Teil 6
Antonio Fernandez sieht mich mit einem erwartungsvollen Blick an.
Ich soll jetzt etwas zeigen, das ich mit Sicherheit nicht habe, die
Autorität meines Vaters.
Darryl, der texanische Organisator, hat Antonio und sein Team, das
außer ihm aus Brent, Patrick und Kelly besteht, bereits vorbereitet,
obwohl Darry selbst an dieser Operation nicht teilnimmt. Die anderen
sind alle bereit anzufangen, die Taschen mit den Nanobots, sind gut
unter ihren Laborkitteln verborgen.
Aber ich bin es, die sie in die Dronen-Fabrik einschleusen muss.
Dies ist extrem wichtig für unsere Pläne.
Mein Mund ist trocken, ich schlucke. Wir haben bereits eine Zeit
lang im Besuchsraum gewartet, als endlich ein untersetzter Mann Mitte
vierzig erscheint. Ich setze eine ungeduldige Mine auf, wobei die
Ungeduld nicht nur gespielt ist.
Ich kenne den Mann. Es ist immer noch derselbe Manager, der hier
war, als ich mit meinem Vater die Fabrik das letzte Mal besucht habe.
Werde ich in der Lage sein, ihn zu täuschen? Kann ich das bis zum
Schluss durchziehen?
Ich richte mich auf und konzentriere mich.
***
Der Park lag neben der Straße im Dunkeln. Doch David konnte immer
noch ein paar Vögel in der friedlichen Umgebung zwitschern hören.
Es gab kaum Verkehr, der den Frieden störte. Und das Licht der
Straßenlampen, die in regelmäßigen Abständen auf der
gegenüberliegenden Seite der Straße standen, war nicht hell genug,
um die Dunkelheit der Nacht zu vertreiben.
Aber David bemerkte, dass sich merkwürdigerweise die Luft ein wenig
verändert hatte. Der nass-kalte April-Abend war in eine bereits
wärmere Nacht übergegangen.
Und dann erinnerte er sich daran, dass morgen der erste Mai war. Und
zum ersten Mal in vielen Jahren hatte er einen positiven Gedanken zu
seinem Vater, als er sich plötzlich auch daran erinnerte, an einem
30. April auf dessen Schoß gesessen zu sein, wo sein Vater ihm ein
Lied beibrachte. Dieses Lied, hatte sein Vater ihm erklärt, war von
einem berühmten isländischen Schriftsteller und Poeten geschrieben
worden. Die Melodie hatte David immer noch im Kopf, und er
konzentrierte sich nun, um auch den Text aus seinem Gedächtnis
hervorzukramen.
Er begann mit, 'Oh wie leicht deine Schritte, oh wie lange habe ich
auf dich gewartet' danach ging es um das lang-erwartete Ende des
Winters mit dem morgigen Beginn des Mai. Auch wenn die Zeiten bislang
immer noch hart waren, und es nirgendwo eine Arbeit gab, und der Poet
auch nichts anderes zu bieten hatte als seine Hoffnung und sein
Leben, so kannte er doch diesen einen Stern der leuchten würde, bis
endlich die Maisonne aufging.
David sah nach oben. Keine Sterne waren im Augenblick zu sehen, denn
Wolken bedeckten den Himmel noch immer. Doch David hatte so ein
Gefühl, dass bald die südlichen Winde diese Wolken vertreiben
würden.
Und David hatte seine eigene Hoffnung bei sich, seine Hope, deren
Schritte leicht waren, sogar sehr leicht. Jedoch als er sie so
betrachtete mit ihren niedergeschlagenen Augen, spürte er ihre
Schwermut. Wieder einmal dachte sie tief nach, während sie versuchte
eine Entscheidung zu treffen.
„Onkel
David“, sagte sie dann unsicher, „vielleicht könnte ich dir
etwas zeigen, obwohl ich nicht wirklich zu diesen Erinnerungen
zurückgehen will. Und doch tu ich das eigentlich trotzdem, immer und
immer wieder, denn ich träume davon jede Nacht. Aber es ist etwas
Furchtbares, und wenn du es siehst, dann bekommst du vielleicht auch
Alpträume davon.“
„Du
fragst mich, ob ich bereit bin, diese schreckliche Erinnerung von dir
anzuschauen?“ interpretierte David, das was sie gerade gesagt
hatte.
Hope nickte, aber sie war immer noch voller Zweifel.
„Ja“,
beantwortete David ihre implizierte Frage, „ich möchte das sehen.
Ich habe oft gehört, dass es hilfreich sein kann, ein traumatisches
Ereignis in der Erinnerung noch einmal zu durchleben, damit man das
Trauma dann endgültig überwinden kann. Und dieses Mal wirst du ja
nicht alleine sein, denn ich bin bei dir.“
Hope atmete tief ein und sagte dann: „In Ordnung, aber ich zeige
dir das nicht, damit ich die Erinnerungen überwinden kann. Ich
könnte das niemals vergessen, nie, nie, niemals.
Es ist nur wegen Marco Santini, und weil du seinen Brief gelesen
hast, deshalb denke ich, dass du das sehen solltest... oder
vielleicht auch nicht... Ich bin mir nicht sicher“, fügte sie
geheimnisvoll hinzu und fragte dann: „Können wir uns da drüben
hinsetzen?“
David nickte, und sie gingen zur nächsten Bank. In jeder anderen
Nacht hätte David es niemals auch nur in Betracht gezogen, sich im
Dunkeln auf eine Parkbank zu setzen und von einer anderen Welt zu
träumen. Aber dies war nun einmal Hope's Nacht, und David machte
sich um nichts anderes mehr Sorgen als um sie.
Er war auch ziemlich gespannt, auf das, was sie ihm zeigen würde,
und fragte sich, warum es ihr so schwer fiel, sich überhaupt dafür
zu entscheiden. Nach allem, was er bis jetzt aus ihrer Welt gesehen
hatte, schien das keinen Sinn zu ergeben..., jedenfalls noch nicht.
Die Bank stand in einer von Büschen eingerahmten Nische unter einem
Ahornbaum. David setzte sich hin und schloss die Augen.
Die Szene, die sich vor ihm materialisierte, zeigte eine verzweifelt
argumentierende Ms Morgan, Hope's Mutter, wie sie mit Sensei Thomson,
Hope's Lehrer, stritt. Beide standen zusammen mit Hope in der Mitte
einer großen Halle, einer Halle die sonderbar leer wirkte, ohne
jegliche Möbelstücke oder Dekorationen.
Hope sah auch sonderbar aus, denn sie hatte nicht ihre normale
Kleidung an. Stattdessen trug sie einen Anzug aus einem bräunlichen
Baumwollmaterial und eine Kappe von derselben Farbe. David erinnerte
sich daran, dass er in den Fernseh-Nachrichten manchmal Jungen und
Männer aus Afghanistan oder den Pashtun Stammesgegenden Pakistans in
genau solchen Kleidern gesehen hatte.
„Nein,
ich sage immer noch, nein!“ Hope's Mutter hatte nun ihre Stimme
erhoben. „Hope ist anders, das müssen Sie doch verstehen. Sie kann
das nicht durchmachen.“
Der Lehrer redete in einem vernünftigen Ton und mit leiser Stimme,
als ob er versuchte sie zu beruhigen: „ Ms Morgan, ich verstehe ja
ihre Besorgnis. Dies ist nicht leicht, für kein Kind, und auch nicht
für die Eltern. Aber Sie müssen doch vernünftig sein. Sie muss da
durch. Es ist das Gesetz – eines von nur drei internationalen
Gesetzen, die wir haben. Als alleinige Ausnahme, würde man
akzeptieren, wenn sie geistig behindert wäre. Und das wollen Sie
doch nicht im Ernst behaupten.“
Hope's Mutter war sichtbar außer sich: „Nein, das behaupte ich
nicht. Aber sie ist trotzdem anders. Sie wird niemals vergessen
können.“
„Nein,
das wird sie nicht“, stimmte Sensei Thomsen zu. „Aber das ist ja
genau der Punkt. Niemand sollte dies vergessen.“
Und dann, zu Davids Überraschung, zitierte er einen Spruch, den
David viele Male in seiner eigenen Zeit gehört hatte: „Denn
diejenigen, die sich an die Vergangenheit nicht erinnern, die sind
verdammt sie zu wiederho...“
„Ja,
ja, das weiß ich doch“, unterbrach ihn Hope's Mutter ungeduldig
und wandte ein, „aber Hope, sie...“
„Mamma,
bitte“, mischte sich jetzt ihre Tochter in das Gespräch ein,
nachdem sie schon eine ganze Weile lang ihre Mutter am Ärmel gezogen
hatte. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich das tun will. Ich muss
das tun. Ich will nicht anders sein, als die anderen Kinder. Wie kann
ich normal sein mit meinen Freunden, wenn ich die einzige bin, die
davon ausgeschlossen wurde?“
Hope's Mutter atmete tief ein und bettelte dann: „Dann lassen Sie
mich doch wenigstens mit ihr gehen, damit sie dort nicht alleine ist,
bitte Mr Thomsen. Als Hope ihren Vater verloren hat, da war das so
schwer für sie. Und ich konnte ihr damals nicht helfen, bitte lassen
Sie mich ihr nun helfen!“
Sensei Thomsen schüttelte mitfühlend, aber trotzdem unerbittlich,
seinen Kopf: „Es tut mir leid, aber nein. Es ist gegen die Regeln.
Niemand darf zweimal durch dieses Szenario gehen, auch kein
Elternteil oder ein Lehrer. Es muss eine einmalige Erfahrung bleiben,
so dass Leute sich nicht an die Gewalt gewöhnen können, und sie
dann als normal ansehen. Und es muss um den zwölften Geburtstag
herum geschehen, bevor noch jugendlicher Zynismus einsetzen kann.“
„Es
wird alles gut gehen“, tröstete Hope ihre Mutter. „Ich bin nicht
mehr neun Jahre alt. Ich werde diesmal nicht zusammenbrechen.“
Hope's Mutter gab auf. Sie seufzte, senkte ihre Augen und wurde ganz
still, während sie nun Hope's Lehrer erlaubte, die Sache zu
erklären: „Hope, wie du weißt, sind wir hier in unserem
Gemeindezentrum. In ein paar Augenblicken jedoch wird dies hier zu
einem anderen Dorf werden, einem wie es vor über 200 Jahren
existiert hat. Du weißt doch auch, dass normalerweise holographische
Bildergeschichten nur als Zeichnungen oder Computer-Animationen
hergestellt werden müssen. Wurde dir erklärt, warum es diese Regel
gibt?“
Hope nickte: „Das ist deshalb, damit die Teilnehmer an einer
Bildergeschichte, sie nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Wenn
das geschieht, dann könnten sie den Unterschied zwischen einer
Geschichte und der Realität nicht mehr erkennen.“
Sensei stimmte ihr zu: „Ganz genau. Es muss diesen Unterschied
zwischen dem realen Leben und der Fiktion geben.
In diesem Opfer-Szenario jedoch, wird eine Ausnahme gemacht. Alles
innerhalb des Scenarios ist so nahe an der Realität wie nur irgend
möglich. Statt vom Computer generierte Bilder zu benutzen, sind die
Landschaft, die Häuser, die Fahrzeuge, alle real aufgenommen worden,
als dieses Szenario vor beinahe 100 Jahren generiert wurde. Die
Leute, die du dort sehen wirst, waren auch einmal lebendige Menschen,
die damals die Rolle von Leuten spielten, die hundert Jahre vor ihrer
eigenen Zeit gelebt hatten.
Und jetzt wirst auch du die Rolle einer Person übernehmen, die zu
jener Zeit gelebt hat, also einer Zeit vor über 200 Jahren. Du hast
bereits die Kleidung angezogen, die die Menschen in diesem Dorf
einmal trugen. Während du in einer normalen interaktiven
Bildergeschichte Handschuhe tragen würdest, so dass du die
holographischen Bilder anfassen kannst, so sind in dieser Geschichte,
die Kleider, die du trägst, ein voll-Körper-Kostüm, mit dem du
unter anderem auch die simulierte Umgebungstemperatur spüren
kannst.
Damit und mit den anderen Simulationstechniken werden alle deine
Sinne mit eingebunden, Augen, Gehör, Geschmacks- Geruchs- und
Tastsinn. Deshalb wirst du in wenigen Minuten kein körperliches
Gefühl mehr dafür haben, dass du dich in einer Simulation
befindest. Vielleicht wirst du sogar mental völlig vergessen, dass
dies nicht deine Realität ist.“
Hope nickte: „Ich verstehe.“
„Jetzt
gib mir deine Hände“, forderte Sensei Hope nun auf.
Während er selbst Handschuhe trug, begann er daraufhin eine dunkle
Flüssigkeit aus einer merkwürdigen Flasche auf Hope's Hände zu
verteilen und mit dieser dann auch vorsichtig ihr Gesicht einzureiben
und ihre Nase.
„Jetzt
öffne deinen Mund“, befahl Sensei. Und Hope gehorchte, so dass er
ihr nun ein paar Tropfen Flüssigkeit aus einer anderen Flasche auf
die Zunge träufeln konnte.
„Jetzt
kannst du das schlucken“, befahl er dann.
Er nahm seine Erklärungen in einem unpersönlichen Ton wieder auf:
„Die Flüssigkeiten, die ich auf deinen Händen und dem Gesicht
verteilt und auf die Zunge geträufelt habe, enthalten Nanobots, das
sind winzige programmierte Computer-chips, die mit dem
Szenario-Programm synchronisiert wurden.
Sie geben dir weit besser als die Handschuhe, die du sonst benutzt
hast, eine realistische Illusion davon, holographische Dinge und
menschliche Figuren zu berühren. Die Bots werden während der
nächsten Stunden aktiv bleiben, solange bis die Simulation beendet
ist. Danach werden sie sich selbst auflösen, ohne dir Schaden
zuzufügen.“
Wieder nickte Hope. Sie hatte verstanden.
Sensei fuhr fort: „Du wirst einen Jungen mit dem Namen Farooq
darstellen. Er wurde von seinen Eltern mit einem Bus, einem
altmodischen Transportmittel, zu dem Dorf Pazwaak geschickt, um dort
Verwandte seiner Mutter zu besuchen, weil sein Eltern dachten, dass
es ein sichererer Ort sei, als seine Heimatstadt, die so nah an der
Kriegszone lag. Die Geschichte beginnt, nachdem Farooq an seinem Ziel
angekommen ist und den Bus verlassen hat.
Nachdem Farooq erwachsen geworden war, schrieb er die Ereignisse, die
damals in Pazwaak geschehen sind auf. In Wirklichkeit verbrachte er
mehrere Wochen dort. Für dieses Szenario jedoch, sind einige der
wichtigsten Ereignisse in eine Zeitspanne von nur ein paar Stunden
zusammengefasst worden. Und du wirst sie so als der Junge Farooq
erleben, und wirst damit selbst ein Zeuge für diese Ereignisse
werden.
Die Sprache, die die meisten Leute, in diesem Szenario sprechen, wird
unsere sein. Wie du weißt, müssen alle Kinder in den Dörfern
überall auf der Welt durch dieses Szenario gehen, wenn sie 12 Jahre
alt sind. Und doch werden sie überall ihre eigene Sprache hören, so
dass jedes Kind als Farooq dasselbe Verständnis von den damaligen
Ereignissen bekommt.“
Hope nickte noch einmal: „Ich verstehe.“
„Nun
stell dich auf diesen Punkt“, Sensei Thompson deutete auf ein
kleines x auf dem Fußboden, fast genau in der Mitte der Halle,
„während deine Mutter und ich den Raum verlassen.“
Hope beobachtete, wie sie gingen, ihre Mutter immer noch
widerstrebend. Und bevor Sensei die Tür schloss, warf sie Hope noch
einmal einen letzten besorgten Blick zu.
Hope atmete tief ein und bereitete sich auf etwas vor, wovon sie nur
wusste, dass es eine Tortur sein würde, während sich der Raum um
sie herum veränderte.
Plötzlich war es ein offener Platz, umgeben von alten Steinhäusern,
die hinter Hofmauern standen. Der Erdboden des Platzes war staubig,
genau wie die Straße, die dort hinführte, die Straße, auf der sich
jetzt ein Bus in einer Staubwolke entfernte. Sensei hatte Recht
gehabt, Hope konnte den Staub an ihrer Nase spüren und sogar in
ihren Augen. Sie konnte fühlen, wie die Mittagssonne ihr Gesicht
verbrannte.
Hope sah sich um. Eine Stofftasche stand neben ihr auf dem Boden. Das
Dorf schien ziemlich klein zu sein. Die meisten Häuser standen
direkt um den Platz herum und es gab keine anderen Straßen. Hope
konnte gerade noch die Dächer der Häuser erkennen, da ja jedes Haus
von einer hohen Mauer umgeben war. Sie zählte etwa 15 Höfe, obwohl
vielleicht noch ein paar andere dahinter gelegen waren, die sie von
diesem Ort aus nicht sehen konnte.
Der Platz war im Augenblick menschenleer. Plötzlich hörte sie
hinter sich das Geräusch von rennenden Füßen und lautem Atmen. Sie
drehte sich um und sah einen Jungen, der etwa in ihrem eigenen Alter
war, der auf sie zugerannt kam.
“Assalaamu
Aleikum,” rief er, etwas außer Atem. „Du bist Farooq, nicht
wahr?“
Und als Hope nickte und seinen Gruß mit leiser Stimme erwidert
hatte, fuhr er fort: „Ich bin Khalil, dein Cousin. Ich sollte dich
heute begrüßen, aber ich bin gerade erst aus der Schule in Pashtana
gekommen. Das ist das nächste Dorf. Mein Lehrer hat mich bis zur
letzten Minute festgehalten, und deshalb bin ich zu spät dran.“
Hope antwortete nicht sofort. Sie war viel zu fasziniert von Khalil's
Erscheinung. Er trug ähnliche Kleidung wie Hope zur Zeit, aber es
war die Kappe, die ihre Aufmerksamkeit erregt hatte und auf die sie
starrte.
Khalil bemerkte das. „Dir gefällt meine Tagiyah,“ fragte er.
„Meine Mama hat sie für mich gestrickt. Sie ist wirklich gut darin
Muster zu machen. Vielleicht kann sie auch so eine für dich
stricken.
Khalil's Kappe war auf eine wirklich künstlerische Weise in einem
komplizierten Muster gestrickt. Aber das war nicht der Grund für
Hope's Überraschung.
Was sie erstaunte, war die Tatsache, dass sie genau dieses Muster
schon viele Male gesehen hatte. Es war eines der populärsten Muster,
die Hope's Mutter in ihrem Stick-Laden produzierte, immer auf Wunsch
ihrer Kunden. Das Muster war so komplex, dass ein Teil davon von
Hand, Stich für Stich, hergestellt werden musste, da die
programmierbare Maschine diese Aufgabe nicht gut genug ausführen
konnte. Jetzt erkannte Hope woher dieses Muster kam.
„Meine
Mama ist auch sehr gut darin genau solche Muster zu machen“,
antwortete Hope, ein wenig verwirrt darüber, etwas so Vertrautes an
einem Ort zu finden, der ihr zuvor so fremdartig erschienen war.
„Natürlich
ist sie gut darin“, erwiderte Khalil, „schließlich sind deine
Mama und meine Mama Schwestern.“
Dann fragte er: „Hast du schon lange gewartet?“
Hope schüttelte den Kopf: „Ich bin erst vor ein paar Augenblicken
gekommen. Du kannst den Bus da hinten noch sehen.“ Sie deutete auf
die Staubwolke, die sich am Horizont entfernte.
Die beiden Kinder beäugten sich noch einmal von Kopf bis Fuß.
Khalil trug ein paar Bücher unter dem Arm, und aus einer
Jackentasche ragte etwas heraus, das Hope als etwas erkannte, das sie
auf alten Bildern gesehen hatte. Dort wurde das Bleistift genannt,
aber sie selbst hatte nie so ein Instrument zum Schreiben benutzt.
„Ich
bin froh, dass du nicht lange warten musstest“, brach Khalil das
Schweigen. „Ich zeige dir jetzt, wo wir wohnen. Ist das deine
Tasche?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, packte Khalil die Tasche am Griff
und ging voraus, während Hope neben ihm herging. Bald kamen sie zu
einem Haus, das hinter den anderen gelegen war. Zusammen betraten sie
durch ein kleines Tor den Hof, wo sich bereits mehrere Leute
aufhielten.
Zwei kleine Mädchen, etwa sieben oder acht Jahre alt, und ein Junge
von etwa vier Jahren spielten dort Federn-in-die-Luft-blasen,
während eine Frau auf einer Stufe vor dem Eingang des Hauses saß
und ein Huhn rupfte. Eine andere Frau wusch gerade Wäsche in einer
kleinen Wanne, während ein Kleinkind sich mit einer Hand an ihrem
Rock festhielt und mit der anderen im Seifenwasser spielte. Alle
schauten hoch. Zuerst starrten sie Hope und Khalil an, dann begrüßten
sie die beiden lautstark. Nach einer höflichen Antwort begann Khalil
danach alle einander vorzustellen.
„Hier
ist Farooq, unser Cousin aus der großen Stadt. Er ist gerade erst
mit dem Bus angekommen. Und dort drüben ist meine Tante Mahtab. Sie
macht heute Hühnchen zum Essen. Da drüben sind meine Kusinen Badria
und Baasima, ihre Töchter, und mein kleiner Cousin Mashaal.“
Mashaal rannte zu Hope hinüber und zog an ihrer Jacke, während die
beiden Mädchen sie aus der Distanz musterten. Beide Mädchen hatten
bunte Tücher auf dem Kopf. Badrias Tuch war hellblau und bedeckte
nur die Hälfte ihrer Haare, während Baasima ihr Haar und ihr halbes
Gesicht seitlich mit einem Turkis-Tuch bedeckt hatte.
Darunter sandte sie Hope mit ihrem einen sichtbaren Auge ein Lächeln
zu, ein Lächeln, das gar nicht so schüchtern war, wie es durch ihre
Kopfbedeckung den Anschein erwecken sollte.
Khalil drehte sich der anderen Frau zu: „Das ist meine Mutter,
deine Tante Parween, und hier ist meine kleine Schwester Fatima.“
Das kleine Mädchen hatte erst jetzt bemerkt, dass Hope und Khalil in
den Hof gekommen waren. Mit einem Freudenschrei lief sie auf ihren
Bruder zu. Der Junge drückte Hope die Bücher und die Tasche, die er
gehalten hatte, in die Arme, hob seine Schwester hoch in die Luft und
wirbelte sie mehrmals herum, was bei ihr einen begeistertes
Quietschen hervorrief. Nachdem Khalil aufgehört hatte sich zu
drehen, musterte Fatima jetzt misstrauisch den Neuankömmling,
während sie sich weiterhin sicher an ihrem Bruder festhielt.
Ihre Mutter jedoch schenkte Hope eine wunderschönes, warmes Lächeln
und sprach sie an: „Wir sind so froh, dass du uns besuchen kommst,
Farooq. Es hat uns traurig gemacht zu hören, wie schwierig das Leben
in eurem Gebiet ist. Ich wünschte wirklich, deine ganze Familie
hätte auch herkommen können, aber ich verstehe natürlich, dass
dein Vater zur Zeit unabkömmlich ist. Wie geht es deiner Mutter?“
Hope hatte natürlich keine Ahnung, wie es Farooqs Mutter ging.
Trotzdem antwortete sie höflich, wie man das so gewöhnlicher weise
tut: „Es geht ihr gut, Tante Parween, und ich soll dir viele Grüße
von ihr ausrichten.“
Parween nickte: „Ja, sie sagt immer, dass es ihr gut geht, trotz
allem. Khalil hat mir alle ihre Briefe vorgelesen. Aber was ist denn
nur mit mir los? Zuerst einmal bist du doch bestimmt hungrig. Wir
haben für dich und Khalil ein Mittagessen vorbereitet. Bitte kommt
schnell ins Haus.“
Das Haus war spärlich möbliert, auch wenn Wandteppiche mit
wunderschönen Mustern die Fußböden und die Wände dekorierten.
Hope sah weder Tische noch Stühle, und es war offensichtlich, dass
die Leute auf dem Boden aßen. Teller mit warmem Fladenbrot waren
neben Schüsselchen, die mit einer Vielzahl von Gemüsecremes
gefüllt waren, auf eine große Matte gestellt worden.
Die Kinder setzten sich auf kleinere Matten, die die große
einrahmten. Hope folgte Khalil's Beispiel und riss sich einzelne
Stückchen von dem Brot ab, um diese dann in die unterschiedlichen
Schüsselchen zu tunken. Zu Hope's Überraschung schmeckte ihr das
Essen wirklich gut, und sie konnte sogar fühlen, wie es vom Mund in
die Speiseröhre und von dort in den Magen rutschte.
Nachdem sie gegessen hatten, führte Khalil Hope zurück in den Hof,
um ihr etwas zu zeigen, das ihn wirklich begeisterte. „Schau dir
meinen Drachen an“, rief er und fragte dann: „Lasst ihr auch
Drachen steigen bei euch zu Hause?“
Hope schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nie ein so sonderbares Ding
wie dies da gesehen. Es schien aus buntem Papier hergestellt zu sein,
und aus zu einem Trapez verbundenen Holzstäbchen, die an einer mit
einer Schnur umwickelten Spule gebunden waren. Konnte das Ding
wirklich in die Luft steigen?
