ aber kein Laut
kommt aus meinem Mund. Ich versuch mein Gewehr wegzuwerfen, aber es
ist wie festgeklebt an meinen Händen. Ich will nich schießen, aber
das Gewehr schießt von ganz alleine...und dann seh ich das ganze
Blut, Blut überall... und dann seh ich ihre Augen, wie sie mich
ansieht und ich fühle ihre Tränen an meinem Nacken und ihre kleinen
Arme halten so feste...
Und immer,
wenn ich aufwache, da sind da solche Schmerzen, so schlimme, nichts
als Schmerz überall.
Als ich
aus dem Irak zurück war, da sind die Schmerzen noch gewachsen. Und
als ich gedacht hab, ich kann's nich mehr aushalten, da is Mr Green
aufgetaucht, und er is bei mir geblieben und hat mit mir geredet und
hat mir gesagt, dass ich immer noch ein Mensch bin...“
Als Jeremy
Johnson aufgehört hatte zu reden, erschien es David, als ob die
anschließende Stille wie ein Teppich über der Küche lag, einer der
so schwer war, dass er einem die Luft raubte. Dann bemerkte er, dass
Hope jetzt auch weinte.
Johnson
atmete aus, und dann kam ein tiefer schwerer Atemzug. Er schien jetzt
zurück in die Gegenwart gekommen zu sein.
Er sah
David mit einem um Verständnis flehenden Blick an: „Und das bin
ich doch, oder nich?“
„Natürlich
sind Sie das,“ antwortete David.
Nach einer
Pause fragte er dann mitfühlend: „Und Sie trinken, damit Sie
vergessen können?“
„Nein,
nein, nich vergessen!“ Johnson schüttelte entschieden seinen Kopf.
„Mr Green sagt, ich muss mich erinnern, denn ich bin immer noch ein
Mensch. Er sagt das immer wieder.“
„Es
war nicht Ihre Schuld,“ versuchte David ihn zu trösten. Aber
dieser Satz hörte sich schwach an, wie eine leere Phrase, etwas das
man immer sagt, wenn man jemandem begegnete, der von Schuldgefühlen
zerfressen war. Aber es war etwas, das den Angesprochenen nie
wirklich überzeugen konnte.
Aber
Johnson sah David gar nicht an, hatte ihn vielleicht nicht einmal
gehört, stattdessen sah er in Hope's Richtung und fragte sie: „Mr
Green sagt doch die Wahrheit, stimmts?“
Hope
antwortete mit sehr leiser Stimme, Tränen flossen ihr immer noch
über die Wangen. Sie streckte ihre rechte Hand über den Tisch in
der von Richtung Jeremy Johnson aus, und berührte seine beinahe:
„Natürlich sind Sie immer noch ein Mensch, das werden Sie immer
sein, ganz egal was! Das ist das erste Prinzip.“
Johnson
nickte, als hätte er sie gehört, und dann sagte er zu David's
Verblüffung:
„Wein
doch nicht kleine Hope, wein doch nicht.“
Dann
bedeckte er Hope's Hand mit seiner eigenen.
„Sie
können sie ja sehen!“ David war fast sprachlos. „Sie können sie
wirklich sehen!“
Johnson
nickte: „Ich seh sie jetzt; sie weint.“
„Aber
wie...“ David's Stimme war nur noch ein Murmeln, dann fragte er:
„Aber stört sie Sie nicht, so wie die anderen Kinder, die Sie
nicht von nahem anschauen können?“
Jeremy
schüttelte den Kopf: „Sie ist nicht wie die anderen Kinder, sie
ist die Hope von morgen.“
Noch eine
Überraschung für David – Jeremy wusste woher Hope gekommen war.
