Teil 6


Antonio Fernandez sieht mich mit einem erwartungsvollen Blick an. Ich soll jetzt etwas zeigen, das ich mit Sicherheit nicht habe, die Autorität meines Vaters.
Darryl, der texanische Organisator, hat Antonio und sein Team, das außer ihm aus Brent, Patrick und Kelly besteht, bereits vorbereitet, obwohl Darry selbst an dieser Operation nicht teilnimmt. Die anderen sind alle bereit anzufangen, die Taschen mit den Nanobots, sind gut unter ihren Laborkitteln verborgen.
Aber ich bin es, die sie in die Dronen-Fabrik einschleusen muss. Dies ist extrem wichtig für unsere Pläne.
Mein Mund ist trocken, ich schlucke. Wir haben bereits eine Zeit lang im Besuchsraum gewartet, als endlich ein untersetzter Mann Mitte vierzig erscheint. Ich setze eine ungeduldige Mine auf, wobei die Ungeduld nicht nur gespielt ist.
Ich kenne den Mann. Es ist immer noch derselbe Manager, der hier war, als ich mit meinem Vater die Fabrik das letzte Mal besucht habe.
Werde ich in der Lage sein, ihn zu täuschen? Kann ich das bis zum Schluss durchziehen?
Ich richte mich auf und konzentriere mich.

***



Der Park lag neben der Straße im Dunkeln. Doch David konnte immer noch ein paar Vögel in der friedlichen Umgebung zwitschern hören. Es gab kaum Verkehr, der den Frieden störte. Und das Licht der Straßenlampen, die in regelmäßigen Abständen auf der gegenüberliegenden Seite der Straße standen, war nicht hell genug, um die Dunkelheit der Nacht zu vertreiben.
Aber David bemerkte, dass sich merkwürdigerweise die Luft ein wenig verändert hatte. Der nass-kalte April-Abend war in eine bereits wärmere Nacht übergegangen.
Und dann erinnerte er sich daran, dass morgen der erste Mai war. Und zum ersten Mal in vielen Jahren hatte er einen positiven Gedanken zu seinem Vater, als er sich plötzlich auch daran erinnerte, an einem 30. April auf dessen Schoß gesessen zu sein, wo sein Vater ihm ein Lied beibrachte. Dieses Lied, hatte sein Vater ihm erklärt, war von einem berühmten isländischen Schriftsteller und Poeten geschrieben worden. Die Melodie hatte David immer noch im Kopf, und er konzentrierte sich nun, um auch den Text aus seinem Gedächtnis hervorzukramen.
Er begann mit, 'Oh wie leicht deine Schritte, oh wie lange habe ich auf dich gewartet' danach ging es um das lang-erwartete Ende des Winters mit dem morgigen Beginn des Mai. Auch wenn die Zeiten bislang immer noch hart waren, und es nirgendwo eine Arbeit gab, und der Poet auch nichts anderes zu bieten hatte als seine Hoffnung und sein Leben, so kannte er doch diesen einen Stern der leuchten würde, bis endlich die Maisonne aufging.
David sah nach oben. Keine Sterne waren im Augenblick zu sehen, denn Wolken bedeckten den Himmel noch immer. Doch David hatte so ein Gefühl, dass bald die südlichen Winde diese Wolken vertreiben würden.
Und David hatte seine eigene Hoffnung bei sich, seine Hope, deren Schritte leicht waren, sogar sehr leicht. Jedoch als er sie so betrachtete mit ihren niedergeschlagenen Augen, spürte er ihre Schwermut. Wieder einmal dachte sie tief nach, während sie versuchte eine Entscheidung zu treffen.
Onkel David“, sagte sie dann unsicher, „vielleicht könnte ich dir etwas zeigen, obwohl ich nicht wirklich zu diesen Erinnerungen zurückgehen will. Und doch tu ich das eigentlich trotzdem, immer und immer wieder, denn ich träume davon jede Nacht. Aber es ist etwas Furchtbares, und wenn du es siehst, dann bekommst du vielleicht auch Alpträume davon.“
Du fragst mich, ob ich bereit bin, diese schreckliche Erinnerung von dir anzuschauen?“ interpretierte David, das was sie gerade gesagt hatte.
Hope nickte, aber sie war immer noch voller Zweifel.
Ja“, beantwortete David ihre implizierte Frage, „ich möchte das sehen. Ich habe oft gehört, dass es hilfreich sein kann, ein traumatisches Ereignis in der Erinnerung noch einmal zu durchleben, damit man das Trauma dann endgültig überwinden kann. Und dieses Mal wirst du ja nicht alleine sein, denn ich bin bei dir.“
Hope atmete tief ein und sagte dann: „In Ordnung, aber ich zeige dir das nicht, damit ich die Erinnerungen überwinden kann. Ich könnte das niemals vergessen, nie, nie, niemals.
Es ist nur wegen Marco Santini, und weil du seinen Brief gelesen hast, deshalb denke ich, dass du das sehen solltest... oder vielleicht auch nicht... Ich bin mir nicht sicher“, fügte sie geheimnisvoll hinzu und fragte dann: „Können wir uns da drüben hinsetzen?“
David nickte, und sie gingen zur nächsten Bank. In jeder anderen Nacht hätte David es niemals auch nur in Betracht gezogen, sich im Dunkeln auf eine Parkbank zu setzen und von einer anderen Welt zu träumen. Aber dies war nun einmal Hope's Nacht, und David machte sich um nichts anderes mehr Sorgen als um sie.
Er war auch ziemlich gespannt, auf das, was sie ihm zeigen würde, und fragte sich, warum es ihr so schwer fiel, sich überhaupt dafür zu entscheiden. Nach allem, was er bis jetzt aus ihrer Welt gesehen hatte, schien das keinen Sinn zu ergeben..., jedenfalls noch nicht.
Die Bank stand in einer von Büschen eingerahmten Nische unter einem Ahornbaum. David setzte sich hin und schloss die Augen.
Die Szene, die sich vor ihm materialisierte, zeigte eine verzweifelt argumentierende Ms Morgan, Hope's Mutter, wie sie mit Sensei Thomson, Hope's Lehrer, stritt. Beide standen zusammen mit Hope in der Mitte einer großen Halle, einer Halle die sonderbar leer wirkte, ohne jegliche Möbelstücke oder Dekorationen.
Hope sah auch sonderbar aus, denn sie hatte nicht ihre normale Kleidung an. Stattdessen trug sie einen Anzug aus einem bräunlichen Baumwollmaterial und eine Kappe von derselben Farbe. David erinnerte sich daran, dass er in den Fernseh-Nachrichten manchmal Jungen und Männer aus Afghanistan oder den Pashtun Stammesgegenden Pakistans in genau solchen Kleidern gesehen hatte.
Nein, ich sage immer noch, nein!“ Hope's Mutter hatte nun ihre Stimme erhoben. „Hope ist anders, das müssen Sie doch verstehen. Sie kann das nicht durchmachen.“
Der Lehrer redete in einem vernünftigen Ton und mit leiser Stimme, als ob er versuchte sie zu beruhigen: „ Ms Morgan, ich verstehe ja ihre Besorgnis. Dies ist nicht leicht, für kein Kind, und auch nicht für die Eltern. Aber Sie müssen doch vernünftig sein. Sie muss da durch. Es ist das Gesetz – eines von nur drei internationalen Gesetzen, die wir haben. Als alleinige Ausnahme, würde man akzeptieren, wenn sie geistig behindert wäre. Und das wollen Sie doch nicht im Ernst behaupten.“
Hope's Mutter war sichtbar außer sich: „Nein, das behaupte ich nicht. Aber sie ist trotzdem anders. Sie wird niemals vergessen können.“
Nein, das wird sie nicht“, stimmte Sensei Thomsen zu. „Aber das ist ja genau der Punkt. Niemand sollte dies vergessen.“
Und dann, zu Davids Überraschung, zitierte er einen Spruch, den David viele Male in seiner eigenen Zeit gehört hatte: „Denn diejenigen, die sich an die Vergangenheit nicht erinnern, die sind verdammt sie zu wiederho...“
Ja, ja, das weiß ich doch“, unterbrach ihn Hope's Mutter ungeduldig und wandte ein, „aber Hope, sie...“
Mamma, bitte“, mischte sich jetzt ihre Tochter in das Gespräch ein, nachdem sie schon eine ganze Weile lang ihre Mutter am Ärmel gezogen hatte. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich das tun will. Ich muss das tun. Ich will nicht anders sein, als die anderen Kinder. Wie kann ich normal sein mit meinen Freunden, wenn ich die einzige bin, die davon ausgeschlossen wurde?“
Hope's Mutter atmete tief ein und bettelte dann: „Dann lassen Sie mich doch wenigstens mit ihr gehen, damit sie dort nicht alleine ist, bitte Mr Thomsen. Als Hope ihren Vater verloren hat, da war das so schwer für sie. Und ich konnte ihr damals nicht helfen, bitte lassen Sie mich ihr nun helfen!“
Sensei Thomsen schüttelte mitfühlend, aber trotzdem unerbittlich, seinen Kopf: „Es tut mir leid, aber nein. Es ist gegen die Regeln. Niemand darf zweimal durch dieses Szenario gehen, auch kein Elternteil oder ein Lehrer. Es muss eine einmalige Erfahrung bleiben, so dass Leute sich nicht an die Gewalt gewöhnen können, und sie dann als normal ansehen. Und es muss um den zwölften Geburtstag herum geschehen, bevor noch jugendlicher Zynismus einsetzen kann.“
Es wird alles gut gehen“, tröstete Hope ihre Mutter. „Ich bin nicht mehr neun Jahre alt. Ich werde diesmal nicht zusammenbrechen.“
Hope's Mutter gab auf. Sie seufzte, senkte ihre Augen und wurde ganz still, während sie nun Hope's Lehrer erlaubte, die Sache zu erklären: „Hope, wie du weißt, sind wir hier in unserem Gemeindezentrum. In ein paar Augenblicken jedoch wird dies hier zu einem anderen Dorf werden, einem wie es vor über 200 Jahren existiert hat. Du weißt doch auch, dass normalerweise holographische Bildergeschichten nur als Zeichnungen oder Computer-Animationen hergestellt werden müssen. Wurde dir erklärt, warum es diese Regel gibt?“
Hope nickte: „Das ist deshalb, damit die Teilnehmer an einer Bildergeschichte, sie nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Wenn das geschieht, dann könnten sie den Unterschied zwischen einer Geschichte und der Realität nicht mehr erkennen.“
Sensei stimmte ihr zu: „Ganz genau. Es muss diesen Unterschied zwischen dem realen Leben und der Fiktion geben.
In diesem Opfer-Szenario jedoch, wird eine Ausnahme gemacht. Alles innerhalb des Scenarios ist so nahe an der Realität wie nur irgend möglich. Statt vom Computer generierte Bilder zu benutzen, sind die Landschaft, die Häuser, die Fahrzeuge, alle real aufgenommen worden, als dieses Szenario vor beinahe 100 Jahren generiert wurde. Die Leute, die du dort sehen wirst, waren auch einmal lebendige Menschen, die damals die Rolle von Leuten spielten, die hundert Jahre vor ihrer eigenen Zeit gelebt hatten.
Und jetzt wirst auch du die Rolle einer Person übernehmen, die zu jener Zeit gelebt hat, also einer Zeit vor über 200 Jahren. Du hast bereits die Kleidung angezogen, die die Menschen in diesem Dorf einmal trugen. Während du in einer normalen interaktiven Bildergeschichte Handschuhe tragen würdest, so dass du die holographischen Bilder anfassen kannst, so sind in dieser Geschichte, die Kleider, die du trägst, ein voll-Körper-Kostüm, mit dem du unter anderem auch die simulierte Umgebungstemperatur spüren kannst.
Damit und mit den anderen Simulationstechniken werden alle deine Sinne mit eingebunden, Augen, Gehör, Geschmacks- Geruchs- und Tastsinn. Deshalb wirst du in wenigen Minuten kein körperliches Gefühl mehr dafür haben, dass du dich in einer Simulation befindest. Vielleicht wirst du sogar mental völlig vergessen, dass dies nicht deine Realität ist.“
Hope nickte: „Ich verstehe.“
Jetzt gib mir deine Hände“, forderte Sensei Hope nun auf.
Während er selbst Handschuhe trug, begann er daraufhin eine dunkle Flüssigkeit aus einer merkwürdigen Flasche auf Hope's Hände zu verteilen und mit dieser dann auch vorsichtig ihr Gesicht einzureiben und ihre Nase.
Jetzt öffne deinen Mund“, befahl Sensei. Und Hope gehorchte, so dass er ihr nun ein paar Tropfen Flüssigkeit aus einer anderen Flasche auf die Zunge träufeln konnte.
Jetzt kannst du das schlucken“, befahl er dann.
Er nahm seine Erklärungen in einem unpersönlichen Ton wieder auf: „Die Flüssigkeiten, die ich auf deinen Händen und dem Gesicht verteilt und auf die Zunge geträufelt habe, enthalten Nanobots, das sind winzige programmierte Computer-chips, die mit dem Szenario-Programm synchronisiert wurden.
Sie geben dir weit besser als die Handschuhe, die du sonst benutzt hast, eine realistische Illusion davon, holographische Dinge und menschliche Figuren zu berühren. Die Bots werden während der nächsten Stunden aktiv bleiben, solange bis die Simulation beendet ist. Danach werden sie sich selbst auflösen, ohne dir Schaden zuzufügen.“
Wieder nickte Hope. Sie hatte verstanden.
Sensei fuhr fort: „Du wirst einen Jungen mit dem Namen Farooq darstellen. Er wurde von seinen Eltern mit einem Bus, einem altmodischen Transportmittel, zu dem Dorf Pazwaak geschickt, um dort Verwandte seiner Mutter zu besuchen, weil sein Eltern dachten, dass es ein sichererer Ort sei, als seine Heimatstadt, die so nah an der Kriegszone lag. Die Geschichte beginnt, nachdem Farooq an seinem Ziel angekommen ist und den Bus verlassen hat.
Nachdem Farooq erwachsen geworden war, schrieb er die Ereignisse, die damals in Pazwaak geschehen sind auf. In Wirklichkeit verbrachte er mehrere Wochen dort. Für dieses Szenario jedoch, sind einige der wichtigsten Ereignisse in eine Zeitspanne von nur ein paar Stunden zusammengefasst worden. Und du wirst sie so als der Junge Farooq erleben, und wirst damit selbst ein Zeuge für diese Ereignisse werden.
Die Sprache, die die meisten Leute, in diesem Szenario sprechen, wird unsere sein. Wie du weißt, müssen alle Kinder in den Dörfern überall auf der Welt durch dieses Szenario gehen, wenn sie 12 Jahre alt sind. Und doch werden sie überall ihre eigene Sprache hören, so dass jedes Kind als Farooq dasselbe Verständnis von den damaligen Ereignissen bekommt.“
Hope nickte noch einmal: „Ich verstehe.“
Nun stell dich auf diesen Punkt“, Sensei Thompson deutete auf ein kleines x auf dem Fußboden, fast genau in der Mitte der Halle, „während deine Mutter und ich den Raum verlassen.“
Hope beobachtete, wie sie gingen, ihre Mutter immer noch widerstrebend. Und bevor Sensei die Tür schloss, warf sie Hope noch einmal einen letzten besorgten Blick zu.
Hope atmete tief ein und bereitete sich auf etwas vor, wovon sie nur wusste, dass es eine Tortur sein würde, während sich der Raum um sie herum veränderte.
Plötzlich war es ein offener Platz, umgeben von alten Steinhäusern, die hinter Hofmauern standen. Der Erdboden des Platzes war staubig, genau wie die Straße, die dort hinführte, die Straße, auf der sich jetzt ein Bus in einer Staubwolke entfernte. Sensei hatte Recht gehabt, Hope konnte den Staub an ihrer Nase spüren und sogar in ihren Augen. Sie konnte fühlen, wie die Mittagssonne ihr Gesicht verbrannte.
Hope sah sich um. Eine Stofftasche stand neben ihr auf dem Boden. Das Dorf schien ziemlich klein zu sein. Die meisten Häuser standen direkt um den Platz herum und es gab keine anderen Straßen. Hope konnte gerade noch die Dächer der Häuser erkennen, da ja jedes Haus von einer hohen Mauer umgeben war. Sie zählte etwa 15 Höfe, obwohl vielleicht noch ein paar andere dahinter gelegen waren, die sie von diesem Ort aus nicht sehen konnte.
Der Platz war im Augenblick menschenleer. Plötzlich hörte sie hinter sich das Geräusch von rennenden Füßen und lautem Atmen. Sie drehte sich um und sah einen Jungen, der etwa in ihrem eigenen Alter war, der auf sie zugerannt kam.