„Oh“,
meinte Khalil enttäuscht, „Ich dachte alle Jungen in den großen
Städten würden dort Drachen steigen lassen. Aber vielleicht tun sie
das ja nur in Kabul.
Als Hope mit den Achseln zuckte, fügte er hinzu: „Papa und ich
waren im letzten Jahr in Kabul. Wir konnten nur eine Woche dort
bleiben. Aber da habe ich alle diese Jungen getroffen, die Freunde
von meinen Cousins. Die hielten einen Drachenflug Wettkampf, also wer
den Drachen am höchsten steigen lassen kann, weißt du?“
Und meine Cousins haben mir gezeigt, wie man einen Drachen baut, und
wie man ihn hochsteigen lässt. Sie haben gesagt, dass vor dem Krieg,
Jungs immer wieder solche Wettkämpfe abhielten. Aber heutzutage gibt
es Leute, die Drachen hassen. Deshalb muss man nun vorsichtig sein,
und sie nur an Tagen steigen lassen, wenn es sicher ist.
Khalil untersuchte seinen Drachen sorgfältig, um sicher zu gehen,
dass er wirklich in bestem Zustand war.
Dabei erklärte er: „Heute Abend wollen wir einen Pazwaak Wettkampf
abhalten. Ich habe den Jungs gezeigt, wie man einen Drachen baut, und
wir haben schon viele Abende lang geübt. Du kannst auch kommen, wenn
du willst, und deinen eigenen Drachen steigen lassen.“
„Aber
ich habe doch gar keinen Drachen“, erwiderte Hope verwundert.
„Döskopp“,
entgegnete Khalil, „wir werden natürlich einen für dich bauen.“
Und den Rest des Nachmittags waren Hope und Khalil damit beschäftigt
einen Drachen zu bauen, unter der Mithilfe von Badria und Baasima,
die mehr oder weniger praktische Vorschläge hatten, dann aber auch
beim Ausschneiden und Bemalen von Papierfetzen für den Schwanz
mitmachten. Hin und wieder mussten sie Mashaal wegjagen, denn seine
Versuche zu helfen, waren eindeutig nicht so hilfreich.
Als sie fertig waren, kletterten sie zusammen auf das Flachdach. Und
dort, zwischen Wäscheleinen mit frisch gewaschener Wäsche, gab
Khalil Hope ihre erste Lektion im Drachen-steigen-lassen. Allerdings
wurde es ziemlich schnell klar, dass Hope diesen Wettkampf mit
Sicherheit nicht gewinnen würde. Trotzdem hatte sie bei all dem
einen ziemlichen Spaß, und sie freute sich auf den Abend,
Aber zuerst einmal wurden Khalil und 'Farooq' nach unten gerufen.
Die Frauen und die Mädchen hatten die Vorbereitungen für das
Abendessen beendet. Die beiden Mädchen waren sehr gut gelaunt.
„Wir
schauen uns den Wettkampf vom Dach aus an“, erklärte Baasima
aufgeregt. „Mama und Tante Parween wollen auch zuschauen.“
Khalil's Mutter nickte lächelnd: „Aber während wir auf eure Väter
warten, wirst du uns zuerst einmal aus deinen Büchern vorlesen,
nicht wahr, Khalil?“
„Natürlich
Mama“, sagte Khalil bereitwillig. „Ich habe auch schon
entschieden, was ich euch heute vorlesen will.“
Während es sich alle anderen auf den Matratzen und Kissen gemütlich
machten, holte Khalil eines seiner Schulbücher.
„Ich
werde euch heute Abend zwei Gedichte vorlesen“, erklärte Khalil
mit feierlicher Stimme, während er sich auf eine Matte seinem
erwartungsvollen Publikum gegenüber setzte.
„Das
erste Gedicht wurde von einem Poeten aus Kabul geschrieben, und es
handelt von dir, Mama, denn es heißt: 'Die Schönheit deiner
Stimme'.“
Khalil hielt eine Sekunde inne und fügte dann etwas verspätet
hinzu: „...und von dir natürlich auch, Tante Mahtab.“
Tante Mahtab lachte, während Khalil's Mutter ihren Sohn auf eine
Weise anlächelte, wie das nur eine Mutter tut, und das wärmte
Hope's Herz.
Und dann begann Khalil mit seinem Vortrag:
„Deine Stimme ist wie die aufgehende
Sonne,
die die Welt zu einem neuen Tag ruft.
Deine Stimme ist wie der sanfte Regen,
der auf durstige Blumen und ausgetrocknetes Gras fällt.
Deine Stimme ist wie die Farben eines Regenbogens,
der den Himmel schmückt, wenn der Regen vorüber ist.
Deine Stimme ist wie das rote Feuer der Sonne,
wenn sie Abschied nimmt nach einem langen, langen Tag.
Deine Stimme ist wie die diamantenen Tropfen von Licht,
am schwarzen Samt der Nacht.
Deine Stimme ist wie ein Spiegel,
der die Schönheit deiner Seele reflektiert.“
Khalil beendete das Gedicht mit einem erwartungsvollen Blick auf sein
Publikum und einem seitlichen Blick zu seiner Mutter. Die Mädchen
klatschten laut, und Khalil's Tante nickte anerkennend. Seine Mutter
lächelte und sagte: „Danke schön Khalil“.
Hope musste zustimmen, das Gedicht passte perfekt zu ihr. Sie hatte
wirklich eine wunderschöne Stimme, und ihr Lächeln fühlte sich an
wie ein Sonnenstrahl am Morgen.
Khalil war mit der Reaktion seines Publikums zufrieden, und so fuhr
er fort: „Das nächste Gedicht wurde von einer Dichterin
geschrieben, und sie hat denselben Vornamen wir du, Mama, Parween.
Und das Gedicht heißt: 'In den Armen des Friedens'.“
Wieder rezitierte Khalil feierlich:
Wie ein Durstiger auf einem Berg
sich nach eine Wasserquelle sehnt...
Wie ein Hungriger weit fort von zu Hause
sich nach einem frischgekochten Essen sehnt...
Wie ein Erfrierender in einer kalten Nacht
sich nach einem wärmenden Feuer sehnt...
So brauchen die Kinder in unserer vom Krieg zerrissenen Zeit,
einen Ort, um zu ruhen,
einen Ort, um zu schlafen,
in den Armen des Friedens,
den Armen des Frieden.
Als Khalil seinen Vortrag beendet hatte, klatschten wieder alle. Und
nachdem die anderen aufgestanden waren, um in ein anderes Zimmer zu
gehen, flüsterte seine Mutter ihm zu: „Das letzte Gedicht war noch
schöner als das erste. Es ist wunderbar, dass du diese wunderschönen
Worte lesen kannst, Khalil.“
Sie drückte ihre kleine Tochter fest an sich und bat: „Und eines
Tages, da wirst du Fatima beibringen, diese Worte zu lesen, nicht
wahr Khalil?““
„O
Mama, ich habe dir doch gesagt, dass ich sie unterrichten werde, das
weißt du doch“, sagte Khalil in einem Ton, der anzeigte, dass er
dieses Versprechen schon viele Male zuvor gegeben hatte.
„Ich
weiß, dass du das gesagt hast“, erwiderte seine Mutter. „Und
incha' Allah, dann wirst du das auch tun.“
Sie sah auf das kleine Mädchen in ihren Armen hinab und sagte zu
ihr:
„Eines
Tages, Fatima, incha' Allah, wirst auch du diese schönen Worte lesen
können, genau wie Khalil das kann, Worte, die das Herz fliegen
lassen wie einen Vogel. Eines Tages, da wirst du so voller Weisheit
und Wissen sein, wie die Tochter des Propheten, Friede sei mit ihm,
deren Namen du trägst.“
Zur Zeit allerdings hatte Fatima keine Ambitionen nach feierlicher
Weisheit. Sie befreite sich aus dem Schoß ihrer Mutter und krabbelte
zu Khalil hinüber, um das Buch zu grabschen.
„Nein,
Fatima, Bücher sind wertvoll“, schimpfte Khalil sie ein bisschen
aus. „Man muss vorsichtig mit ihnen umgehen.“ Dabei hielt er das
Buch so hoch, dass Fatima es nicht mehr erreichen konnte. Als sie
dann aber ein Gesicht machte, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen
würde, setzte er sie auf seinen Schoß und erlaubte ihr das Buch
anzufassen, wobei er ihr die Zeichnungen zeigte, die neben einigen
der Texte zu sehen waren.
Parween beobachtete ihre Kinder mit tiefer Zufriedenheit.
„Ich
könnte es dich auch lehren“, schlug Khalil vor und sah zu seiner
Mutter hinüber.
„Nein,
nein, ich bin viel zu alt dafür“, weigerte sie sich.
Khalil schüttelte seufzend seinen Kopf, auch dieses Gespräch hatten
sie schon viele Male gehabt. „Aber Mama, Farooq's Mutter hat auch
lesen und schreiben gelernt, und sie ist doch deine Schwester.“
„Sie
lebt jetzt in der großen Stadt, und da ist es etwas anderes“,
meinte Parween endgültig, aber fügte doch noch einmal hinzu: „Aber
du wirst Fatima unterrichten.“
„Ja,
Mama, das werde ich“, widerholte Khalil.
„Nein,
das wird er nicht“, kam jetzt eine Männerstimme von hinten. Der
Mann hatte gerade das Zimmer betreten und Hope wusste, dass dies
Khalils und Fatimas Vater sein musste und Parweens Ehemann.
Hope konnte sehen, wie sich ein tiefer Schock auf Parweens Gesicht
ausbreitete und Tränen ihr in die Augen stiegen. Hope warf dem Mann
einen wütenden Blick zu.
Das störte diesen allerdings überhaupt nicht, und er redete weiter:
„Khalil wird Fatima nicht unterrichten, weil er das nämlich nicht
muss. Fatima wird selber zur Schule gehen.“
„Zur
Schule?“ Der Schock verschwand von Parweens Gesicht und machte
einer unsicheren Überraschung Platz.
„Ja,
zur Schule“, widerholte ihr Mann. „Ich bin gerade vom Dorfrat
gekommen. Sie haben beschlossen, eine Schule für Mädchen zu bauen,
genau hier in Pazwaak. Und genau wie bei der Jungenschule in
Pashtana, so werden die Mädchen aus Pashtana und Samsor in unsere
Schule gehen, nur dass sie nicht laufen müssen wie die Jungen, die
Mädchen aus den anderen Dörfern werden mit einem Bus abgeholt
werden, das ist sicherer. Und so wird es dann eine große Schule
sein, mit zwei oder drei Lehrerinnen aus der großen Stadt.“
Während sie ihrem Mann zuhörte, begann Parweens Gesicht vor Glück
aufzuleuchten. Sie hob nun ihre Tochter hoch und umarmte sie: „Hast
du das gehört Fatima? Du wirst zur Schule gehen, genau wie Khalil.
Und eine Lehrerin wird dich unterrichten. Du wirst all diese
wunderschönen Worte in Khalil's Buch lesen lernen. Und eines
Tages...“
„Eines
Tages“, beendete Khalils Vater den Satz seiner Frau, „dann wird
Fatima so voller Wissen und Weisheit sein, wie die Tochter des
Propheten, Friede sei mit ihm.“
Als Parween und ihr Mann einander ansahen, da erinnerte das Hope an
die Blicke, die ihre eigenen Eltern füreinander gehabt hatten. Zum
einen wärmte es ihr Herz, zum anderen aber erfüllte es sie mit
einer unerfüllbaren Sehnsucht.
Khalil hatte jedoch genug von so schmalzigen Gefühlen, und erinnerte
seine Eltern daran, dass es genau hier im Raum noch andere wichtige
Neuigkeiten gab. „Papa, schau wer heute gekommen ist, mein Cousin
Farooq aus der großen Stadt!“
Sein Vater drehte sich um und bemerkte erst jetzt, dass Hope in einer
Ecke des Zimmers stand. Er begrüßte sie mit formaler Höflichkeit
und hieß sie willkommen, wobei er nach der Gesundheit ihrer Familie
fragte. Hope war Abdul-Lateef gegenüber ein wenig schüchtern, aber
sie antwortete ihm mit der gebotenen Höflichkeit, und dann in
derselben Weise, als sie Abdul-Khaliq, Khalil's Onkel vorgestellt
wurde, der ein paar Minuten später nach Hause kam.
Als das Essen serviert wurde, aßen die Männer, einschließlich
Khalil, dem kleinen Mashaal und Farooq-Hope in einem Raum, während
die Frauen und Mädchen in einem anderen aßen. Es gab keine großen
Gespräche während des Essens. Und obwohl es Hope gut schmeckte,
ahmte sie doch Khalil nach und aß so schnell wie möglich, um raus
zu kommen und sich für den Drachensteig-Wettkampf bereit zu machen,
wo man doch den Abendwind nutzen musste, der genau richtig wäre für
die Drachen.
Draußen auf dem Dorfplatz trafen sie eine Gruppe
anderer Jungen in ihrem Alter. Khalil stellte sie vor. Da waren
Latif, Dawud und Dilawar, das waren Brüder, und Badee und Bakhtawar,
das waren auch Brüder, und Omaid, Jawad und Baseer, das waren deren
Cousins.
Alle waren begeistert den Jungen aus der großen Stadt zu treffen,
der ganz bestimmt ein ausgezeichneter Experte fürs Drachensteigen
sein musste. Und Hope schämte sich ein bisschen, zugeben zu müssen,
dass sie vor dieser Nachmittagslektion auf Khalils Dach noch nie
hatte einen Drachen steigen lassen.
„Es
ist wegen dem Krieg, stimmt's“, schlug Baseer eine Erklärung vor.
„Deine Eltern erlauben es dir nicht.“
„Wir
haben andere Spiele, wo ich herkomme“, antwortete Hope mit leiser
Stimme.
„Hier
brauchst du dir um den Krieg keine Sorgen zu machen“, versicherte
Omaid, der älteste von den Jungen.
Dann vergaßen die Jungen den Neuankömmling, oder eher noch, sie
behandelten ihn als sei er einer der ihren, denn ein Windstoß
erinnerte sie daran, dass es jetzt an der Zeit war, sich auf die
Drachen zu konzentrieren.
Es wurde schnell klar, dass die Erfahrung der anderen Kinder einen
großen Unterschied machte, denn Hope's Drachen verbrachte mehr Zeit
auf dem Boden als in der Luft. Khalil sah ihre Frustration und rief
ihr hilfreiche Tipps zu, wie sie den Wind besser nutzen sollte. Und
endlich gelang es Hope, den Drachen in die Luft und zum Fliegen zu
bekommen. Aber jetzt hatte sich Khalils Drachenschur mit der von
Jawad verheddert, was ihm einige nicht so nette Worte von letzterem
einbrachte.
Khalil zuckte nur mit den Achseln, während er versuchte die Schnüre
wieder voneinander zu lösen. Er war nämlich dadurch abgelenkt
gewesen, dass er seinen Vater und seinen Onkel, gefolgt von einer
Reihe anderer Männer, schnell über den Platz hatte hasten und in
einen der Höfe hineingehen sah.
Hope hatte das auch bemerkt. Und sobald sie ihre Augen von ihrem
Drachen abgewandt hatte, war dieser natürlich auch schon im
Sturzflug auf den Boden genknallt. Khalil zog seinen eigenen Drachen
ein und überließ es dem zornigen Jawad die Schnüre zu entwirren.
Und während er Hope Handzeichen gab, ihm zu folgen, machte er sich
auch schon zu dem Hof auf, in dem sein Vater und die anderen Männer
verschwunden waren.
„Die
halten sonst nie einen Dorfrat so spät am Abend ab“, erklärte er
Hope unterwegs, „außer wenn etwas wirklich wichtiges geschehen
ist.“
Er zeigte überrascht auf ein grau-grünes Vehikel mit großen
Rädern, das dort vor dem Haus stand, auf das sie zusteuerten. „Ich
habe dieses Auto noch nie gesehen. Das kommt nicht aus unserem Dorf
und auch nicht aus unseren Nachbardörfern. Ein Fremder muss damit
angekommen sein, und er redet jetzt mit dem Bürgermeister und dem
ganzen Dorfrat.“
Hope
hatte ähnliche Fahrzeuge bereits vor anderen Häusern parken sehen,
aber dieses schien viel größer zu sein. Und irgendwie erfüllte sie
dessen Anblick mit einer bösen Vorahnung.
Als sie durch das kleine Tor gingen, sah sich Khalil vorsichtig um.
Er wollte offensichtlich nicht gesehen werden. „Dies ist das Haus
des Bürgermeisters und auch der Ort, wo der Dorfrat abgehalten
wird“, erklärte er. „Und hier wird auch das Freitagsgebet
gehalten, denn wir haben keine Moschee und keinen Imam. Unser Dorf
ist zu klein, weißt du.“
Khalil näherte sich vorsichtig dem Haus. Er bückte sich, und
gebückt schlichen sie um das Haus herum und an mehreren Fenstern
vorbei, bis Kahlil an einem kleinen Fenster gleich neben einem Busch
stehen blieb, der ihnen einen gewissen Sichtschutz gab.
„Dort
drin ist der Versammlungsraum“, flüsterte Kahlil. „Von hier aus
kannst du genau hören, was da drin geredet wird, und reingucken
kannst du auch, ohne dass die dich bemerken.“
Hope nickte. Sie war genauso neugierig wie Khalil, zu erfahren, was
da drinnen wohl vor sich ging, also spähten sie beide durch das
Fenster. Sie konnten ein allgemeines Gemurmel im Raum hören und das
Klirren von Tassen. Eine ganze Reihe von Männern saß an den Wänden
des Raums entlang. Jeder von ihnen hatte eine Teetasse vor sich
stehen, an der er von Zeit zu Zeit nippte.
Ein älterer Mann, der dem Fenster genau gegenüber saß, begann zu
reden: „Ich habe euch alle zu dieser Versammlung gebeten, damit ihr
hier Mr Qasem und seinen jungen Begleiter Mr Rashad treffen könnt.“
Der ältere Mann, von dem Hope vermutete, dass er der Bürgermeister
war, den Khalil erwähnt hatte, deutete auf den Mann mittleren
Alters, der neben ihm saß und auf einen mürrisch dreinblickenden
jungen Mann neben diesem. In Kleidung und Gebaren sahen diese beiden
Männer ganz anders aus als die Männer von Pazwaak. Der
Bürgermeister fuhr fort: „Mr Qasem ist aus dem Land des Propheten
gekommen, Friede sei mit ihm. Er wollte mit dem gesamten Dorfrat
sprechen, weil er eine wichtige Botschaft für uns habe.“
Der Mann, der so vorgestellt worden war, begann zu sprechen: „Ich
bin Qasem Abu Jalil. Und wie ihr gerade gehört habt, komme ich aus
dem Land des Propheten, Friede sei mit ihm, und ich bringe euch Grüße
von unseren Brüden aus den heiligen Städten.“
Anders als die sanfte, ruhige Stimme des Bürgermeisters, klang die
des Besuchers hart und überheblich.
Mr
Qasem fuhr fort: „Wie ihr alle wisst, leben wir in Zeiten großer
Konflikte und enormer Bosheit. Ungläubige sind in unsere Länder
eingefallen, um unseren Glauben zu zerstören und unsere Völker.
Nichts ist diesen Ungläubigen heilig, und sie schonen weder Frauen
noch Kinder. Und diejenigen von unseren Leuten, die die physischen
Angriffe überleben, werden am Ende vom Bösen des Geistes infiziert,
den diese Ungläubigen überall verbreiten, wo auch immer sie
hinkommen. Wenn wir sie nicht bekämpfen, werden alle unsere Leute
dem Höllenfeuer zum Opfer fallen.
Und seit vielen Jahren bereits, haben unsere Brüder diesen heiligen
Krieg gegen diese Ungläubigen geführt, die die Form von Menschen
haben, jedoch in ihrem verdorbenen Inneren nichts anderes sind als
Dämonen, die aus der Hölle kommen, um uns zu verderben.
Ich weiß, dass es für euch schwer sein muss, euch dies alles
vorzustellen, da euer Dorf ja so weit entfernt ist und immer so
geschützt war vor den Übeln unserer Zeit. Aber dieses Böse ist
eine Realität, mit der wir, die wir den guten Kampf ausfechten, an
jedem Tag konfrontiert werden. Um euch zu helfen, den Ernst dieser
Realität zu verstehen, habe ich euch Bilder von den Dingen
mitgebracht, die diese Dämonen in Menschengestalt unseren Leuten
angetan haben.“
Nun zog Mr Qasem ein Bündel von dicken Papierblättern aus seiner
Jacke, die mit Bildern bedruckt zu sein schienen. Er reichte sie an
die anderen Männer weiter. Von ihrem Platz am Fenster konnte Hope
nicht sehen, was auf den Bildern porträtiert wurde, aber an dem
geschockten Atmen der Männer, die sie sahen, vermutete sie, dass es
etwas wirklich Schlimmes sein musste.
Mr Qasem fuhr fort: „Hier könnt ihr sehen, wie diese Dämonen
unsere Leute behandelt haben, nachdem sie sie gefangen genommen
hatten. Bei allem was gut ist, für diese Gefangenen wäre es weit
besser gewesen, wenn sie tot gewesen wären, als lebend in die Hände
dieser Monster zu fallen.
Und nicht einmal die Toten lassen sie in Frieden ruhen. Ich habe mit
meinen eigenen Augen gesehen, wie diese dämonischen Wesen, die
Gräber geöffnet und die Körper der Toten entweiht haben. Diese
Dämonen sind böse, jenseits jedes menschlichen Verhaltens. Sie
müssen bis zum Ende bekämpft werden, sie verdienen keine Gnade.“
Die meisten Männer im Raum hatten einen Ausdruck von Abscheu auf
ihren Gesichtern, und das Gemurmel, das Mr Qasems Worten folgte, war
durchgehend zustimmend.
Mr Qasem war mit der Reaktion zufrieden und setzte seine Rede fort:
„Wie ich bereits gesagt habe, so haben meine tapferen Brüder und
ich schon viele Jahre lang diese Ungläubigen-Plage bekämpft. Aber
ich muss euch sagen, dass diese nicht nur von Grund auf böse sind,
sie sind auch Feiglinge und über alle Maßen dumm.
Viele Kriege haben sie bereits geführt, Ungläubige gegen
Ungläubige. Aber um diese Kriege zu gewinnen, denn sie waren ja zu
feige, um selbst richtig zu kämpfen, da haben sie uns, den Kämpfern
Allahs, die Waffen gegeben, um für sie zu kämpfen. Einige ihrer
Waffen sind so mächtig, dass sie die Luft über ganzen Städten von
Ungläubigen vergiften können. Mit anderen kann man Flugzeuge vom
Boden aus direkt aus dem Himmel schießen.
Natürlich liegt es immer in unserem Interesse, Ungläubige zu
bekämpfen, und das mit den Waffen anderer Ungläubiger. Aber sie
irren sich in ihrer Annahme, dass sie uns unter Kontrolle haben...
uns, die treuen Diener von Allah allein. Und das ist der Grund, warum
ich heute Abend hier hergekommen bin.
Die Waffen, die wir immer wieder erhalten haben, haben wir gut
genutzt. Und wir haben viele Ungläubige in vielen Ländern bekämpft
und viele Schlachten gewonnen. Aber einige dieser Waffen müssen
versteckt werden, aufbewahrt für eine andere Zeit. Wenn einmal die
schwachen Feinde geschlagen sein werden, dann werden wir den
richtigen Krieg gegen die starken Feinde beginnen, die großen
Dämonen.
Diese Waffen müssen an einem Ort aufbewahrt werden, der sicher ist,
weit entfernt von all den Gebieten mit Problemen. Und euer Dorf
Pazwaak wurde ausgewählt, weil es der sicherste Ort zur Aufbewahrung
dieser Waffen ist. Ihr seid für die große Ehre auserwählt worden,
die Mittel für den endgültigen Sieg bereit zu halten.“
Mr Qasem beendete seine Rede und sah seine Zuhörer erwartungsvoll
an. Das Gemurmel begann wieder, aber es war nur der betagte
Bürgermeister, der direkt antwortete, und die Frage stellte: „Warum
ist Pazwaak der Ort, der ausgewählt wurde?“
Mr Qasem antwortete in seiner übertriebenen Art: „Das ist
natürlich eine weise Frage, ehrenwerter Herr Bürgermeister, und ich
werde sie zu deiner vollen Zufriedenheit beantworten.
Wir haben gehört, dass ihr plant eine Schule für Mädchen in diesem
Dorf zu bauen. Und dies wäre die wirklich vorzügliche Gelegenheit,
ein Waffendepot direkt unter dieser Schule anzubringen. Die Feinde
würden das dort nie vermuten.“
Jetzt begannen alle durcheinander zu reden, und Hope konnte nicht
mehr verstehen, was gesagt wurde, aber es schien, dass die Meinungen
geteilt waren.
Schließlich hob der Bürgermeister wieder seine sanfte Stimme.
Sofort entstand eine respektvolle Stille.
„Mr
Qasem, wir haben deine Rede angehört und die furchtbaren Bilder, die
du uns gezeigt hast, eingehend betrachtet. Und wir stimmen zu, dass
diese Anzeichen von Verkommenheit und Barbarei aufzeigen. Und auch
wenn wir deine Gefühle gegenüber den Ungläubigen verstehen können,
so müssen wir deine Anfrage, jene Waffen, von denen du gesprochen
hast, in unserem Dorf zu lagern ablehnen.