Wieder
wandte sich Jeremy Hope zu: „Wein nicht um mich, kleine Hope, ich
bin schon o.k., weil ich in mir drin das Gesicht sehen kann von dem
kleinen Mädchen, das lebt, und mich an die anderen erinnern kann,
die gestorben sind, und deshalb kann ich verstehn. Aber du verstehst
doch, dass ich nich heimgehn kann...nich jetzt...?“
Hope
nickte: „Aber, eines Tages werden Sie das tun.“
„Eines
Tages...“ Da lag so viel Sehnsucht in Jeremy Johnson's Stimme,
„eines Tages.
Aber ich
mach mir immer noch Sorgen um die anderen. Ich hab gehört, dass sie
heutzutage unbemannte Dronen schicken. Und die Soldaten kontrollieren
sie mit Joysticks wie so ein Computerspiel. Diejenigen, die schießen,
können und nie die Gesichter von denen sehn, die sie mit ihren
Raketen treffen. Wie können sie dann begreifen? Die haben keinen Mr
Green, der ihnen sagt, dass sie immer noch Menschen sind...“
Hope
trocknete sich die Tränen vom Gesicht und sah Jeremy direkt in die
Augen. Dann erklärte sie mit tiefer Überzeugung: „Eines Tages
werden sie es verstehen! Das verspreche ich Ihnen, eines Tages werden
sie das.“
Jeremy
nickte erleichtert und wandte sich dann David zu :“Ich sollte jetzt
gehen. Schwester Veronica braucht ihr Buch wieder. Und ich... ich
brauche...“ Er ging ins Wohnzimmer, steckte sein Buch in die weiße
Papiertüte und nahm dann die schwarze Plastiktüte, die jetzt
zusätzlich zu seiner dünnen Decke auch noch seine alten Kleider
enthielt.
David
folgte ihm zur Tür und öffnete sie für ihn: „Vielleicht sehe ich
dich wieder mal, Jeremy?“
Jeremy
antwortete mit einem Schulterzucken und sagte: „Good bye, David und
good bye kleine Hope.“
Sie
antworteten ihm gleichzeitig: „Good bye, Jeremy.“
Sie sahen
Jeremy Johnson nach, wie er langsam die Straße entlang schlurfte,
bis er um die nächste Ecke bog. Die Schultern tief gebeugt trug er
seine schwarze Plastiktüte auf dem Rücken. Er war wieder ganz
allein, verloren in seinem persönlichen Fegefeuer, nur getröstet
von dem unsichtbaren Mr Green.
***
Ich
fahre jetzt mit meinem neuen Wagen durch den morgendlichen Verkehr.
Ms Alba sitzt neben mir, während Darryl und die beiden älteren
Männer auf den Rücksitzen Platz genommen haben. Ohne mir von den
anderen etwas anmerken zu lassen, verfluche ich innerlich meine
eigene Dummheit. Warum musste ich auch unbedingt in dem Autohaus den
großen Macker spielen.
Klar,
ich habe unbegrenzte finanzielle Mittel. Dafür hat mein Vater schon
gesorgt, und er hat auch gar nichts dagegen, dass ich so viel davon
ausgebe, wie nur irgend möglich. Ein Automobil ist nun mal ein
Statussymbol. Aber diese Luxuskarosse ist einfach zu auffällig. Sie
erregt die Art von Aufmerksamkeit, die wir uns gerade jetzt einfach
nicht leisten können. Einige der Leute, an denen wir vorbeifahren,
drehen sich bereits nach uns um, einschließlich einem aus einer
Gruppe von Sicherheitsvollstreckern.
Das ist
nicht gut, das ist überhaupt nicht gut.
"Vorsicht!"
ruft Ms Alba, aber ich habe es schon gesehen. Instinktiv bin ich
bereits auf die Bremse gestiegen und habe sie fast durch den Boden
gedrückt. Der Wagen hat mit quietschenden Reifen angehalten, und
zwar nur wenige Zentimeter vor einer Frau, die gerade noch ihr
kleines Kind aus dem Weg gerissen hat. Schwer atmend hält sie nun
den Jungen fest an sich gedrückt, während die Einkaufstasche, die
sie zuvor getragen hat unter den Vorderrädern meines neuen
Luxuswagens gelandet ist.