Assalaamu Aleikum,” rief er, etwas außer Atem. „Du bist Farooq, nicht wahr?“
Und als Hope nickte und seinen Gruß mit leiser Stimme erwidert hatte, fuhr er fort: „Ich bin Khalil, dein Cousin. Ich sollte dich heute begrüßen, aber ich bin gerade erst aus der Schule in Pashtana gekommen. Das ist das nächste Dorf. Mein Lehrer hat mich bis zur letzten Minute festgehalten, und deshalb bin ich zu spät dran.“
Hope antwortete nicht sofort. Sie war viel zu fasziniert von Khalil's Erscheinung. Er trug ähnliche Kleidung wie Hope zur Zeit, aber es war die Kappe, die ihre Aufmerksamkeit erregt hatte und auf die sie starrte.
Khalil bemerkte das. „Dir gefällt meine Tagiyah,“ fragte er. „Meine Mama hat sie für mich gestrickt. Sie ist wirklich gut darin Muster zu machen. Vielleicht kann sie auch so eine für dich stricken.
Khalil's Kappe war auf eine wirklich künstlerische Weise in einem komplizierten Muster gestrickt. Aber das war nicht der Grund für Hope's Überraschung.
Was sie erstaunte, war die Tatsache, dass sie genau dieses Muster schon viele Male gesehen hatte. Es war eines der populärsten Muster, die Hope's Mutter in ihrem Stick-Laden produzierte, immer auf Wunsch ihrer Kunden. Das Muster war so komplex, dass ein Teil davon von Hand, Stich für Stich, hergestellt werden musste, da die programmierbare Maschine diese Aufgabe nicht gut genug ausführen konnte. Jetzt erkannte Hope woher dieses Muster kam.
Meine Mama ist auch sehr gut darin genau solche Muster zu machen“, antwortete Hope, ein wenig verwirrt darüber, etwas so Vertrautes an einem Ort zu finden, der ihr zuvor so fremdartig erschienen war.
Natürlich ist sie gut darin“, erwiderte Khalil, „schließlich sind deine Mama und meine Mama Schwestern.“
Dann fragte er: „Hast du schon lange gewartet?“
Hope schüttelte den Kopf: „Ich bin erst vor ein paar Augenblicken gekommen. Du kannst den Bus da hinten noch sehen.“ Sie deutete auf die Staubwolke, die sich am Horizont entfernte.
Die beiden Kinder beäugten sich noch einmal von Kopf bis Fuß. Khalil trug ein paar Bücher unter dem Arm, und aus einer Jackentasche ragte etwas heraus, das Hope als etwas erkannte, das sie auf alten Bildern gesehen hatte. Dort wurde das Bleistift genannt, aber sie selbst hatte nie so ein Instrument zum Schreiben benutzt.
Ich bin froh, dass du nicht lange warten musstest“, brach Khalil das Schweigen. „Ich zeige dir jetzt, wo wir wohnen. Ist das deine Tasche?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, packte Khalil die Tasche am Griff und ging voraus, während Hope neben ihm herging. Bald kamen sie zu einem Haus, das hinter den anderen gelegen war. Zusammen betraten sie durch ein kleines Tor den Hof, wo sich bereits mehrere Leute aufhielten.
Zwei kleine Mädchen, etwa sieben oder acht Jahre alt, und ein Junge von etwa vier Jahren spielten dort Federn-in-die-Luft-blasen, während eine Frau auf einer Stufe vor dem Eingang des Hauses saß und ein Huhn rupfte. Eine andere Frau wusch gerade Wäsche in einer kleinen Wanne, während ein Kleinkind sich mit einer Hand an ihrem Rock festhielt und mit der anderen im Seifenwasser spielte. Alle schauten hoch. Zuerst starrten sie Hope und Khalil an, dann begrüßten sie die beiden lautstark. Nach einer höflichen Antwort begann Khalil danach alle einander vorzustellen.
Hier ist Farooq, unser Cousin aus der großen Stadt. Er ist gerade erst mit dem Bus angekommen. Und dort drüben ist meine Tante Mahtab. Sie macht heute Hühnchen zum Essen. Da drüben sind meine Kusinen Badria und Baasima, ihre Töchter, und mein kleiner Cousin Mashaal.“
Mashaal rannte zu Hope hinüber und zog an ihrer Jacke, während die beiden Mädchen sie aus der Distanz musterten. Beide Mädchen hatten bunte Tücher auf dem Kopf. Badrias Tuch war hellblau und bedeckte nur die Hälfte ihrer Haare, während Baasima ihr Haar und ihr halbes Gesicht seitlich mit einem Turkis-Tuch bedeckt hatte.
Darunter sandte sie Hope mit ihrem einen sichtbaren Auge ein Lächeln zu, ein Lächeln, das gar nicht so schüchtern war, wie es durch ihre Kopfbedeckung den Anschein erwecken sollte.
Khalil drehte sich der anderen Frau zu: „Das ist meine Mutter, deine Tante Parween, und hier ist meine kleine Schwester Fatima.“
Das kleine Mädchen hatte erst jetzt bemerkt, dass Hope und Khalil in den Hof gekommen waren. Mit einem Freudenschrei lief sie auf ihren Bruder zu. Der Junge drückte Hope die Bücher und die Tasche, die er gehalten hatte, in die Arme, hob seine Schwester hoch in die Luft und wirbelte sie mehrmals herum, was bei ihr einen begeistertes Quietschen hervorrief. Nachdem Khalil aufgehört hatte sich zu drehen, musterte Fatima jetzt misstrauisch den Neuankömmling, während sie sich weiterhin sicher an ihrem Bruder festhielt.
Ihre Mutter jedoch schenkte Hope eine wunderschönes, warmes Lächeln und sprach sie an: „Wir sind so froh, dass du uns besuchen kommst, Farooq. Es hat uns traurig gemacht zu hören, wie schwierig das Leben in eurem Gebiet ist. Ich wünschte wirklich, deine ganze Familie hätte auch herkommen können, aber ich verstehe natürlich, dass dein Vater zur Zeit unabkömmlich ist. Wie geht es deiner Mutter?“
Hope hatte natürlich keine Ahnung, wie es Farooqs Mutter ging. Trotzdem antwortete sie höflich, wie man das so gewöhnlicher weise tut: „Es geht ihr gut, Tante Parween, und ich soll dir viele Grüße von ihr ausrichten.“
Parween nickte: „Ja, sie sagt immer, dass es ihr gut geht, trotz allem. Khalil hat mir alle ihre Briefe vorgelesen. Aber was ist denn nur mit mir los? Zuerst einmal bist du doch bestimmt hungrig. Wir haben für dich und Khalil ein Mittagessen vorbereitet. Bitte kommt schnell ins Haus.“
Das Haus war spärlich möbliert, auch wenn Wandteppiche mit wunderschönen Mustern die Fußböden und die Wände dekorierten. Hope sah weder Tische noch Stühle, und es war offensichtlich, dass die Leute auf dem Boden aßen. Teller mit warmem Fladenbrot waren neben Schüsselchen, die mit einer Vielzahl von Gemüsecremes gefüllt waren, auf eine große Matte gestellt worden.
Die Kinder setzten sich auf kleinere Matten, die die große einrahmten. Hope folgte Khalil's Beispiel und riss sich einzelne Stückchen von dem Brot ab, um diese dann in die unterschiedlichen Schüsselchen zu tunken. Zu Hope's Überraschung schmeckte ihr das Essen wirklich gut, und sie konnte sogar fühlen, wie es vom Mund in die Speiseröhre und von dort in den Magen rutschte.
Nachdem sie gegessen hatten, führte Khalil Hope zurück in den Hof, um ihr etwas zu zeigen, das ihn wirklich begeisterte. „Schau dir meinen Drachen an“, rief er und fragte dann: „Lasst ihr auch Drachen steigen bei euch zu Hause?“
Hope schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nie ein so sonderbares Ding wie dies da gesehen. Es schien aus buntem Papier hergestellt zu sein, und aus zu einem Trapez verbundenen Holzstäbchen, die an einer mit einer Schnur umwickelten Spule gebunden waren. Konnte das Ding wirklich in die Luft steigen?
Oh“, meinte Khalil enttäuscht, „Ich dachte alle Jungen in den großen Städten würden dort Drachen steigen lassen. Aber vielleicht tun sie das ja nur in Kabul.
Als Hope mit den Achseln zuckte, fügte er hinzu: „Papa und ich waren im letzten Jahr in Kabul. Wir konnten nur eine Woche dort bleiben. Aber da habe ich alle diese Jungen getroffen, die Freunde von meinen Cousins. Die hielten einen Drachenflug Wettkampf, also wer den Drachen am höchsten steigen lassen kann, weißt du?“
Und meine Cousins haben mir gezeigt, wie man einen Drachen baut, und wie man ihn hochsteigen lässt. Sie haben gesagt, dass vor dem Krieg, Jungs immer wieder solche Wettkämpfe abhielten. Aber heutzutage gibt es Leute, die Drachen hassen. Deshalb muss man nun vorsichtig sein, und sie nur an Tagen steigen lassen, wenn es sicher ist.
Khalil untersuchte seinen Drachen sorgfältig, um sicher zu gehen, dass er wirklich in bestem Zustand war.
Dabei erklärte er: „Heute Abend wollen wir einen Pazwaak Wettkampf abhalten. Ich habe den Jungs gezeigt, wie man einen Drachen baut, und wir haben schon viele Abende lang geübt. Du kannst auch kommen, wenn du willst, und deinen eigenen Drachen steigen lassen.“
Aber ich habe doch gar keinen Drachen“, erwiderte Hope verwundert.
Döskopp“, entgegnete Khalil, „wir werden natürlich einen für dich bauen.“
Und den Rest des Nachmittags waren Hope und Khalil damit beschäftigt einen Drachen zu bauen, unter der Mithilfe von Badria und Baasima, die mehr oder weniger praktische Vorschläge hatten, dann aber auch beim Ausschneiden und Bemalen von Papierfetzen für den Schwanz mitmachten. Hin und wieder mussten sie Mashaal wegjagen, denn seine Versuche zu helfen, waren eindeutig nicht so hilfreich.
Als sie fertig waren, kletterten sie zusammen auf das Flachdach. Und dort, zwischen Wäscheleinen mit frisch gewaschener Wäsche, gab Khalil Hope ihre erste Lektion im Drachen-steigen-lassen. Allerdings wurde es ziemlich schnell klar, dass Hope diesen Wettkampf mit Sicherheit nicht gewinnen würde. Trotzdem hatte sie bei all dem einen ziemlichen Spaß, und sie freute sich auf den Abend,
Aber zuerst einmal wurden Khalil und 'Farooq' nach unten gerufen.
Die Frauen und die Mädchen hatten die Vorbereitungen für das Abendessen beendet. Die beiden Mädchen waren sehr gut gelaunt.
Wir schauen uns den Wettkampf vom Dach aus an“, erklärte Baasima aufgeregt. „Mama und Tante Parween wollen auch zuschauen.“
Khalil's Mutter nickte lächelnd: „Aber während wir auf eure Väter warten, wirst du uns zuerst einmal aus deinen Büchern vorlesen, nicht wahr, Khalil?“
Natürlich Mama“, sagte Khalil bereitwillig. „Ich habe auch schon entschieden, was ich euch heute vorlesen will.“
Während es sich alle anderen auf den Matratzen und Kissen gemütlich machten, holte Khalil eines seiner Schulbücher.
Ich werde euch heute Abend zwei Gedichte vorlesen“, erklärte Khalil mit feierlicher Stimme, während er sich auf eine Matte seinem erwartungsvollen Publikum gegenüber setzte.
Das erste Gedicht wurde von einem Poeten aus Kabul geschrieben, und es handelt von dir, Mama, denn es heißt: 'Die Schönheit deiner Stimme'.“
Khalil hielt eine Sekunde inne und fügte dann etwas verspätet hinzu: „...und von dir natürlich auch, Tante Mahtab.“
Tante Mahtab lachte, während Khalil's Mutter ihren Sohn auf eine Weise anlächelte, wie das nur eine Mutter tut, und das wärmte Hope's Herz.
Und dann begann Khalil mit seinem Vortrag:

Deine Stimme ist wie die aufgehende Sonne,
die die Welt zu einem neuen Tag ruft.
Deine Stimme ist wie der sanfte Regen,
der auf durstige Blumen und ausgetrocknetes Gras fällt.
Deine Stimme ist wie die Farben eines Regenbogens,
der den Himmel schmückt, wenn der Regen vorüber ist.
Deine Stimme ist wie das rote Feuer der Sonne,
wenn sie Abschied nimmt nach einem langen, langen Tag.
Deine Stimme ist wie die diamantenen Tropfen von Licht,
am schwarzen Samt der Nacht.
Deine Stimme ist wie ein Spiegel,
der die Schönheit deiner Seele reflektiert.“

Khalil beendete das Gedicht mit einem erwartungsvollen Blick auf sein Publikum und einem seitlichen Blick zu seiner Mutter. Die Mädchen klatschten laut, und Khalil's Tante nickte anerkennend. Seine Mutter lächelte und sagte: „Danke schön Khalil“.
Hope musste zustimmen, das Gedicht passte perfekt zu ihr. Sie hatte wirklich eine wunderschöne Stimme, und ihr Lächeln fühlte sich an wie ein Sonnenstrahl am Morgen.
Khalil war mit der Reaktion seines Publikums zufrieden, und so fuhr er fort: „Das nächste Gedicht wurde von einer Dichterin geschrieben, und sie hat denselben Vornamen wir du, Mama, Parween. Und das Gedicht heißt: 'In den Armen des Friedens'.“
Wieder rezitierte Khalil feierlich:

Wie ein Durstiger auf einem Berg
sich nach eine Wasserquelle sehnt...
Wie ein Hungriger weit fort von zu Hause
sich nach einem frischgekochten Essen sehnt...
Wie ein Erfrierender in einer kalten Nacht
sich nach einem wärmenden Feuer sehnt...
So brauchen die Kinder in unserer vom Krieg zerrissenen Zeit,
einen Ort, um zu ruhen,
einen Ort, um zu schlafen,
in den Armen des Friedens,
den Armen des Frieden.

Als Khalil seinen Vortrag beendet hatte, klatschten wieder alle. Und nachdem die anderen aufgestanden waren, um in ein anderes Zimmer zu gehen, flüsterte seine Mutter ihm zu: „Das letzte Gedicht war noch schöner als das erste. Es ist wunderbar, dass du diese wunderschönen Worte lesen kannst, Khalil.“
Sie drückte ihre kleine Tochter fest an sich und bat: „Und eines Tages, da wirst du Fatima beibringen, diese Worte zu lesen, nicht wahr Khalil?““
O Mama, ich habe dir doch gesagt, dass ich sie unterrichten werde, das weißt du doch“, sagte Khalil in einem Ton, der anzeigte, dass er dieses Versprechen schon viele Male zuvor gegeben hatte.
Ich weiß, dass du das gesagt hast“, erwiderte seine Mutter. „Und incha' Allah, dann wirst du das auch tun.“
Sie sah auf das kleine Mädchen in ihren Armen hinab und sagte zu ihr:
Eines Tages, Fatima, incha' Allah, wirst auch du diese schönen Worte lesen können, genau wie Khalil das kann, Worte, die das Herz fliegen lassen wie einen Vogel. Eines Tages, da wirst du so voller Weisheit und Wissen sein, wie die Tochter des Propheten, Friede sei mit ihm, deren Namen du trägst.“
Zur Zeit allerdings hatte Fatima keine Ambitionen nach feierlicher Weisheit. Sie befreite sich aus dem Schoß ihrer Mutter und krabbelte zu Khalil hinüber, um das Buch zu grabschen.
Nein, Fatima, Bücher sind wertvoll“, schimpfte Khalil sie ein bisschen aus. „Man muss vorsichtig mit ihnen umgehen.“ Dabei hielt er das Buch so hoch, dass Fatima es nicht mehr erreichen konnte. Als sie dann aber ein Gesicht machte, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde, setzte er sie auf seinen Schoß und erlaubte ihr das Buch anzufassen, wobei er ihr die Zeichnungen zeigte, die neben einigen der Texte zu sehen waren.
Parween beobachtete ihre Kinder mit tiefer Zufriedenheit.
Ich könnte es dich auch lehren“, schlug Khalil vor und sah zu seiner Mutter hinüber.
Nein, nein, ich bin viel zu alt dafür“, weigerte sie sich.
Khalil schüttelte seufzend seinen Kopf, auch dieses Gespräch hatten sie schon viele Male gehabt. „Aber Mama, Farooq's Mutter hat auch lesen und schreiben gelernt, und sie ist doch deine Schwester.“
Sie lebt jetzt in der großen Stadt, und da ist es etwas anderes“, meinte Parween endgültig, aber fügte doch noch einmal hinzu: „Aber du wirst Fatima unterrichten.“
Ja, Mama, das werde ich“, widerholte Khalil.
Nein, das wird er nicht“, kam jetzt eine Männerstimme von hinten. Der Mann hatte gerade das Zimmer betreten und Hope wusste, dass dies Khalils und Fatimas Vater sein musste und Parweens Ehemann.
Hope konnte sehen, wie sich ein tiefer Schock auf Parweens Gesicht ausbreitete und Tränen ihr in die Augen stiegen. Hope warf dem Mann einen wütenden Blick zu.