Wir können die Sicherheit unserer Frauen und Kinder und besonders
die Leben der unschuldigen kleinen Mädchen, die diese Schule
besuchen werden, nicht durch die Pläne, die du uns erklärt hast,
riskieren. Auch wenn du dies als eine große Ehre für Pazwaak
ansiehst, so müssen wir respektvoll diese Ehre ablehnen.“
„Du
lehnst die Ehre ab, Bürgermeister?“ Mr Qasems Stimme hatte jetzt
jede Spur von Gelassenheit verloren. „Was für eine Art Gläubige
seid ihr hier... ihr seid überhaupt keine Gläubigen, scheint mir.
Du sagst, ihr habt diese Bilder eingehend betrachtet. Es scheint mir
eher, dass ihr eure Augen abgewandt habt, um nicht zu sehen. Wenn ihr
sie wirklich zu dieser Realität geöffnet hättet, dann würdet ihr
keinen Augenblick zögern, unserem Ansinnen zuzustimmen, und ihr
würdet uns all eure jungen Männer schicken, um uns in unseren Kampf
zu unterstützen.“
Im Gegensatz zu Mr Qasem war der Bürgermeister immer noch ruhig und
gefasst: „Mr Qasem, du bist im Irrtum. Die Mitglieder dieses
Dorfrates und ich haben unsere Augen nicht vor der Realität
verschlossen. In der Tat haben einige von uns, ich eingeschlossen,
nicht unser gesamtes Leben in Pazwaak verbracht. Ich habe das Böse
in unserer Zeit mehr als nur einmal gesehen. Ich habe das
Blutvergießen an den Unschuldigen, das von Ungläubigen über sie
gebracht wurde, ebenso wie deren brutales und unzivilisiertes
Benehmen gegenüber Frauen und Kindern mehr als nur einmal gesehen.
Aber ich habe auch diejenigen, die behaupten im guten Kampf für
Allah und unseren Glauben zu stehen, in ähnlicher Weise handeln
sehen. Einige, die ich diese Taten begehen sah, waren sogar Brüder
von dir aus dem Land des Propheten, Friede sei mit ihm.“
Mr Qasem kochte nun vor Wut, und auch wenn das in seiner Stimme klar
zu hören war, unternahm er doch die Anstrengung, sich zu
beherrschen: „Was immer du behauptest gesehen zu haben,
Bürgermeister, es wäre mehr als nur gerechtfertigt durch die
Bosheit dieser Dämonen in Menschengestalt. In manchen Fällen ist es
notwendig, den Feind nicht nur zu besiegen, sondern ihn bis in den
Wahnsinn hinein zu erschrecken, damit er es dann nie wieder wagt, den
Glauben und die Gläubigen anzugreifen. Das wird am Ende die Leben
von Millionen von Menschen retten.
Aber jetzt ist es deine Pflicht, Bürgermeister, und die Pflicht
aller Männer von Pazwaak, vor Allah und der Gemeinschaft der
Gläubigen, die Verteidigung des Glaubens zumindest in dieser
winzigen Art und Weise zu unterstützen, die wir von euch erwarten.
Wie viel glorreicher wird diese Aufgabe im Dienste Allahs sein, als
eine Mädchenschule zu bauen“, der verächtliche Ton in Mr Qasems
Stimme war deutlicht zu hören, „eine Schule, die möglicherweise
diese Mädchen vom Pfad der Tugend abbringen könnte.“
Der Bürgermeister antwortete Mr Qasem nicht direkt, statt dessen
ignorierte er dessen Anspielung und wiederholte mit fester Stimme:
„Wie ich dir gesagt habe, Mr Qasem, so müssen wir deine Bitte
ablehnen und zwar aus den Gründen, die ich bereits genannt habe.“
Der Bürgermeister hielt einen Augenblick inne, während er in das
wütende Gesicht von Mr Qasem sah, dann fuhr er fort: „Du und dein
Gefährte sind jedoch herzlich eingeladen, die Nacht bei uns, bei mir
und meiner Familie, zu verbringen. Meine Frau und meine Töchter
haben ein Mahlzeit für uns alle vorbereitet.“
Diesmal beherrschte sich Mr Qasem in keinster Weise, und indem er
alle Regeln der traditionellen Höflichkeit brach, schrie er: „Ich
werde bei keinem hier in diesem Dorf essen oder unter dem Dach von
Feiglingen und Sympathisanten von Ungläubigen schlafen. Ihr seid
Verräter unseres Glaubens, man sollte euch als schlimmer noch
ansehen, als die Ungläubigen, die wir bekämpfen!“
Mit diesen Worten erhob sich Mr Qasem abrupt und verließ den Raum.
Mr Rashad, der kein einziges Wort von sich gegeben hatte, folgte ihm
schweigend.
Ein paar Sekunden später kamen sie aus der Haustür und liefen dann
so nah am Haus entlang, dass Mr Qasem fast über Khalil stolperte.
Mit einem wütenden Laut schubste er Khalil aus dem Weg, und als er
Hope-Farooq bemerkte, warf er ihr einen ebenso wütenden Blick zu,
bevor er aus dem Hof stürmte. Einen Moment später konnten die
Kinder das laute Geräusch eines anspringenden Motors hören.
Im Versammlungsraum hatte das Gemurmel wieder begonnen, allerdings
war Khalil daran nicht mehr interessiert. Er gab Hope ein Zeichen,
und so verließen sie gemeinsam den Hof auf dieselbe Weise, wie sie
gekommen waren.
Auf dem Dorfplatz hatte Jawad es geschafft, die Schnüre zu
entwirren, und er und die anderen Jungen ließen immer noch ihre
Drachen steigen. Die Sonne war inzwischen völlig untergegangen, und
die Nacht war hereingebrochen, aber die Sterne und der Mond schienen
hell genug, um die Drachen immer noch als dunkle Schatten am Himmel
erkennen zu können.
Aber Khalil war auch am Drachensteigenlassen nicht mehr interessiert.
Er hob einfach seinen Drachen von der Erde auf und machte sich auf
den Heimweg. Hope packte ihren eigenen Drachen zusammen und folgte
ihm. Khalil war in einer bedrückten Stimmung; was er bei der
Dorfratsversammlung gehört hatte, beschäftigte ihn sehr.
Am Ende, gerade bevor sie den Hof seines Hauses betraten, drehte er
sich noch einmal zu Hope um und fragte: „Glaubst du, dass wir alle
Feiglinge sind hier in Pazwaak?“
„Natürlich
nicht,“ erwiderte Hope.
„Aber
diese Ungläubigen, die haben unseren Leuten doch so schreckliche
Dinge angetan“, fuhr Khalil zweifelnd fort. „Ich habe von diesen
Dingen schon lange bevor Mr Qasem hierher kam gehört. Du musst doch
auch davon gehört haben. Werden sie diese Dinge nicht weiterhin tun,
wenn wir sie nicht bekämpfen, und wenn wir sie nicht besiegen?“
„Ich
glaube nicht, dass du sie mit Kämpfen besiegen kannst“, antwortete
Hope langsam. „Aber ich weiß genau, dass dies eines Tages aufhören
wird.“
„Ich
weiß nicht, ob du Recht hast, Farooq,“ erwiderte Khalil immer noch
zweifelnd. „Sollten wir denn nicht wenigstens versuchen, uns zu
verteidigen, und diese Waffen zu lagern, von denen Mr Qasem
gesprochen hat?“
„Willst
du wirklich, dass die kleine Fatima in ihrer neuen Schule direkt über
einem Waffenlager sitzt“, fragte Hope zurück.
Khalil schüttelte heftig den Kopf: „Nein, nein, natürlich nicht.“
Er schwieg nun, machte aber immer noch keine Anstalten, den Hof zu
betreten.
Nach ein paar Sekunden stellte er eine weitere Frage: „Glaubst du,
dass die Kämpfer der Gläubigen genau so grausam und barbarisch sein
können, wie die Kämpfer der Ungläubigen?“
Wieder antwortete Hope mit einer Frage: „Glaubst du, dass euer
Bürgermeister ein ehrlicher Mann ist?“
„Natürlich
ist er ein ehrlicher Mann“, antwortete Khalil entschieden, „der
allerehrlichste, genau wie mein Vater. Du hast Recht, was er gesagt
hat, muss ganz bestimmt die Wahrheit sein.“
Er dachte noch eine Weile nach, und seufzte dann zum Schluss: „Aber,
es ist traurig, weißt du... zu denken, dass deine eigenen Leute
genau so böse sein können, wie die Feinde.“
Hope nickte: „Es ist traurig“, stimmte sie Khalil zu.
Danach gingen sie beide durch den Hof ins Haus, wo sie von Kahlils
Mutter begrüßt wurden, die sofort bemerkte, dass Khalil bedrückt
war. Aber als er nicht reden wollte, ließ sie ihn in Ruhe und bat
die beiden nur, sich fürs Bett bereit zu machen. Khalil redete auch
mit Hope nicht mehr, und brütete nur vor sich hin bis sie beide
nebeneinander auf ihren Matratzen eingeschlafen waren.
Es schien als sei nur eine Sekunde vergangen, als sie von einem
lauten Krach geweckt wurden. Jemand trommelte an die Haustür, und
dann gab es einen Knall, als ob jemand die Tür aufgebrochen hatte.
Lautes Schreien war aus dem Eingangsbereich zu hören. Der kleine
Mashaal war aufgewacht und fing an zu weinen. Er krabbelte hinüber
zu Khalils Mattratze. Der Lärm hatte ihn genau wie Hope und Khalil
erschreckt.
Jetzt konnte man Khalils Onkel hören, wie er die Eindringlinge
fragte, was sie wollten. Sie hörten einen weiteren Schrei und dann
ein Geräusch als ob etwas Schweres auf den Boden fiel, und danach
das Weinen von Tante Mahtab.
In diesem Moment wurde die Tür zu dem kleinen Raum, in dem Hope,
Khalil und Mashaal sich eng aneinander gedrückt hatten, aufgestoßen.
Ein Soldat stand in der Tür. Er richtete seine Waffe auf die Kinder
und gab ihnen wortlos damit ein Zeichen, dass sie den Raum verlassen
sollten. Mashaal hatte aufgehört zu weinen, aber er hielt sich immer
noch verzweifelt an seinem Cousin fest, den Kopf in dessen Seite
vergraben. Hope hielt sich eng an die beiden, als sie zusammen in den
Eingangsraum stolperten.
Da war der Rest der Familie bereits versammelt, die meisten
aneinander und an die Wand gepresst. Fünf Soldaten richteten ihre
Waffen auf sie. Tante Mahtab war schluchzend über ihren Mann
gebeugt, dessen ohnmächtiger Körper am Boden lag. Hope konnte
sehen, dass Abu-Khaliq aus einer großen Kopfwunde blutete, aber sie
sah auch, dass er atmete. Er war noch am Leben.
Einer der Soldaten schubste Mahtab fort und zu den anderen. Als
Mashaal aufsah und seine Mutter erkannte, fing er wieder an zu
schreien und streckte seine kleinen Arme nach ihr aus. Mahtab, immer
noch schluchzend, nahm ihn in ihre Arme und vergrub ihr Gesicht in
seinen Haaren. Khalil's Mutter hielt ihr eigenes Baby, sie zitterte
am ganzen Körper, dabei sah sie Khalil und Hope an. Ihr Ehemann
stand vor ihr, wobei er mit seinem eigenen Körper sie und die Kinder
schützend deckte.
Aber jetzt brüllte einer der Soldaten etwas, das sich wie ein Befehl
anhörte, denn zwei der Soldaten packten Abdul-Lateef und zerrten ihn
von seiner Familie weg. Sie verdrehten ihm die Arme hinter dem Rücken
und banden sie mit einer Plastikschnur zusammen. Hope konnte sehen,
wie die Schnur ihn ins Fleisch schnitt und die Hände eine bläuliche
Färbung annahmen. Aber er gab keinen Laut von sich.
Der befehlshabende Offizier brüllte noch einmal. Ein anderer Mann
hatte gerade das Haus betreten. Dieser trug keine Uniform, und doch
konnte Hope erkennen, dass er zu den Uniformierten gehörte.
Der kommandierende Offizier sagte ein paar Worte in seiner
sonderbaren Sprachen, und der Mann ohne Uniform drehte sich zu
Khalils Vater und begann zu reden: „Der Sergeant sagt, dass wir
hier sind, weil wir einen gefährlichen Kriminellen und Terroristen
suchen. Er hat Waffen gestohlen, um sie für terroristische
Aktivitäten einzusetzen. Sein Name ist Qasem und wir wissen, dass er
in dieses Dorf gekommen ist. Alles, was wir wollen ist, dass du uns
erzählst, wo er sich jetzt aufhält, und wo die Waffen sind, die er
transportiert hat.“
Abdul-Lateef antwortete nicht.
Der Sergeant brüllte einen weiteren Befehl, und der Soldat, der
Mahtab gestoßen hatte, schrie nun Khalils Vater an und kickte ihm
in den Unterbauch.
Der Übersetzer sagte: „Der Sergeant sagt, dass du uns besser
Antworten auf seine Fragen gibst, oder wir werden eine sehr lange
Zeit in deinem Haus bleiben.“
Der Sergeant deutete auf Parween. Und dann packte derselbe Soldat,
der Mahtab gestoßen hatte, Parween am Arm. Als sie Widerstand
leistete zog er ihr das Kopftuch vom Kopf und riss sie an den Haaren,
und zog sie so näher an ihren Mann und den Sergeanten heran. Parween
schrie auf vor Schmerz und Schock, und auch die kleine Fatima, die
sie noch immer in den Armen hielt, fing an zu schreien.
Jetzt rief auch Abu-Lateef laut aus: „Lass sie los, bitte lass sie
gehen.“ Doch der brutale Soldat hielt Parween unbarmherzig an den
Haaren fest.
Fatima weinte weiter, während der Sergeant wieder brüllte und der
Zivilist übersetzte: „Das ist doch deine Frau? Du weißt, was wir
mit ihr tun können, wenn du nicht redest!“
Der Sergeant deutete auf Khalil und gab wieder einen Befehl. Der
brutale Soldat ließ Parween's Haar los und packte stattdessen Khalil
am Arm und zerrte ihn zu seinen Eltern heran.
„Nein“,
schrien Hope, Parween und Abdul-Lateef gleichzeitig. Khalil's Vater
beantwortete die Frage des Sergeanten mit verzweifelter Stimme:
„Dieser Mann Qasem, den ihr sucht, der war hier, aber er ist
weggegangen. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist, niemand im Dorf weiß
das. Meine Frau und mein Sohn, die wissen überhaupt nichts. Bitte
lasst sie gehen.“
Der Übersetzer sagte ein paar Worte zum Sergeanten, der daraufhin
wieder brüllte und der andere Mann übersetzte: „Wir glauben, dass
du lügst. Du weißt ganz genau, wo Qasem ist, und wo die Waffen
sind! Und du wirst uns das jetzt sagen!“
Der Sergeant gab dem Soldaten, der Khalil festhielt, ein Zeichen mit
dem Kopf, und der Mann packte nun Khalil beim Kragen und schob ihm
gleichzeitig die Waffe in den Hintern.
Ein fürchterlicher Schrei kam jetzt aus Khalils Mund, und Hope
konnte sehen, wie sich seine Hose dunkel rot färbte.
„Nein!“
schrien seine verzweifelten Eltern gleichzeitig auf. Abdul-Lateef
versuchte hoffnungslos sich zu befreien, während Parween, die immer
noch ihre kleine Tochter im Arm hielt, versuchte den Soldaten am Arm
zu packen und ihn von ihrem Sohn wegzuzerren.
Hope konnte sich nicht länger zurückhalten, sie versuchte zu Khalil
zu gelangen, ihm zu helfen, irgendetwas zu tun... irgendetwas.
Aber der Soldat, der zuerst in ihr Zimmer gekommen war, hielt sie mit
seinen Armen zurück. Er sah Hope nur für einen Augenblick lang an
und Hope sah, dass der Ausdruck auf seinem Gesicht irgendwie anders
war, als auf den Gesichtern der anderen Soldaten. Es war kein Hass
und keine Grausamkeit in seinen Augen. Was sie da stattdessen zu
ihrer Überraschung erkannte, war Scham. Während er Hope und die
anderen immer noch zurückhielt, rief er seinen Kameraden etwas zu.
Der Sergeant brüllte zurück, aber er gab schließlich dem Soldaten,
der Khalil gefoltert hatte, ein Zeichen mit dem Kopf. Dieser ließ
Khalil los und schubste ihn und seine Mutter zurück in die Richtung
von Hope und den anderen. Khalil hörte auf zu schreien. Er weinte
jetzt nur noch leise. Parween übergab Hope die kleine Fatima, und,
selbst schluchzend, nahm sie Khalil fest in den Arm: „Mama“,
flüsterte er nur, „Mama, Mama...“
Der Sergeant redete jetzt wieder mit Abdul-Lateef durch den
Übersetzer: „Du kommst mit uns! Am Ende wirst du reden, ganz ohne
Zweifel! Sonst kommen wir zurück und holen uns deinen Bastard.“
Mit diesen Worten zerrten die Soldaten Khalils Vater durch die
Haustür und in den Hof.
Khalil schluchzte jetzt nicht mehr, sondern humpelte den Soldaten
hinterher und schrie: „Papa, Papa!“
Als einer von ihnen ihn wegschubste, rief er noch verzweifelter:
„Lasst ihn los, lasst ihn los!“
Doch jetzt wurde er zu Boden gestoßen. Seine Mutter, die ihm gefolgt
war, hob ihn auf. Hope übergab Fatima an Baasima und lief an die
Seite ihres Freundes, und zusammen folgten sie den Soldaten, die
Khalil's Vater hinter sich herzogen.
Aber als der erste Soldat durch das enge Tor ging, war plötzlich ein
Schuss zu hören, und Hope sah wie der Soldat zu Boden ging. Die
anderen Soldaten fingen an zu schreien und legten ihre Gewehre an.
Und während sie hinter der Mauer in Deckung gingen, besprühten sie
die Umgebung draußen mit Kugeln. Hope hörte ein paar antwortende
Schüsse, danach wurde es still.
Der Sergeant schrie wieder, und die Soldaten sprangen auf ihre beiden
Armee-Jeeps, die vor der Mauer geparkt waren. Sie zogen ihren
verwundeten Kameraden mit sich in den Wagen und ließen Khalils Vater
zurück. Abdul-Lateef stand immer noch ganz alleine da, die Hände
hinter dem Rücken gefesselt.
Die Soldaten starteten die Motoren und die Jeeps fuhren los. Doch im
letzten Augenblick sprang der Soldat, der Khalil gefoltert hatte,
noch einmal vom Jeep und preschte zurück in den Hof. Er schoss auf
Khalils Vater mit einem direkten Schuss und sprang dann wieder auf
den Jeep, der danach wegspurtete.
Khalils Vater brach wie in Zeitlupe zusammen, während Khalil,
Parween und Hope zu ihm hinrannten. Aber sie konnten nichts mehr für
ihn tun.
Abdul-Lateef war tot.
Parween sank zu Boden und begann zu jammern, als sie sich neben ihren
Mann kniete. Es war keine Schönheit mehr in ihrer Stimme, nur noch
dissonante lähmende Trauer.
Khalil war stumm, sein Gesicht war kalt und leer. Hope kannte diesen
Ausdruck nur zu gut; sie konnte ihn in ihren eigenen Knochen spüren.
Es war ein Ausdruck von völligem Unglauben. Dies konnte nicht
geschehen sein. Sein Vater konnte nicht tot sein, nichts von all dem
war real.
Jetzt kamen die anderen Mitglieder der Familie langsam aus dem Haus.
Mahtab stützte ihren Mann, der das Bewusstsein wieder erlangt hatte,
obwohl er immer noch aus seiner Kopfwunde blutete. Baasima trug
Fatima, die nicht aufgehört hatte zu weinen, obwohl das Weinen jetzt
nur noch Laute von Hoffnungslosigkeit enthielt, als ob sie verstanden
hätte, was geschehen war. Badria folgte, und sie hielt den kleinen
Mashaal an der Hand.
Andere Leute hatten ihre eigenen Häuser verlassen und kamen jetzt in
den Hof von Khalils Familie. Mehr und mehr Menschen strömten hinein.
Einige der Männer trugen Gewehre. Eine Zeit lang sagte niemand
etwas. Alles, was zu hören war, war Parweens Jammern und Fatimas
leises Weinen.
Und plötzlich begannen alle gleichzeitig zu reden. Hope konnte die
Worte nicht verstehen, aber sie hörte zornige, angsterfüllte und
verzweifelte Stimmen. Am Ende sagte Khalils Onkel zu seiner Frau:
„Ihr müsst jetzt gehen. Sie werden zurückkommen, diese Soldaten
werden wieder kommen, und nächstes Mal werden es mehr sein.“
„Abdul-Khaliq
hat Recht“, sagte ein Mann, dessen Stimme Hope als die des
Bürgermeisters erkannte. Sie sah hoch und da stand er am Tor.
Der Bürgermeister fuhr fort: „Sie werden mit Flugzeugen
zurückkommen und mit noch mehr Waffen. Ihre Rache wird furchtbar
sein. Alle Frauen und Kinder müssen Pazwaak verlassen, und zwar auf
der Stelle.“
„Verlassen“,
rief Mahtab verängstigt, „aber wohin sollen wir gehen?“
„Ihr
müsst nach Pashtana gehen“, sagte der Bürgermeister, „zum
Schulhaus dort. Die Leute von Pashtana werden euch helfen. Aber ihr
müsst jetzt gehen! Ihr dürft keine Zeit verlieren. Nehmt nicht viel
mit, ein paar Decken und Flaschen mit Wasser und etwas Brot, das muss
ausreichen.“
Der Bürgermeister drehte sich zu den anderen Männern um: „Sagt
euren Familien auch, dass sie gehen müssen.“
Mahtab wandte sich ihrem Mann zu: „Kommst du mit uns?“
Abdul Khaliq schüttelte den Kopf und sagte mit trauriger Stimme:
„Ich muss meinen Bruder begraben, und wir müssen das Dorf
verteidigen.“ Dann wurde sein Ton rau: „Geh jetzt! Nimm die
Kinder und Parween und geh!“
Khalils Mutter hatte nichts von dem gehört, was gesagt worden war.
Sie war in ihrer eigenen Welt der Trauer. Sie wehrte sich zuerst, als
Mahtab versuchte ihr hoch zu helfen. Am Ende erlaubte sie es ihr
doch, sie ins Haus zu führen. Parween starrte blind vor sich hin und
ging wie eine Schlafwandlerin. Mahtab musste die gesamte Initiative
ergreifen. Effizient packte sie zwei Körbe mit Lebensmitteln voll
und übergab sie Hope und Khalil, danach befahl sie ihnen und den
anderen Kindern, dass jeder eine Decke mitbringen sollte.
Am Ende übergab sie Fatima an Parween, während sie selbst Mashaal
hochhob. Und jetzt, nachdem alles bereit war, führte sie alle nach
draußen, und gemeinsam verließen sie ihr Zuhause. Abdul Khaliq war
schon mit den anderen Männern weggegangen.
Als ihre kleine Gruppe am Dorfplatz ankam, sahen sie Dutzende von
anderen Frauen, die auch ihre Häuser verlassen hatten, mit ihren
Kindern im Arm oder hinter sich herziehend. Einige der Kinder
weinten, die meisten sahen verwirrt aus. Ihre Mütter waren voller
Furcht.
Und so ging die traurige Menschengruppe die staubige Straße entlang.
Hope und Khalil gingen an beiden Seiten von Khalils Mutter, die immer
noch wortlos und wie in Trance einen Schritt vor den anderen setzte.
Auch Khalil war merkwürdig still. Hope versuchte gar nicht erst, mit
ihm zu reden.
Niemand redete viel, nicht einmal die Kinder.
Omaid und Baseer, die ältesten der Jungen, führten die Gruppe den
Weg entlang, einen Weg, den sie so gut kannten, weil sie ihn ja jeden
Tag zur Schule gingen. Und obwohl es immer noch Nacht war, schien der
Mond doch hell genug, so dass jeder sehen konnte, wohin sie gingen.
Normalerweise würde es nur eine Stunde nach Pashtana dauern, aber
mit den kleinen Kindern und den Bündeln, die alle zu tragen hatten,
würden sie sicherlich länger brauchen, erklärte Omaid Hope, der
einzigen Fremden in der Gruppe. Hope nickte nur.
Sie mussten wohl bereits eine halbe Stunde unterwegs gewesen sein,
als sie den Lärm von Flugzeugen über sich hörten. Hope wusste,
dass dies ein bedrohliches Geräusch war, und alle anderen wussten
das auch. Die Leute begannen schneller zu gehen, einige rannten.
Plötzlich war es nicht mehr dunkel. Die Dunkelheit war von einem
Feuer ersetzt worden, dass vom Himmel regnete. Alle schrien, als sie
zurückschauten. Das Feuer fiel auf das Dorf Pazwaak, und die Flammen
schossen hoch und erleuchteten den Himmel.
Ein unbekannter Geruch füllte die Luft. Hope spürte ein
schmerzhaftes Brennen in ihren Nasenhöhlen und dann den ganzen Weg
zu den Lungen hinab. Die meisten Frauen drehten sich um und begannen
wieder zu rennen, wobei sie ihre Kinder hinter sich her zerrten.