Das
Ganze hat mir einen ziemlichen Schock versetzt, aber der Frau auch:
“Sind
Sie verrückt,” schreit sie, während sie mit einer Hand auf die
Motorhaube trommelt. “Haben Sie keine Augen im Kopf? Sie hätten
uns fast umgebracht!”
Das
Kind hat angefangen zu weinen. Es versucht sich aus den Armen seiner
Mutter zu befreien und klopft dabei auch mit seinen kleinen Füßen
auf die Motorhaube. Ich schätze den Jungen auf etwa fünf Jahre. Ich
steige aus dem Wagen, um die Frau zu beruhigen, die immer noch
herumbrüllt:
"Wir
sind versichert," schreit sie, "hörn Sie mich, versichert!
Da drüben sind die Sicherheitsvollstrecker Ich werd mit ihnen
reden!"
Ich
sehe mich um. In der Tat die Vollstrecker, an denen ich vor ein paar
Augenblicken vorbeigefahren bin, sind auf dem Weg zu uns. Das ist
nicht gut. Ich sehe, dass Mr Wang die Tür an seiner Seite geöffnet
hat. Ich gebe ihm ein Zeichen, dass er im Wagen bleiben und sich
still verhalten soll. Seine Art jeden gegen sich aufzubringen, den er
trifft, würde uns jetzt bestimmt bei den Sicherheitsvollstreckern
nicht helfen.
Da ich
dabei bin, würden sie uns höchstwahrscheinlich nicht festhalten,
aber sie haben Scanner und die falschen oder fehlenden Chips würden
vielleicht einen Alarm auslösen.
Und
dann ist da natürlich noch Ms Alba, die viel zu alte Frau in
Männerkleidern. Wer weiß, wie schnell Nachrichten über solche
Anomalien meinen Vater erreichen würden, und was er daraus schließen
könnte. Er ist immer schon ein misstrauischer Mann gewesen.
Es ist
mir klar, dass die Frau sich durch eine einfache Entschuldigung nicht
beruhigen würde. Ich sehe mir die Motorhaube genauer an. Da sind
jetzt ein paar Kratzer im Lack deutlich sichtbar, ein Kiesel muss
sich wohl in die Schuhsohle des Kleinen gebohrt haben.
Gewaltsam
packe ich die wütende Mutter an der rechten Hand. Und als unsere
Handflächen sich berühren ertönt ihr Armband. Unwillkürlich sieht
die Frau auf ihren Display und wird blass. Sie beginnt zu zittern.
Mit
leiser aber eiskalter Stimme erkläre ich ihr: "Es war Ihr Sohn,
der mir vors Auto gelaufen ist, und jetzt hat er es zerkratzt,"
dabei sehe ich mich nach den Vollstreckern um.
„Oh
nein, bitte,“ beginnt die Frau zu jammern, „lassen Sie ihn nicht
bestrafen. Er hat das nicht gewollt. Ich war's, ich hab's gemacht.
Wenn jemand bestraft werden muss, dann bin ich es.“
Ich
drehe mich wieder zu den Vollstreckern um, die jetzt in Rufweite
sind: „Es ist alles nur ein Missverständnis!“ winke ich ab.
„Ein
Missverständnis,“ wiederholt die Frau mit gebrochener Stimme,
während sie hastig den zerquetschten Inhalt ihrer Einkaufstasche vom
Boden aufsammelt.
Ich
nicke den Vollstreckern zu und steige wieder ins Auto. Ich starte den
Motor und fahre so schnell los, wie ich es verantworten kann ohne
aufzufallen, während die Frau mit ihrem Kind auf dem einen Arm und
ihrer kaputten Tasche auf dem anderen so schnell wie möglich über
die Straße läuft, um im Eingang des nächsten Blocks zu
verschwinden.