Das störte diesen allerdings überhaupt nicht, und er redete weiter: „Khalil wird Fatima nicht unterrichten, weil er das nämlich nicht muss. Fatima wird selber zur Schule gehen.“
Zur Schule?“ Der Schock verschwand von Parweens Gesicht und machte einer unsicheren Überraschung Platz.
Ja, zur Schule“, widerholte ihr Mann. „Ich bin gerade vom Dorfrat gekommen. Sie haben beschlossen, eine Schule für Mädchen zu bauen, genau hier in Pazwaak. Und genau wie bei der Jungenschule in Pashtana, so werden die Mädchen aus Pashtana und Samsor in unsere Schule gehen, nur dass sie nicht laufen müssen wie die Jungen, die Mädchen aus den anderen Dörfern werden mit einem Bus abgeholt werden, das ist sicherer. Und so wird es dann eine große Schule sein, mit zwei oder drei Lehrerinnen aus der großen Stadt.“
Während sie ihrem Mann zuhörte, begann Parweens Gesicht vor Glück aufzuleuchten. Sie hob nun ihre Tochter hoch und umarmte sie: „Hast du das gehört Fatima? Du wirst zur Schule gehen, genau wie Khalil. Und eine Lehrerin wird dich unterrichten. Du wirst all diese wunderschönen Worte in Khalil's Buch lesen lernen. Und eines Tages...“
Eines Tages“, beendete Khalils Vater den Satz seiner Frau, „dann wird Fatima so voller Wissen und Weisheit sein, wie die Tochter des Propheten, Friede sei mit ihm.“
Als Parween und ihr Mann einander ansahen, da erinnerte das Hope an die Blicke, die ihre eigenen Eltern füreinander gehabt hatten. Zum einen wärmte es ihr Herz, zum anderen aber erfüllte es sie mit einer unerfüllbaren Sehnsucht.
Khalil hatte jedoch genug von so schmalzigen Gefühlen, und erinnerte seine Eltern daran, dass es genau hier im Raum noch andere wichtige Neuigkeiten gab. „Papa, schau wer heute gekommen ist, mein Cousin Farooq aus der großen Stadt!“
Sein Vater drehte sich um und bemerkte erst jetzt, dass Hope in einer Ecke des Zimmers stand. Er begrüßte sie mit formaler Höflichkeit und hieß sie willkommen, wobei er nach der Gesundheit ihrer Familie fragte. Hope war Abdul-Lateef gegenüber ein wenig schüchtern, aber sie antwortete ihm mit der gebotenen Höflichkeit, und dann in derselben Weise, als sie Abdul-Khaliq, Khalil's Onkel vorgestellt wurde, der ein paar Minuten später nach Hause kam.
Als das Essen serviert wurde, aßen die Männer, einschließlich Khalil, dem kleinen Mashaal und Farooq-Hope in einem Raum, während die Frauen und Mädchen in einem anderen aßen. Es gab keine großen Gespräche während des Essens. Und obwohl es Hope gut schmeckte, ahmte sie doch Khalil nach und aß so schnell wie möglich, um raus zu kommen und sich für den Drachensteig-Wettkampf bereit zu machen, wo man doch den Abendwind nutzen musste, der genau richtig wäre für die Drachen.
Draußen auf dem Dorfplatz trafen sie eine Gruppe anderer Jungen in ihrem Alter. Khalil stellte sie vor. Da waren Latif, Dawud und Dilawar, das waren Brüder, und Badee und Bakhtawar, das waren auch Brüder, und Omaid, Jawad und Baseer, das waren deren Cousins.
Alle waren begeistert den Jungen aus der großen Stadt zu treffen, der ganz bestimmt ein ausgezeichneter Experte fürs Drachensteigen sein musste. Und Hope schämte sich ein bisschen, zugeben zu müssen, dass sie vor dieser Nachmittagslektion auf Khalils Dach noch nie hatte einen Drachen steigen lassen.
Es ist wegen dem Krieg, stimmt's“, schlug Baseer eine Erklärung vor. „Deine Eltern erlauben es dir nicht.“
Wir haben andere Spiele, wo ich herkomme“, antwortete Hope mit leiser Stimme.
Hier brauchst du dir um den Krieg keine Sorgen zu machen“, versicherte Omaid, der älteste von den Jungen.
Dann vergaßen die Jungen den Neuankömmling, oder eher noch, sie behandelten ihn als sei er einer der ihren, denn ein Windstoß erinnerte sie daran, dass es jetzt an der Zeit war, sich auf die Drachen zu konzentrieren.
Es wurde schnell klar, dass die Erfahrung der anderen Kinder einen großen Unterschied machte, denn Hope's Drachen verbrachte mehr Zeit auf dem Boden als in der Luft. Khalil sah ihre Frustration und rief ihr hilfreiche Tipps zu, wie sie den Wind besser nutzen sollte. Und endlich gelang es Hope, den Drachen in die Luft und zum Fliegen zu bekommen. Aber jetzt hatte sich Khalils Drachenschur mit der von Jawad verheddert, was ihm einige nicht so nette Worte von letzterem einbrachte.
Khalil zuckte nur mit den Achseln, während er versuchte die Schnüre wieder voneinander zu lösen. Er war nämlich dadurch abgelenkt gewesen, dass er seinen Vater und seinen Onkel, gefolgt von einer Reihe anderer Männer, schnell über den Platz hatte hasten und in einen der Höfe hineingehen sah.
Hope hatte das auch bemerkt. Und sobald sie ihre Augen von ihrem Drachen abgewandt hatte, war dieser natürlich auch schon im Sturzflug auf den Boden genknallt. Khalil zog seinen eigenen Drachen ein und überließ es dem zornigen Jawad die Schnüre zu entwirren. Und während er Hope Handzeichen gab, ihm zu folgen, machte er sich auch schon zu dem Hof auf, in dem sein Vater und die anderen Männer verschwunden waren.
Die halten sonst nie einen Dorfrat so spät am Abend ab“, erklärte er Hope unterwegs, „außer wenn etwas wirklich wichtiges geschehen ist.“
Er zeigte überrascht auf ein grau-grünes Vehikel mit großen Rädern, das dort vor dem Haus stand, auf das sie zusteuerten. „Ich habe dieses Auto noch nie gesehen. Das kommt nicht aus unserem Dorf und auch nicht aus unseren Nachbardörfern. Ein Fremder muss damit angekommen sein, und er redet jetzt mit dem Bürgermeister und dem ganzen Dorfrat.“
Hope hatte ähnliche Fahrzeuge bereits vor anderen Häusern parken sehen, aber dieses schien viel größer zu sein. Und irgendwie erfüllte sie dessen Anblick mit einer bösen Vorahnung.
Als sie durch das kleine Tor gingen, sah sich Khalil vorsichtig um. Er wollte offensichtlich nicht gesehen werden. „Dies ist das Haus des Bürgermeisters und auch der Ort, wo der Dorfrat abgehalten wird“, erklärte er. „Und hier wird auch das Freitagsgebet gehalten, denn wir haben keine Moschee und keinen Imam. Unser Dorf ist zu klein, weißt du.“
Khalil näherte sich vorsichtig dem Haus. Er bückte sich, und gebückt schlichen sie um das Haus herum und an mehreren Fenstern vorbei, bis Kahlil an einem kleinen Fenster gleich neben einem Busch stehen blieb, der ihnen einen gewissen Sichtschutz gab.
Dort drin ist der Versammlungsraum“, flüsterte Kahlil. „Von hier aus kannst du genau hören, was da drin geredet wird, und reingucken kannst du auch, ohne dass die dich bemerken.“
Hope nickte. Sie war genauso neugierig wie Khalil, zu erfahren, was da drinnen wohl vor sich ging, also spähten sie beide durch das Fenster. Sie konnten ein allgemeines Gemurmel im Raum hören und das Klirren von Tassen. Eine ganze Reihe von Männern saß an den Wänden des Raums entlang. Jeder von ihnen hatte eine Teetasse vor sich stehen, an der er von Zeit zu Zeit nippte.
Ein älterer Mann, der dem Fenster genau gegenüber saß, begann zu reden: „Ich habe euch alle zu dieser Versammlung gebeten, damit ihr hier Mr Qasem und seinen jungen Begleiter Mr Rashad treffen könnt.“
Der ältere Mann, von dem Hope vermutete, dass er der Bürgermeister war, den Khalil erwähnt hatte, deutete auf den Mann mittleren Alters, der neben ihm saß und auf einen mürrisch dreinblickenden jungen Mann neben diesem. In Kleidung und Gebaren sahen diese beiden Männer ganz anders aus als die Männer von Pazwaak. Der Bürgermeister fuhr fort: „Mr Qasem ist aus dem Land des Propheten gekommen, Friede sei mit ihm. Er wollte mit dem gesamten Dorfrat sprechen, weil er eine wichtige Botschaft für uns habe.“
Der Mann, der so vorgestellt worden war, begann zu sprechen: „Ich bin Qasem Abu Jalil. Und wie ihr gerade gehört habt, komme ich aus dem Land des Propheten, Friede sei mit ihm, und ich bringe euch Grüße von unseren Brüden aus den heiligen Städten.“
Anders als die sanfte, ruhige Stimme des Bürgermeisters, klang die des Besuchers hart und überheblich.
Mr Qasem fuhr fort: „Wie ihr alle wisst, leben wir in Zeiten großer Konflikte und enormer Bosheit. Ungläubige sind in unsere Länder eingefallen, um unseren Glauben zu zerstören und unsere Völker. Nichts ist diesen Ungläubigen heilig, und sie schonen weder Frauen noch Kinder. Und diejenigen von unseren Leuten, die die physischen Angriffe überleben, werden am Ende vom Bösen des Geistes infiziert, den diese Ungläubigen überall verbreiten, wo auch immer sie hinkommen. Wenn wir sie nicht bekämpfen, werden alle unsere Leute dem Höllenfeuer zum Opfer fallen.
Und seit vielen Jahren bereits, haben unsere Brüder diesen heiligen Krieg gegen diese Ungläubigen geführt, die die Form von Menschen haben, jedoch in ihrem verdorbenen Inneren nichts anderes sind als Dämonen, die aus der Hölle kommen, um uns zu verderben.
Ich weiß, dass es für euch schwer sein muss, euch dies alles vorzustellen, da euer Dorf ja so weit entfernt ist und immer so geschützt war vor den Übeln unserer Zeit. Aber dieses Böse ist eine Realität, mit der wir, die wir den guten Kampf ausfechten, an jedem Tag konfrontiert werden. Um euch zu helfen, den Ernst dieser Realität zu verstehen, habe ich euch Bilder von den Dingen mitgebracht, die diese Dämonen in Menschengestalt unseren Leuten angetan haben.“
Nun zog Mr Qasem ein Bündel von dicken Papierblättern aus seiner Jacke, die mit Bildern bedruckt zu sein schienen. Er reichte sie an die anderen Männer weiter. Von ihrem Platz am Fenster konnte Hope nicht sehen, was auf den Bildern porträtiert wurde, aber an dem geschockten Atmen der Männer, die sie sahen, vermutete sie, dass es etwas wirklich Schlimmes sein musste.
Mr Qasem fuhr fort: „Hier könnt ihr sehen, wie diese Dämonen unsere Leute behandelt haben, nachdem sie sie gefangen genommen hatten. Bei allem was gut ist, für diese Gefangenen wäre es weit besser gewesen, wenn sie tot gewesen wären, als lebend in die Hände dieser Monster zu fallen.
Und nicht einmal die Toten lassen sie in Frieden ruhen. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie diese dämonischen Wesen, die Gräber geöffnet und die Körper der Toten entweiht haben. Diese Dämonen sind böse, jenseits jedes menschlichen Verhaltens. Sie müssen bis zum Ende bekämpft werden, sie verdienen keine Gnade.“
Die meisten Männer im Raum hatten einen Ausdruck von Abscheu auf ihren Gesichtern, und das Gemurmel, das Mr Qasems Worten folgte, war durchgehend zustimmend.
Mr Qasem war mit der Reaktion zufrieden und setzte seine Rede fort: „Wie ich bereits gesagt habe, so haben meine tapferen Brüder und ich schon viele Jahre lang diese Ungläubigen-Plage bekämpft. Aber ich muss euch sagen, dass diese nicht nur von Grund auf böse sind, sie sind auch Feiglinge und über alle Maßen dumm.
Viele Kriege haben sie bereits geführt, Ungläubige gegen Ungläubige. Aber um diese Kriege zu gewinnen, denn sie waren ja zu feige, um selbst richtig zu kämpfen, da haben sie uns, den Kämpfern Allahs, die Waffen gegeben, um für sie zu kämpfen. Einige ihrer Waffen sind so mächtig, dass sie die Luft über ganzen Städten von Ungläubigen vergiften können. Mit anderen kann man Flugzeuge vom Boden aus direkt aus dem Himmel schießen.
Natürlich liegt es immer in unserem Interesse, Ungläubige zu bekämpfen, und das mit den Waffen anderer Ungläubiger. Aber sie irren sich in ihrer Annahme, dass sie uns unter Kontrolle haben... uns, die treuen Diener von Allah allein. Und das ist der Grund, warum ich heute Abend hier hergekommen bin.
Die Waffen, die wir immer wieder erhalten haben, haben wir gut genutzt. Und wir haben viele Ungläubige in vielen Ländern bekämpft und viele Schlachten gewonnen. Aber einige dieser Waffen müssen versteckt werden, aufbewahrt für eine andere Zeit. Wenn einmal die schwachen Feinde geschlagen sein werden, dann werden wir den richtigen Krieg gegen die starken Feinde beginnen, die großen Dämonen.
Diese Waffen müssen an einem Ort aufbewahrt werden, der sicher ist, weit entfernt von all den Gebieten mit Problemen. Und euer Dorf Pazwaak wurde ausgewählt, weil es der sicherste Ort zur Aufbewahrung dieser Waffen ist. Ihr seid für die große Ehre auserwählt worden, die Mittel für den endgültigen Sieg bereit zu halten.“
Mr Qasem beendete seine Rede und sah seine Zuhörer erwartungsvoll an. Das Gemurmel begann wieder, aber es war nur der betagte Bürgermeister, der direkt antwortete, und die Frage stellte: „Warum ist Pazwaak der Ort, der ausgewählt wurde?“
Mr Qasem antwortete in seiner übertriebenen Art: „Das ist natürlich eine weise Frage, ehrenwerter Herr Bürgermeister, und ich werde sie zu deiner vollen Zufriedenheit beantworten.
Wir haben gehört, dass ihr plant eine Schule für Mädchen in diesem Dorf zu bauen. Und dies wäre die wirklich vorzügliche Gelegenheit, ein Waffendepot direkt unter dieser Schule anzubringen. Die Feinde würden das dort nie vermuten.“
Jetzt begannen alle durcheinander zu reden, und Hope konnte nicht mehr verstehen, was gesagt wurde, aber es schien, dass die Meinungen geteilt waren.
Schließlich hob der Bürgermeister wieder seine sanfte Stimme. Sofort entstand eine respektvolle Stille.
Mr Qasem, wir haben deine Rede angehört und die furchtbaren Bilder, die du uns gezeigt hast, eingehend betrachtet. Und wir stimmen zu, dass diese Anzeichen von Verkommenheit und Barbarei aufzeigen. Und auch wenn wir deine Gefühle gegenüber den Ungläubigen verstehen können, so müssen wir deine Anfrage, jene Waffen, von denen du gesprochen hast, in unserem Dorf zu lagern ablehnen.
Wir können die Sicherheit unserer Frauen und Kinder und besonders die Leben der unschuldigen kleinen Mädchen, die diese Schule besuchen werden, nicht durch die Pläne, die du uns erklärt hast, riskieren. Auch wenn du dies als eine große Ehre für Pazwaak ansiehst, so müssen wir respektvoll diese Ehre ablehnen.“
Du lehnst die Ehre ab, Bürgermeister?“ Mr Qasems Stimme hatte jetzt jede Spur von Gelassenheit verloren. „Was für eine Art Gläubige seid ihr hier... ihr seid überhaupt keine Gläubigen, scheint mir.
Du sagst, ihr habt diese Bilder eingehend betrachtet. Es scheint mir eher, dass ihr eure Augen abgewandt habt, um nicht zu sehen. Wenn ihr sie wirklich zu dieser Realität geöffnet hättet, dann würdet ihr keinen Augenblick zögern, unserem Ansinnen zuzustimmen, und ihr würdet uns all eure jungen Männer schicken, um uns in unseren Kampf zu unterstützen.“
Im Gegensatz zu Mr Qasem war der Bürgermeister immer noch ruhig und gefasst: „Mr Qasem, du bist im Irrtum. Die Mitglieder dieses Dorfrates und ich haben unsere Augen nicht vor der Realität verschlossen. In der Tat haben einige von uns, ich eingeschlossen, nicht unser gesamtes Leben in Pazwaak verbracht. Ich habe das Böse in unserer Zeit mehr als nur einmal gesehen. Ich habe das Blutvergießen an den Unschuldigen, das von Ungläubigen über sie gebracht wurde, ebenso wie deren brutales und unzivilisiertes Benehmen gegenüber Frauen und Kindern mehr als nur einmal gesehen.