Khalil und seine Mutter aber standen wie angewachsen und schauten auf
das brennende Dorf zurück.
In der Entfernung sahen sie eine kleine Gestalt, die ihnen
entgegenlief, eine Gestalt, die einer brennenden Fackel glich. Im
selben Moment noch fiel sie zu Boden, und die Flammen loderten immer
noch.
„Mein
Onkel“, flüsterte Khalil, „mein Onkel.“
„Nein“,
protestierte Hope, „das kannst du nicht sehen. Das ist er nicht, er
ist es nicht!“
Sie packte Khalil an der Schulter. „Wir müssen jetzt gehen“,
drängte sie, „wir müssen gehen. Beeil dich!“
Widerwillig drehte Khalil sich um. Und als Hope Parweens Arm
berührte, drehte auch sie sich um. Sie begannen weiter zu gehen, und
sie gingen und gingen in Richtung Pashtana, wo sie sicher sein
würden.
Aber es war noch nicht vorbei. Ein anderer Lärm war jetzt in der
Luft zu hören, näher noch, und sogar noch bedrohlicher. Wie alle
anderen sah Hope nach oben. Sie erkannte das Fluggerät. Sie hatte
Bilder davon gesehen. Dies Ding wurde Hubschrauber genannt. Und es
waren dort mindestens drei davon, vielleicht mehr, Hope war sich
nicht sicher. Aber es waren genau drei riesige Lichtkegel, die den
Boden absuchten. Und jetzt kamen neue Geräusche, die schlimmsten,
die sie je gehört hatte, sie füllten die Luft mit tausenden und
tausenden von kleinen Explosionen. Hope wusste, was es war, es waren
Schüsse.
Die Leute vor ihnen fielen zu Boden. Einige schrien vor Schmerz,
andere vor Angst, einige waren nur ganz still.
Dann ging auch Khalils Mutter zu Boden, und sie hielt Fatima immer
noch im Arm. Trotz der Dunkelheit der Nacht konnte Hope die dunkle
Flüssigkeit sehen, die sich über ihre Kleider und die von Fatima
ausbreitete und über den Boden, um sie herum.
Parween begann schwer zu atmen. Khalil wurde starr vor Schreck.
Parween fing an mit einem Gurgeln in der Stimme kaum hörbaren zu
reden: „Fatima“, sagte sie. „Vergiss nicht Fatima.“
Mit allerletzter Kraft versuchte sie ihre kleine Tochter zu Khalil
hochzuheben, aber dann fielen ihre Arme zu Boden, und sie lag still
da. Hope weinte. Khalil beugte sich hinunter und nahm Fatima aus den
Armen seiner leblosen Mutter. Er hielt sie fest an sich gepresst.
„Wir müssen jetzt gehen“, sagte er zu Hope mit einer unheimlich
tonlosen Stimme.
Aber Hope hatte die Hubschrauber bemerkt, die kehrt machten und in
ihre Richtung zurückflogen, wieder auf die Menschen auf dem Boden
zu. Mehr Schüsse waren zu hören. Hope ließ sich zu Boden fallen
und zog Khalil an seinen Kleidern. Sie schrie: „Runter Khalil,
runter. Sie schießen auf dich, wenn du stehst.“
Aber es war schon zu spät, Khalil war getroffen worden. Hope sah,
wie er zu Boden sank. Und genau wie seine Mutter vor ihm, hielt er
immer noch seine kleine Schwester im Arm, und er sagte sogar
dieselben Worte wie seine Mutter: „Fatima, vergiss nicht Fatima!“
Mit einem verzweifelten Blick sah er Hope an, die ihm das Baby
abnahm. Khalil machte noch einen letzten Atemzug und starb...
Die Lichter der Hubschrauber waren endlich ausgeschaltet worden, und
ihr Lärm wurde leiser, sie flogen davon. Hope kniete immer noch mit
dem Baby im Arm.
Aber dann legte sie Fatima wieder sanft zurück in Khalils Arme. Sie
hatte gesehen, was Khalil nicht gesehen hatte oder nicht sehen
wollte... Die Kugel, die seine Mutter getötet hatte, hatte Fatima
zuerst durchbohrt. Sie war direkt durch sie hindurch in den Körper
ihrer Mutter gedrungen. Und wo ihr kleines Herz einmal war, da war
jetzt ein Loch.
Hope stand auf. Sie sah sich um und versuchte etwas zu hören. Aber
nirgendwo gab es auch nur das geringste Geräusch.
Endlich dämmerte es und wurde heller. Hope konnte nun die Frauen und
Kinder von Pazwaak als kleine Häufchen auf dem Boden liegen sehen...
stille, bewegungslose Häufchen.
Plötzlich sah sie eine Bewegung nicht weit entfernt. Sie lief darauf
zu. Aber dann stoppte sie, sie wollte nicht näher kommen. Eine
türkis-farbenes Kopftuch, mit roten Flecken bedeckt, flatterte im
Wind über einem anderen bewegungslosen Häufchen. Hope wusste, wer
das einmal gewesen war.
Sie begann zu schreien. Sie schrie, wie sie nie zuvor geschrien
hatte.
Und in diesem Augenblick verschwand das Morgengrauen von Kahlils Welt
und machte Platz für das künstliche Licht einer großen leeren
Halle. Die Tür öffnete sich, und Hope's Mutter kam herein. Sie
rannte auf Hope zu, die immer noch schrie. Das Schreien wurde zum
Schluchzen: „Mama, Mama“, weinte Hope. „Sie sind alle tot, alle
sind sie tot! Khalil und seine Mutter und Fatima und Baseema, alle
tot, alle...“
Hope's Mutter hatte die Arme um ihre Tochter geschlungen und redete
sanft und beruhigend auf sie ein: „Sie sind schon vor langer Zeit
gestorben, Hope, vor sehr langer Zeit. Es war nur eine Simulation. Es
war nicht real.“
„Nein
Mama“, schluchzte Hope in ihren Armen. „Sie sind jetzt gestorben,
gerade jetzt.“
Sie fühlte, wie die Beine unter ihr nachgaben, plötzlich fiel sie
und fiel, nur gehalten von den Armen ihrer Mutter, die sie noch
fester an sich drückte als zuvor. Und dann wurde alles schwarz.
Und es blieb schwarz.
David konnte sich selbst atmen hören. Langsam öffnete er die Augen.
Diesmal bemerkte er, dass Hope genau so viel Übelkeit verspürte,
wie er. Er konnte ihre Projektion immer noch im Dunkeln leuchten
sehen, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht war dunkel, zu dunkel für
Tränen.
David teilte Hope's Traurigkeit, aber diese vermischte sich mehr und
mehr mit seinen eigenen Gefühlen von überwältigendem Zorn.
„Wie
konnten sie dir das antun“, brach es aus ihm heraus. „Sie haben
dich traumatisiert. Was für eine Art Lehrer ist das eigentlich, dass
er dich in so eine Simulation gezwungen hat, sogar gegen den
Widerstand deiner Mutter.“
„Es
ist das Gesetz“, erwiderte Hope. „Alle Kinder müssen da
hindurch, wenn sie zwölf Jahre alt sind.“
„Was
für ein brutales, rücksichtsloses Gesetz missbraucht Kinder auf
diese Weise?“ David konnte das nicht akzeptieren. „Und deine
Leute nennen unser Zeitalter die 'Dunklen Zeiten'?“
„In
deiner Zeit“, gab Hope zurück, „da spielen Kinder Simulationen,
wo sie die Verursacher der Gewalt sind. Du hast doch mit Mr Santini
darüber geredet, erinnerst du dich nicht?“
Hope konnte nicht anders, selbst jetzt musste sie ihre Kultur
verteidigen: „In meiner Zeit simulieren wir, dass wir Opfer von
Kriegsgewalt werden.“
„Nicht
alle Spiele sind gewalttätig“, stellte David klar. „Und nicht
alle Kinder spielen Computerspiele. Und diese Spiele sind bei weitem
nicht so realistisch, wie das, was mit dir dort geschehen ist.“
„In
deiner Zeit“, sagte Hope traurig und mit leiser Stimme, „da war
das keine Simulation. Viele Kinder in der ganzen Welt müssen Kriege
durchleben.“ Sie zögerte für ein paar Sekunden und sagte
abschließend: „Und die Leute von Pazwaak sind wirklich tot.“
Das ließ David verstummen. Sie waren beide eine Zeit lang still,
starrten in den dunklen Himmel und hörten auf die leisen Geräusche
des Verkehrs weit weg von ihnen.
Am Ende fragte David: „Was ist mit Farooq geschehen, weißt du
das?“
Hope nickte und antwortete: „Sensei hat es mir erzählt, nachdem er
mich aus dem Gemeindesaal nach Hause getragen hat. Und er hat mich
auch eine ganze Woche lang jeden Tag besucht, bis es mir gut genug
ging, dass ich wieder in die Schule gehen konnte. Er ist ein guter
Sensei“, verteidigte Hope ihren Lehrer.
Dann fuhr sie fort: „Also Farooq wurde von den Männern gefangen
genommen, die in Pazwaak eingedrungen waren. Aber in der Nacht bevor
er zu einem Militärgefängnis transportiert werden sollte, ist ein
Soldat mit ihm fortgefahren, um ihn in der nächsten Stadt frei zu
lassen. Aber sein Fahrzeug brach zusammen, als er in die Nähe eines
Dorfes war.
Und als er sah, dass seine Kameraden näher kamen, sagte der Soldat
zu Farooq er sollte weglaufen und sich verstecken, während er selbst
in einem verlassenen Haus blieb. Die Menschen aus dem Dorf
versteckten Farooq in einem Schuppen, aber sie zeigten den
Verfolgern, wo der mitleidige Soldat war. Und obwohl Farooq es selbst
nicht sah, erfuhr er später von den Leuten im Dorf was geschehen
war. Die Soldaten umstellten das Haus und warfen Sprengkörper
hinein, und am Ende trugen sie Farooqs Retter aus dem Haus, er war
tot...“
Als Hope aufhörte zu reden, beendete David die Geschichte: „Und
der Soldat war Marco Santini.“
Hope nickte: „Sensei hat mir seinen Namen nie genannt, aber ich bin
sicher, dass er es gewesen sein muss. Die Geschichten sind einfach zu
ähnlich.“
Sie atmete tief und fuhr fort: „Als Farooq erwachsen war, wurde er
ein Mann des Friedens. Obwohl er eigentlich jemand hätte sein
sollen, der für all das, was mit seinen Verwandten geschehen ist,
und was er gesehen hat in Pazwaak, nach Rache dürstet, aber das tat
er nicht.
Er schrieb das auf, was er gesehen hatte und erzählte es vielen
Leuten, erst in seinem eigenen Land und später in vielen Ländern,
bis die ganze Welt seine Geschichte kannte. Und wenn Leute ihn
fragten, warum er nicht bitter geworden ist und voller Hass, dann
sagte er immer, er hat Menschlichkeit im Gesicht seines Feindes
gesehen.“
Hope hielt wieder inne und David sagte verwundert: „Marco
Santini... nur wegen Marco Santini... Es ist merkwürdig sich
vorzustellen, dass dieser eine Akt von Mitgefühl, all den Schaden,
der in Farooqs Psyche durch seine furchtbaren Erlebnisse entstanden
sein musste, weggenommen hat.“
Hope nickte: „Ja, das ist schon merkwürdig. Aber weil Farooq ein
Mann des Friedens wurde, darum wurde seine Geschichte zum
Opfer-Szenario für alle Kinder der Welt in meiner Zeit.
Farooq erhielt viele Coins in seiner Zeit. Die meisten davon benutzte
er, um mit Menschen überall auf der Welt vom Frieden zu sprechen.
Aber mit einigen von den Coins wurde genau an dem Ort, wo die Frauen
und Kinder von Pazwaak getötet wurden, ein Mahnmal gebaut. Obwohl
in dieser Gegend zu Farooqs Zeiten viele Leute dagegen waren, dass
menschliche Abbilde aufgestellt würden, durfte dieses doch stehen
bleiben. Und es steht immer noch in meiner Zeit.“
Vor Davids Augen erschien ein Steindenkmal, und es leuchtete in der
Dunkelheit der Nacht. Oben auf dem Denkmal war die Figur eines Jungen
zu sehen, der ein Kleinkind auf dem Schoß hielt. Er hielt ein Buch
in den Händen, das beide Kinder betrachteten, und das kleine Mädchen
deutete mit dem Finger darauf. Buchstaben, die David nicht lesen
konnte, waren auf den Stein darunter eingraviert. Hope wusste, was
sie bedeuteten und übersetzte für David:
„Ich werde mich immer an Fatima erinnern.
Ich werde die Menschen von Pazwaak niemals vergessen,
die Stimmen der Unschuldigen, die zum Himmel rufen.
An diesem Ort wurde Hoffnung (Omaid) zerstört
und Freundlichkeit (Latif) und Großzügigkeit(Jawad)
und das Lächeln (Baasima) eines Kindes.
Licht (Mashaal) wurde zur Dunkelheit
im Schein des Mondes (Badria und Mahtab)
und der strahlenden Sterne (Parween).
Doch nur für eine Zeit lang,
denn die Stimmen (Pazwaak) von euch wurden gehört
und euer Rufen wurde beantwortet
Für jetzt mein Freund (Khalil) schlafe.
Schlafe in den Armen des Friedens,
den Armen des Friedens.“
***
Der Manager der Fabrik trägt
einen Designer-Anzug und eine gestreifte Krawatte. Er gibt sich Mühe
den Eindruck von jemandem zu erwecken, der einen hohen
gesellschaftlichen Status und ein hohes Einkommen hier in Nephilim
City genießt. Ich weiß, dass sein Name Remus Talbot ist, trotzdem
habe ich mich entschieden, ihn nicht zu gebrauchen. Stattdessen gebe
ich ihm zur Begrüßung nur ein kurzes Kopfnicken und beginne sofort:
„Wir
haben hier schon viel zu lange gewartet. Sie kennen mich doch, oder
muss ich mich Ihnen vielleicht erst vorstellen?“
„Natürlich
nicht, Mr Galt,“ versichert mir Talbot, wobei sein Gesicht nervös
zuckt, „obwohl es schon ein paar Jahre her ist, seit Sie gemeinsam
mit Ihrem Vater diese Anlage inspiziert haben. Was kann ich für Sie
tun?“
„Für
mich?“ gebe ich mit eiskalter Stimme zurück, „überhaupt nichts!
Allerdings ist mein Vater enorm enttäuscht davon, wie diese
Fertigungsanlage verwaltet wird. Ihre Produktionsleistung lässt
stark zu wünschen übrig, und mein Vater vermutet, dass dies an
Ihrer Ineffizienz liegt.“
„Aber
Mr Galt,“ protestierte Talbot, „wir haben unsere Produktion im
letzten Jahr um 20 Prozent gesteigert. Wir tun unser bestes, um die
Standards...“
Ich unterbreche ihn kalt: „Hat
mein Vater Ihnen nicht erklärt, wie unzureichend das in der
gegenwärtigen Situation ist?“
„Ja
Sir, Mr Galt, das hat er und wir haben seitdem unsere Anstrengungen
noch weiter erhöht. Wie...“
„Offensichtlich
nicht genug“, unterbreche ich ihn wieder, „oder warum sollte er
es sonst für notwendig erachten, mich persönlich, zusammen mit
meinem Effiziensteam, hierher zu schicken?“ Ich zeige auf Antonio
und seine Männer.
Ich muss Talbot noch weiter in
die Enge treiben, ihm keinen Spielraum zum Nachdenken geben, und so
gebe ich meine Befehle: „Die Produktion muss um mindestens 30
weitere Prozent angehoben werden. Diese Männer hier sind unsere
Top-Effizienz-Fachleute. Sie werden entscheiden, wo die Schwachpunkte
liegen, und welche Maschinen oder welches Personal ausgewechselt
werden müssen.
In den nächsten fünf Stunden
werden diese Männer Zugang zu jeder Anlage, jedem Produktionsband
und zu allen Hangars erhalten. Haben Sie das verstanden?“
„Ja,
Mr Galt, natürlich Mr Galt. Mein Personal wird in jeder Hinsicht mit
Ihren Experten kooperieren.“
Wieder nicke ich kurz: „Mein
Vater erwartet nichts anderes von Ihnen.“
***
Sie saßen in der Dunkelheit, versunken in ihren gemeinsamen Gedanken
von tiefer Traurigkeit. Nach einiger Zeit spürte David, wie die
Dunkelheit sich sogar noch mehr vertiefte, denn Gefühle von immer
größer werdender Angst durchfluteten ihn, die am Ende in
Verzweiflung mündeten.
David bemerkte, dass Hope ihr Gesicht mit den Händen bedeckt hatte,
obwohl sie nicht weinte.
Endlich begann sie zu reden, langsam murmelnd, als ob sie mit sich
selbst sprach, mit langen Pausen zwischen ihren Halbsätzen: „Ich
habe immer geglaubt, dass es das richtige war... richtig für uns
diese Szenario zu durchlaufen..., dass es notwendig sei, weil alle
Leute sagen... notwendig um den Frieden zu bewahren... Aber jetzt
weiß ich es nicht mehr... ich weiß überhaupt nichts mehr...“
Sie nahm ihre Hände vom Gesicht und sah David an: „Es hat nicht
funktioniert, Onkel David! Es hat einfach nicht funktioniert!“
Ihre Stimme wurde lauter und verzweifelter: „Du hattest Recht, du
hattest Recht mit meiner Mama und... oh nein, oh nein...“
David streckte instinktiv die Hand nach ihr aus, aber er griff nur
nach Luft. Er zog seine Hand zurück und wünschte, dass er nur für
dieses eine Mal, Hope in den Arm nehmen und trösten könnte.
Stattdessen sagte er sanft: „Hope, bitte erzähl es mir jetzt...
bitte Hope, was ist geschehen in...“ und die Worte formten sich in
seinem Geist „Orange Country und… Nephilim City?“
Im selben Augenblick war ein Damm gebrochen. Eine Flut von Bildern,
Gesichtern, Stimmen und Geräuschen ergoss sich gleichzeitig über
David's Bewusstsein, zusammen mit Emotionen, die von erdrückender
Angst bis zu rasender Wut reichten.
„Hope,
ich kann nicht...bitte...“ David zitterte unter der mentalen
Überlastung. „Erzähl es mir auf die Weise, wie du es mir sonst
auch erzählt hast.“
David konnte die mentale Anstrengung spüren, die es Hope kostete,
sich wieder zu konzentrieren. Sie schloss ihre Augen und David
schloss seine. Die Bilder verblassten, und alles wurde wieder
schwarz, obwohl sie die Gefühle nicht unterdrücken konnte.
Aus der Dunkelheit hörte David nun Hope's zitternde Stimme: „Alles
begann vor sechs Tagen... nein, es sind jetzt schon sieben Tage, eine
Woche. Vor nur einer Woche war alles normal... und es herrschte
Frieden... Mama war bereits seit zehn Wochen auf ihrer
Eisbrecher-Mission, und sie sollte in zwei Wochen für eine
sechswöchige Pause nach Hause kommen, aber dann... dann...“
Hope atmete tief: „Es war bereits am Morgen, als ich bemerkte,
dass etwas geschehen war. Großonkel Professor redete beim Frühstück
kaum ein Wort, und hinterher schloss er sich in sein Labor ein.
Unterwegs zum Kuhstall und danach auf dem Weg zur Schule, konnte ich
die Erwachsenen sehen, wie sie miteinander tuschelten. Aber immer,
wenn wir Kinder in ihre Nähe kamen, hörten sie damit auf. Ein
sonderbarer Ausdruck war dann auf ihren Gesichtern, einer den ich
nicht lesen konnte. Derselbe Ausdruck war auch auf Sensei's Gesicht
während des Unterrichts. Plötzlich beendete er dann vorzeitig seine
Lektion und schickte uns nach Hause... ohne jede Erklärung.
Als
Sensei gegangen war, erzählte uns Jason Tyler, einer der Jungen,
dass er wusste, dass heute Abend eine Dorfratsversammlung stattfinden
würde. Sein älterer Bruder hatte es geschafft, den
Abwesenheitsschlüssel zu knacken, und er würde sich mit seinen
Freunden, ein paar anderen Jugendlichen treffen, um die Versammlung
anzuschauen. Jason hatte seinen Bruder bedrängt, ihm den Schlüssel
auch zu geben, so dass die Sempais unserer Klasse auch zuschauen
könnten.“
Auf Davids unausgesprochene Frage erklärte Hope: „Der
Abwesenheitsschlüssel ist eine Passwort-Sequence, die es den
Erwachsenen erlaubt, eine Dorfratsversammlung von Zuhause aus
anzuschauen.“
Sie fuhr fort: „Wir beschlossen, uns bei Jenny zu treffen, weil sie
ihre kleinen Brüder nicht allein lassen durfte, während ihre Eltern
auf der Versammlung waren.“
Die Dunkelheit löste sich und wurde von der Projektion einer Gruppe
von sieben Teenagern in einem gemütlichen Wohnzimmer ersetzt. Sie
saßen auf einer Couch und zwei Sesseln, die gegenüber einer Wand,
die als Computer-Bildschirm fungierte, aufgestellt waren. Eines der
Mädchen, Jenny, saß allerdings auf dem Teppichboden, wo sie mit
zwei Kleinkindern spielte, während sie trotzdem versuchte die Wand
im Auge zu behalten.
Auf dem Schirm konnte man in einer großen Halle hunderte von Leuten
beobachten, die auf langen Bänken vor schmalen Tischen saßen.
Während die ersten Reihen bereits voll besetzt waren, füllten sich
gerade die hinteren Bänke, und die letzten fünf Reihen stiegen
gerade langsam aus dem Boden hervor.
Jetzt war im Wohnzimmer die zögerliche Stimme von Ameenah, Hope's
Freundin zu hören: „Vielleicht sollten wir das nicht anschauen.
Es ist gegen die Regeln. Wenn auf dieser Versammlung etwas besprochen
wird, das uns betrifft, dann werden uns die Erwachsenen das morgen
erzählen.“
„Nein,
das werden sie nicht“, widersprach Jason zornig. „Ich weiß
nämlich, dass es etwas mit dem zu tun hat, was im letzten Jahr
passiert ist. Mein Bruder hat mir das erzählt, er hat es
herausgefunden. Es geht um das Mädchen aus der Reh-Hausgemeinschaft,
das letzten Sommer ins Exil geschickt wurde. Er kannte sie, weil sie
im gleichen Alter wie er ist, wirklich noch jugendlich. Ich denke,
das ist etwas, das uns sehr wohl etwas angeht. Aber sie haben uns
letztes Jahr nichts davon erzählt, jetzt werden sie es auch nicht
tun.“
Ameenah hatte immer noch ihre Zweifel und sah Schuld bewusst aus,
aber sie widersprach nicht und versuchte auch nicht wieder zu gehen.
Endlich begann die Versammlung, und alle konzentrierten sich auf den
Schirm.
Die erste Reihe, die den anderen gegenüber stand, war leicht erhöht.
Hinter ihr fungierte auch hier die Wand als ein riesiger Bildschirm,
und im Augenblick stand da ganz oben geschrieben:
Asyl-Antrags-Konferenz.
Darunter konnte man in Überlebensgröße die Bilder von drei der
Leute sehen, die auch in der ersten Reihe saßen: Es waren ein junger
Mann und ein junge Frau, die ein kleines Kind von etwa drei Jahren
auf dem Schoß hielt. Der junge Mann trug Jeans und ein T-Shirt,
während die junge Frau und das Kind schlecht sitzende Kleider
trugen, die auf einem bräunlichen Untergrund mit weißen Punkten und
Kreisen bedeckt waren. Sie sahen also alle drei ganz anders aus, als
alle anderen Leute im Saal.
Als die letzten Bürger des Dorfes ihre Sitze ganz hinten im Saal
eingenommen hatten, hörte man kurz eine Glocke läuten, und das
Gemurmel der vielen Stimmen hörte auf.
Die Frau, die in der Mitte der ersten Reihe saß, erhob sich von
ihrem Sitz. Der schmale Tisch vor ihr hob sich auch langsam hoch und
wurde so zum Pult. Zur selben Zeit wurden die Projektionen der drei
Leute auf der Wand hinter ihr von einer Projektion von ihr selbst
ersetzt. Auch dies war ein Bild in Überlebensgröße. Über ihr
erschienen die Worte: 'Erin Keilar', vermutlich ihr Name.
Ms Keilar umfasste das Pult mit beiden Händen und begann zu der
Versammlung zu sprechen: „Guten Abend, meine Mitbürger aus
Spesaeterna
Wie ihr wahrscheinlich wisst, so bin ich seit bereits seit zwei
Monaten die Organisatorin des Dorfrates, und ich werde diese Position
noch vier Monate lang einnehmen.“
Die Stimme von Ms Keilar hörte sich formal, aber unsicher an. Sie
erweckte den Eindruck, dass sie sich in der ihr zugewiesenen Rolle
nicht ganz wohl fühlte.
Sie atmete tief ein, und fuhr dann mit den Formalien fort: „Heute
habe ich eine außerordentliche Ratsversammlung einberufen, weil ich
die Anträge für drei Personen um Asyl in unserem Dorf erhalten
habe. Diese Anträge werden von zwei unserer Bürger unterstützt,
nämlich von Ms Monica und Mr Aaron Callahan aus der
Reh-Hausgemeinschaft, den Eltern eines der Asylbewerber.