Ich
wende mich zu Darryl um. „Sie müssen dafür sorgen, dass sie das
Land heute noch verlässt. Die Sicherheitsvollstrecker haben uns
zusammen gesehen, sie wird in Gefahr sein.“
„Wir
werden uns darum kümmern,“ antwortet Darryl. „Und auch der
kleine Junge,“ füge ich hinzu.
Darryl
tippt bereits etwas in seinen Armbandcontroller, eine Nachricht für
seine Leute.
„Ich
glaube,“ murmele ich mehr für mich selbst als für die anderen,
„der Junge ist etwa 5...“
Es war
etwa eine Woche nach meinem 5. Geburtstag, als mein Vater eines
Morgens in meinem Schlafzimmer auftauchte. Das war äußerst
ungewöhnlich für John Galt. Das war nie zuvor passiert.
Ein
grauhaariger Mann folgte ihm. Aber die Person, die sonst jeden Morgen
da war, sie kam nicht, ich wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung
war.
„Sohn,“
begann mein Vater, „deine Mutter ist heute Nacht gestorben. Das
hier ist Mr Tanner. Er wird sich von nun an um dich kümmern.
„Ich
will Mamma,“schrie ich.
„Du
kannst sie nicht haben,“ antwortete mein Vater mit kalter Stimme, „
sie ist tot, tot und kremiert.“
Ich
verstand meinen Vater nicht, und starrte ihn nur an, und deshalb
fügte John Galt noch hinzu: „Verbrannt im Feuer! Sie wird nicht
zurückkommen, niemals!“
Tränen
flossen mir über die Wangen.
„Hör
auf damit, das wird nichts ändern!“ herrschte mich mein Vater an,
dann deutete er wieder auf den alten Mann.
„Mr
Tanner wird das für dich tun, was deine Mutter immer getan hat. Und
mehr noch, er wird tun was sie nicht konnte, weil sie eine Frau war.
Er wird dich unterrichten, dich bilden, so dass du eines Tages zu
einem Mann von großem Wissen wirst, jemand der von Wert ist.“
Als ich
nicht aufhörte zu weinen, drehte sich mein Vater zu Mr Tanner um.
„Kümmern Sie sich um ihn,“ befahl er und verließ den Raum.
Mr
Tanner nahm mich in seine Arme, trotzdem ich mich dagegen wehrte.
Er
setzte sich dann mit mir in den Schaukelstuhl, Mama's Stuhl, und
begann mit mir vor und zurück zu schaukeln.
„Ich
will Mamma,“ schrie ich aus Leibeskräften in tiefer Verzweiflung
und hämmerte mit den Fäusten mit aller Kraft gegen Mr Tanner's
Brust.
Ich
schrie so lange bis ich außer Atem war, während Mr Tanner sich und
mich, uns beide, weiter schaukelte. Nach einer Weile wandelten sich
meine Schreie in ein leises Schluchzen: „Ich will Mama, ich will
Mama.“
Es war
jetzt keine Forderung mehr, nur noch ein leises Murmeln, um ein
bisschen Frieden zu finden, im Klang meiner eigenen Stimme.
Ich
legte meinen Kopf auf Mr Tanner's Schulter und Mr Tanner flüsterte
mir ins Ohr: „Du wirst sie eines Tages wieder sehen, da bin ich mir
ganz sicher, aber nicht hier.
Doch es
wird eine Zeit und einen Ort geben, wo du sie wieder siehst.“
***
kindle for pc is the most preferable editions of Windows 7 through 10, Windows XP even windows 98.Kindle app for pc has all access to all types of books. It is a touchscreen friendly app for kindle reader for pc users.Internet connection is required to download the books from Kindle so it must be fast as it could be WI-FI or 3G connection. There are 2 steps to download kindle for Pc i.e. either connect it via USB or find the folder containing the materials and copy them into the designated folder.Kindle apps are amazing technique to read books online. One can read a book in PDF format by accessing the Kindle app for pc on a mobile device.
ReplyDeleteKindleforpc
Kindle app for pc
kindle reader for pc
download kindle for pc