Aber ich habe auch diejenigen, die behaupten im guten Kampf für Allah und unseren Glauben zu stehen, in ähnlicher Weise handeln sehen. Einige, die ich diese Taten begehen sah, waren sogar Brüder von dir aus dem Land des Propheten, Friede sei mit ihm.“
Mr Qasem kochte nun vor Wut, und auch wenn das in seiner Stimme klar zu hören war, unternahm er doch die Anstrengung, sich zu beherrschen: „Was immer du behauptest gesehen zu haben, Bürgermeister, es wäre mehr als nur gerechtfertigt durch die Bosheit dieser Dämonen in Menschengestalt. In manchen Fällen ist es notwendig, den Feind nicht nur zu besiegen, sondern ihn bis in den Wahnsinn hinein zu erschrecken, damit er es dann nie wieder wagt, den Glauben und die Gläubigen anzugreifen. Das wird am Ende die Leben von Millionen von Menschen retten.
Aber jetzt ist es deine Pflicht, Bürgermeister, und die Pflicht aller Männer von Pazwaak, vor Allah und der Gemeinschaft der Gläubigen, die Verteidigung des Glaubens zumindest in dieser winzigen Art und Weise zu unterstützen, die wir von euch erwarten. Wie viel glorreicher wird diese Aufgabe im Dienste Allahs sein, als eine Mädchenschule zu bauen“, der verächtliche Ton in Mr Qasems Stimme war deutlicht zu hören, „eine Schule, die möglicherweise diese Mädchen vom Pfad der Tugend abbringen könnte.“
Der Bürgermeister antwortete Mr Qasem nicht direkt, statt dessen ignorierte er dessen Anspielung und wiederholte mit fester Stimme: „Wie ich dir gesagt habe, Mr Qasem, so müssen wir deine Bitte ablehnen und zwar aus den Gründen, die ich bereits genannt habe.“
Der Bürgermeister hielt einen Augenblick inne, während er in das wütende Gesicht von Mr Qasem sah, dann fuhr er fort: „Du und dein Gefährte sind jedoch herzlich eingeladen, die Nacht bei uns, bei mir und meiner Familie, zu verbringen. Meine Frau und meine Töchter haben ein Mahlzeit für uns alle vorbereitet.“
Diesmal beherrschte sich Mr Qasem in keinster Weise, und indem er alle Regeln der traditionellen Höflichkeit brach, schrie er: „Ich werde bei keinem hier in diesem Dorf essen oder unter dem Dach von Feiglingen und Sympathisanten von Ungläubigen schlafen. Ihr seid Verräter unseres Glaubens, man sollte euch als schlimmer noch ansehen, als die Ungläubigen, die wir bekämpfen!“
Mit diesen Worten erhob sich Mr Qasem abrupt und verließ den Raum. Mr Rashad, der kein einziges Wort von sich gegeben hatte, folgte ihm schweigend.
Ein paar Sekunden später kamen sie aus der Haustür und liefen dann so nah am Haus entlang, dass Mr Qasem fast über Khalil stolperte. Mit einem wütenden Laut schubste er Khalil aus dem Weg, und als er Hope-Farooq bemerkte, warf er ihr einen ebenso wütenden Blick zu, bevor er aus dem Hof stürmte. Einen Moment später konnten die Kinder das laute Geräusch eines anspringenden Motors hören.
Im Versammlungsraum hatte das Gemurmel wieder begonnen, allerdings war Khalil daran nicht mehr interessiert. Er gab Hope ein Zeichen, und so verließen sie gemeinsam den Hof auf dieselbe Weise, wie sie gekommen waren.
Auf dem Dorfplatz hatte Jawad es geschafft, die Schnüre zu entwirren, und er und die anderen Jungen ließen immer noch ihre Drachen steigen. Die Sonne war inzwischen völlig untergegangen, und die Nacht war hereingebrochen, aber die Sterne und der Mond schienen hell genug, um die Drachen immer noch als dunkle Schatten am Himmel erkennen zu können.
Aber Khalil war auch am Drachensteigenlassen nicht mehr interessiert. Er hob einfach seinen Drachen von der Erde auf und machte sich auf den Heimweg. Hope packte ihren eigenen Drachen zusammen und folgte ihm. Khalil war in einer bedrückten Stimmung; was er bei der Dorfratsversammlung gehört hatte, beschäftigte ihn sehr.
Am Ende, gerade bevor sie den Hof seines Hauses betraten, drehte er sich noch einmal zu Hope um und fragte: „Glaubst du, dass wir alle Feiglinge sind hier in Pazwaak?“
Natürlich nicht,“ erwiderte Hope.
Aber diese Ungläubigen, die haben unseren Leuten doch so schreckliche Dinge angetan“, fuhr Khalil zweifelnd fort. „Ich habe von diesen Dingen schon lange bevor Mr Qasem hierher kam gehört. Du musst doch auch davon gehört haben. Werden sie diese Dinge nicht weiterhin tun, wenn wir sie nicht bekämpfen, und wenn wir sie nicht besiegen?“
Ich glaube nicht, dass du sie mit Kämpfen besiegen kannst“, antwortete Hope langsam. „Aber ich weiß genau, dass dies eines Tages aufhören wird.“
Ich weiß nicht, ob du Recht hast, Farooq,“ erwiderte Khalil immer noch zweifelnd. „Sollten wir denn nicht wenigstens versuchen, uns zu verteidigen, und diese Waffen zu lagern, von denen Mr Qasem gesprochen hat?“
Willst du wirklich, dass die kleine Fatima in ihrer neuen Schule direkt über einem Waffenlager sitzt“, fragte Hope zurück.
Khalil schüttelte heftig den Kopf: „Nein, nein, natürlich nicht.“ Er schwieg nun, machte aber immer noch keine Anstalten, den Hof zu betreten.
Nach ein paar Sekunden stellte er eine weitere Frage: „Glaubst du, dass die Kämpfer der Gläubigen genau so grausam und barbarisch sein können, wie die Kämpfer der Ungläubigen?“
Wieder antwortete Hope mit einer Frage: „Glaubst du, dass euer Bürgermeister ein ehrlicher Mann ist?“
Natürlich ist er ein ehrlicher Mann“, antwortete Khalil entschieden, „der allerehrlichste, genau wie mein Vater. Du hast Recht, was er gesagt hat, muss ganz bestimmt die Wahrheit sein.“
Er dachte noch eine Weile nach, und seufzte dann zum Schluss: „Aber, es ist traurig, weißt du... zu denken, dass deine eigenen Leute genau so böse sein können, wie die Feinde.“
Hope nickte: „Es ist traurig“, stimmte sie Khalil zu.
Danach gingen sie beide durch den Hof ins Haus, wo sie von Kahlils Mutter begrüßt wurden, die sofort bemerkte, dass Khalil bedrückt war. Aber als er nicht reden wollte, ließ sie ihn in Ruhe und bat die beiden nur, sich fürs Bett bereit zu machen. Khalil redete auch mit Hope nicht mehr, und brütete nur vor sich hin bis sie beide nebeneinander auf ihren Matratzen eingeschlafen waren.
Es schien als sei nur eine Sekunde vergangen, als sie von einem lauten Krach geweckt wurden. Jemand trommelte an die Haustür, und dann gab es einen Knall, als ob jemand die Tür aufgebrochen hatte. Lautes Schreien war aus dem Eingangsbereich zu hören. Der kleine Mashaal war aufgewacht und fing an zu weinen. Er krabbelte hinüber zu Khalils Mattratze. Der Lärm hatte ihn genau wie Hope und Khalil erschreckt.
Jetzt konnte man Khalils Onkel hören, wie er die Eindringlinge fragte, was sie wollten. Sie hörten einen weiteren Schrei und dann ein Geräusch als ob etwas Schweres auf den Boden fiel, und danach das Weinen von Tante Mahtab.
In diesem Moment wurde die Tür zu dem kleinen Raum, in dem Hope, Khalil und Mashaal sich eng aneinander gedrückt hatten, aufgestoßen. Ein Soldat stand in der Tür. Er richtete seine Waffe auf die Kinder und gab ihnen wortlos damit ein Zeichen, dass sie den Raum verlassen sollten. Mashaal hatte aufgehört zu weinen, aber er hielt sich immer noch verzweifelt an seinem Cousin fest, den Kopf in dessen Seite vergraben. Hope hielt sich eng an die beiden, als sie zusammen in den Eingangsraum stolperten.
Da war der Rest der Familie bereits versammelt, die meisten aneinander und an die Wand gepresst. Fünf Soldaten richteten ihre Waffen auf sie. Tante Mahtab war schluchzend über ihren Mann gebeugt, dessen ohnmächtiger Körper am Boden lag. Hope konnte sehen, dass Abu-Khaliq aus einer großen Kopfwunde blutete, aber sie sah auch, dass er atmete. Er war noch am Leben.
Einer der Soldaten schubste Mahtab fort und zu den anderen. Als Mashaal aufsah und seine Mutter erkannte, fing er wieder an zu schreien und streckte seine kleinen Arme nach ihr aus. Mahtab, immer noch schluchzend, nahm ihn in ihre Arme und vergrub ihr Gesicht in seinen Haaren. Khalil's Mutter hielt ihr eigenes Baby, sie zitterte am ganzen Körper, dabei sah sie Khalil und Hope an. Ihr Ehemann stand vor ihr, wobei er mit seinem eigenen Körper sie und die Kinder schützend deckte.
Aber jetzt brüllte einer der Soldaten etwas, das sich wie ein Befehl anhörte, denn zwei der Soldaten packten Abdul-Lateef und zerrten ihn von seiner Familie weg. Sie verdrehten ihm die Arme hinter dem Rücken und banden sie mit einer Plastikschnur zusammen. Hope konnte sehen, wie die Schnur ihn ins Fleisch schnitt und die Hände eine bläuliche Färbung annahmen. Aber er gab keinen Laut von sich.
Der befehlshabende Offizier brüllte noch einmal. Ein anderer Mann hatte gerade das Haus betreten. Dieser trug keine Uniform, und doch konnte Hope erkennen, dass er zu den Uniformierten gehörte.
Der kommandierende Offizier sagte ein paar Worte in seiner sonderbaren Sprachen, und der Mann ohne Uniform drehte sich zu Khalils Vater und begann zu reden: „Der Sergeant sagt, dass wir hier sind, weil wir einen gefährlichen Kriminellen und Terroristen suchen. Er hat Waffen gestohlen, um sie für terroristische Aktivitäten einzusetzen. Sein Name ist Qasem und wir wissen, dass er in dieses Dorf gekommen ist. Alles, was wir wollen ist, dass du uns erzählst, wo er sich jetzt aufhält, und wo die Waffen sind, die er transportiert hat.“
Abdul-Lateef antwortete nicht.
Der Sergeant brüllte einen weiteren Befehl, und der Soldat, der Mahtab gestoßen hatte, schrie nun Khalils Vater an und kickte ihm in den Unterbauch.
Der Übersetzer sagte: „Der Sergeant sagt, dass du uns besser Antworten auf seine Fragen gibst, oder wir werden eine sehr lange Zeit in deinem Haus bleiben.“
Der Sergeant deutete auf Parween. Und dann packte derselbe Soldat, der Mahtab gestoßen hatte, Parween am Arm. Als sie Widerstand leistete zog er ihr das Kopftuch vom Kopf und riss sie an den Haaren, und zog sie so näher an ihren Mann und den Sergeanten heran. Parween schrie auf vor Schmerz und Schock, und auch die kleine Fatima, die sie noch immer in den Armen hielt, fing an zu schreien.
Jetzt rief auch Abu-Lateef laut aus: „Lass sie los, bitte lass sie gehen.“ Doch der brutale Soldat hielt Parween unbarmherzig an den Haaren fest.
Fatima weinte weiter, während der Sergeant wieder brüllte und der Zivilist übersetzte: „Das ist doch deine Frau? Du weißt, was wir mit ihr tun können, wenn du nicht redest!“
Der Sergeant deutete auf Khalil und gab wieder einen Befehl. Der brutale Soldat ließ Parween's Haar los und packte stattdessen Khalil am Arm und zerrte ihn zu seinen Eltern heran.
Nein“, schrien Hope, Parween und Abdul-Lateef gleichzeitig. Khalil's Vater beantwortete die Frage des Sergeanten mit verzweifelter Stimme: „Dieser Mann Qasem, den ihr sucht, der war hier, aber er ist weggegangen. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist, niemand im Dorf weiß das. Meine Frau und mein Sohn, die wissen überhaupt nichts. Bitte lasst sie gehen.“
Der Übersetzer sagte ein paar Worte zum Sergeanten, der daraufhin wieder brüllte und der andere Mann übersetzte: „Wir glauben, dass du lügst. Du weißt ganz genau, wo Qasem ist, und wo die Waffen sind! Und du wirst uns das jetzt sagen!“
Der Sergeant gab dem Soldaten, der Khalil festhielt, ein Zeichen mit dem Kopf, und der Mann packte nun Khalil beim Kragen und schob ihm gleichzeitig die Waffe in den Hintern.
Ein fürchterlicher Schrei kam jetzt aus Khalils Mund, und Hope konnte sehen, wie sich seine Hose dunkel rot färbte.
Nein!“ schrien seine verzweifelten Eltern gleichzeitig auf. Abdul-Lateef versuchte hoffnungslos sich zu befreien, während Parween, die immer noch ihre kleine Tochter im Arm hielt, versuchte den Soldaten am Arm zu packen und ihn von ihrem Sohn wegzuzerren.
Hope konnte sich nicht länger zurückhalten, sie versuchte zu Khalil zu gelangen, ihm zu helfen, irgendetwas zu tun... irgendetwas.
Aber der Soldat, der zuerst in ihr Zimmer gekommen war, hielt sie mit seinen Armen zurück. Er sah Hope nur für einen Augenblick lang an und Hope sah, dass der Ausdruck auf seinem Gesicht irgendwie anders war, als auf den Gesichtern der anderen Soldaten. Es war kein Hass und keine Grausamkeit in seinen Augen. Was sie da stattdessen zu ihrer Überraschung erkannte, war Scham. Während er Hope und die anderen immer noch zurückhielt, rief er seinen Kameraden etwas zu.
Der Sergeant brüllte zurück, aber er gab schließlich dem Soldaten, der Khalil gefoltert hatte, ein Zeichen mit dem Kopf. Dieser ließ Khalil los und schubste ihn und seine Mutter zurück in die Richtung von Hope und den anderen. Khalil hörte auf zu schreien. Er weinte jetzt nur noch leise. Parween übergab Hope die kleine Fatima, und, selbst schluchzend, nahm sie Khalil fest in den Arm: „Mama“, flüsterte er nur, „Mama, Mama...“
Der Sergeant redete jetzt wieder mit Abdul-Lateef durch den Übersetzer: „Du kommst mit uns! Am Ende wirst du reden, ganz ohne Zweifel! Sonst kommen wir zurück und holen uns deinen Bastard.“ Mit diesen Worten zerrten die Soldaten Khalils Vater durch die Haustür und in den Hof.
Khalil schluchzte jetzt nicht mehr, sondern humpelte den Soldaten hinterher und schrie: „Papa, Papa!“
Als einer von ihnen ihn wegschubste, rief er noch verzweifelter: „Lasst ihn los, lasst ihn los!“
Doch jetzt wurde er zu Boden gestoßen. Seine Mutter, die ihm gefolgt war, hob ihn auf. Hope übergab Fatima an Baasima und lief an die Seite ihres Freundes, und zusammen folgten sie den Soldaten, die Khalil's Vater hinter sich herzogen.
Aber als der erste Soldat durch das enge Tor ging, war plötzlich ein Schuss zu hören, und Hope sah wie der Soldat zu Boden ging. Die anderen Soldaten fingen an zu schreien und legten ihre Gewehre an. Und während sie hinter der Mauer in Deckung gingen, besprühten sie die Umgebung draußen mit Kugeln. Hope hörte ein paar antwortende Schüsse, danach wurde es still.
Der Sergeant schrie wieder, und die Soldaten sprangen auf ihre beiden Armee-Jeeps, die vor der Mauer geparkt waren. Sie zogen ihren verwundeten Kameraden mit sich in den Wagen und ließen Khalils Vater zurück. Abdul-Lateef stand immer noch ganz alleine da, die Hände hinter dem Rücken gefesselt.
Die Soldaten starteten die Motoren und die Jeeps fuhren los. Doch im letzten Augenblick sprang der Soldat, der Khalil gefoltert hatte, noch einmal vom Jeep und preschte zurück in den Hof. Er schoss auf Khalils Vater mit einem direkten Schuss und sprang dann wieder auf den Jeep, der danach wegspurtete.
Khalils Vater brach wie in Zeitlupe zusammen, während Khalil, Parween und Hope zu ihm hinrannten. Aber sie konnten nichts mehr für ihn tun.
Abdul-Lateef war tot.
Parween sank zu Boden und begann zu jammern, als sie sich neben ihren Mann kniete. Es war keine Schönheit mehr in ihrer Stimme, nur noch dissonante lähmende Trauer.