Die Bewerber heißen Ms Luscinia Callahan und Mr Jonathan...“
Ms Keilar wurde von einer Frau aus der Versammlung unterbrochen, die
aufgestanden war. Wie der Tisch von Ms Keilar, so war auch der dieser
Frau zum Pult geworden, und ihr Name, Dora Paine, erschien über
ihrer Projektion auf dem großen Wandschirm.
Ms Paine war mindesten zwanzig Jahre älter als Ms Keilar, und sie
hörte sich bei weitem selbstbewusster an: „Ich protestiere formal,
dass dieses Kind an der Versammlung teilnimmt. Dies ist kein Ort für
ein Kind, ganz besonders nicht, wenn es um ein Asylverfahren geht.
Ich schlage vor, dass meine jüngste Tochter Sheila gerufen wird. Sie
ist eine verantwortungsvolle junge Frau und würde sich, während der
Versammlungszeit gut um das Kind kümmern.“
Ms Keilar antwortete in entschuldigendem Ton: „Nun ja, wir haben
versucht zu organisieren, dass jemand anders sich um das kleine
Mädchen kümmert. Aber sie hat dabei so fürchterlich geweint und
dann... wussten wir nicht, was wir tun sollten... und...“
Jetzt erhob sich die junge Frau in dem gepunkteten Kleid, -Luscinia
Callahan stand über ihrer Projektion an der Wand- und übergab das
kleine Mädchen dem jungen Mann, der neben ihr saß. Als ihr Pult
aufgestiegen war, begann sie zu sprechen:
„Sie
müssen verstehen, Ms Paine, dass Natsuki wirklich sehr verängstigt
ist. Alles hier im Dorf ist neu für sie und so anders als das, was
sie gewöhnt ist. Und sie vermisst ihre Eltern sehr. Jonathan und ich
sind die einzigen vertrauten Gesichter hier, und deshalb klammert sie
sich so verzweifelt an uns. Bitte erlauben Sie ihr hierzubleiben. Sie
wird nichts von dem verstehen, was hier besprochen wird, ihre
Muttersprache ist Interlingua.“
Ms Paine war noch nicht ganz bereit einzulenken: „Aber wo sind dann
ihre Eltern? Warum sind die nicht hier?“
„Das
ist sehr kompliziert“, sagte Luscinia und schluckte. „Ich werde
Ihnen allen die ganze Geschichte erklären. Genau wie ich erklären
werde, wie und warum Jonathan und ich hierhergekommen sind.“
„Ja,
das ist überhaupt etwas, das ich in keiner Weise verstehe,“ sagte
ein Mann um die vierzig, der jetzt hochgesprungen war, und dessen
Projektion auch neben Ms Keilar, Ms Paine und Luscinia an der Wand
erschienen war. Sein Name wurde dort als Henry Darby angegeben.
Mit Entschlossenheit in der Stimme beschwerte sich Mr Darby: „Gemäß
der Regeln, die vom Dorfrat von Spesaeterna beschlossen wurden, kann
eine Person, die permanent ins Exil geschickt wurde, nie wieder in
unserem Dorf um Asyl ansuchen...“
Jetzt sprang ein Mann mittleren Alters auf die Beine. Er hatte neben
Luscinia gesessen und die Schrift über seiner Projektion an der Wand
wies ihn als Aaron Callahan aus, er war offensichtlich ihr Vater. Mr
Callahan wartete gar nicht erst bis sein Pult hochkam, sondern begann
sofort mehr zu schreien als zu reden, obwohl seine ersten Worte noch
unhörbar waren: „... kostbare Regeln, das ist alles, was für dich
zählt, Henry Darby, sonst überhaupt nichts! Nicht die Menschen, nur
die Regeln! Was das mit meiner Tochter... was ihr alle ihr angetan
habt...“ rief Mr Callahan mit gebrochener Stimme.
Jetzt unterbrach Ms Keilar und sagte: „Die gegenwärtige Diskussion
ist völlig gegen das Protokoll. Bitte, es sollte nur eine Person auf
einmal hier sprechen. Ich war gerade dabei die formale Prozedur zu
erkl...“
Mr Callahan hörte nicht zu, und er sah aus, als hätte er sie
überhaupt nicht gehört. Er hatte den Arm seiner Tochter gepackt,
hob ihn hoch und zog ihren Ärmel bis zum Ellenbogen zurück und
schrie: „Dies ist, was ihr alle ihr angetan habt...“
Luscinias Arm war mit etwa einem Dutzend runder Narben bedeckt, die
ein seltsames Muster aufzeigten. Luscinia zog ihren Arm zurück,
bedeckte ihn wieder und redete dann beruhigend auf ihren Vater ein,
obwohl ihre Stimme auch für alle anderen noch hörbar war: „Papa,
bitte... sie haben es nicht gewusst, niemand wusste es...“
Ihr Vater konnte nicht beruhigt werden: „Sie hätten es wissen
sollen, sie hätten versuchen sollen, es herauszufinden bevor sie
dich dort hingeschickt haben. Du warst doch erst 19, erst 19... es
war falsch... ich hätte selbst etwas tun sollen... ich hätte...“
Seine Stimme brach wieder, und am Ende rief er verzweifelt: „Dr
Perez, sagen Sie es ihnen, sagen Sie es...!“
Am anderen Ende der ersten Reihe stand eine Frau mittleren Alters
namens Maria Perez langsam auf. Sie räusperte sich, bevor sie
vorsichtig zu sprechen begann: „Gestern Abend habe ich auf die
Bitte von Mr und Mrs Callahan, da ich die Ärztin der
Reh-Hausgemeinschaft bin, ihre Tochter Luscinia untersucht. Meine
Untersuchung hat ergeben, dass die junge Ms Callahan schwer
unterernährt ist, ihr Blut weist eine Mangelerscheinung an mehreren
Vitaminen und Mineralien auf...“
Dr Perez räusperte sich noch einmal und fuhr fort: „Ihr Körper
zeigt Hämatome unterschiedlicher Form und Alters, ebenso wie schwere
Vernarbungen an ihren Genitalien. Was mich am meisten verwunderte,
waren die gemusterten Narben auf ihrem Rücken, an ihren Armen und
an ihren Beinen.
Nachdem ich mich mit Schwester Jennesy aus unserer Hausgemeinschaft
besprochen habe, zogen wir auch die Doktoren Arend und Newman aus der
Delphin und der Bären Hausgemeinschaft hinzu“, sie deutete auf
einen Mann und zwei Frauen, die neben ihr saßen. „Gemeinsam kamen
wir zu dem Ergebnis, dass diese Narben Brandnarben seien, die nicht
das Resultat eines Unfalls sein konnten.
Wir als professionelle Gesundheitsunterstützer haben solche
Verletzungen nie zuvor gesehen, und nach eingehender Recherche auf
dem Friedensnetz schlug Dr Newman vor, dass diese Verletzungen nur
mit Narben verglichen werden konnten, die auf so etwas wie Folter
basierten, wie sie in den Dunklen Zeiten durchgeführt worden ist...“
Aus dem Saal konnte man jetzt ein geschocktes Murmeln hören. Die
Frau, die neben Mr Callahan saß, eindeutig Luscinias Mutter,
bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Obwohl kein Laut zu hören war,
konnte man deutlich erkennen, wie ihr ganzer Körper unter einem
verzweifelten Schluchzen zitterte. Das Gesicht von Mr Callahan hatte
alle Farbe verloren. Er sank auf seine Bank zurück, als ob seine
Beine ihn nicht mehr tragen konnten.
Dr Perez hatte sich jetzt auch wieder hingesetzt, genau wir Mr Darby
und Ms Paine. Nur Luscinia und Ms Keilar standen noch und waren an
der großen Wand sichtbar, die letztere hielt sich an ihrem Pult fest
und an der Rolle, die sie ausfüllen musste.
Jetzt stand eine andere Frau aus dem Saal auf. Es war Ms Alba, eine
Freundin von Hope's Großmutter.
Sie redete nicht direkt mit Luscinia, stattdessen sprach sie ihren
Vater an: „Mr Callahan, ich bin sicher, dass ich für alle
Mitglieder des Dorfrats spreche, wenn ich erkläre, dass wir ihre
Gefühle über die Verletzungen, die Ihrer Tochter in Orange Country
beigebracht wurden, sehr gut verstehen können. Aber wie Ihre Tochter
das auch ganz richtig zugegeben hat, so konnten wir nicht wissen,
dass so etwas jemals geschehen würde.
Und muss ich Sie wirklich daran erinnern, was im letzten Jahr
geschehen ist? Man fand Luscinia Callahan wie sie in ihrem eigenen
Blut lag, nachdem sie eine der extremsten Akte des Regelbruches gegen
ihr eigenes ungebo...“
Ms Alba schluckte und fuhr fort; „Es gibt kaum ein Dorf außerhalb
Orange Country, das so einen Regelbruch nicht als ernsthaft genug
betrachten würde, um ihn mit Exil zu bestrafen. Und erinnern Sie
sich nicht, was hinterher während der Gerichtsverhandlung geschehen
ist? Wie sie nicht die geringste Reue für diese Tat an den Tag
legte. Ihr Regelbruch geschah nur zwei Monate, nachdem sie sich
selbst zur Erwachsenen erklärt hatte. Und wenn ich das erwähnen
darf, dann war diese Erklärung durch das Zeugnis vieler offizieller
Stimmen aus Ihrer Hausgemeinschaft legalisiert worden, einschließlich
der Ihrer Frau und Ihrer selbst.
Bitte erinnern sich auch daran, dass es während der
Gerichtsverhandlung intensive Diskussionen darüber gab, ob man diese
Erwachsenen-Erklärung nicht aufheben sollte, und wenn Ihre Tochter
auch nur in geringster Weise eine andere Einstellung gezeigt hätte,
dann wäre die Entscheidung mit Sicherheit zu ihren Gunsten
ausgefallen. Jedoch die absolute Kälte, die sie gegenüber ihrem
Regelbruch an den Tag legte, schien eine so intensive Kaltherzigkeit
anzuzeigen, dass wir keine Wahl hatten, als dies als Beweis dafür
anzusehen, dass sie auch in der Zukunft niemals nach den Regeln
unseres Dorfes würde leben können.“
Voller Zorn über diese Rechtfertigung von Ms Alba versuchte Mr
Callahan aufzuspringen, jedoch seine Tochter hinderte ihn daran,
indem sie ihm die Hand auf die Schulter legte, ihn direkt ansah und
bittend ihren Kopf schüttelte.
Danach antwortete Luscinia Ms Alba selbst: „Sie haben Recht, Ms
Alba, ich habe nach außen hin in meiner Gerichtsverhandlung vor dem
Dorfrat keine Reue gezeigt. Ich weiß, dass wenn ich mich der Gnade
des Gerichts anvertraut hätte, dann wäre das Urteil ein anderes
gewesen.
Aber zu der Zeit konnte ich es nicht. Obwohl ich sehr wohl Reue
empfand, mehr als Sie sich wahrscheinlich vorstellen können, konnte
ich nicht um Vergebung bitten, denn ich glaubte, dass ich weder Gnade
noch Vergebung verdiente, für das, was ich getan hatte.“
Mit einem Ausdruck tiefer Trauer sah Luscinia hinunter auf das Kind
Natsuki, das sein Gesicht an die Brust des jungen Mannes gedrückt
hatte, den Luscinia Jonathan genannt hatte.
Eine einzelne Träne lief Luscinia über ihr Gesicht. Sie trocknete
sie mit dem Handrücken und sprach weiter: „Aber etwas ist während
des letzten Jahres geschehen, und wir, wir alle drei, sind gemeinsam
hier in mein Heimatdorf gekommen, um zu erklären, warum wir davon
überzeugt sind, dass keine Frau, gleichgültig, was sie getan hat,
es verdient nach Orange Country geschickt zu werden.
In der Tat würde ich sogar sagen, dass niemand in der Welt jemals
wieder dorthin geschickt werden sollte, keine Frau und“, Luscinia
sah auf den jungen Mann, der sie begleitet hatte, „auch kein Mann.
Mit Ihrer Erlaubnis, Ms Keilar, möchte ich jetzt dem Dorfrat den
Grund dafür erklären, warum ich das glaube. Und ich würde gern
damit beginnen, zu erzählen, was mir in Orange Country widerfahren
ist.“
Ms Keilar nickte ihre Zustimmung und mit einem Ausdruck der
Erleichterung sank sie zurück auf ihren Sitz.
Luscinia Callahan atmete tief ein und begann mit ihrer Geschichte:
„Um Orange Country zu erreichen mussten wir, meine Eltern, ich und
Mr Andres, den der Dorfrat als Begleitperson mitgeschickt hatte,
viele Male von einer Maglev in die nächste umsteigen. An jeder
dieser Stationen mussten wir warten, bis die Container mit den
Handelsgütern, die die Dorfgemeinschaft mitgeschickt hatte, auf neue
Maglevs umgeladen waren.
Wir brauchten einen ganzen Tag bis wir die Grenze von Orange Country
erreicht hatten. Während der ganzen Zeit fühlte ich eine Art
Erleichterung, als ob ich mit meinem Dorf und meiner Hausgemeinschaft
auch die schlimme Tat zurücklassen könnte, die ich begangen hatte,
und den Menschen, der ich gewesen war. Ich dachte, indem ich diesen
neuen Ort betrat, würde meine Vergangenheit ausgelöscht werden, und
ich könnte ein neues Leben beginnen.
In der letzten halben Stunde, nachdem meine Eltern zurückbleiben
mussten, transportierte die Maglev nur noch Leute und Güter, die
nach Orange Country geschickt wurden und deren Begleitpersonen.
Obwohl die Hälfte dieser Menschen wie ich waren, Exilanten und
Regelbrecher, war ich still und redete mit niemandem, und auch die
anderen Leute redeten nicht. Als wir schließlich mit der Maglev die
Grenzstation erreicht hatten, verließen alle den Zug.
Altmodische Fahrzeuge warteten dort auf die Container mit den
Handelswaren. Dort waren Maschinen mit Scannern, die die Container
registrierten. Über eine Sprechanlage hörten wir eine krächzende
Stimme, die unseren Begleitpersonen die Anweisung gab
zurückzubleiben. Sie sollten einige Papiere an der Grenzstation
abholen und sie zu ihren Dörfern mitnehmen.
Uns Exilanten wurde befohlen, einer nach dem anderen auf einem engen
Weg durch ein kleines Tor zu gehen. Wir gehorchten und begannen
hintereinander herzugehen. Ich schätze, dass etwa 200 Exilanten in
unserer Gruppe von Neuankömmlingen waren.
Nachdem wir das Land durch das Tor betreten hatten, verkündete
Stimme aus dem Lautsprecher: 'Willkommen in Orange Country!'
Danach befahl uns die Stimme alle unsere Taschen, unsere
Armband-Kontroller und jegliche Habe, die wir mitgebracht hatten,
zurück zu lassen, bevor wir durch einen Scanner hindurchgingen, der
sicherstellen würde, dass wir dieser Aufforderung auch Folge
leisteten. Alle mitgebrachten Gegenstände seien hier unangebracht
und müssten konfisziert werden.
Das einzige, was wir bei uns behalten sollten, seien die Papiere, die
unsere Namen bestätigten und die Handelsgüter, die mit uns für
unseren Lebensunterhalt mitgeschickt wurden. Schließlich wurde uns
befohlen ein riesiges zwölfstöckiges Gebäude genau gegenüber der
Grenzmauer zu betreten. Dieses Gebäude hatte zwei Eingänge, Männer
sollten den rechten davon und Frauen den linken benutzen.
Im Gebäude wurden wir Frauen dann von einem Mann in Empfang
genommen, der uns erklärte, dass in Orange Country Coin-Zähler-Chips
in die Handfläche von jedem eingepflanzt werden müssten. Wenn wir
für unsere Handelsgüter bezahlt werden wollten, mussten wir uns
damit einverstanden erklären. Diese eingepflanzten Chips würden
dann digital mit einem neuen Armbandkontroller verbunden, den wir
danach erhalten würden.
Ein anderer Chip würde uns ganz oben in den Nacken eingepflanzt
werden, gleich neben der Wirbelsäule. Dieses Implantat enthielte
einen Ortungscode und diente zu unserer eigenen Sicherheit und der
unserer Mitbürger in Orange Country. Es wurde uns erklärt, dass
Orange Country ja schon immer eine Nation ohne Regeln und Gesetze
gewesen sei, und deshalb bestimmte Maßnahmen getroffen werden
mussten, um die Bevölkerung vor Akten der Gewalt gegen Personen oder
vor Zerstörung oder Diebstahl ihres Eigentums zu schützen.
Versicherungen würden durch die mit ihnen verbundenen
Sicherheitsdienste die körperliche Unversehrtheit und den Besitz
aller versicherten Personen schützen. Mit Hilfe dieser Ortungscodes
könnte dann jeder geortet werden, der einer versicherten Person oder
deren Besitz Schaden zufügte.
Keine von uns protestierte oder verweigerte den Eingriff, denn es
wurde uns klargemacht, dass uns ohne diesen das Asyl in Orange
Country verweigert würde. Und so stellten wir uns an, um schweigend
auf den Arzt zu warten, der diese Eingriffe vornahm, den Schnitt in
die Hand und die Injektion in den Nacken.
Danach wurde uns erklärt, dass wir den Chip in der Hand jederzeit
entfernen konnten, der im Nacken allerdings könnte von niemandem
entfernt werden, außer autorisiertem Sicherheitspersonal. Eine
unautorisierte Entfernung würde zu einer kleinen Explosion im Nacken
führen, der die Wirbelsäule durchtrennen und höchstwahrscheinlich
die kognitiven Fähigkeiten unseres Gehirns zerstören würde. Aber
uns wurde versichert, dass es völlig ungefährlich sei, mit diesem
Chip zu leben, wenn er in Ruhe gelassen würde.“
Ein geschocktes Geflüster ging durch den Ratssaal, aber Luscinia's
Stimme veränderte sich nicht. Ruhig und unpersönlich fuhr sie mit
ihrer Erzählung fort: „Nachdem mir der Chip eingepflanzt worden
war, wurden darauf 200.000 martialische Coin gutgeschrieben, das ist
der Orange-Country Gegenwert für die Handelsgüter, die mir der
Dorfrat mitgegeben hatte.
Danach wurden wir von einer Frau zu einem anderen Stockwerk des
Gebäudes gebracht, wo eine Lautsprecherstimme uns Frauen
aufforderte, dass wir uns ausziehen und all unsere Kleider
zurücklassen sollten, denn diese Bekleidung sei unangemessen für
weibliche Bürger von Orange Country. Es war eine merkwürdige
Anweisung, und trotzdem protestierte auch diesmal keine von uns.
Ich fühlte mich desorientiert und verwirrt, als ob das Leben irreal
geworden sei, ein unzusammenhängendes Chaos von Stimmen und Bildern,
ohne Verbindung zu irgendetwas, das ich von früher kannte. Es
isolierte mich von der Welt und von allen anderen Menschen.
Und so zog ich mich nackt aus, so wie die anderen Frauen es auch
taten, um dann die Anweisung zu erhalten durch einen Körperscanner
hindurch zu gehen, wo die Maße unserer Körper festgestellt werden
sollten, damit wir mit unseren neuen Coins auf unseren Hand-Chips
auch die Kleider kaufen konnten, die uns perfekt passten.“
Das Gemurmel im Saal war lauter geworden, doch Luscinia redete ohne
Pause weiter, und ihre Zuhörer verstummten wieder.
„Nach
dem Scannen wurden wir gemäß unserer Maße aufgeteilt, und jede
Gruppe wurde von einer anderen Frau in die jeweilige Abteilung des
Bekleidungsladens geführt, der auf einem der unteren Stockwerke des
Gebäudes gelegen war.
Die Kleider in der Abteilung, in die ich geführt wurde, waren alle
von unterschiedlicher Farbe und Stil, aber sie waren auch alle so
eng, dass sie sich extrem unbequem anfühlten. Sie waren so kurz,
dass sie meine Arme und fast meine ganzen Beine unbedeckt ließen und
ebenso den oberen Teil meiner Brüste.
Ich fragte die Frau, die mich begleitet hatte, ob dieser Scanner
vielleicht meine Körpermaße falsch kalkuliert hatte. Die Frau, die
Interlingua sprach, wie alle anderen Menschen in Orange Country,
erklärte mir, dass diese Maschinen in dieser Hinsicht unfehlbar
seien, und als Bürgerin von Nephilim City würde es von mir
erwartet, mich so zu kleiden.
Ich protestierte nicht mehr, denn ich war nackt.
Nachdem ich mich angezogen hatte, fragte ich die Frau nach ihrem
Namen. Sie deutete auf ein kleines Schild, das auf ihrer engen
Bekleidung befestigt war. Auf dem Schildchen war eine lange Zahl
aufgedruckte.
'Wir benutzen hier keine Namen', erklärte mir die Frau, 'außer wir
kennen die andere Person sehr gut und sind mit ihr befreundet'.
Sie sagte mir, dass auch ich mit so einer Nummer identifiziert werden
würde. Es sei meine Konto- und Identifikations-Nummer, die auf den
beiden Chips in meinem Körper gespeichert sei. Eines Tages, wenn ich
einmal Arbeit in der martialischen Coin-Wirtschaft gefunden hätte,
müsste ich dort ein ähnliches Schild mit meiner eigenen Nummer auf
der Kleidung tragen.
Ich fragte sie nach dem Nephilim City, das sie erwähnt hatte, denn
ich hatte noch nie von einem Ort dieses Namens gehört. Sie erklärte,
Nephilim City sei das Dorf der Exilanten, das größte Dorf der Welt,
gelegen im Zentrum von Orange Country.
Ich versuchte für meine Kleidung auf die Art und Weise zu bezahlen,
in der ich es gewohnt war, jedoch die Verkäuferin mit dem
Nummern-Namen informierte mich, dass es in Orange Country nicht
angebracht war, großzügig zu sein.
Und so erkannte ich, dass sich die Menschen an diesem Ort nicht nur
anders kleideten, sondern auch völlig anders Handel betrieben. Und
auch wenn ich es in diesem Moment noch nicht verstanden hatte, so
erkannte ich nach kurzer Zeit, dass es dort nicht nur unangebracht,
sondern so ziemlich unmöglich war großzügig zu sein, wenn man mit
deren knappen Coin Handel treiben musste.
Die Frau führte mich zum Aufzug und sagte mir, ich solle nun zum
obersten Stock hinauffahren, weil sich dort die Wohnungs-Agenturen
befänden.
Als ich in diesem Stockwerk aus dem Aufzug trat, sah ich vor mir
einen langen Gang mit vielen Türen. Alle Türen waren identisch, nur
dass jede Tür mit zwei anderen Buchstaben und danach dem Wort
'Wohnungsagentur' beschriftet war. Neben jeder Tür war eine Reihe
von Stühlen, die fast alle zur Zeit besetzt waren. Ich wählte einen
der wenigen freien Stühle neben der Tür mit der Aufschrift: J.G.
Wohnungs-Agentur. Und wieder wartete ich darauf, an die Reihe zu
kommen.
Als ich hineingerufen wurde, sagte mir ein Mann, an dessen Nummer ich
mich nicht erinnern kann, dass er der Wohnungsagent sei. Ohne weitere
Erklärungen forderte er mich auf, mich zwischen acht verschiedenen
Wohnungen zu entscheiden, die er zur Zeit noch im Angebot hatte. Er
öffnete einen Computer und zeigte mir dort nacheinander eine Reihe
von Bildern. Sie zeigten das Äußere von Gebäuden und das Innere
von Wohnungen, unter denen ich auswählen sollte.
Die Gebäude sahen von außen alle gleich aus, graue Häuserblocks
ohne Balkone, die an Straßen ohne Pflanzen und Gewächshäusern
standen. Ich fragte den Mann, wie die Leute in diesen Häusern denn
ihre Nahrung anbauten. Der Wohnungsagent erklärte mir zu meiner
Überraschung, dass in Nephilim City überhaupt keine Nahrung
angebaut würde. Die Nahrungsmittel-Versorger seien alles Dörfer
außerhalb von Nephilim City.
Die Wohnungen selbst waren hübsch eingerichtet, und die Wände waren
mit verschiedenen Farben und Mustern bedeckt. Der Preis für jede
Wohnung war immer der Gleiche, ganz genau 180.000 marsianische Coin,
erklärte mir der Wohnungsagent. Das schien ein hoher Preis zu sein,
der mich den größten Teil der Coin, die ich für die Handelsgüter
erhalten hatte, kosten würde.
Aber der Wohnungsagent ließ durchblicken, dass wenn ich in dieser
Nacht irgendwo schlafen wollte, ich mich sofort entscheiden müsste.
Und so wählte ich irgendeine der Wohnungen aus. Denn inzwischen war
ich so müde geworden, dass ich kaum noch einen Unterschied zwischen
ihnen sah.
Ich zahlte mit meinem Hand-Chip und bekam zwei Schlüssel
ausgehändigt, einen für die Eingangstür zu dem Gebäude und einen
anderen für die Wohnungstür. Denn in Orange Country, erklärte mir
der Wohnungs-Agent, müssten aus versicherungstechnischen Gründen
alle Türen immer fest verschlossen sein.