Khalil war stumm, sein Gesicht war kalt und leer. Hope kannte diesen Ausdruck nur zu gut; sie konnte ihn in ihren eigenen Knochen spüren. Es war ein Ausdruck von völligem Unglauben. Dies konnte nicht geschehen sein. Sein Vater konnte nicht tot sein, nichts von all dem war real.
Jetzt kamen die anderen Mitglieder der Familie langsam aus dem Haus. Mahtab stützte ihren Mann, der das Bewusstsein wieder erlangt hatte, obwohl er immer noch aus seiner Kopfwunde blutete. Baasima trug Fatima, die nicht aufgehört hatte zu weinen, obwohl das Weinen jetzt nur noch Laute von Hoffnungslosigkeit enthielt, als ob sie verstanden hätte, was geschehen war. Badria folgte, und sie hielt den kleinen Mashaal an der Hand.
Andere Leute hatten ihre eigenen Häuser verlassen und kamen jetzt in den Hof von Khalils Familie. Mehr und mehr Menschen strömten hinein. Einige der Männer trugen Gewehre. Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Alles, was zu hören war, war Parweens Jammern und Fatimas leises Weinen.
Und plötzlich begannen alle gleichzeitig zu reden. Hope konnte die Worte nicht verstehen, aber sie hörte zornige, angsterfüllte und verzweifelte Stimmen. Am Ende sagte Khalils Onkel zu seiner Frau: „Ihr müsst jetzt gehen. Sie werden zurückkommen, diese Soldaten werden wieder kommen, und nächstes Mal werden es mehr sein.“
Abdul-Khaliq hat Recht“, sagte ein Mann, dessen Stimme Hope als die des Bürgermeisters erkannte. Sie sah hoch und da stand er am Tor.
Der Bürgermeister fuhr fort: „Sie werden mit Flugzeugen zurückkommen und mit noch mehr Waffen. Ihre Rache wird furchtbar sein. Alle Frauen und Kinder müssen Pazwaak verlassen, und zwar auf der Stelle.“
Verlassen“, rief Mahtab verängstigt, „aber wohin sollen wir gehen?“
Ihr müsst nach Pashtana gehen“, sagte der Bürgermeister, „zum Schulhaus dort. Die Leute von Pashtana werden euch helfen. Aber ihr müsst jetzt gehen! Ihr dürft keine Zeit verlieren. Nehmt nicht viel mit, ein paar Decken und Flaschen mit Wasser und etwas Brot, das muss ausreichen.“
Der Bürgermeister drehte sich zu den anderen Männern um: „Sagt euren Familien auch, dass sie gehen müssen.“
Mahtab wandte sich ihrem Mann zu: „Kommst du mit uns?“
Abdul Khaliq schüttelte den Kopf und sagte mit trauriger Stimme: „Ich muss meinen Bruder begraben, und wir müssen das Dorf verteidigen.“ Dann wurde sein Ton rau: „Geh jetzt! Nimm die Kinder und Parween und geh!“
Khalils Mutter hatte nichts von dem gehört, was gesagt worden war. Sie war in ihrer eigenen Welt der Trauer. Sie wehrte sich zuerst, als Mahtab versuchte ihr hoch zu helfen. Am Ende erlaubte sie es ihr doch, sie ins Haus zu führen. Parween starrte blind vor sich hin und ging wie eine Schlafwandlerin. Mahtab musste die gesamte Initiative ergreifen. Effizient packte sie zwei Körbe mit Lebensmitteln voll und übergab sie Hope und Khalil, danach befahl sie ihnen und den anderen Kindern, dass jeder eine Decke mitbringen sollte.
Am Ende übergab sie Fatima an Parween, während sie selbst Mashaal hochhob. Und jetzt, nachdem alles bereit war, führte sie alle nach draußen, und gemeinsam verließen sie ihr Zuhause. Abdul Khaliq war schon mit den anderen Männern weggegangen.
Als ihre kleine Gruppe am Dorfplatz ankam, sahen sie Dutzende von anderen Frauen, die auch ihre Häuser verlassen hatten, mit ihren Kindern im Arm oder hinter sich herziehend. Einige der Kinder weinten, die meisten sahen verwirrt aus. Ihre Mütter waren voller Furcht.
Und so ging die traurige Menschengruppe die staubige Straße entlang.
Hope und Khalil gingen an beiden Seiten von Khalils Mutter, die immer noch wortlos und wie in Trance einen Schritt vor den anderen setzte. Auch Khalil war merkwürdig still. Hope versuchte gar nicht erst, mit ihm zu reden.
Niemand redete viel, nicht einmal die Kinder.
Omaid und Baseer, die ältesten der Jungen, führten die Gruppe den Weg entlang, einen Weg, den sie so gut kannten, weil sie ihn ja jeden Tag zur Schule gingen. Und obwohl es immer noch Nacht war, schien der Mond doch hell genug, so dass jeder sehen konnte, wohin sie gingen.
Normalerweise würde es nur eine Stunde nach Pashtana dauern, aber mit den kleinen Kindern und den Bündeln, die alle zu tragen hatten, würden sie sicherlich länger brauchen, erklärte Omaid Hope, der einzigen Fremden in der Gruppe. Hope nickte nur.
Sie mussten wohl bereits eine halbe Stunde unterwegs gewesen sein, als sie den Lärm von Flugzeugen über sich hörten. Hope wusste, dass dies ein bedrohliches Geräusch war, und alle anderen wussten das auch. Die Leute begannen schneller zu gehen, einige rannten. Plötzlich war es nicht mehr dunkel. Die Dunkelheit war von einem Feuer ersetzt worden, dass vom Himmel regnete. Alle schrien, als sie zurückschauten. Das Feuer fiel auf das Dorf Pazwaak, und die Flammen schossen hoch und erleuchteten den Himmel.
Ein unbekannter Geruch füllte die Luft. Hope spürte ein schmerzhaftes Brennen in ihren Nasenhöhlen und dann den ganzen Weg zu den Lungen hinab. Die meisten Frauen drehten sich um und begannen wieder zu rennen, wobei sie ihre Kinder hinter sich her zerrten. Khalil und seine Mutter aber standen wie angewachsen und schauten auf das brennende Dorf zurück.
In der Entfernung sahen sie eine kleine Gestalt, die ihnen entgegenlief, eine Gestalt, die einer brennenden Fackel glich. Im selben Moment noch fiel sie zu Boden, und die Flammen loderten immer noch.
Mein Onkel“, flüsterte Khalil, „mein Onkel.“
Nein“, protestierte Hope, „das kannst du nicht sehen. Das ist er nicht, er ist es nicht!“
Sie packte Khalil an der Schulter. „Wir müssen jetzt gehen“, drängte sie, „wir müssen gehen. Beeil dich!“
Widerwillig drehte Khalil sich um. Und als Hope Parweens Arm berührte, drehte auch sie sich um. Sie begannen weiter zu gehen, und sie gingen und gingen in Richtung Pashtana, wo sie sicher sein würden.
Aber es war noch nicht vorbei. Ein anderer Lärm war jetzt in der Luft zu hören, näher noch, und sogar noch bedrohlicher. Wie alle anderen sah Hope nach oben. Sie erkannte das Fluggerät. Sie hatte Bilder davon gesehen. Dies Ding wurde Hubschrauber genannt. Und es waren dort mindestens drei davon, vielleicht mehr, Hope war sich nicht sicher. Aber es waren genau drei riesige Lichtkegel, die den Boden absuchten. Und jetzt kamen neue Geräusche, die schlimmsten, die sie je gehört hatte, sie füllten die Luft mit tausenden und tausenden von kleinen Explosionen. Hope wusste, was es war, es waren Schüsse.
Die Leute vor ihnen fielen zu Boden. Einige schrien vor Schmerz, andere vor Angst, einige waren nur ganz still.
Dann ging auch Khalils Mutter zu Boden, und sie hielt Fatima immer noch im Arm. Trotz der Dunkelheit der Nacht konnte Hope die dunkle Flüssigkeit sehen, die sich über ihre Kleider und die von Fatima ausbreitete und über den Boden, um sie herum.
Parween begann schwer zu atmen. Khalil wurde starr vor Schreck. Parween fing an mit einem Gurgeln in der Stimme kaum hörbaren zu reden: „Fatima“, sagte sie. „Vergiss nicht Fatima.“
Mit allerletzter Kraft versuchte sie ihre kleine Tochter zu Khalil hochzuheben, aber dann fielen ihre Arme zu Boden, und sie lag still da. Hope weinte. Khalil beugte sich hinunter und nahm Fatima aus den Armen seiner leblosen Mutter. Er hielt sie fest an sich gepresst. „Wir müssen jetzt gehen“, sagte er zu Hope mit einer unheimlich tonlosen Stimme.
Aber Hope hatte die Hubschrauber bemerkt, die kehrt machten und in ihre Richtung zurückflogen, wieder auf die Menschen auf dem Boden zu. Mehr Schüsse waren zu hören. Hope ließ sich zu Boden fallen und zog Khalil an seinen Kleidern. Sie schrie: „Runter Khalil, runter. Sie schießen auf dich, wenn du stehst.“
Aber es war schon zu spät, Khalil war getroffen worden. Hope sah, wie er zu Boden sank. Und genau wie seine Mutter vor ihm, hielt er immer noch seine kleine Schwester im Arm, und er sagte sogar dieselben Worte wie seine Mutter: „Fatima, vergiss nicht Fatima!“
Mit einem verzweifelten Blick sah er Hope an, die ihm das Baby abnahm. Khalil machte noch einen letzten Atemzug und starb...
Die Lichter der Hubschrauber waren endlich ausgeschaltet worden, und ihr Lärm wurde leiser, sie flogen davon. Hope kniete immer noch mit dem Baby im Arm.
Aber dann legte sie Fatima wieder sanft zurück in Khalils Arme. Sie hatte gesehen, was Khalil nicht gesehen hatte oder nicht sehen wollte... Die Kugel, die seine Mutter getötet hatte, hatte Fatima zuerst durchbohrt. Sie war direkt durch sie hindurch in den Körper ihrer Mutter gedrungen. Und wo ihr kleines Herz einmal war, da war jetzt ein Loch.
Hope stand auf. Sie sah sich um und versuchte etwas zu hören. Aber nirgendwo gab es auch nur das geringste Geräusch.
Endlich dämmerte es und wurde heller. Hope konnte nun die Frauen und Kinder von Pazwaak als kleine Häufchen auf dem Boden liegen sehen... stille, bewegungslose Häufchen.
Plötzlich sah sie eine Bewegung nicht weit entfernt. Sie lief darauf zu. Aber dann stoppte sie, sie wollte nicht näher kommen. Eine türkis-farbenes Kopftuch, mit roten Flecken bedeckt, flatterte im Wind über einem anderen bewegungslosen Häufchen. Hope wusste, wer das einmal gewesen war.
Sie begann zu schreien. Sie schrie, wie sie nie zuvor geschrien hatte.
Und in diesem Augenblick verschwand das Morgengrauen von Kahlils Welt und machte Platz für das künstliche Licht einer großen leeren Halle. Die Tür öffnete sich, und Hope's Mutter kam herein. Sie rannte auf Hope zu, die immer noch schrie. Das Schreien wurde zum Schluchzen: „Mama, Mama“, weinte Hope. „Sie sind alle tot, alle sind sie tot! Khalil und seine Mutter und Fatima und Baseema, alle tot, alle...“
Hope's Mutter hatte die Arme um ihre Tochter geschlungen und redete sanft und beruhigend auf sie ein: „Sie sind schon vor langer Zeit gestorben, Hope, vor sehr langer Zeit. Es war nur eine Simulation. Es war nicht real.“
Nein Mama“, schluchzte Hope in ihren Armen. „Sie sind jetzt gestorben, gerade jetzt.“
Sie fühlte, wie die Beine unter ihr nachgaben, plötzlich fiel sie und fiel, nur gehalten von den Armen ihrer Mutter, die sie noch fester an sich drückte als zuvor. Und dann wurde alles schwarz.
Und es blieb schwarz.
David konnte sich selbst atmen hören. Langsam öffnete er die Augen. Diesmal bemerkte er, dass Hope genau so viel Übelkeit verspürte, wie er. Er konnte ihre Projektion immer noch im Dunkeln leuchten sehen, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht war dunkel, zu dunkel für Tränen.
David teilte Hope's Traurigkeit, aber diese vermischte sich mehr und mehr mit seinen eigenen Gefühlen von überwältigendem Zorn.
Wie konnten sie dir das antun“, brach es aus ihm heraus. „Sie haben dich traumatisiert. Was für eine Art Lehrer ist das eigentlich, dass er dich in so eine Simulation gezwungen hat, sogar gegen den Widerstand deiner Mutter.“
Es ist das Gesetz“, erwiderte Hope. „Alle Kinder müssen da hindurch, wenn sie zwölf Jahre alt sind.“
Was für ein brutales, rücksichtsloses Gesetz missbraucht Kinder auf diese Weise?“ David konnte das nicht akzeptieren. „Und deine Leute nennen unser Zeitalter die 'Dunklen Zeiten'?“
In deiner Zeit“, gab Hope zurück, „da spielen Kinder Simulationen, wo sie die Verursacher der Gewalt sind. Du hast doch mit Mr Santini darüber geredet, erinnerst du dich nicht?“
Hope konnte nicht anders, selbst jetzt musste sie ihre Kultur verteidigen: „In meiner Zeit simulieren wir, dass wir Opfer von Kriegsgewalt werden.“
Nicht alle Spiele sind gewalttätig“, stellte David klar. „Und nicht alle Kinder spielen Computerspiele. Und diese Spiele sind bei weitem nicht so realistisch, wie das, was mit dir dort geschehen ist.“
In deiner Zeit“, sagte Hope traurig und mit leiser Stimme, „da war das keine Simulation. Viele Kinder in der ganzen Welt müssen Kriege durchleben.“ Sie zögerte für ein paar Sekunden und sagte abschließend: „Und die Leute von Pazwaak sind wirklich tot.“
Das ließ David verstummen. Sie waren beide eine Zeit lang still, starrten in den dunklen Himmel und hörten auf die leisen Geräusche des Verkehrs weit weg von ihnen.
Am Ende fragte David: „Was ist mit Farooq geschehen, weißt du das?“
Hope nickte und antwortete: „Sensei hat es mir erzählt, nachdem er mich aus dem Gemeindesaal nach Hause getragen hat. Und er hat mich auch eine ganze Woche lang jeden Tag besucht, bis es mir gut genug ging, dass ich wieder in die Schule gehen konnte. Er ist ein guter Sensei“, verteidigte Hope ihren Lehrer.
Dann fuhr sie fort: „Also Farooq wurde von den Männern gefangen genommen, die in Pazwaak eingedrungen waren. Aber in der Nacht bevor er zu einem Militärgefängnis transportiert werden sollte, ist ein Soldat mit ihm fortgefahren, um ihn in der nächsten Stadt frei zu lassen. Aber sein Fahrzeug brach zusammen, als er in die Nähe eines Dorfes war.
Und als er sah, dass seine Kameraden näher kamen, sagte der Soldat zu Farooq er sollte weglaufen und sich verstecken, während er selbst in einem verlassenen Haus blieb. Die Menschen aus dem Dorf versteckten Farooq in einem Schuppen, aber sie zeigten den Verfolgern, wo der mitleidige Soldat war. Und obwohl Farooq es selbst nicht sah, erfuhr er später von den Leuten im Dorf was geschehen war. Die Soldaten umstellten das Haus und warfen Sprengkörper hinein, und am Ende trugen sie Farooqs Retter aus dem Haus, er war tot...“
Als Hope aufhörte zu reden, beendete David die Geschichte: „Und der Soldat war Marco Santini.“
Hope nickte: „Sensei hat mir seinen Namen nie genannt, aber ich bin sicher, dass er es gewesen sein muss. Die Geschichten sind einfach zu ähnlich.“
Sie atmete tief und fuhr fort: „Als Farooq erwachsen war, wurde er ein Mann des Friedens. Obwohl er eigentlich jemand hätte sein sollen, der für all das, was mit seinen Verwandten geschehen ist, und was er gesehen hat in Pazwaak, nach Rache dürstet, aber das tat er nicht.
Er schrieb das auf, was er gesehen hatte und erzählte es vielen Leuten, erst in seinem eigenen Land und später in vielen Ländern, bis die ganze Welt seine Geschichte kannte. Und wenn Leute ihn fragten, warum er nicht bitter geworden ist und voller Hass, dann sagte er immer, er hat Menschlichkeit im Gesicht seines Feindes gesehen.“
Hope hielt wieder inne und David sagte verwundert: „Marco Santini... nur wegen Marco Santini... Es ist merkwürdig sich vorzustellen, dass dieser eine Akt von Mitgefühl, all den Schaden, der in Farooqs Psyche durch seine furchtbaren Erlebnisse entstanden sein musste, weggenommen hat.“
Hope nickte: „Ja, das ist schon merkwürdig. Aber weil Farooq ein Mann des Friedens wurde, darum wurde seine Geschichte zum Opfer-Szenario für alle Kinder der Welt in meiner Zeit.
Farooq erhielt viele Coins in seiner Zeit. Die meisten davon benutzte er, um mit Menschen überall auf der Welt vom Frieden zu sprechen. Aber mit einigen von den Coins wurde genau an dem Ort, wo die Frauen und Kinder von Pazwaak getötet wurden, ein Mahnmal gebaut. Obwohl in dieser Gegend zu Farooqs Zeiten viele Leute dagegen waren, dass menschliche Abbilde aufgestellt würden, durfte dieses doch stehen bleiben. Und es steht immer noch in meiner Zeit.“
Vor Davids Augen erschien ein Steindenkmal, und es leuchtete in der Dunkelheit der Nacht. Oben auf dem Denkmal war die Figur eines Jungen zu sehen, der ein Kleinkind auf dem Schoß hielt. Er hielt ein Buch in den Händen, das beide Kinder betrachteten, und das kleine Mädchen deutete mit dem Finger darauf. Buchstaben, die David nicht lesen konnte, waren auf den Stein darunter eingraviert. Hope wusste, was sie bedeuteten und übersetzte für David:

Ich werde mich immer an Fatima erinnern.
Ich werde die Menschen von Pazwaak niemals vergessen,
die Stimmen der Unschuldigen, die zum Himmel rufen.
An diesem Ort wurde Hoffnung (Omaid) zerstört
und Freundlichkeit (Latif) und Großzügigkeit(Jawad)
und das Lächeln (Baasima) eines Kindes.
Licht (Mashaal) wurde zur Dunkelheit
im Schein des Mondes (Badria und Mahtab)
und der strahlenden Sterne (Parween).
Doch nur für eine Zeit lang,
denn die Stimmen (Pazwaak) von euch wurden gehört
und euer Rufen wurde beantwortet
Für jetzt mein Freund (Khalil) schlafe.
Schlafe in den Armen des Friedens,
den Armen des Friedens.“

***



Der Manager der Fabrik trägt einen Designer-Anzug und eine gestreifte Krawatte. Er gibt sich Mühe den Eindruck von jemandem zu erwecken, der einen hohen gesellschaftlichen Status und ein hohes Einkommen hier in Nephilim City genießt. Ich weiß, dass sein Name Remus Talbot ist, trotzdem habe ich mich entschieden, ihn nicht zu gebrauchen. Stattdessen gebe ich ihm zur Begrüßung nur ein kurzes Kopfnicken und beginne sofort: Wir haben hier schon viel zu lange gewartet. Sie kennen mich doch, oder muss ich mich Ihnen vielleicht erst vorstellen?“
Natürlich nicht, Mr Galt,“ versichert mir Talbot, wobei sein Gesicht nervös zuckt, „obwohl es schon ein paar Jahre her ist, seit Sie gemeinsam mit Ihrem Vater diese Anlage inspiziert haben. Was kann ich für Sie tun?“
Für mich?“ gebe ich mit eiskalter Stimme zurück, „überhaupt nichts! Allerdings ist mein Vater enorm enttäuscht davon, wie diese Fertigungsanlage verwaltet wird. Ihre Produktionsleistung lässt stark zu wünschen übrig, und mein Vater vermutet, dass dies an Ihrer Ineffizienz liegt.“
Aber Mr Galt,“ protestierte Talbot, „wir haben unsere Produktion im letzten Jahr um 20 Prozent gesteigert. Wir tun unser bestes, um die Standards...“
Ich unterbreche ihn kalt: „Hat mein Vater Ihnen nicht erklärt, wie unzureichend das in der gegenwärtigen Situation ist?“
Ja Sir, Mr Galt, das hat er und wir haben seitdem unsere Anstrengungen noch weiter erhöht. Wie...“
Offensichtlich nicht genug“, unterbreche ich ihn wieder, „oder warum sollte er es sonst für notwendig erachten, mich persönlich, zusammen mit meinem Effiziensteam, hierher zu schicken?“ Ich zeige auf Antonio und seine Männer.
Ich muss Talbot noch weiter in die Enge treiben, ihm keinen Spielraum zum Nachdenken geben, und so gebe ich meine Befehle: „Die Produktion muss um mindestens 30 weitere Prozent angehoben werden. Diese Männer hier sind unsere Top-Effizienz-Fachleute. Sie werden entscheiden, wo die Schwachpunkte liegen, und welche Maschinen oder welches Personal ausgewechselt werden müssen.
In den nächsten fünf Stunden werden diese Männer Zugang zu jeder Anlage, jedem Produktionsband und zu allen Hangars erhalten. Haben Sie das verstanden?“
Ja, Mr Galt, natürlich Mr Galt. Mein Personal wird in jeder Hinsicht mit Ihren Experten kooperieren.“
Wieder nicke ich kurz: „Mein Vater erwartet nichts anderes von Ihnen.“


***



Sie saßen in der Dunkelheit, versunken in ihren gemeinsamen Gedanken von tiefer Traurigkeit. Nach einiger Zeit spürte David, wie die Dunkelheit sich sogar noch mehr vertiefte, denn Gefühle von immer größer werdender Angst durchfluteten ihn, die am Ende in Verzweiflung mündeten.
David bemerkte, dass Hope ihr Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, obwohl sie nicht weinte.
Endlich begann sie zu reden, langsam murmelnd, als ob sie mit sich selbst sprach, mit langen Pausen zwischen ihren Halbsätzen: „Ich habe immer geglaubt, dass es das richtige war... richtig für uns diese Szenario zu durchlaufen..., dass es notwendig sei, weil alle Leute sagen... notwendig um den Frieden zu bewahren... Aber jetzt weiß ich es nicht mehr... ich weiß überhaupt nichts mehr...“
Sie nahm ihre Hände vom Gesicht und sah David an: „Es hat nicht funktioniert, Onkel David! Es hat einfach nicht funktioniert!“
Ihre Stimme wurde lauter und verzweifelter: „Du hattest Recht, du hattest Recht mit meiner Mama und... oh nein, oh nein...“
David streckte instinktiv die Hand nach ihr aus, aber er griff nur nach Luft. Er zog seine Hand zurück und wünschte, dass er nur für dieses eine Mal, Hope in den Arm nehmen und trösten könnte.
Stattdessen sagte er sanft: „Hope, bitte erzähl es mir jetzt... bitte Hope, was ist geschehen in...“ und die Worte formten sich in seinem Geist „Orange Country und… Nephilim City?“
Im selben Augenblick war ein Damm gebrochen. Eine Flut von Bildern, Gesichtern, Stimmen und Geräuschen ergoss sich gleichzeitig über David's Bewusstsein, zusammen mit Emotionen, die von erdrückender Angst bis zu rasender Wut reichten.
Hope, ich kann nicht...bitte...“ David zitterte unter der mentalen Überlastung. „Erzähl es mir auf die Weise, wie du es mir sonst auch erzählt hast.“
David konnte die mentale Anstrengung spüren, die es Hope kostete, sich wieder zu konzentrieren. Sie schloss ihre Augen und David schloss seine. Die Bilder verblassten, und alles wurde wieder schwarz, obwohl sie die Gefühle nicht unterdrücken konnte.
Aus der Dunkelheit hörte David nun Hope's zitternde Stimme: „Alles begann vor sechs Tagen... nein, es sind jetzt schon sieben Tage, eine Woche. Vor nur einer Woche war alles normal... und es herrschte Frieden... Mama war bereits seit zehn Wochen auf ihrer Eisbrecher-Mission, und sie sollte in zwei Wochen für eine sechswöchige Pause nach Hause kommen, aber dann... dann...“
Hope atmete tief: „Es war bereits am Morgen, als ich bemerkte, dass etwas geschehen war. Großonkel Professor redete beim Frühstück kaum ein Wort, und hinterher schloss er sich in sein Labor ein.
Unterwegs zum Kuhstall und danach auf dem Weg zur Schule, konnte ich die Erwachsenen sehen, wie sie miteinander tuschelten. Aber immer, wenn wir Kinder in ihre Nähe kamen, hörten sie damit auf. Ein sonderbarer Ausdruck war dann auf ihren Gesichtern, einer den ich nicht lesen konnte. Derselbe Ausdruck war auch auf Sensei's Gesicht während des Unterrichts. Plötzlich beendete er dann vorzeitig seine Lektion und schickte uns nach Hause... ohne jede Erklärung.
Als Sensei gegangen war, erzählte uns Jason Tyler, einer der Jungen, dass er wusste, dass heute Abend eine Dorfratsversammlung stattfinden würde. Sein älterer Bruder hatte es geschafft, den Abwesenheitsschlüssel zu knacken, und er würde sich mit seinen Freunden, ein paar anderen Jugendlichen treffen, um die Versammlung anzuschauen. Jason hatte seinen Bruder bedrängt, ihm den Schlüssel auch zu geben, so dass die Sempais unserer Klasse auch zuschauen könnten.“
Auf Davids unausgesprochene Frage erklärte Hope: „Der Abwesenheitsschlüssel ist eine Passwort-Sequence, die es den Erwachsenen erlaubt, eine Dorfratsversammlung von Zuhause aus anzuschauen.“
Sie fuhr fort: „Wir beschlossen, uns bei Jenny zu treffen, weil sie ihre kleinen Brüder nicht allein lassen durfte, während ihre Eltern auf der Versammlung waren.“
Die Dunkelheit löste sich und wurde von der Projektion einer Gruppe von sieben Teenagern in einem gemütlichen Wohnzimmer ersetzt. Sie saßen auf einer Couch und zwei Sesseln, die gegenüber einer Wand, die als Computer-Bildschirm fungierte, aufgestellt waren. Eines der Mädchen, Jenny, saß allerdings auf dem Teppichboden, wo sie mit zwei Kleinkindern spielte, während sie trotzdem versuchte die Wand im Auge zu behalten.
Auf dem Schirm konnte man in einer großen Halle hunderte von Leuten beobachten, die auf langen Bänken vor schmalen Tischen saßen. Während die ersten Reihen bereits voll besetzt waren, füllten sich gerade die hinteren Bänke, und die letzten fünf Reihen stiegen gerade langsam aus dem Boden hervor.
Jetzt war im Wohnzimmer die zögerliche Stimme von Ameenah, Hope's Freundin zu hören: „Vielleicht sollten wir das nicht anschauen. Es ist gegen die Regeln. Wenn auf dieser Versammlung etwas besprochen wird, das uns betrifft, dann werden uns die Erwachsenen das morgen erzählen.“
Nein, das werden sie nicht“, widersprach Jason zornig. „Ich weiß nämlich, dass es etwas mit dem zu tun hat, was im letzten Jahr passiert ist. Mein Bruder hat mir das erzählt, er hat es herausgefunden. Es geht um das Mädchen aus der Reh-Hausgemeinschaft, das letzten Sommer ins Exil geschickt wurde. Er kannte sie, weil sie im gleichen Alter wie er ist, wirklich noch jugendlich. Ich denke, das ist etwas, das uns sehr wohl etwas angeht. Aber sie haben uns letztes Jahr nichts davon erzählt, jetzt werden sie es auch nicht tun.“
Ameenah hatte immer noch ihre Zweifel und sah Schuld bewusst aus, aber sie widersprach nicht und versuchte auch nicht wieder zu gehen.
Endlich begann die Versammlung, und alle konzentrierten sich auf den Schirm.
Die erste Reihe, die den anderen gegenüber stand, war leicht erhöht. Hinter ihr fungierte auch hier die Wand als ein riesiger Bildschirm, und im Augenblick stand da ganz oben geschrieben: Asyl-Antrags-Konferenz.
Darunter konnte man in Überlebensgröße die Bilder von drei der Leute sehen, die auch in der ersten Reihe saßen: Es waren ein junger Mann und ein junge Frau, die ein kleines Kind von etwa drei Jahren auf dem Schoß hielt. Der junge Mann trug Jeans und ein T-Shirt, während die junge Frau und das Kind schlecht sitzende Kleider trugen, die auf einem bräunlichen Untergrund mit weißen Punkten und Kreisen bedeckt waren. Sie sahen also alle drei ganz anders aus, als alle anderen Leute im Saal.
Als die letzten Bürger des Dorfes ihre Sitze ganz hinten im Saal eingenommen hatten, hörte man kurz eine Glocke läuten, und das Gemurmel der vielen Stimmen hörte auf.
Die Frau, die in der Mitte der ersten Reihe saß, erhob sich von ihrem Sitz. Der schmale Tisch vor ihr hob sich auch langsam hoch und wurde so zum Pult. Zur selben Zeit wurden die Projektionen der drei Leute auf der Wand hinter ihr von einer Projektion von ihr selbst ersetzt. Auch dies war ein Bild in Überlebensgröße. Über ihr erschienen die Worte: 'Erin Keilar', vermutlich ihr Name.
Ms Keilar umfasste das Pult mit beiden Händen und begann zu der Versammlung zu sprechen: „Guten Abend, meine Mitbürger aus Spesaeterna
Wie ihr wahrscheinlich wisst, so bin ich seit bereits seit zwei Monaten die Organisatorin des Dorfrates, und ich werde diese Position noch vier Monate lang einnehmen.“
Die Stimme von Ms Keilar hörte sich formal, aber unsicher an. Sie erweckte den Eindruck, dass sie sich in der ihr zugewiesenen Rolle nicht ganz wohl fühlte.
Sie atmete tief ein, und fuhr dann mit den Formalien fort: „Heute habe ich eine außerordentliche Ratsversammlung einberufen, weil ich die Anträge für drei Personen um Asyl in unserem Dorf erhalten habe. Diese Anträge werden von zwei unserer Bürger unterstützt, nämlich von Ms Monica und Mr Aaron Callahan aus der Reh-Hausgemeinschaft, den Eltern eines der Asylbewerber.
Die Bewerber heißen Ms Luscinia Callahan und Mr Jonathan...“
Ms Keilar wurde von einer Frau aus der Versammlung unterbrochen, die aufgestanden war. Wie der Tisch von Ms Keilar, so war auch der dieser Frau zum Pult geworden, und ihr Name, Dora Paine, erschien über ihrer Projektion auf dem großen Wandschirm.
Ms Paine war mindesten zwanzig Jahre älter als Ms Keilar, und sie hörte sich bei weitem selbstbewusster an: „Ich protestiere formal, dass dieses Kind an der Versammlung teilnimmt. Dies ist kein Ort für ein Kind, ganz besonders nicht, wenn es um ein Asylverfahren geht. Ich schlage vor, dass meine jüngste Tochter Sheila gerufen wird. Sie ist eine verantwortungsvolle junge Frau und würde sich, während der Versammlungszeit gut um das Kind kümmern.“
Ms Keilar antwortete in entschuldigendem Ton: „Nun ja, wir haben versucht zu organisieren, dass jemand anders sich um das kleine Mädchen kümmert. Aber sie hat dabei so fürchterlich geweint und dann... wussten wir nicht, was wir tun sollten... und...“
Jetzt erhob sich die junge Frau in dem gepunkteten Kleid, -Luscinia Callahan stand über ihrer Projektion an der Wand- und übergab das kleine Mädchen dem jungen Mann, der neben ihr saß. Als ihr Pult aufgestiegen war, begann sie zu sprechen:
Sie müssen verstehen, Ms Paine, dass Natsuki wirklich sehr verängstigt ist. Alles hier im Dorf ist neu für sie und so anders als das, was sie gewöhnt ist. Und sie vermisst ihre Eltern sehr. Jonathan und ich sind die einzigen vertrauten Gesichter hier, und deshalb klammert sie sich so verzweifelt an uns. Bitte erlauben Sie ihr hierzubleiben. Sie wird nichts von dem verstehen, was hier besprochen wird, ihre Muttersprache ist Interlingua.“
Ms Paine war noch nicht ganz bereit einzulenken: „Aber wo sind dann ihre Eltern? Warum sind die nicht hier?“
Das ist sehr kompliziert“, sagte Luscinia und schluckte. „Ich werde Ihnen allen die ganze Geschichte erklären. Genau wie ich erklären werde, wie und warum Jonathan und ich hierhergekommen sind.“
Ja, das ist überhaupt etwas, das ich in keiner Weise verstehe,“ sagte ein Mann um die vierzig, der jetzt hochgesprungen war, und dessen Projektion auch neben Ms Keilar, Ms Paine und Luscinia an der Wand erschienen war. Sein Name wurde dort als Henry Darby angegeben.
Mit Entschlossenheit in der Stimme beschwerte sich Mr Darby: „Gemäß der Regeln, die vom Dorfrat von Spesaeterna beschlossen wurden, kann eine Person, die permanent ins Exil geschickt wurde, nie wieder in unserem Dorf um Asyl ansuchen...“
Jetzt sprang ein Mann mittleren Alters auf die Beine. Er hatte neben Luscinia gesessen und die Schrift über seiner Projektion an der Wand wies ihn als Aaron Callahan aus, er war offensichtlich ihr Vater. Mr Callahan wartete gar nicht erst bis sein Pult hochkam, sondern begann sofort mehr zu schreien als zu reden, obwohl seine ersten Worte noch unhörbar waren: „... kostbare Regeln, das ist alles, was für dich zählt, Henry Darby, sonst überhaupt nichts! Nicht die Menschen, nur die Regeln! Was das mit meiner Tochter... was ihr alle ihr angetan habt...“ rief Mr Callahan mit gebrochener Stimme.