Der Mann schlug vor, ich solle ein Taxi zu meiner Wohnung nehmen, und
er erklärte, das sei ein Transportmittel. Er erklärte mir auch,
dass es absolut notwendig für mich sei, mir eine Versicherung für
mich selbst und meine Wohnung zu besorgen. Und zwar sollte ich als
allererstes am nächsten Morgen zu der Versicherungsagentur gehen,
die eine Filiale in derselben Straße hatte, wie mein Häuserblock.
Als ich in meiner neuen Wohnung ankam, fiel ich erschöpft ins Bett.
Und als ich nach meiner ersten Nacht in Nephilim City aufwachte, tat
ich genau, was mir empfohlen worden war und ging zur
Versicherungsagentur am Ende meiner Straße, um dort eine
Versicherung abzuschließen.
Vor dem Büro stand ein großes Schild mit der Aufschrift J.G.
Versicherungs-Agentur. Im Büro saßen mehrere Männer, jeder von
ihnen hatte einen großen Schreibtisch. Einer der
Versicherungsagenten redete mit mir, ich kann mich wieder nicht an
dessen Nummer erinnern. Er erklärte mir, dass es absolut notwendig
für mich sei, eine Versicherungs-Police für mich und meinen Besitz
zu erwerben. Allerdings sei der persönliche Sicherheitsbedarf für
eine Frau weit höher als für einen Mann, weshalb die Gebühren dann
auch entsprechend höher seien.
Insgesamt würde eine Versicherungs-Police für fünf Jahre mich
250.000 marsianische Coin kosten, und er erklärte, dass diese
Gebühren im voraus entrichtet werden mussten. Völlig verwirrt
erklärte ich dem Agenten, dass ich gar nicht so viele Coin erhalten
hatte, als ich angekommen war, und dass ich den Großteil davon
bereits für meine Wohnung ausgegeben hatte, und nur noch ein kleiner
Teil übrig sei.
Der Mann nickte, er schien das bereits gewusst zu haben. Und dann
schlug er mir eine Alternative vor: Ich könnte mich für eines der
Venus Projekte verpflichten. Eine Filiale der J.G. Venus Projekte sei
bequemerweise direkt um die Ecke gelegen, nur einen Katzensprung von
der Versicherungsagentur und meinem Häuserblock entfernt.
Mit dem üblichen Fünf-Jahres-Vertrag, den sie anboten, würde ich
gleichzeitig ein komplettes Fünf-Jahres-Versicherungspaket für
meinen Besitz und sogar einen lebenslänglichen Schutz für meine
Person erhalten. Der Agent erklärte mir, wie groß die Vorteile
seien, wenn ich einen Vertrag bei einem Venus-Projekt abschloss.
Dieser Vertrag würde mich während der gesamten Laufzeit völlig
unabhängig von der marsianischen Coin-Wirtschaft machen. Außer der
Versicherungs-Police würden auch alle meine Bedürfnisse und
Wünsche dort erfüllt werden, ohne dass ich je Coin benutzen müsste.
Also ging ich um die Ecke, um mir, zum ersten Mal, das J.G. Venus
Projekt anzuschauen.
Das Haus war völlig anders gebaut, als alle anderen Häuser in der
Nachbarschaft. Zum einen, war es nicht grau. Es war rosenfarben mit
goldenen Bögen über dem Eingang und über den bogenförmigen
Fenstern. Ein Springbrunnen in Form einer Lilie stand in der Mitte
des Hofes vor dem Gebäude. Wasser fiel aus einem bogenförmigen
Sprengler auf die Statue einer kaum bekleideten schlafenden Frau in
dem Lilien-Brunnen.
Während ich das Gebäude betrachtete, betrat ein Mann es gerade, und
ich folgte ihm hinein. Von der Eingangshalle aus ging er sofort zu
einer Tür auf der linken Seite. Als ich ihm folgen wollte, wurde ich
von einem anderen Mann abgefangen. Dieser begrüßte mich freundlich
und stellte sich als Manager des J.G. Venus Projekts auf der 97.
Straße vor. An seine Nummer erinnere ich mich gut, sie lautete
1.487.357. Er führte mich durch eine Tür nach rechts zu seinem
Büro.
Nachdem er mir einen Platz angeboten hatte, hieß er mich noch einmal
im Projekt willkommen. Er sagte mir, wie froh er sei, dass ich genau
diese Filiale ausgesucht hätte. Er erklärte mir, dass hier, wie in
jedem Venus Projekt, die Entwicklung des vollen Potentials der
weiblichen Mitglieder unserer Spezies oberste Priorität aller
Anstrengungen sei.
Er erklärte mir auch, dass anders als in der marsianischen
Coin-Wirtschaft man hier freundlich zu Frauen sei. All die
Bedürfnisse und Sehnsüchte einer Frau würden hier erfüllt werden.
Jede Frau, die hier arbeitete, würde befreit sein von allen Sorgen
um ihre Gesundheitsversorgung und ihren Lebensunterhalt. Frei von all
diesen Sorgen könnte sie sich ganz darauf konzentrieren, ihre
natürlichen Talente aufs beste weiterzuentwickeln.
Nach dieser Einführungsrede begann Mr 1,487,359 mir die
verschiedenen Räume des Projekts zu zeigen. In jedem der größeren
Räume waren eine oder mehrere Frauen gerade dabei, auf sonderbare
Weise zu tanzen, während Männer ihnen zusahen und jubelten.
Die Tänze, die sie vorführten, hatte ich nie zuvor gesehen, und sie
fanden auch an ungewöhnlichen Bühnen statt. Eine Frau sah ich
innerhalb eines Käfigs tanzen, der mitten im Raum von der Decke
hing. In zwei anderen Räumen tanzten Frauen um eine Eisenstange
herum, die sie entweder mit den Händen oder den Beinen festhielten.
In wieder einem anderen Raum tanzten die Frauen noch seltsamer, indem
sie die Kleider die sie trugen, die noch kürzer und enger waren als
die, die ich am Tag zuvor gekauft hatte, sich Stückchen für
Stückchen vom Körper rissen, bis sie völlig nackt dastanden.“
Ein entrüstetes Murmeln konnte jetzt aus dem Saal vernommen werden,
aber Luscinia reagierte nicht darauf und fuhr einfach fort mit ihrer
Geschichte.
“Mr.
1,487,359 erklärte mir, dass in Nephilim City nur eine von fünf
Bürgern eine Frau sei, und deshalb seien die Venus Projekte
notwendig, um entscheidende Dienstleistungen für die Nation zu
erbringen. Diese Projekte erfüllten die Bedürfnisse der männlichen
Bürger, während sie den Lebensunterhalt vieler weiblicher Bürger
sicherten.
Nachdem wir die größeren, die öffentlichen Räume, wie er sie
nannte, verlassen hatten, führte er mich die Treppe hinauf, in einen
kleineren Raum, in dem sich gerade niemand aufhielt. Der Raum
enthielt ein großes Bett mit seidenen Vorhängen, Spiegel bedeckten
die Wände und die Decke. Ich fragte den Manager, welche Funktion
dieser Raum hatte, und er erklärte mir, dass diejenigen Kunden, die
mehr Coin bezahlten, dort von den Frauen, die einen Vertrag mit dem
Projekt unterschrieben hatten, Paarwerdungs-Dienstleistungen erhalten
könnten.
Nachdem ich das gehört hatte, erklärte ich dem Manager, dass ich
nicht für das Venus Projekt arbeiten wollte.
Der Manager erklärte mir, dass es ihm sehr leid täte, das zu hören,
dass es aber in Orange Country natürlich die freie Entscheidung
eines jeden einzelnen sei, ob er einen Vertrag unterschrieb oder
nicht. Und obwohl er mir jedes Glück der Welt wünschte, befürchtete
er doch, dass es für mich ziemlich schwer sein würde, in der
marsianischen Coin Wirtschaft eine Arbeit zu finden, die genug
einbrächte, um die Kosten für meinen Lebensunterhalt und die
Versicherungsprämien bezahlen zu können. Aber wenn ich irgendwann
später einmal meine Meinung ändern sollte, dann stünden die Türen
dieses Projekts immer für mich offen.
Als ich fortging, hatte ich bereits beschlossen, mir keine
Versicherungs-Police zu kaufen. Nach einem Besuch in einem
Lebensmittelgeschäft ein paar Häuser weiter, rechnete ich mir aus,
dass ich mit dem Rest der Coin auf meinem Chip, wenn ich nur die
billigsten Lebensmittel kaufte, noch über ein Jahr auskommen konnte.
In der Zwischenzeit, dachte ich, hätte ich längst eine Arbeit
gefunden.
Ich machte mir keine Sorgen.
In den nächsten vier Tagen war ich in ganz Nephilim City unterwegs,
um mir eine Arbeit zu suchen, wobei ich alte Transportmittel
benutzte, die Busse genannt wurden. Und ja, an vielen Restaurants und
Geschäften, waren Schilder in den Fenstern, dass sie 'Hilfe'
benötigten, was bedeutete, sie brauchten noch jemanden, der dort
arbeiten würde. Aber auf fast jedem Schild war darunter geschrieben:
Frauen ohne Versicherungsschutz brauchen sich hier nicht zu bewerben.
Ich ging an J.G.-, S.D.,- L.W.,- V.R. und P.R.-Arbeits-Agenturen
vorbei. Diese Agenturen helfen Menschen in den großen
Produktionsstätten mit denselben Initialen eine Anstellung zu
finden. Diese Arbeit würde viel besser bezahlt, wurde mir gesagt.
Aber auch hier kamen unversicherte Frauen für keine dieser
Arbeitsstellen in Frage. Ich war frustriert, aber immer noch nicht
wirklich besorgt. Ein Jahr, so schien es mir, würde mehr als genug
Zeit sein, irgendetwas zu finden.
Ich sah auch noch viele andere Filialen des J.G. Venus Projekts,
ebenso wie S.K., L.W., V.R. Und P.R. Venus Projekte. Alle
Filial-Gebäude des J.G. Venus Projekts sahen gleich aus, während
die der anderen Konzerne ein klein wenig anders aussahen. Zum
Beispiel waren die Gebäude des P.R.-Venus Projekts rot, gelb und
blau angemalt, und deren Springbrunnen vor den Häusern hatte die
Form einer großen Muschel, während die Frauenstatue darin in einer
sitzenden Position dargestellt wurde. Ich sah auch noch viele andere
Versicherungsagenturen des J.G.-Konzerns, die genau wie die der
anderen Konzerne gleich neben den Büros der jeweiligen
Sicherheitsdienste standen.
Als ich am vierten Abend in meine Wohnung zurückkehrte, bemerkte
ich, dass die Tür aufgebrochen war. Alle Möbel, die bereits in der
Wohnung waren, als ich sie gekauft hatte, waren demoliert worden,
Bett, Couch, Stühle, Tische Regale und der Schrank.
Rote Farbe war überall ausgeschüttet worden. Die Kissen und Decken
waren zerfetzt, genau wie die Bilder an der Wand. An der Decke des
Wohnzimmers stand mit großen Buchstaben geschrieben: 'DU BRAUCHST
EINE VERSICHERUNG!'
Jetzt war ich besorgt.“
Luscinia machte eine kurze Pause, um Atem zu schöpfen und redete
dann weiter, wobei der Ton ihrer Stimme immer noch neutral und
emotionslos blieb, ohne zu verraten, was sie in Wirklichkeit fühlte.
„Ich
verbrachte den nächsten Tag wieder mit meiner Suche nach Arbeit,
diesmal sehr viel verzweifelter als zuvor, aber immer noch ohne
Erfolg. Am Abend fürchtete ich mich davor, in meine zerstörte
Wohnung zurückzukehren, aber ich hatte keinen anderen Ort, wohin ich
gehen konnte.
Auf den ersten Blick sah meine Wohnung noch genauso aus wie letzte
Nacht. Doch plötzlich sah ich einen Mann aus meinem Schlafzimmer
kommen. Sein Gesicht war mit einer schwarzen Maske bedeckt, durch die
nur noch seine bedrohlichen Augen zu sehen waren.
Ich war starr vor Schreck.
Ein weiterer Mann kam aus dem Schlafzimmer, dann noch einer und
schließlich noch einmal zwei, fünf Männer alle zusammen, und alle
trugen sie Masken. Ich schrie und drehte mich um, versuchte
wegzulaufen, aber es war bereits viel zu spät.
Sie ergriffen mich an der Tür.“
Luscinias Stimme hatte angefangen leicht zu zittern, das Gemurmel im
Saal hatte aufgehört. In der absoluten Stille hätte man eine
Stecknadel fallen hören. Luscinia fuhr fort zu reden, und das
Zittern in ihrer Stimme war genau diese Stecknadel:
„Die
Männer drückten mich gegen die Tür, und einer nach dem anderen...
tat mir Gewalt an.“
Luscinia atmete tief und sagte dann: „Sie fügten mir Schmerzen
zu.“
Nach einer weiteren Sekunde fuhr sie fort: „Als der letzte von
ihnen fertig war, flüsterte er mir ins Ohr: 'Du brauchst eine
Versicherungs-Police'.
Danach ließen sie mich auf den Boden fallen und gingen einfach. Sie
warfen die Tür hinter sich zu, aber weil ihr Schloss aufgebrochen
worden war, öffnete sie sich gleich wieder.
Ich lag auf dem Boden. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte
nicht denken. Ich hatte nicht einmal mehr Angst. Ich hörte Leute,
die an meiner Tür vorbeikamen flüstern, sah wie sie mich
anstarrten, es war mir gleichgültig. Ich bewegte mich nicht.
Es muss Stunden später gewesen sein, als eine Frau in meine Wohnung
kam. Sie sagte kein Wort, ging nur in die Küche und brachte mir ein
Glas Wasser. Sie richtete mich auf und gab mir zu trinken. Danach
half sie mir aufzustehen, und sie stützte mich, während wir zu
ihrer eigenen Wohnung gingen. Die Schmerzen waren so stark, dass ich
kaum gehen konnte, aber mir war das gleichgültig.
Sie brachte mich in ihr Schlafzimmer. Wortlos wusch sie mir das Blut
von den Beinen und gab mir danach neue Kleider aus ihrem eigenen
Schrank. Schließlich sagte sie zu mir, dass ihr Name Nanami Allegri
sei.
Dies war das erste Mal seit ich nach Orange Country gekommen war,
dass mir irgendjemand seinen wirklichen Namen, statt einer Nummer
nannte. Nanami sagte mir, ich solle mich in ihrem Bett ausruhen,
während sie ihr kleines Mädchen von den Nachbarn abholte. Sie
hatten auf sie aufgepasst, während Nanami die Abendschicht in der
Produktionsanlage gearbeitet hatte, und ihr Mann Pedro auf
Nachtschicht war.
Als Nanami zurückkam, trug sie ein schlafendes Kind. Sie legte das
kleine Mädchen in ein Kinderbett neben ihrem Bett, und dann drückte
sie einen Knopf auf einem quadratischen Apparat, der danach ein
zischendes Geräusch von sich gab. Sie erklärte mir, dies sei ein
Verzerrer, der es allen Stimmen-Abhör-Geräten unmöglich machte,
uns abzuhören. Dies würde es uns erlauben, frei zu sprechen. Nanami
erklärte mir, dass es keinen Raum in diesem Gebäude oder in
irgendeinem anderen Gebäude Nephilim Citys gab, in dem nicht ständig
Abhörgeräte liefen. Alle gesprochenen Worte würden aufgenommen und
danach würden die 'Daten-ausgewertet'.
Ich war zu müde zu fragen, warum um Himmels willen alle Gespräche
in Nephilim City aufgenommen wurden, und was 'Daten-ausgewertet'
bedeutet, aber sie erklärte es mir trotzdem.
Sie sagte mir, dass die
Sicherheitsdienste in den Gesprächen aller Leute mit
Computerprogrammen nach verdächtigen Worten und Ausdrücken suchten,
um Angriffe auf Leben oder Besitz versicherter Personen zu
verhindern, aber auch Angriffe auf ganz Nephilim City. Aber es
würden nur versicherte Personen beschützt werden, und deshalb
benötigte jeder Mensch eine Versicherungs-Police, ganz besonders
Frauen.
Danach begann sie trotz des Verzerrers zu
flüstern, und sie erklärte, dass diese Männer, die mich
angegriffen hatten, höchstwahrscheinlich zu einer Gruppe gehörten,
die sich selbst 'Schakale' nannten. Ihr offizieller Titel sei:
Spezialtruppen für die Sicherheits-Vollstreckung. Sie arbeiteten als
Einheiten für alle Sicherheitsdienste gleichzeitig. Ihre offizielle
Aufgabe war es, diejenigen zu bestrafen, die sich gegen die Kunden
der Agenturen vergingen. Die zweite, geheimere Aufgabe der 'Schakale'
war es, dass alle -ganz besonders Frauen- wussten, dass eine
Versicherungs-Police notwendig war.
Und am Ende sagte Nanami etwas, das mich beinahe dazu gebracht hätte,
aus dem Bett zu springen und wegzulaufen, wenn ich nicht zu schwach
gewesen wäre alleine aufzustehen. Sie sagte mir, dass ihr Mann Pedro
auch für diese Sicherheitsdienste in ihrem Hauptbüro arbeitete. Er
war dort einer, der die Daten auswertete. Aber sie sagte mir auch,
dass er diese Arbeit nicht wirklich mochte. Aber es wäre eine
Arbeit, die ihm weit mehr Coin einbrachte, als jede andere Arbeit.
Und Pedro und Nanami hofften, dass sie so genug Coin sparen konnten,
um die Versicherungssumme für ihre Tochter Natsuki aufbringen zu
können, wenn diese einmal fällig sein würde, sobald sie zwölf
Jahre alt war, so dass Natsuki niemals in einem Venus Projekt
arbeiten müsste.
Ich
sagte Nanami, dass ich auch nicht in einem Venus Projekt arbeiten
wollte.
Sie erwiderte, dass ich wahrscheinlich keine Alternative dazu haben
würde. Aber sie erwähnte, dass ein paar der Nahrungs-produzierenden
Dörfer außerhalb Nephilim City weiblichen Exilanten hin und wieder
Asyl gewährt hatten, aber dass sie es seit einiger Zeit nicht mehr
taten.
Sie erklärte mir noch ein paar andere Dinge, aber ich war inzwischen
zu erschöpft, um weiter zuzuhören, und schlief ein, während sie
redete.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, als ich Nanamis Mann nach Hause
kommen hörte. Ich stand schnell auf, um zu gehen, dankte ihr für
ihre Freundlichkeit und lehnte das Frühstück ab, das sie mir anbot.
Ich wollte nicht mit einem Mann reden oder auch nur in derselben
Wohnung mit ihm sein, der für dieselbe Organisation arbeitete, wie
die Männer, die mich angegriffen hatten. Aber ich traute mich auch
nicht mehr zurück in meine eigene Wohnung.
So ging ich los, um einen Bus zu finden, der mich aus Nephilim City
zu einer der Nahrungs- produzierenden Dörfer bringen konnte. Als ich
an der Bus-Station ankam, wählte ich einen Bus nach Antonio-Dorf
aus, weil der der erste war, der die Stadt verließ. Das Dorf war
auch eines der nächsten. Als der Bus am Tor seines Zielortes
angekommen war, bemerkte ich, dass Antonio-Dorf fast völlig von
einer hohen Mauer umgeben war.
Am Tor stieg ein Mann in den Bus, der einen kleinen Scanner in der
Hand hielt. Er kontrollierte die Hand-Chips aller Passagiere, die er
nicht persönlich kannte. Als er meine Hand gescannt hatte, befahl er
mir den Bus zu verlassen, da ich keine Aufenthaltserlaubnis hätte.
Ich fragte den Mann, wie ich so eine Aufenthaltserlaubnis bekommen
könnte, und er erklärte mir, dass eine unversicherte Person so eine
Erlaubnis niemals erhalten würde. Ich versuchte ihm zu erklären,
dass ich in Antonio-Dorf Asyl beantragen wollte. Er antwortete mir
nicht und packte mich einfach am Arm und führte mich so aus dem Bus.
Anschließend hielt er mich so lange fest, bis der Bus durch das Tor
gefahren war und es sich hinter ihm wieder geschlossen hatte. Dann
erklärte er mir, dass ich hier so lange warten müsste, bis der Bus
wieder zurückkam. Danach könnte ich wieder nach Nephilim City
zurückkehren.
Nach diesen abschließenden Worten verschwand er in einer kleinen
Hütte neben dem Tor und schloss die Tür hinter sich. Ich begann mit
den Fäusten an die Tür zu hämmern, und rief und bettelte, dass er
mir erlauben sollte, mit irgendjemandem der Dorfleute zu sprechen,
und ich wiederholte mein Asyl-Begehren immer und immer wieder.
Schließlich kam eine Frau durch das Tor. Ihr Name sei Sally, stellte
sie sich mir vor. Und dann erklärte sie mir, warum Antonio-Dorf
keinen Exilanten-Frauen mehr Asyl gewähren konnte.
Sie hatten es ein paar Mal getan, aus Mitleid für die Frauen, die an
ihr Tor geklopft hatten. Aber eines Tages, vor einem halben Jahr
etwa, waren Sicherheitsvollstrecker am Tor erschienen. Sie hatten es
mit einer starken Explosion aufgesprengt und dabei den Torhüter, der
gerade Dienst hatte, schwer verletzt.
Die Vollstrecker scannten das ganze Dorf nach den Ortungs-Codes der
Exilanten-Frauen und zerrten diese dann aus den Häusern, zusammen
mit einigen jungen Mädchen aus dem Dorf, nachdem sie ihnen Gewalt
angetan hatten.
Den Dorfbewohnern wurde gesagt, dass alle Exilanten Nephilim City
gehörten, und wenn sie jemals wieder Exilanten in ihrem Dorf
beherbergten, dann würden ihre eigenen Mädchen nach Nephilim City
verschleppt werden.
Dann weinte Sally nur noch. Am Ende schaffte sie es, mit erstickter
Stimme zu erklären, dass eines der Mädchen, der Gewalt angetan
worden war, ihre eigene Tochter gewesen war. Danach flüchtete sie
zurück hinter die Mauer, während ich hoffnungslos davor stand und
darauf wartete, dass der Bus mich wieder nach Nephilim City brachte.
Als ich in meiner Straße ankam, ging ich nicht nach Hause.
Stattdessen ging ich um die Ecke in das Haus mit dem Lilien-Brunnen
davor und unterschrieb einen Fünf-Jahres-Vertrag.“
Luscinia atmete aus und ließ das Pult los, vielleicht als Zeichen
der totalen Niederlage oder auch nur der völligen Erschöpfung. Das
Murmeln unter den Zuhörern wurde wieder hörbar, aber Luscinias
Geschichte war längst noch nicht beendet. Sie spannte wieder ihre
Schultern und griff nach dem Pult. Dann fuhr sie in einer Stimme
fort, die sie bewusst ruhig und gefasst hielt:
„Am
ersten Tag der Arbeit wurde mir gesagt, dass ich meinen
Armbandcontroller bei den Sicherheitsvollstreckern am Eingang lassen
musste. Dann wurde mir ein Schildchen übergeben, das ich auf meiner
Kleidung befestigen sollte. Auf dem war keine Nummer zu lesen war,
sondern ein Name. Aber es war nicht mein Name.
Die Namen, die den Frauen gegeben wurden, die in dem Venus Projekt
arbeiteten, endeten alle auf Y, wie Hussy, Tiffy, Slutty und Bunny.
Ich wurde Candy genannt. Drei andere Candies arbeiteten im selben
Haus, ebenso wie vier verschiedene Hussies und sechs Bunnies,
meistens jedoch in unterschiedlichen Schichten.
Mir wurde beigebracht, wie ich mein Gesicht und meine Nägel anmalen
sollte, und wie ich gehen und sprechen sollte. Eine Zeit lang war
das allerdings schwierig, Hussy-3 und Bunny-2 nannten mich 'prüde',
was das schlimmste Schimpfwort war, das gegen eine Frau im Venus
Projekt verwendet werden konnte.
Während der ersten paar Wochen musste ich viele Stunden im Keller
des Gebäudes verbringen, wo die Krankenräume und Lernzellen
angesiedelt waren. In den Lernzellen wurde ich von einer weiblichen
Stimme unterrichtet, während sanfte Musik im Hintergrund spielte und
Bilder von Männern und Frauen auf einen Schirm projiziert wurden.
Die Stimme erklärte, dass es die höchste und natürlichste Aufgabe
einer Frau sei, das Verlangen von Männern zu erwecken. Ihr Haltung,
ihre Stimme, der Stil ihre Kleidung und all ihre Bewegungen müssten
auf dieses einzige Ziel abgestimmt werden.
Nach einiger Zeit begann ich zu glauben, was mir dort als der Sinn
und Zweck, eine Frau zu sein, vermittelt wurde. Immer mehr gewöhnte
ich mich an die Dinge, die ich bei meiner Arbeit tun musste. Mit der
Zeit begann ich sogar mit den anderen darin zu konkurrieren, wie man
am besten die Aufmerksam der Kunden erregte. Es war inzwischen eine
andere, neu hinzu gekommene Exilantin, der das Attribut 'prüde'
zugedacht wurde.
Materiell wurde ich gut versorgt. Der Manager engagierte Arbeiter,
die meine Wohnung reparierten und sie in den Farben anmalten, die
ich mir selbst auswählen durfte. Wenn ich meine Venus-Vertragskarte
benutzte, konnte ich in jedem J.G. Kaufhaus Lebensmittel, Kleidung
oder Möbel bekommen. Ich konnte alles mitnehmen, was ich wollte,
auch dekorative Objekte für mich oder meine Wohnung.