Jetzt unterbrach Ms Keilar und sagte: „Die gegenwärtige Diskussion ist völlig gegen das Protokoll. Bitte, es sollte nur eine Person auf einmal hier sprechen. Ich war gerade dabei die formale Prozedur zu erkl...“
Mr Callahan hörte nicht zu, und er sah aus, als hätte er sie überhaupt nicht gehört. Er hatte den Arm seiner Tochter gepackt, hob ihn hoch und zog ihren Ärmel bis zum Ellenbogen zurück und schrie: „Dies ist, was ihr alle ihr angetan habt...“
Luscinias Arm war mit etwa einem Dutzend runder Narben bedeckt, die ein seltsames Muster aufzeigten. Luscinia zog ihren Arm zurück, bedeckte ihn wieder und redete dann beruhigend auf ihren Vater ein, obwohl ihre Stimme auch für alle anderen noch hörbar war: „Papa, bitte... sie haben es nicht gewusst, niemand wusste es...“
Ihr Vater konnte nicht beruhigt werden: „Sie hätten es wissen sollen, sie hätten versuchen sollen, es herauszufinden bevor sie dich dort hingeschickt haben. Du warst doch erst 19, erst 19... es war falsch... ich hätte selbst etwas tun sollen... ich hätte...“ Seine Stimme brach wieder, und am Ende rief er verzweifelt: „Dr Perez, sagen Sie es ihnen, sagen Sie es...!“
Am anderen Ende der ersten Reihe stand eine Frau mittleren Alters namens Maria Perez langsam auf. Sie räusperte sich, bevor sie vorsichtig zu sprechen begann: „Gestern Abend habe ich auf die Bitte von Mr und Mrs Callahan, da ich die Ärztin der Reh-Hausgemeinschaft bin, ihre Tochter Luscinia untersucht. Meine Untersuchung hat ergeben, dass die junge Ms Callahan schwer unterernährt ist, ihr Blut weist eine Mangelerscheinung an mehreren Vitaminen und Mineralien auf...“
Dr Perez räusperte sich noch einmal und fuhr fort: „Ihr Körper zeigt Hämatome unterschiedlicher Form und Alters, ebenso wie schwere Vernarbungen an ihren Genitalien. Was mich am meisten verwunderte, waren die gemusterten Narben auf ihrem Rücken, an ihren Armen und an ihren Beinen.
Nachdem ich mich mit Schwester Jennesy aus unserer Hausgemeinschaft besprochen habe, zogen wir auch die Doktoren Arend und Newman aus der Delphin und der Bären Hausgemeinschaft hinzu“, sie deutete auf einen Mann und zwei Frauen, die neben ihr saßen. „Gemeinsam kamen wir zu dem Ergebnis, dass diese Narben Brandnarben seien, die nicht das Resultat eines Unfalls sein konnten.
Wir als professionelle Gesundheitsunterstützer haben solche Verletzungen nie zuvor gesehen, und nach eingehender Recherche auf dem Friedensnetz schlug Dr Newman vor, dass diese Verletzungen nur mit Narben verglichen werden konnten, die auf so etwas wie Folter basierten, wie sie in den Dunklen Zeiten durchgeführt worden ist...“
Aus dem Saal konnte man jetzt ein geschocktes Murmeln hören. Die Frau, die neben Mr Callahan saß, eindeutig Luscinias Mutter, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Obwohl kein Laut zu hören war, konnte man deutlich erkennen, wie ihr ganzer Körper unter einem verzweifelten Schluchzen zitterte. Das Gesicht von Mr Callahan hatte alle Farbe verloren. Er sank auf seine Bank zurück, als ob seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten.
Dr Perez hatte sich jetzt auch wieder hingesetzt, genau wir Mr Darby und Ms Paine. Nur Luscinia und Ms Keilar standen noch und waren an der großen Wand sichtbar, die letztere hielt sich an ihrem Pult fest und an der Rolle, die sie ausfüllen musste.
Jetzt stand eine andere Frau aus dem Saal auf. Es war Ms Alba, eine Freundin von Hope's Großmutter.
Sie redete nicht direkt mit Luscinia, stattdessen sprach sie ihren Vater an: „Mr Callahan, ich bin sicher, dass ich für alle Mitglieder des Dorfrats spreche, wenn ich erkläre, dass wir ihre Gefühle über die Verletzungen, die Ihrer Tochter in Orange Country beigebracht wurden, sehr gut verstehen können. Aber wie Ihre Tochter das auch ganz richtig zugegeben hat, so konnten wir nicht wissen, dass so etwas jemals geschehen würde.
Und muss ich Sie wirklich daran erinnern, was im letzten Jahr geschehen ist? Man fand Luscinia Callahan wie sie in ihrem eigenen Blut lag, nachdem sie eine der extremsten Akte des Regelbruches gegen ihr eigenes ungebo...“
Ms Alba schluckte und fuhr fort; „Es gibt kaum ein Dorf außerhalb Orange Country, das so einen Regelbruch nicht als ernsthaft genug betrachten würde, um ihn mit Exil zu bestrafen. Und erinnern Sie sich nicht, was hinterher während der Gerichtsverhandlung geschehen ist? Wie sie nicht die geringste Reue für diese Tat an den Tag legte. Ihr Regelbruch geschah nur zwei Monate, nachdem sie sich selbst zur Erwachsenen erklärt hatte. Und wenn ich das erwähnen darf, dann war diese Erklärung durch das Zeugnis vieler offizieller Stimmen aus Ihrer Hausgemeinschaft legalisiert worden, einschließlich der Ihrer Frau und Ihrer selbst.
Bitte erinnern sich auch daran, dass es während der Gerichtsverhandlung intensive Diskussionen darüber gab, ob man diese Erwachsenen-Erklärung nicht aufheben sollte, und wenn Ihre Tochter auch nur in geringster Weise eine andere Einstellung gezeigt hätte, dann wäre die Entscheidung mit Sicherheit zu ihren Gunsten ausgefallen. Jedoch die absolute Kälte, die sie gegenüber ihrem Regelbruch an den Tag legte, schien eine so intensive Kaltherzigkeit anzuzeigen, dass wir keine Wahl hatten, als dies als Beweis dafür anzusehen, dass sie auch in der Zukunft niemals nach den Regeln unseres Dorfes würde leben können.“
Voller Zorn über diese Rechtfertigung von Ms Alba versuchte Mr Callahan aufzuspringen, jedoch seine Tochter hinderte ihn daran, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legte, ihn direkt ansah und bittend ihren Kopf schüttelte.
Danach antwortete Luscinia Ms Alba selbst: „Sie haben Recht, Ms Alba, ich habe nach außen hin in meiner Gerichtsverhandlung vor dem Dorfrat keine Reue gezeigt. Ich weiß, dass wenn ich mich der Gnade des Gerichts anvertraut hätte, dann wäre das Urteil ein anderes gewesen.
Aber zu der Zeit konnte ich es nicht. Obwohl ich sehr wohl Reue empfand, mehr als Sie sich wahrscheinlich vorstellen können, konnte ich nicht um Vergebung bitten, denn ich glaubte, dass ich weder Gnade noch Vergebung verdiente, für das, was ich getan hatte.“
Mit einem Ausdruck tiefer Trauer sah Luscinia hinunter auf das Kind Natsuki, das sein Gesicht an die Brust des jungen Mannes gedrückt hatte, den Luscinia Jonathan genannt hatte.
Eine einzelne Träne lief Luscinia über ihr Gesicht. Sie trocknete sie mit dem Handrücken und sprach weiter: „Aber etwas ist während des letzten Jahres geschehen, und wir, wir alle drei, sind gemeinsam hier in mein Heimatdorf gekommen, um zu erklären, warum wir davon überzeugt sind, dass keine Frau, gleichgültig, was sie getan hat, es verdient nach Orange Country geschickt zu werden.
In der Tat würde ich sogar sagen, dass niemand in der Welt jemals wieder dorthin geschickt werden sollte, keine Frau und“, Luscinia sah auf den jungen Mann, der sie begleitet hatte, „auch kein Mann. Mit Ihrer Erlaubnis, Ms Keilar, möchte ich jetzt dem Dorfrat den Grund dafür erklären, warum ich das glaube. Und ich würde gern damit beginnen, zu erzählen, was mir in Orange Country widerfahren ist.“
Ms Keilar nickte ihre Zustimmung und mit einem Ausdruck der Erleichterung sank sie zurück auf ihren Sitz.
Luscinia Callahan atmete tief ein und begann mit ihrer Geschichte: „Um Orange Country zu erreichen mussten wir, meine Eltern, ich und Mr Andres, den der Dorfrat als Begleitperson mitgeschickt hatte, viele Male von einer Maglev in die nächste umsteigen. An jeder dieser Stationen mussten wir warten, bis die Container mit den Handelsgütern, die die Dorfgemeinschaft mitgeschickt hatte, auf neue Maglevs umgeladen waren.
Wir brauchten einen ganzen Tag bis wir die Grenze von Orange Country erreicht hatten. Während der ganzen Zeit fühlte ich eine Art Erleichterung, als ob ich mit meinem Dorf und meiner Hausgemeinschaft auch die schlimme Tat zurücklassen könnte, die ich begangen hatte, und den Menschen, der ich gewesen war. Ich dachte, indem ich diesen neuen Ort betrat, würde meine Vergangenheit ausgelöscht werden, und ich könnte ein neues Leben beginnen.
In der letzten halben Stunde, nachdem meine Eltern zurückbleiben mussten, transportierte die Maglev nur noch Leute und Güter, die nach Orange Country geschickt wurden und deren Begleitpersonen. Obwohl die Hälfte dieser Menschen wie ich waren, Exilanten und Regelbrecher, war ich still und redete mit niemandem, und auch die anderen Leute redeten nicht. Als wir schließlich mit der Maglev die Grenzstation erreicht hatten, verließen alle den Zug.
Altmodische Fahrzeuge warteten dort auf die Container mit den Handelswaren. Dort waren Maschinen mit Scannern, die die Container registrierten. Über eine Sprechanlage hörten wir eine krächzende Stimme, die unseren Begleitpersonen die Anweisung gab zurückzubleiben. Sie sollten einige Papiere an der Grenzstation abholen und sie zu ihren Dörfern mitnehmen.
Uns Exilanten wurde befohlen, einer nach dem anderen auf einem engen Weg durch ein kleines Tor zu gehen. Wir gehorchten und begannen hintereinander herzugehen. Ich schätze, dass etwa 200 Exilanten in unserer Gruppe von Neuankömmlingen waren.
Nachdem wir das Land durch das Tor betreten hatten, verkündete Stimme aus dem Lautsprecher: 'Willkommen in Orange Country!'
Danach befahl uns die Stimme alle unsere Taschen, unsere Armband-Kontroller und jegliche Habe, die wir mitgebracht hatten, zurück zu lassen, bevor wir durch einen Scanner hindurchgingen, der sicherstellen würde, dass wir dieser Aufforderung auch Folge leisteten. Alle mitgebrachten Gegenstände seien hier unangebracht und müssten konfisziert werden.
Das einzige, was wir bei uns behalten sollten, seien die Papiere, die unsere Namen bestätigten und die Handelsgüter, die mit uns für unseren Lebensunterhalt mitgeschickt wurden. Schließlich wurde uns befohlen ein riesiges zwölfstöckiges Gebäude genau gegenüber der Grenzmauer zu betreten. Dieses Gebäude hatte zwei Eingänge, Männer sollten den rechten davon und Frauen den linken benutzen.
Im Gebäude wurden wir Frauen dann von einem Mann in Empfang genommen, der uns erklärte, dass in Orange Country Coin-Zähler-Chips in die Handfläche von jedem eingepflanzt werden müssten. Wenn wir für unsere Handelsgüter bezahlt werden wollten, mussten wir uns damit einverstanden erklären. Diese eingepflanzten Chips würden dann digital mit einem neuen Armbandkontroller verbunden, den wir danach erhalten würden.
Ein anderer Chip würde uns ganz oben in den Nacken eingepflanzt werden, gleich neben der Wirbelsäule. Dieses Implantat enthielte einen Ortungscode und diente zu unserer eigenen Sicherheit und der unserer Mitbürger in Orange Country. Es wurde uns erklärt, dass Orange Country ja schon immer eine Nation ohne Regeln und Gesetze gewesen sei, und deshalb bestimmte Maßnahmen getroffen werden mussten, um die Bevölkerung vor Akten der Gewalt gegen Personen oder vor Zerstörung oder Diebstahl ihres Eigentums zu schützen.
Versicherungen würden durch die mit ihnen verbundenen Sicherheitsdienste die körperliche Unversehrtheit und den Besitz aller versicherten Personen schützen. Mit Hilfe dieser Ortungscodes könnte dann jeder geortet werden, der einer versicherten Person oder deren Besitz Schaden zufügte.
Keine von uns protestierte oder verweigerte den Eingriff, denn es wurde uns klargemacht, dass uns ohne diesen das Asyl in Orange Country verweigert würde. Und so stellten wir uns an, um schweigend auf den Arzt zu warten, der diese Eingriffe vornahm, den Schnitt in die Hand und die Injektion in den Nacken.
Danach wurde uns erklärt, dass wir den Chip in der Hand jederzeit entfernen konnten, der im Nacken allerdings könnte von niemandem entfernt werden, außer autorisiertem Sicherheitspersonal. Eine unautorisierte Entfernung würde zu einer kleinen Explosion im Nacken führen, der die Wirbelsäule durchtrennen und höchstwahrscheinlich die kognitiven Fähigkeiten unseres Gehirns zerstören würde. Aber uns wurde versichert, dass es völlig ungefährlich sei, mit diesem Chip zu leben, wenn er in Ruhe gelassen würde.“
Ein geschocktes Geflüster ging durch den Ratssaal, aber Luscinia's Stimme veränderte sich nicht. Ruhig und unpersönlich fuhr sie mit ihrer Erzählung fort: „Nachdem mir der Chip eingepflanzt worden war, wurden darauf 200.000 martialische Coin gutgeschrieben, das ist der Orange-Country Gegenwert für die Handelsgüter, die mir der Dorfrat mitgegeben hatte.
Danach wurden wir von einer Frau zu einem anderen Stockwerk des Gebäudes gebracht, wo eine Lautsprecherstimme uns Frauen aufforderte, dass wir uns ausziehen und all unsere Kleider zurücklassen sollten, denn diese Bekleidung sei unangemessen für weibliche Bürger von Orange Country. Es war eine merkwürdige Anweisung, und trotzdem protestierte auch diesmal keine von uns.
Ich fühlte mich desorientiert und verwirrt, als ob das Leben irreal geworden sei, ein unzusammenhängendes Chaos von Stimmen und Bildern, ohne Verbindung zu irgendetwas, das ich von früher kannte. Es isolierte mich von der Welt und von allen anderen Menschen.
Und so zog ich mich nackt aus, so wie die anderen Frauen es auch taten, um dann die Anweisung zu erhalten durch einen Körperscanner hindurch zu gehen, wo die Maße unserer Körper festgestellt werden sollten, damit wir mit unseren neuen Coins auf unseren Hand-Chips auch die Kleider kaufen konnten, die uns perfekt passten.“
Das Gemurmel im Saal war lauter geworden, doch Luscinia redete ohne Pause weiter, und ihre Zuhörer verstummten wieder.
Nach dem Scannen wurden wir gemäß unserer Maße aufgeteilt, und jede Gruppe wurde von einer anderen Frau in die jeweilige Abteilung des Bekleidungsladens geführt, der auf einem der unteren Stockwerke des Gebäudes gelegen war.
Die Kleider in der Abteilung, in die ich geführt wurde, waren alle von unterschiedlicher Farbe und Stil, aber sie waren auch alle so eng, dass sie sich extrem unbequem anfühlten. Sie waren so kurz, dass sie meine Arme und fast meine ganzen Beine unbedeckt ließen und ebenso den oberen Teil meiner Brüste.
Ich fragte die Frau, die mich begleitet hatte, ob dieser Scanner vielleicht meine Körpermaße falsch kalkuliert hatte. Die Frau, die Interlingua sprach, wie alle anderen Menschen in Orange Country, erklärte mir, dass diese Maschinen in dieser Hinsicht unfehlbar seien, und als Bürgerin von Nephilim City würde es von mir erwartet, mich so zu kleiden.
Ich protestierte nicht mehr, denn ich war nackt.
Nachdem ich mich angezogen hatte, fragte ich die Frau nach ihrem Namen. Sie deutete auf ein kleines Schild, das auf ihrer engen Bekleidung befestigt war. Auf dem Schildchen war eine lange Zahl aufgedruckte.
'Wir benutzen hier keine Namen', erklärte mir die Frau, 'außer wir kennen die andere Person sehr gut und sind mit ihr befreundet'.
Sie sagte mir, dass auch ich mit so einer Nummer identifiziert werden würde. Es sei meine Konto- und Identifikations-Nummer, die auf den beiden Chips in meinem Körper gespeichert sei. Eines Tages, wenn ich einmal Arbeit in der martialischen Coin-Wirtschaft gefunden hätte, müsste ich dort ein ähnliches Schild mit meiner eigenen Nummer auf der Kleidung tragen.