Jede Woche besuchte ein Arzt das Projekt, um jede Frau nach
Krankheiten zu untersuchen, und uns Medikamente zu geben oder auch
Injektionen, damit wir nicht schwanger würden. Die Medikamente und
Injektionen verursachten erst einmal Übelkeit, aber uns wurde
gesagt, dass sie notwendig seien.
Die Kunden, für die wir tanzten oder andere Dienstleistungen
erbringen mussten, waren meist laut und unhöflich. Die meisten
rochen auch nach alkoholischen Getränken. Einige von ihnen benahmen
sich wie geistesgestört. Tiffy-1 erzählte mir, dass einige von
denen, die sich verrückt benahmen, von einer Substanz konsumiert
hatten, die Crack genannt wurde.
Sie schlug vor, ich sollte meine Kunden fragen, ob sie mir etwas von
dieser Substanz abgeben würden. Ich fragte sie, warum ich mir
wünschen sollte, mich genau so verrückt zu benehmen, wie diese
Kunden, und sie meinte, die Substanz würde einem helfen, sich besser
zu fühlen. Tiffy und einige andere Frauen, ließen sich
augenscheinlich oft helfen, sich besser zu fühlen, aber ich dachte,
dass es sie jedes Mal schlechter aussehen ließ.
Eines
Tages sah mich ein reicher Kunde tanzen, und er verlangte danach,
mich exklusiv für seine Dienste buchen zu können. Der Manager
erklärte mir, dass es eine große Ehre sei, von so einem
einflussreichen Kunden ausgewählt zu werden. Jetzt müsste ich nicht
mehr für anderen Kunden tanzen oder Dienstleistungen übernehmen,
und die anderen Frauen würden mich darum beneiden, einen so
besonderen Kunden ergattert zu haben.
Nachdem ich den ersten Tag mit diesem reichen Kunden, den ich Mr X
nennen sollte, verbracht hatte, bettelte ich den Manager an, mich in
die öffentlichen Räume zurück zu bringen. Jedoch der Manager
weigerte sich, und erklärte mir, dass ich in dieser Sache keine Wahl
hätte, da ich ja einen Vertrag mit dem Projekt unterschrieben hatte.
Und laut dieses Vertrags seien alle Dienste mit eingeschlossen, für
die ein Kunde bezahlte.
Als Mr X hörte, dass ich gebeten hatte, nicht mehr in seinen
exklusiven Diensten stehen zu müssen, da fügte er mir mehr Gewalt
zu, als ich je zuvor erfahren hatte und hinterließ danach auf mir
die ersten der Mahle, von denen Dr Perez dem Dorfrat berichtet hat.
Mr X drohte mir, dass es noch schlimmer kommen würde, wenn ich je
wieder mit jemandem über ihn sprach. Und falls ich vorhatte
wegzulaufen, dann sollte ich wissen, dass ich mich nirgendwo
verstecken könne. Innerhalb von Stunden würde man mich finden und
töten.“
Jetzt war ein kollektives geschocktes Atmen aus dem Saal zu hören.
Und zum ersten Mal nahm Hope ihre Augen vom Schirm. Sie sah sich um
und bemerkte, dass Marcella beide Hände vor den Mund hielt, um einen
Schrei zu unterdrücken. Mit Ausnahme von Jennys kleinen Brüdern,
die auf dem Teppich eingeschlafen waren, waren alle im Zimmer so
blass geworden wie Geister, die Mädchen und die Jungen. Niemand
sprach ein Wort.
Unten im Ratssaal fuhr Luscinia mit ihrer Geschichte fort:
„Als
er mir sagte, dass er mich töten lassen würde, war ich nicht
sicher, ob ich überhaupt am Leben bleiben wollte. Eine Zeit lang
hörte ich auf zu essen, außer an den Tagen, wo er mich zu einem
Restaurantbesuch mit ihm abholte. Dreimal in der Woche kam Mr X zum
Venus Projekt, um mich in seinem Fahrzeug mit den dunklen Fenstern
abzuholen.
Es war jedes Mal dieselbe Routine: In dem Fahrzeug musste ich mich
umziehen, und mich in eine glitzernde Bekleidung und goldene
Zehenspitzenschuhe zwängen. Wie alle Kleidung in Nephilim City, so
war auch diese extrem eng und ließ meine Arme, einen Teil meiner
Brust und diesmal sogar meinen Rücken unbedeckt. Und obwohl es meine
Beine bis zum Fußgelenk bedeckte, war der Unterteil des
Kleidungsstücks an der rechten Seite bis zur Hüfte hin
aufgeschnitten, so dass mein rechtes Bein immer unbedeckt war, wenn
ich in den Zehenspitzen-Schuhen gehen musste. Über meine Hand- und
Fußgelenke und um meinen Hals musste ich Zierketten mit glitzernden
Steinen tragen.
Die Kleidung war auch mit Glitzersteinen bedeckt, aber diese Steine
seien aus Glas, informierte mich Mr X, während die Steine auf den
Zier-Ketten einen höheren Wert hätten als zehn Frauen so wie ich
eine bin. Für mich sahen alle diese Glitzersteine allerdings gleich
aus.
Die Restaurants, in die mich Mr X führte, waren genauso glitzernd
wie die Kleider, die ich tragen musste. Von den Dekorationen an den
Wänden und an der Decke, bis zu denen auf den Tischen, alles
glitzerte.
Die Männer, die an den anderen Tischen saßen, schienen alle Mr X zu
kennen. Wie er hatten sie auch Frauen wie mich bei sich, die auch
ähnliche Kleidung trugen und ähnliche Zierketten um den Hals. Oft
redeten die Männer mit Mr X, wobei sie mich dann mit abschätzenden
Blicken ansahen, und danach Mr X für seine Wahl gratulierten. Wie
ich, so haben auch die anderen Frauen, die bei diesen Männern saßen,
kein Wort geredet.
Nachdem wir gegessen hatten, führte mich Mr X in ein Stockwerk über
dem Restaurant, wo ein großes Bett stand. Dort sahen wir dann auf
einem Bildschirm jedes Mal zwei Bildergeschichten aus den Dunklen
Zeiten, eine nach der anderen, und jedes Mal andere. In der ersten
Geschichte erschossen Dunkle-Zeiten-Leute andere Dunkle-Zeiten-Leute
oder sprengten sie in die Luft, dann lachten sie über die Dinge, die
sie getan hatten, und bewunderten diejenigen, welche die meisten
Leute getötet hatten. Mr X zwang mich sogar Geschichten über einen
Mann namens Hannibal anzusehen, der zuerst Menschen tötete und dann
seine Opfer aufaß.“
In diesem Moment bemerkte Hope, wie Marcella aus ihrem Sessel sprang
und aus dem Zimmer lief. Hope wusste genau warum, denn sie spürte
dieselbe Übelkeit auch. Trotzdem konnte sie ihre Augen nicht vom
Schirm abwenden, sie musste in entsetzter Faszination weiter zuhören.
Luscinia unten im Gemeindesaal fuhr mit neutraler Stimme fort:
„Die
jeweils zweite Geschichte, die mich Mr X zwang mit ihm anzuschauen,
und er schlug mich immer dann, wenn ich auch nur versuchte meine
Augen zu schließen oder meine Ohren zu bedecken, war sogar noch
schlimmer als die erste. Auch wenn es jedes Mal eine andere
Geschichte war, so begannen sie immer ähnlich. Männer belegten
Frauen mit hässlichen Namen und zogen sie dann an den Haaren schrien
sie an. Danach taten sie unaussprechliche Dinge mit den Frauen ...
schmerzhafte Dinge für den Körper und die Seele...
Nachdem er diese Geschichten angeschaut hatte, tat Mr X dann das mit
mir, was er in den Geschichten gesehen hatte...“
Luscinia hielt inne, atmete tief ein und danach, wobei ein leichtes
Zittern in ihrer Stimme blieb, das ungewollt ihre Gefühle verriet,
fuhr sie fort:
„Einmal
habe ich Mr X gefragt, warum er mir diese Dinge antat. Er antwortete,
dass dies die Art und Weise wäre, wie man Frauen behandeln müsse.
Entweder Männer dominierten die Frauen oder sie würden von ihnen
dominiert. Nachdem Mr X dann fertig damit war, mir Gewalt anzutun,
brachte er mich zum Projekt zurück.
Nach dem zweiten Mal, war ich bereit zu sterben, und ich wäre wohl
gestorben, wenn es nicht für eine Frau im Venus Projekt gewesen
wäre. Ihr Name war Inessa- und ja, das war ihr richtiger Name.“
Luscinias Stimme, die sie absichtlich mit einer künstlichen
Objektivität unpersönlich gehalten hatte, wurde wärmer und
sanfter:
„Die
meisten Frauen sprachen von Inessa nur als von der 'Kranken unten im
Keller' oder von der 'mit dem lebenslänglichen Vertrag'. Und ja, sie
war die einzige Frau, die einen unbegrenzten Vertrag hatte. Sie war
so an diesen Vertrag gebunden, dass sie nicht einmal das Projekt
verlassen durfte, und es seit 15 Jahren auch nicht mehr verlassen
hatte.
Wenn sie versuchen würde durch Türen oder Fenster zu entkommen,
würde ein Sicherheitsalarm losgehen, war mir gesagt worden. Der
Alarm sei mit dem Ortungscode in ihrem Nacken verbunden. Doch sie
hatte schon viele Jahre nicht mehr versucht wegzulaufen.“
Jetzt war Traurigkeit in Luscinias Ton zu hören:
„Als
ich Inessa zum ersten Mal traf, war sie schon schwer krank. Die
Medizin, die uns Frauen gegen die Krankheiten verschrieben wurden,
die wir durch die Arbeit im Projekt bekamen, wirkte für Inessa nicht
mehr. Sie hatte zu viele Jahre dort gearbeitet. Jetzt konnte Inessa
kaum noch ihr Bett verlassen, und um zum Badezimmer zu gehen,
brauchte sie Hilfe.
Seit einer Weile schon hatten sich die Frauen im Projekt dabei
abgewechselt, sich um Inessa zu kümmern. Aber nachdem ich nichts
anderes mehr zu tun hatte, als darauf zu warten, von Mr X abgeholt zu
werden, war dies jetzt beinahe ganz meine Aufgabe geworden.
Und obwohl Inessa so krank war, war sie doch eine gute Zuhörerin.
Als ich ihr sagte, dass ich sterben wollte, sagte sie mir: 'Du musst
überleben, bis du eines Tages aus dem Projekt herauskommst.“
Luscinia atmete tief ein und fuhr fort: „Als ich ihr sagte, ich
könne es nicht mehr ertragen, sagte sie mir: 'Mr X wird dich bald
Leid sein, und dann ist das Schlimmste überstanden'.“
Luscinia atmete noch einmal tief: „Und am Ende sagte sie mir, dass
ich beten sollte. Ich antwortete ihr, dass da kein Gott sei, zu dem
ich beten könnte, denn Nephilim City sei die Hölle. Und sie
antwortete: 'Kein Ort existiert, wo Gott nicht ist'...“
Luscinia schüttelte in sanfter Verwunderung ihren Kopf: „Ich
konnte nicht verstehen, dass sie immer noch an etwas glauben konnte,
nach all dem, was ihr angetan worden war.“
Nach einer kurzen Pause und immer noch kopfschüttelnd fuhr Luscinia
fort: „Sie hätte einen Sohn, erzählte sie mir, einen Sohn namens
Jonathan. Als der Junge fünf Jahre alt gewesen war, hatte ihr
Ehemann sie gewaltsam in das Projekt gebracht und darauf bestanden,
dass sie einen lebenslangen Vertrag erhielt und das Gebäude nicht
verlassen durfte.
Nachdem sie mehrfach versucht hatte zu fliehen, wurde sie in ihrem
Zimmer angekettet. Bestimmte Sorten von Männern, fühlten sich
angezogen von ihrer Hilflosigkeit. Männer wie Mr X kannte sie nur zu
gut. Später wurden die Ketten durch den elektronischen Alarm
ersetzt. Und trotz all dem glaubte sie immer noch, dass sie eines
Tages ihren Sohn wieder sehen würde, und obwohl dieser bei seinem
Vater aufgewachsen war, würde er trotzdem nicht so sein wie sein
Vater.
Und sie sagte dann auch noch, wenn ich die Hoffnung nicht aufgäbe,
dann würde ich eines Tages Orange Country verlassen und in mein
Heimatdorf zurückkehren...
Wir alle im Projekt wussten, dass Inessa bald sterben würde.“
Wieder war Traurigkeit in Luscinia's Stimme getreten. „Sie war ein
so erbarmungswürdiges Wesen, und doch war sie unglaublich
freundlich. Ich wollte sie nicht aufregen, obwohl ich sicher war,
dass diese Wunschträume niemals wahr werden würden. Und um sie
glücklich zu machen, tat ich so, als ob ich an diese Trugbilder
glaubte, die sie sich selbst ausmalte.“
Jetzt machte Luscinia eine längere Pause, bevor sie voll
Verwunderung in der Stimmer weiter redete:
„Aber
sie hatte Recht, und ich lag falsch. Eines Tages kam Inessa's Sohn
Jonathan in das Projekt, nachdem er sie 15 Jahre lang nicht gesehen
hatte. Und er war tatsächlich nicht wie sein Vater.“
Luscinia schüttelte noch einmal den Kopf und sah voll Bewunderung
auf den jungen Mann hinunter, der neben ihr saß und das inzwischen
eingeschlafene Kind im Arm hielt.
Von jenem Tag an kam Jonathan jeden Abend und saß stundenlang neben
seiner Mutter. Er bezahlte dem Manager viele Coin, damit er seine
Besuche vor dem Eigentümer des Projekts, John Galt, Jonathans Vater
und Inessas Ehemann, geheim hielt.
Drei Wochen später starb Inessa. Doch vorher sagte sie Jonathan und
mir immer wieder, dass wir einen Weg finden müssten, um Orange
Country zu verlassen.“
Luscinia machte eine weitere lange Pause, um sich die Tränen aus den
Augen zu wischen. Aber die Heiserkeit in ihrer Kehle konnte sie nicht
verbergen.
„Das
taten wir. Wir benutzten eine Karte der Kanalisation von Nephilim
City, und Jonathan fand einen Ort, wo diese am Nächsten an die große
Mauer heranreichte. Von dort aus konnte er einen Tunnel unter der
Mauer hindurch bauen. Er brauchte zwei Monate dafür.
Irgendwann während des ersten Monats wurde Inessa's andere
Vorhersage wahr. Mr X verlor sein Interesse an mir. Jetzt konnte
Jonathan den Manager bezahlen, und mich exklusiv für sich selbst
haben, weg von den anderen Kunden, aber Jonathan wollte keine
Dienstleistungen von mir. Jeden Tag kam er zum Projekt, um mir zu
erzählen, welche Fortschritte er beim Tunnel-Graben hatte. In den
letzten paar Wochen, bin ich mit ihm gegangen, um ihm zu helfen.
Aber er konnte nicht seine ganze Zeit fürs Graben verwenden, denn er
musste immer noch die Arbeit als Assistent seines Vaters machen, um
keinen Verdacht zu erwecken. Er dachte, dass er alles unter Kontrolle
hätte, aber wir beide hatten die Abhörgeräte vergessen.“
Luscinia atmete tief ein.
„Eines
Tages, als ich nach Hause in meine Wohnung kam, erwartete mich meine
Nachbarin Nanami vor der Tür und bat mich sie zu besuchen. Sie lud
mich in ihr Schlafzimmer ein, wo sie den Verzerrer anstellte.
Zu meinem großen Schrecken erzählte sie mir dann, dass sie und ihr
Mann Pedro genau wüssten, was Jonathan und ich geplant hätten. Wie
überall, so waren auch im Venus Projekt Abhörgeräte installiert,
und einige unserer Worte, hatten einen Alarm ausgelöst.
Glücklicherweise, war dieses Projekt in dem
Datenauswertungs-Distrikt von Nanamis Ehemann. Und er hatte
beschlossen seine Vorgesetzten nicht zu informieren. Stattdessen
verlangten er und Nanami von uns, dass wir etwas für sie tun
sollten. Nämlich ihre kleine Tochter Natsuki mitnehmen.
Ich traute beinahe meinen Ohren nicht. Ich wusste wie sehr Nanami
ihre Tochter liebte, und fragte sie entsetzt: Warum, um Himmels
willen?
Und dann erzählte sie mir unter Tränen, dass die
Versicherungsagenturen ganz plötzlich die Versicherungsbeiträge für
Mädchen zwischen 12 und 25 Jahren erhöht hätten. Und wie sehr sie
es auch versuchen würden, so könnten Pedro und sie diese Summe
niemals aufbringen. Und darum würden sie Natsuki nicht vor dem Venus
Projekt schützen können. Genau wie alle anderen Frauen in den
letzten dreißig Jahren, so hatte auch Nanami dort gearbeitet... und
sie hatte dort auch Kunden wie Mr X getroffen. Diese schreckliche
Lebenserfahrung wollte sie ihrer Tochter ersparen.
Deshalb beschlossen sie und Pedro, Natsuki mit mir und Jonathan in
die äußere Welt zu schicken. Ich fragte sie, warum sie und ihr Mann
uns nicht begleiteten, aber Nanami war überzeugt davon, dass ihre
Heimatdörfer ihnen eine Rückkehr nicht erlauben würden. Aber
Natsuki war unschuldig, ihre würde das Asyl sicher nicht verweigert
werden.
Zwei Tage später beendete Jonathan den Tunnel. Nanami und Pedro
meldeten ihre Tochter als verstorben und ließen einen leeren Sarg
kremieren. Pedro hatte das Gerät besorgt, mit dem man die Chips
deaktivierte und einen Arzt gefunden, der den Ortungs-Chip entfernen
konnte. Der Arzt redete nicht viel, und ich habe seinen Namen nie
erfahren, nicht einmal seine Nummer. Aber er führte in Nanamis
Schlafzimmer die Operationen aus und entfernte die Chips in meinem
Nacken und meiner Hand. Mit diesen Chips konnte mich der Projekt
Manager, der durch Drohungen und Bestechung dazu gebracht worden war,
als verstorben melden, in dem er die Chips zur Grenzstation schickte
und einen Sarg mit einem Tierkadaver verbrennen ließ.
Der Gedanke, dass inzwischen so viele Menschen von unseren Plänen
wussten, machte mir Angst, aber Nanami sagte, dass ich ihnen
vertrauen müsste.“
Luscinia schüttelte nun den Kopf und erklärte: „Seit ich in
Orange Country lebte, war meine Fähigkeit zu vertrauen fast verloren
gegangen. Um sicher zu gehen, dass Natsuki und ich nicht vermisst
wurden, waren all diese Maßnahmen unabdingbar, darüber waren wir
uns alle einig. Deshalb zwang ich mich, meine Angst zu unterdrücken.
Am Tag vor unserer Flucht, erklärte Jonathan seinem Vater, dass er
auf einen dreiwöchigen Urlaub in eines der Dörfer am Meer gehen
würde. Sein Vater akzeptierte diese Erklärung für seine
zeitweilige Abwesenheit und sagte, er hoffe, dass Jonathan nach
seiner Rückkehr wohl genug ausgeruht sein würde, um härter zu
arbeiten, als er es in den letzten Monaten getan hätte.
Am Abend der Flucht holte Jonathan mich und Natsuki aus meiner
Wohnung ab. Nanami hatte ihrer Tochter ein Schlafmittel gegeben,
damit sie unterwegs schlief und nicht weinen würde. Dann übergab
sie sie mir und küsste sie zum Schluss noch einmal zum Abschied.
Dann verließ sie unter Tränen meine Wohnung..
Jonathan nahm dann Natsuki auf den Arm, und ich trug den Projektor
und ein Bündel mit Kleidern, die ich aus den Vorhängen meiner
Wohnung genäht hatte. Denn die Kleidung von Nephilim City zu tragen,
wäre in der äußeren Welt viel zu auffällig gewesen, selbst an
anderen Orten als Spesaeterna.
Wir gingen zu Fuß dahin, wo man in die Kanalisation hinunterklettern
konnte. Obwohl Jonathan ein kleines Transport-Fahrzeug besitzt, das
er benutzt hatte, als er den Tunnel baute, wussten wir, dass wir es
nicht riskieren konnten, das Fahrzeug in Nephilim City geparkt zu
lassen, da er doch in einem der Meeresdörfer sein sollte. Wir
kletterten in die Kanalisation, und nach ein paar Kilometern
kletterten wir dann durch Jonathans engen Tunnel. Nachdem wir auf der
anderen Seite herausgekommen waren, wechselte ich die Kleidung.
Wir baten die Menschen im nächsten Dorf, uns zu helfen, damit wir
die Maglev benutzen konnten, und wir erzählten ihnen die Wahrheit
über Orange Country. Die Dorfbewohner waren nicht sicher, was sie
tun sollten, aber als sie die kleine Natsuki sahen und von dem Venus
Projekt hörten, hatte eine älteres Ehepaar, Henry und Lea Bower,
Mitleid mit uns. Sie kauften uns Fahrkarten für die Reise nach
Spesaeterna. Und so sind wir am Ende hier angekommen.“
Luscinia machte eine Pause, und man konnte ein lauter werdendes
Gemurmel hören. Ms Keilar war schon halb aufgestanden, als Luscinia
ihren Kopf schüttelte und entschuldigend noch einmal begann:
„Mit
Ihrer Erlaubnis, Ms Keilar, möchte ich bitten, dass Jonathan auch
noch reden darf. Ich glaube, was er über Nephilim City zu sagen
hat, ist wahrscheinlich noch wichtiger, als das, was ich Ihnen bis
jetzt erzählt habe.“
Ms Keilar nickte, um anzuzeigen, dass die Erlaubnis gewährt war, und
Luscinia setzte sich hin. Jonathan legte ihr nun die schlafende
Natsuki in die Arme und stand auf.
Als das Pult auch aufgestiegen war, räusperte er sich und begann zu
sprechen: „Mein Name ist Jonathan Galt, und ich bin der Sohn von
Inessa Stakova und John Galt.
Als ich fünf Jahre alt war, sagte mir mein Vater, dass meine Mutter
gestorben sei. Und während ich das das überhaupt nicht begreifen
konnte, präsentierte er mir Mr Tanner, der von nun an mein Lehrer
sein sollte.
Als ich acht Jahre alt war, begann Mr Tanner, ohne dass mein Vater es
mitbekam, mir Lektionen zu geben, die anders waren als das, was mein
Vater mich lehrte. Diese heimlichen Lektionen handelten von dem, was
in Orange Country die 'äußere Welt' genannt wird, und wie die
Menschen dort lebten und was sie glaubten. Obwohl ich meinen Vater
als Kind liebte und bewunderte, vertraute ich nach und nach Mr Tanner
viel mehr.
Als ich 15 Jahre alt war, wurde Mr Tanner als mein Lehrer entlassen
und mein Vater übernahm meine Erziehung selbst. Er bildete mich auf
unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern aus, und ließ mich an
seinen wissenschaftlichen Projekten als sein Assistent arbeiten.
Vor drei Monaten traf ich Mr Tanner wieder, und er erzählte mir,
dass meine Mutter noch am Leben sei, und in einem Venus Projekt
meines Vaters gefangen gehalten wurde. Wie Luscinia es Ihnen bereits
berichtet hat, starb meine Mutter kurze Zeit später.
Eine Woche danach führte mich mein Vater in die Transhumanistische
Gesellschaft ein. Dort erfuhr ich, was für unvergleichlich bösartige
und gefährliche Männer er und seine Freunde tatsächlich sind.
Da Sie mich hier in Spesaeterna nicht kennen, kann ich nicht von
Ihnen erwarten, dass sie allein meinen Worten glauben. Aber ich weiß
mit Sicherheit, dass es lebenswichtig für Sie alle hier und für die
gesamte äußere Welt ist, zu erfahren, was in diesen Laboratorien
von Nephilim City wirklich geschieht.
Deshalb habe ich, bevor ich Nephilim City verlassen habe, eine
audio-visuelle Aufnahme gemacht, die ich Ihnen zeigen möchte. Die
Aufnahme enthält eine Rede, die auf der letzten Versammlung der
Transhumanistischen Gesellschaft im letzten Monat gehalten wurde.
Ich habe auch einen Projektions-Apparat mitgenommen, da ich annehme,
dass die Technologie von Orange Country nicht mit der Ihren
kompatibel ist.“
Nach diesen Worten holte Jonathan ein kleines Gerät aus der Tasche
zu seinen Füßen. Er platzierte das Gerät auf das Pult, schaltete
es ein und drehte den Strahl, der daraus hervortrat, gegen die Wand.
Nachdem er die Bildschärfe eingestellt hatte, redete er weiter:
„Der
Mann, der die Rede hält, ist John Galt, mein Vater, der Haupteigner
des J.G.Konzerns, mit all den dazugehörigen Geschäften,
Produktionsanlagen, Versicherungen und Sicherheitsfirmen. Zu seiner
Rechten werden Sie Larry Wurner, Haupteigner des L.W. Konzerns und
Stanley Kern vom S.K. Konzern, der Mann, den Luscinia als Mr X kennt,
sehen. Links von meinem Vater sitzen Valerij Rukowski vom V.R.
Konzern und Paolo Ramirez vom P.R. Konzern.“
Nachdem das Gerät eingestellt war, hörte Jonathan Galt auf zu
sprechen und überließ diesem das Reden.
Die Projektion begann damit, dass mehrere Dutzend Männer, alle in
Anzügen, applaudierten, während fünf andere Anzugträger einen
Saal, der wie ein Auditorium aussah, betraten. Sie gingen dort zu dem
erhöhten Podium. Der Applaus hörte auf, und eine respektvolle
Stille folgte.
Vier Männer setzten sich rechts und links neben das Rednerpult,
während der fünfte, ein Mann in den späten Fünfzigern, dem
Jonathan Galt sehr ähnlich sah, direkt zum Pult ging und dort in
Interlingua zu reden begann:
„Meine
Transhumanistischen Freunde, geehrte Mitglieder unserer Vereinigung.
Es erfüllt mich mit großer Freude und immensem Stolz, dieses unser
35-jähriges Jubiläum mit euch feiern zu können.
Zu einem Zeitpunkt wie diesem ist es angebracht, auf unsere einfachen
Anfänge zurückzuschauen, und zu sehen, wie weit wir von dort durch
all unsere Anstrengungen gekommen sind.
Wie ihr alle wisst, so begann alles mit uns fünf hier auf dem
Podium, die wir eine Vision hatten, keine kleine Vision, sondern eine
großartige und glorreiche – eine Vision von einer Zukunft, die dem
Fortschritt gewidmet sein würde.
Ihr alle hier wisst doch nur zu gut, was in den letzten 200 Jahren
geschehen ist. Die gesamte Menschheit wurde in ihrer Entwicklung
zurückgehalten, man könnte fast sagen, zum Rückschritt gezwungen.
Die Wissenschaft wurde kastriert und wurde als nichts anderes mehr
benutzt als ein Küchenwerkzeug, um die Mägen einer viel zu bequemen
Menschheit zu füllen.
Die aufgeklärten Progressiven Zeiten wurden in der äußeren Welt
als die Dunklen Zeiten diffamiert, und die gesamte menschliche Rasse
ist in einen weibischen Märchentraum verfallen.
Jedoch vor 35 Jahren wurde der Kuss des Erwachens vorbereitet, als
diese Gesellschaft ins Leben gerufen wurde.
Fortschritt ist endlich wieder in Sicht, und er wird uns in die
Zukunft führen, zu den größten Errungenschaften, die die Welt je
gesehen hat. Am Ende werden wir die Sterne erreichen und das
Universum erobern.
Aber das Ganze kann nicht vorangetrieben werden, ohne einen guten
Kampf auszufechten. Wir müssen enorme Hindernisse überwinden, und
das ist auch gut so.
'Krieg dient zur Gesundheit der Nationen' hat ein weiser Mann einmal
gesagt. Und wahrere Worte wurden nie gesprochen.
Krieg hat immer die Nationen so zusammengeführt, dass sie nach
höheren Zielen streben konnten. Wenn der gemeinsame Feind bekämpft
wurde, dann haben Männer ihre Stärken vereinigt und loyale
Bruderschaften gebildet, alles im Streben nach einem höheren Gut. Im
Verlaufe eines jeden Krieges steigen immer die intelligentesten und
würdigsten Vertreter unserer Spezies zur Spitze auf.
Deshalb waren in der Vergangenheit die Zeiten des Krieges immer auch
die Zeiten des größten Fortschritts. Die meisten Erfindungen wurden
durch die Notwendigkeiten der Kriegsführung oder auch nur der
Kriegsbedrohung auf den Weg gebracht. Dies hat es der menschlichen
Gesellschaft in der Vergangenheit erlaubt, einen Großteil ihrer
Ressourcen der Wissenschaft zu widmen.
Wie unsere progressiven Vorfahren es bereits wussten, so muss das
Leben zwangsläufig ein Kampf sein, denn ohne Kampf gibt es nur
Rückentwicklung und Entartung.
Die äußere Welt ist ein entarteter, verweiblichter Ort, wo das
Leben stagniert. Und was stagniert, muss zwangsläufig verrotten.
Orange Country, jedoch, ist eine Nation, die zum Kampf bereit ist.
Männlich, frisch und stark wird Nephilim City bald zum Zentrum der
Welt werden, dem Zentrum von Wissenschaft und menschlicher
Evolution.
Ich danke euch für eure unermüdliche Unterstützung und eure
Anstrengungen, diese Vision, die wir vor 35 Jahren hatten, jetzt
Wirklichkeit werden zu lassen.
Danke für eure Loyalität und Diskretion, ohne die wir unsere
gegenwärtige Stufe niemals erreicht hätten. Denn wie ihr sicherlich
wisst, so gibt es auch hier in Orange Country viel zu wenige, die
genügend intellektuelle Kapazität besitzen, um zu begreifen, was
geschehen muss, wenn die Menschheit in diesem evolutionären Kampf
Erfolg haben will. Es ist deshalb eine Tatsache, dass das wirkliche
Wissen immer ein Privileg sein muss, dass nur denen vermittelt werden
kann, die würdig dafür sind.
Ihr, meine Mit-Transhumanisten, seid die Würdigen dieses Zeitalters,
würdig Wahrheit und Erkenntnis zu erlangen. Ich applaudiere euch!“
Während John Galt in die Hände klatschte, begannen auch alle
anderen im Publikum zu klatschen, bis der Applaus zu begeisterten
Ovationen anwuchs.
Das unbeabsichtigte Publikum des Dorfes Spesaeterna, aber, war in
eine tödliche Stille verfallen.
Auf sein Hand-Zeichen hin beendete die Transhumanistische
Gesellschaft den Applaus, so dass John Galt mit seiner Rede
fortfahren konnte:
„Jetzt
nach diesen einführenden Worten ist die Zeit gekommen, euch in der
Praxis vorzustellen, wie weit wir die Werkzeuge, um unsere Visionen
zu verwirklichen, bereits entwickelt haben.“
Nach einem weiteren Handzeichen betrat ein Mann, der durch eine
Hintertür gekommen war, die Bühne. Er schob einen Wagen mit einem
großen Glasbehälter vor sich her, der gefüllt war mit lebendigen,
fliegenden Insekten.
John Galt erklärte: „Unsere Wissenschaftler haben seit mehreren
Jahren bereits an diesem Projekt gearbeitet. Und ich bin stolz euch
mitteilen zu können, dass wir weiter gekommen sind, als wir es uns
in unseren kühnsten Träumen je in so kurzer Zeit erhofft hatten.
Diese Moskitos in diesem Behälter sind die tödlichste Waffe, die
die Menschheit je gekannt hat. Sie tragen einen Virus mit sich, der
eine Tötungskapazität für menschliche Organismen von 90% Prozent
aufweist, und das innerhalb von nur vier Tagen nach Beginn der
Infektion. Nachdem das Subjekt einmal von einem Moskitostich
infiziert wurde, wird er dann selbst zum Inkubator für den Virus,
den er dann direkt an jeden weitergibt, mit dem er in Kontakt kommt.
Es hat sich gezeigt, dass weniger als 10 Prozent der Infizierten die
Symptome der Infektion überleben.
Wir haben auch bereits einen antiviralen Schutz für unsere eigenen
Leute entwickelt, der injiziert werden wird, sobald diese Waffe zum
Einsatz kommt.
Die Moskitos selbst sind genetisch so modifiziert worden, dass sie
von den regulären elektro-magnetischen Insektenschutzvorrichtungen
der äußeren Welt nicht mehr entdeckt werden können. Mit diesen
Modifikationen können diese Insekten in jedes Dorf und jedes Haus
eindringen und jede Person infizieren, die dort lebt. Was wir für
dieses Waffensystem jedoch immer noch benötigen, ist ein
weitreichendes Verteilungssystem.
Wie wir euch schon vorher berichtet haben, so haben wir seit Jahren
bereits große Anstrengungen unternommen Langstreckentransportsysteme
zu entwickeln. Indem wir die Tarnkappentechnologie der Progressiven
Zeiten nutzen, werden wir bereits im Frühjahr nächsten Jahres
bereit sein, tausende von Tarnkappendrohnen loszuschicken, die
beinahe gleichzeitig in den Luftraum aller Nationen eindringen und
dort ihre virologische Last ablassen können.
Strategische Pläne wurden gemäß unseres besten virologischen,
soziologischen und psychologischen Wissen entwickelt. Der Angriff
wird zuerst in den Gebieten voranschreiten, die von Orange Country am
weitesten entfernt liegen, um keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen,
dass der Ausbruch etwas mit unserer Nation zu tun hat. Die äußere
Welt wird etwa vier bis fünf Wochen benötigen, bevor ein
gemeinsamer Faktor gefunden werden kann und ein effektives
Quarantäne-Regime eingerichtet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt, wird
die Weltbevölkerung bereits um ein Drittel abgenommen haben. Der
plötzliche Verlust, wird mit Sicherheit ein großes Chaos
verursachen und den Zusammenbruch der meisten Dorfstrukturen und der
Beziehungen zwischen den Dörfern auf dem ganzen Planeten.
Nach einer angemessenen Zeitspanne, wird es auch einen Ausbruch in
unseren eigenen Nahrungsmittel-produzierenden Dörfern geben. Diese
Dörfer werden umgehend unter Quarantäne gestellt werden, und
innerhalb einer Woche werden wir dann unseren anti-viralen Impfstoff
präsentieren. Nachdem dessen Effektivität bewiesen wurde, werden
wir der äußeren Welt diesen Impfstoff anbieten. Da wir dann die
einzige wirksame Medizin gegen diese Menschheits-bedrohende Seuche
besitzen werden, wird Nephilim City dadurch in der Tat zum Zentrum
der Welt aufsteigen.
Eine Nebenwirkung dieser lebensrettenden Impfung wird es sein, die
weibliche Fruchtbarkeit drastisch zu reduzieren. Das wird innerhalb
einer einzigen Generation dazu führen, dass die Menschheit um 50%
reduziert sein wird. Natürlich wird es für die endgültige 95%
Reduktion, wie sie von unseren Vorfahren während der
Fortschrittlichen Zeiten angestrebt wurde, vermutlich noch ein
Jahrhundert dauern.
Aber selbst diese provisorische Reduktion wird endlich die Grundlage
für die größte und ehrgeizigste menschliche Vision legen, eine
post-humane Welt. Diese fehlerhafte und heruntergekommene menschliche
Rasse wird durch etwas wahrlich Besseres ersetzt werden, durch
wirklich rationale Wesen, die nicht mehr an emotionale und
intellektuelle Grenzen gebunden sind, Wesen, die in Wahrheit die Welt
und das Universum erobern werden.“
Spontaner Applaus wurde aus dem Transhumanisten Publikum laut. John
Galt nickte zufrieden und fuhr fort, indem er seine Stimme zu einem
triumphalen Ton steigerte:
„Und
jetzt werde ich euch die Resultate der vierzigjährigen Forschung
vorstellen, die ich selbst unternommen habe. Nachdem wir zahlreiche
Hindernisse überwunden haben, kann ich euch endlich von unserem
Erfolg in dieser ersten Stufe der menschlichen Selbst-Evolution
berichten, etwas wovon die Weisen der Menschheit seit Jahrhunderten
geträumt haben.
Er drehte sich um und gab den lauten Befehl: „Tanner, kommen Sie
herein!“
Wieder betrat ein Mann den Saal durch die Hintertür. Der Mann hielt
ein Baby in seinen Armen.
John Galt fuhr fort: „Meine Mit-Transhumanisten, darf ich euch
vorstellen, den Gipfel unserer Forschung, die Zukunft selbst!
Dies“, er deutete auf das Baby, „sieht vielleicht wie ein ganz
normales Kleinkind aus. Aber das Aussehen kann täuschen, oh, wie es
uns heute täuscht. Dieses Kleinkind ist keiner weiblichen
Gebärmutter entsprungen. Er ist der erste, seit über einem
Jahrhundert, der in einem Reagenzglas gezeugt wurde. Er ist der erste
überhaupt, der sechs Monate lang in einer Entwicklungskammer, die
wie eine künstliche Gebärmutter funktioniert, herangewachsen ist
und dann in weiteren sechs Monaten in einem speziell dafür
entwickelten Brutkasten zur Reife gebracht wurde.
Aber da ist noch mehr an ihm. Aufbauend auf Tierversuchen aus den
Progressiven Zeiten haben wir eine Methode der genetischen
Veränderung gefunden, die es uns erlaubt das menschliche Genom weit
mehr zu verbessern, als es je für möglich gehalten wurde.
Was unsere Vorfahren an Mäusen testeten, in Vorbereitung auf
Menschenversuche, ist uns nun endlich gelungen. Wir haben in das
Genom dieses Kindes ein extra Paar Chromosomen eingepflanzt, eines,
das alle genetischen Eigenschaften, mit denen wir diesen Jungen
ausstatten wollten, enthält. Nach beinahe tausend Versuchen, alle
mussten vorzeitig abgebrochen werden, haben wir endlich unseren
Prototypen erhalten:
Dieses Kleinkind wird aufwachsen, um dreimal stärker und schneller
zu werden, als je ein Mensch gewesen ist. Und er wird mit der
zehnfachen Intelligenz eines gewöhnlichen Menschen ausgestattet
sein. Zusätzlich wird es ihm seine Hirn- und Körperphysiologie
erlauben, nach und nach kybernetische Teile in sein Gehirn und seinen
Körper einbauen zu lassen, welche Teile er auch immer benötigen
sollte, um seine Ziele zu verfolgen.
Der Grund für all dies ist natürlich, dass dieses Kind kein Mensch
mehr ist. Er ist die Erfüllung unserer und unserer Vorfahren
sehnlichster Träume, er ist das erste post-humane Wesen.“
Wieder war ein begeisterter spontaner Applaus zu hören. John Galt
erlaubte ihm, sich für eine Minute zu unterbrechen. Danach fuhr er
mit seiner Rede fort:
„Wie
ich euch bereits gesagt habe, so ist dieses Kleinkind nach der
Zeugung ein ganzes Jahr gereift, bis es vor zwei Wochen aus seinem
speziellen Brutkasten geholt wurde. Aber bereits in diesem Brutkasten
wurden seine Gehörnerven trainiert und sein Gehirn weiterentwickelt.
In den letzten beiden Wochen schließlich, seit er aus dem Brutkasten
genommen wurde, wurden seine oralen Muskeln so weit trainiert, dass
er nun die Worte aussprechen kann, die er bereits während seiner
vorherigen Entwicklungsphase gelernt hatte.
Mr Aaron Tanner, der auch der Tutor meines Sohnes Jonathan war, hat
nun die Aufgabe übernommen, den Jungen zu unterrichten und die
Entwicklung seiner natürlichen Fähigkeiten zu unterstützen. Und
wie ihr jetzt hören werdet, so liegt die Sprachentwicklung dieses
neugeborenen Kleinkindes bereits bei der eines gewöhnlichen
Fünfjährigen.“
Indem er sich nun dem Baby zuwandte befahl John Galt: „Sag mir,
post-humaner Junge, wer bist du und wie ist dein Namen?!“
Die Antwort kam in einer klaren Baby-Stimme: „Ich bin Alpha, der
erste einer neuen Rasse, geboren ein König zu sein. Ich bin ein
Prinz des Universums.“
Eine weitere begeisterte Ovation folgte, aber dabei stellte Jonathan
Galt den Projektor ab.
In Spesaeterna war das frühere Stimmengemurmel zu einem Sturm
angewachsen, wobei Dutzende von Leuten aufgesprungen waren und
verlangten, gehört zu werden.
Im Wohnzimmer von Jennys Familie stellte Jason die Projektion der
Dorfratsversammlung ab. Alle Kinder im Raum, mit Ausnahme der
schlafenden kleinen Zwillinge, sahen blass und krank aus.
Einen Augenblick lang redete niemand. Endlich presste Jason mit
leiser, krächzender Stimme heraus: „Wir müssen sie zerstören!“
Atemlos fragte Ameenah: „Du meinst doch die Virus-Moskitos, das
meinst du doch?“
Jason antwortete nicht, er starrte sie und die anderen nur an.
Ameenah flüsterte: „Du meinst doch nicht die Leute, du kannst
nicht die Leute meinen; das erste Prinzip, was ist mit dem ersten
Prinzip...?
Jason schüttelte den Kopf. In einem dringenden Flüsterton hauchte
er: „Es sind die oder wir, Ameenah... die oder wir!“
***
Wie versprochen hat Nanami Kontakt mit ihrem Ehemann Pedro und mit
Dr Bukovik aufgenommen. Nanami hatte uns gesagt, wir sollten Pedro
während seiner Arbeitspause in dem Restaurant treffen, in dem ein
großer Teil der Angestellten des Sicherheitszentrums normalerweise
zu Mittag isst. Diese Tatsache zerrt stark an meinen Nerven.
Als wir ankommen, wartet Pedro Allegri bereits draußen auf uns.
Als er Darryl, mich und die drei aus Spesaeterna sieht, betritt er
wortlos das Restaurant. Wir folgen Pedro und suchen uns Plätze in
der hintersten Ecke. Dr Bukovik sitzt dort bereits, und eine Sekunde
später hat Mr Wang seinen mitgebrachten Verzerrer angeschaltet.
Wie von allen erwartet, ist Pedro Allegri damit einverstanden,
Darryl und sein Team in das Sicherheits-Hauptquartier einzuschleusen.
In der Tat ist Pedro mehr als nur bereit, mich und die anderen
Eindringlinge aus der äußeren Welt, darin zu unterstützen eine
Nephilim City Revolution anzufachen. Und er sagt uns mit leiser
Stimme, dass er nicht der Einzige vom Personal des
Sicherheitszentrums ist, der so denkt.
Gerade diskutieren meine Begleiter einen 3-dimensionalen
Gebäudeplan des Zentrums, den Pedro und Darryl gemeinsam mit Hilfe
des holographischen Programms von Darryls Armbandcontroller erzeugen.
Natürlich weiß Pedro, wo sich all die Überwachungs- und
Kommunikationsabteilungen befinden. Ich weiß auch, dass all dies
wichtig ist, aber ich spüre mehr und mehr wie nervös ich bin. Was
ist, wenn jemand diese Projektion sieht.
Ja, ich weiß, Darryl behauptet, es sei für alle, die nicht am
Tisch sitzen durch seine Abschirmtechnik unsichtbar. Aber dass unsere
Gruppe überhaupt hier sitzt, inmitten einer ganzen Bande von
Sicherheitsvollstreckern, scheint mir ein verrücktes Risiko zu sein.
Meine Nerven lassen mich auf dem Stuhl unruhig hin- und herrutschen.
Ich kann mich auf diese Planungen einfach nicht mehr konzentrieren,
außerdem muss ich mal ganz dringend, wirklich dringend.
Und so flüstere ich Mr Wang zu, dass ich kurz zur Toilette gehe,
nur um dann dort um einiges länger zu bleiben als nötig. Und es ist
nicht gerade die frische Luft, die ich dort schöpfe, mit Sicherheit
nicht. Nur ein Augenblick alleine, das ist, was ich am Dringendsten
brauche.
Es sind da draußen einfach zu viele Leute um mich herum, und zu
viele Erwartungen. Bald wird von mir erwartet, dass ich meinen Vater
konfrontiere. Aber wie ich das tun soll, so nervös wie ich jetzt
bin, ohne dass ich alles verrate, das weiß ich nicht. Ich sage mir
selbst immer wieder, dass ich das ja schon oft getan habe. Ich habe
Mr Tanners Geheimnisse für mich behalten, seit ich ein Kind war.
Mein Vater hat auch nicht herausgefunden, dass ich meine Mutter
gefunden habe, und nichts von Luscinia und dem Tunnel, den wir
gemeinsam gebaut haben.
Aber dies ist anders. Es hängt so viel mehr davon ab als jemals
zuvor. Wenn nur Luscinia bei mir wäre und dort an dem Tisch säße
statt... statt Ms Alba zum Beispiel, mit ihrem ständigen
misstrauischen Blick.
Als ich mich endlich wieder an den Tisch der Verschwörer setze,
höre ich den Professor sagen:
„Wir
sind also alle einverstanden, dass es unsere erste Priorität ist,
das Ortungszentrum zu deaktivieren, auch wenn sich dies hinter schwer
zu knackenden Spezialtüren befindet. Ihr müsst also einen Weg dort
hinein finden, sobald deine Männer im Zentrum sind, Darryl, selbst
wenn das bedeutet, dass ihr Sprengstoff benutzen müsst, die
Nano-Bots könnten zu langsam sein. Das hat absoluten Vorrang, denn
wir haben hier weder die Zeit noch das medizinische Personal, um die
Ortungs-Chips im Nacken von all denen, die wir retten wollen, außer
Kraft zu setzen, während wir immer noch in Orange Country sind.“
„Sprengstoff,“
unterbreche ich, „der würde doch alles verraten. Ihr seid dann
nicht mehr unbemerkt, Darryl! Warum können wir nicht einfach so
vorgehen, wie geplant? Die Ärzte können die Chips doch in den
Quarantäne-Zelten auf der anderen Seite deaktivieren.“
Das Ganze verwirrt mich mehr als nur ein bisschen. Ich mag es
nicht, wenn Pläne sich ändern. Das macht alles noch komplizierter.
So viel kann schief gehen.
„Dr
Bukovik hat es dir nie gesagt, als er die Operation an Luscinia
vorgenommen hat, nicht wahr?“ Der Professor sieht den Arzt fragend
an, der daraufhin den Kopf schüttelt. Dann sieht er mich wieder an,
mit so etwas wie Mitleid in den Augen.
„Wenn
Luscinia den Chip immer noch im Nacken gehabt hätte,“ erklärt der
Professor dann, „als ihr die Grenze überschritten habt, dann wäre
sie sofort getötet worden. Die Ortungselektronik löst dort die
Selbstzerstörung des Chips aus.“
Mein Herz hört auf zu schlagen. Ich fühle, wie das Blut sich
aus meinem Kopf leert und für einen Augenblick dreht sich die ganze
Welt um mich herum. Ich schwanke und wäre vom Stuhl gefallen, wenn
Ms Alba mich nicht festgehalten hätte.
„Du
bist ein Idiot, David Morgan,“ zischt sie. „Hättest du das dem
Jungen nicht irgendwann später erzählen können?“
Die Gedanken drehen sich in meinem Kopf: Ich hätte sie getötet,
Luscinia getötet. Ich dachte, ich könnte sie retten, aber
meinetwegen wäre sie fast gestorben! Wenn Nanami und Pedro und ihr
Doktor nicht gewesen wären...
Unbeirrt von Ms Albas Kritik redet der Professor weiter: „Hast
du dich nie gefragt, warum ihr die ersten Menschen wart, die aus
Orange Country zurückgekehrt sind? Jetzt weißt du warum. Dein Vater
hat dir keinen Chip einpflanzen lassen, weil du zur Elite gehören
solltest, Luscinias Chip wurde entfernt und das kleine Mädchen hatte
noch keinen.
In welchem Alter werden Kindern diese Chips eingeplanzt, Mr
Allergri?“ Der Professor sieht Pedro fragend an.
„Wenn
sie 10 Jahre alt sind,“ antwortet dieser. Und ich sehe an seinem
Gesicht, dass er denkt, dass zumindest Natsuki niemals einen Chip
tragen würde.
Der Professor dreht sich wieder zu mir: „Als wir mit Mr Allegri
über unsere Pläne sprachen, viele Leute außer Landes zu schaffen,
erzählte er uns etwas, das ich bereits vermutet hatte. Es gab
hunderte, die bereits Fluchtversuche unternommen haben. Einige
versuchten über die Mauer zu steigen, andere darunter hinweg, einige
versuchten mit Booten zu entfliehen. Keiner schaffte es, alle wurden
getötet.“
„Aber
warum haben wir nie etwas davon gehört,“ frage ich und schüttele
wild meinen Kopf. Ich will es immer noch nicht glauben. „Warum
haben uns unsere Nachrichtenagenturen nicht Bilder von den Leichen
dieser Leute gezeigt?“
Diesmal ist es Pedro Allegri, der mit trauriger Stimme antwortet:
„Die Leichen derjenigen, die überirdisch getötet wurden, sind von
kleinen Laserdronen aus dem Sicherheitszentrum disintergriert worden.
Die anderen,“ er zuckt mit den Achseln, „liegen wahrscheinlich
immer noch in den Tunneln.“
Ich schaudere und denke an Luscinia und was hätte geschehen
können...
Ich fühle den bereits vertrauten Zorn auf meinen Vater. Er und
seine elitären Freunde haben auch diese Information von der
Öffentlichkeit fern gehalten, noch eines von ihren Geheimnissen.
Sonst hätte sicherlich niemand zu fliehen versucht, ohne erst zu
versuchen den Chip zu entfernen. Und natürlich war genau das der
Sinn der Sache, niemandem, nicht einer einzigen Seele sollte die
Flucht gelingen.
„Ich
glaube, wir sind hier fertig,“ unterbricht Mr Wang mit seiner
rauhen Stimme meine Gedanken. „Der Rest ist jetzt Ihre Sache, Mr
Kenneth.“
„Sicherlich,“
stimmt Darryl zu. „Meine Männer sind bereits in Position. Wir
werden mit der Operation warten, bis wir das Signal von Ihnen und
Jonathan bekommen haben.“
Es gibt nichts mehr zu sagen.
Der Professor, Ms Alba, Mr Wang und ich verlassen jetzt das Lokal,
Darryl, Pedro und Dr Bukovik bleiben zurück.
***
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