Ich fragte sie nach dem Nephilim City, das sie erwähnt hatte, denn ich hatte noch nie von einem Ort dieses Namens gehört. Sie erklärte, Nephilim City sei das Dorf der Exilanten, das größte Dorf der Welt, gelegen im Zentrum von Orange Country.
Ich versuchte für meine Kleidung auf die Art und Weise zu bezahlen, in der ich es gewohnt war, jedoch die Verkäuferin mit dem Nummern-Namen informierte mich, dass es in Orange Country nicht angebracht war, großzügig zu sein.
Und so erkannte ich, dass sich die Menschen an diesem Ort nicht nur anders kleideten, sondern auch völlig anders Handel betrieben. Und auch wenn ich es in diesem Moment noch nicht verstanden hatte, so erkannte ich nach kurzer Zeit, dass es dort nicht nur unangebracht, sondern so ziemlich unmöglich war großzügig zu sein, wenn man mit deren knappen Coin Handel treiben musste.
Die Frau führte mich zum Aufzug und sagte mir, ich solle nun zum obersten Stock hinauffahren, weil sich dort die Wohnungs-Agenturen befänden.
Als ich in diesem Stockwerk aus dem Aufzug trat, sah ich vor mir einen langen Gang mit vielen Türen. Alle Türen waren identisch, nur dass jede Tür mit zwei anderen Buchstaben und danach dem Wort 'Wohnungsagentur' beschriftet war. Neben jeder Tür war eine Reihe von Stühlen, die fast alle zur Zeit besetzt waren. Ich wählte einen der wenigen freien Stühle neben der Tür mit der Aufschrift: J.G. Wohnungs-Agentur. Und wieder wartete ich darauf, an die Reihe zu kommen.
Als ich hineingerufen wurde, sagte mir ein Mann, an dessen Nummer ich mich nicht erinnern kann, dass er der Wohnungsagent sei. Ohne weitere Erklärungen forderte er mich auf, mich zwischen acht verschiedenen Wohnungen zu entscheiden, die er zur Zeit noch im Angebot hatte. Er öffnete einen Computer und zeigte mir dort nacheinander eine Reihe von Bildern. Sie zeigten das Äußere von Gebäuden und das Innere von Wohnungen, unter denen ich auswählen sollte.
Die Gebäude sahen von außen alle gleich aus, graue Häuserblocks ohne Balkone, die an Straßen ohne Pflanzen und Gewächshäusern standen. Ich fragte den Mann, wie die Leute in diesen Häusern denn ihre Nahrung anbauten. Der Wohnungsagent erklärte mir zu meiner Überraschung, dass in Nephilim City überhaupt keine Nahrung angebaut würde. Die Nahrungsmittel-Versorger seien alles Dörfer außerhalb von Nephilim City.
Die Wohnungen selbst waren hübsch eingerichtet, und die Wände waren mit verschiedenen Farben und Mustern bedeckt. Der Preis für jede Wohnung war immer der Gleiche, ganz genau 180.000 marsianische Coin, erklärte mir der Wohnungsagent. Das schien ein hoher Preis zu sein, der mich den größten Teil der Coin, die ich für die Handelsgüter erhalten hatte, kosten würde.
Aber der Wohnungsagent ließ durchblicken, dass wenn ich in dieser Nacht irgendwo schlafen wollte, ich mich sofort entscheiden müsste. Und so wählte ich irgendeine der Wohnungen aus. Denn inzwischen war ich so müde geworden, dass ich kaum noch einen Unterschied zwischen ihnen sah.
Ich zahlte mit meinem Hand-Chip und bekam zwei Schlüssel ausgehändigt, einen für die Eingangstür zu dem Gebäude und einen anderen für die Wohnungstür. Denn in Orange Country, erklärte mir der Wohnungs-Agent, müssten aus versicherungstechnischen Gründen alle Türen immer fest verschlossen sein.
Der Mann schlug vor, ich solle ein Taxi zu meiner Wohnung nehmen, und er erklärte, das sei ein Transportmittel. Er erklärte mir auch, dass es absolut notwendig für mich sei, mir eine Versicherung für mich selbst und meine Wohnung zu besorgen. Und zwar sollte ich als allererstes am nächsten Morgen zu der Versicherungsagentur gehen, die eine Filiale in derselben Straße hatte, wie mein Häuserblock.
Als ich in meiner neuen Wohnung ankam, fiel ich erschöpft ins Bett. Und als ich nach meiner ersten Nacht in Nephilim City aufwachte, tat ich genau, was mir empfohlen worden war und ging zur Versicherungsagentur am Ende meiner Straße, um dort eine Versicherung abzuschließen.
Vor dem Büro stand ein großes Schild mit der Aufschrift J.G. Versicherungs-Agentur. Im Büro saßen mehrere Männer, jeder von ihnen hatte einen großen Schreibtisch. Einer der Versicherungsagenten redete mit mir, ich kann mich wieder nicht an dessen Nummer erinnern. Er erklärte mir, dass es absolut notwendig für mich sei, eine Versicherungs-Police für mich und meinen Besitz zu erwerben. Allerdings sei der persönliche Sicherheitsbedarf für eine Frau weit höher als für einen Mann, weshalb die Gebühren dann auch entsprechend höher seien.
Insgesamt würde eine Versicherungs-Police für fünf Jahre mich 250.000 marsianische Coin kosten, und er erklärte, dass diese Gebühren im voraus entrichtet werden mussten. Völlig verwirrt erklärte ich dem Agenten, dass ich gar nicht so viele Coin erhalten hatte, als ich angekommen war, und dass ich den Großteil davon bereits für meine Wohnung ausgegeben hatte, und nur noch ein kleiner Teil übrig sei.
Der Mann nickte, er schien das bereits gewusst zu haben. Und dann schlug er mir eine Alternative vor: Ich könnte mich für eines der Venus Projekte verpflichten. Eine Filiale der J.G. Venus Projekte sei bequemerweise direkt um die Ecke gelegen, nur einen Katzensprung von der Versicherungsagentur und meinem Häuserblock entfernt.
Mit dem üblichen Fünf-Jahres-Vertrag, den sie anboten, würde ich gleichzeitig ein komplettes Fünf-Jahres-Versicherungspaket für meinen Besitz und sogar einen lebenslänglichen Schutz für meine Person erhalten. Der Agent erklärte mir, wie groß die Vorteile seien, wenn ich einen Vertrag bei einem Venus-Projekt abschloss. Dieser Vertrag würde mich während der gesamten Laufzeit völlig unabhängig von der marsianischen Coin-Wirtschaft machen. Außer der Versicherungs-Police würden auch alle meine Bedürfnisse und Wünsche dort erfüllt werden, ohne dass ich je Coin benutzen müsste.
Also ging ich um die Ecke, um mir, zum ersten Mal, das J.G. Venus Projekt anzuschauen.
Das Haus war völlig anders gebaut, als alle anderen Häuser in der Nachbarschaft. Zum einen, war es nicht grau. Es war rosenfarben mit goldenen Bögen über dem Eingang und über den bogenförmigen Fenstern. Ein Springbrunnen in Form einer Lilie stand in der Mitte des Hofes vor dem Gebäude. Wasser fiel aus einem bogenförmigen Sprengler auf die Statue einer kaum bekleideten schlafenden Frau in dem Lilien-Brunnen.
Während ich das Gebäude betrachtete, betrat ein Mann es gerade, und ich folgte ihm hinein. Von der Eingangshalle aus ging er sofort zu einer Tür auf der linken Seite. Als ich ihm folgen wollte, wurde ich von einem anderen Mann abgefangen. Dieser begrüßte mich freundlich und stellte sich als Manager des J.G. Venus Projekts auf der 97. Straße vor. An seine Nummer erinnere ich mich gut, sie lautete 1.487.357. Er führte mich durch eine Tür nach rechts zu seinem Büro.
Nachdem er mir einen Platz angeboten hatte, hieß er mich noch einmal im Projekt willkommen. Er sagte mir, wie froh er sei, dass ich genau diese Filiale ausgesucht hätte. Er erklärte mir, dass hier, wie in jedem Venus Projekt, die Entwicklung des vollen Potentials der weiblichen Mitglieder unserer Spezies oberste Priorität aller Anstrengungen sei.
Er erklärte mir auch, dass anders als in der marsianischen Coin-Wirtschaft man hier freundlich zu Frauen sei. All die Bedürfnisse und Sehnsüchte einer Frau würden hier erfüllt werden. Jede Frau, die hier arbeitete, würde befreit sein von allen Sorgen um ihre Gesundheitsversorgung und ihren Lebensunterhalt. Frei von all diesen Sorgen könnte sie sich ganz darauf konzentrieren, ihre natürlichen Talente aufs beste weiterzuentwickeln.
Nach dieser Einführungsrede begann Mr 1,487,359 mir die verschiedenen Räume des Projekts zu zeigen. In jedem der größeren Räume waren eine oder mehrere Frauen gerade dabei, auf sonderbare Weise zu tanzen, während Männer ihnen zusahen und jubelten.
Die Tänze, die sie vorführten, hatte ich nie zuvor gesehen, und sie fanden auch an ungewöhnlichen Bühnen statt. Eine Frau sah ich innerhalb eines Käfigs tanzen, der mitten im Raum von der Decke hing. In zwei anderen Räumen tanzten Frauen um eine Eisenstange herum, die sie entweder mit den Händen oder den Beinen festhielten. In wieder einem anderen Raum tanzten die Frauen noch seltsamer, indem sie die Kleider die sie trugen, die noch kürzer und enger waren als die, die ich am Tag zuvor gekauft hatte, sich Stückchen für Stückchen vom Körper rissen, bis sie völlig nackt dastanden.“
Ein entrüstetes Murmeln konnte jetzt aus dem Saal vernommen werden, aber Luscinia reagierte nicht darauf und fuhr einfach fort mit ihrer Geschichte.
Mr. 1,487,359 erklärte mir, dass in Nephilim City nur eine von fünf Bürgern eine Frau sei, und deshalb seien die Venus Projekte notwendig, um entscheidende Dienstleistungen für die Nation zu erbringen. Diese Projekte erfüllten die Bedürfnisse der männlichen Bürger, während sie den Lebensunterhalt vieler weiblicher Bürger sicherten.
Nachdem wir die größeren, die öffentlichen Räume, wie er sie nannte, verlassen hatten, führte er mich die Treppe hinauf, in einen kleineren Raum, in dem sich gerade niemand aufhielt. Der Raum enthielt ein großes Bett mit seidenen Vorhängen, Spiegel bedeckten die Wände und die Decke. Ich fragte den Manager, welche Funktion dieser Raum hatte, und er erklärte mir, dass diejenigen Kunden, die mehr Coin bezahlten, dort von den Frauen, die einen Vertrag mit dem Projekt unterschrieben hatten, Paarwerdungs-Dienstleistungen erhalten könnten.
Nachdem ich das gehört hatte, erklärte ich dem Manager, dass ich nicht für das Venus Projekt arbeiten wollte.
Der Manager erklärte mir, dass es ihm sehr leid täte, das zu hören, dass es aber in Orange Country natürlich die freie Entscheidung eines jeden einzelnen sei, ob er einen Vertrag unterschrieb oder nicht. Und obwohl er mir jedes Glück der Welt wünschte, befürchtete er doch, dass es für mich ziemlich schwer sein würde, in der marsianischen Coin Wirtschaft eine Arbeit zu finden, die genug einbrächte, um die Kosten für meinen Lebensunterhalt und die Versicherungsprämien bezahlen zu können. Aber wenn ich irgendwann später einmal meine Meinung ändern sollte, dann stünden die Türen dieses Projekts immer für mich offen.
Als ich fortging, hatte ich bereits beschlossen, mir keine Versicherungs-Police zu kaufen. Nach einem Besuch in einem Lebensmittelgeschäft ein paar Häuser weiter, rechnete ich mir aus, dass ich mit dem Rest der Coin auf meinem Chip, wenn ich nur die billigsten Lebensmittel kaufte, noch über ein Jahr auskommen konnte. In der Zwischenzeit, dachte ich, hätte ich längst eine Arbeit gefunden.
Ich machte mir keine Sorgen.
In den nächsten vier Tagen war ich in ganz Nephilim City unterwegs, um mir eine Arbeit zu suchen, wobei ich alte Transportmittel benutzte, die Busse genannt wurden. Und ja, an vielen Restaurants und Geschäften, waren Schilder in den Fenstern, dass sie 'Hilfe' benötigten, was bedeutete, sie brauchten noch jemanden, der dort arbeiten würde. Aber auf fast jedem Schild war darunter geschrieben: Frauen ohne Versicherungsschutz brauchen sich hier nicht zu bewerben.
Ich ging an J.G.-, S.D.,- L.W.,- V.R. und P.R.-Arbeits-Agenturen vorbei. Diese Agenturen helfen Menschen in den großen Produktionsstätten mit denselben Initialen eine Anstellung zu finden. Diese Arbeit würde viel besser bezahlt, wurde mir gesagt. Aber auch hier kamen unversicherte Frauen für keine dieser Arbeitsstellen in Frage. Ich war frustriert, aber immer noch nicht wirklich besorgt. Ein Jahr, so schien es mir, würde mehr als genug Zeit sein, irgendetwas zu finden.
Ich sah auch noch viele andere Filialen des J.G. Venus Projekts, ebenso wie S.K., L.W., V.R. Und P.R. Venus Projekte. Alle Filial-Gebäude des J.G. Venus Projekts sahen gleich aus, während die der anderen Konzerne ein klein wenig anders aussahen. Zum Beispiel waren die Gebäude des P.R.-Venus Projekts rot, gelb und blau angemalt, und deren Springbrunnen vor den Häusern hatte die Form einer großen Muschel, während die Frauenstatue darin in einer sitzenden Position dargestellt wurde. Ich sah auch noch viele andere Versicherungsagenturen des J.G.-Konzerns, die genau wie die der anderen Konzerne gleich neben den Büros der jeweiligen Sicherheitsdienste standen.
Als ich am vierten Abend in meine Wohnung zurückkehrte, bemerkte ich, dass die Tür aufgebrochen war. Alle Möbel, die bereits in der Wohnung waren, als ich sie gekauft hatte, waren demoliert worden, Bett, Couch, Stühle, Tische Regale und der Schrank.
Rote Farbe war überall ausgeschüttet worden. Die Kissen und Decken waren zerfetzt, genau wie die Bilder an der Wand. An der Decke des Wohnzimmers stand mit großen Buchstaben geschrieben: 'DU BRAUCHST EINE VERSICHERUNG!'
Jetzt war ich besorgt.“
Luscinia machte eine kurze Pause, um Atem zu schöpfen und redete dann weiter, wobei der Ton ihrer Stimme immer noch neutral und emotionslos blieb, ohne zu verraten, was sie in Wirklichkeit fühlte.
Ich verbrachte den nächsten Tag wieder mit meiner Suche nach Arbeit, diesmal sehr viel verzweifelter als zuvor, aber immer noch ohne Erfolg. Am Abend fürchtete ich mich davor, in meine zerstörte Wohnung zurückzukehren, aber ich hatte keinen anderen Ort, wohin ich gehen konnte.
Auf den ersten Blick sah meine Wohnung noch genauso aus wie letzte Nacht. Doch plötzlich sah ich einen Mann aus meinem Schlafzimmer kommen. Sein Gesicht war mit einer schwarzen Maske bedeckt, durch die nur noch seine bedrohlichen Augen zu sehen waren.
Ich war starr vor Schreck.
Ein weiterer Mann kam aus dem Schlafzimmer, dann noch einer und schließlich noch einmal zwei, fünf Männer alle zusammen, und alle trugen sie Masken. Ich schrie und drehte mich um, versuchte wegzulaufen, aber es war bereits viel zu spät.
Sie ergriffen mich an der Tür.“
Luscinias Stimme hatte angefangen leicht zu zittern, das Gemurmel im Saal hatte aufgehört. In der absoluten Stille hätte man eine Stecknadel fallen hören. Luscinia fuhr fort zu reden, und das Zittern in ihrer Stimme war genau diese Stecknadel:
Die Männer drückten mich gegen die Tür, und einer nach dem anderen... tat mir Gewalt an.“
Luscinia atmete tief und sagte dann: „Sie fügten mir Schmerzen zu.“
Nach einer weiteren Sekunde fuhr sie fort: „Als der letzte von ihnen fertig war, flüsterte er mir ins Ohr: 'Du brauchst eine Versicherungs-Police'.
Danach ließen sie mich auf den Boden fallen und gingen einfach. Sie warfen die Tür hinter sich zu, aber weil ihr Schloss aufgebrochen worden war, öffnete sie sich gleich wieder.
Ich lag auf dem Boden. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht denken. Ich hatte nicht einmal mehr Angst. Ich hörte Leute, die an meiner Tür vorbeikamen flüstern, sah wie sie mich anstarrten, es war mir gleichgültig. Ich bewegte mich nicht.
Es muss Stunden später gewesen sein, als eine Frau in meine Wohnung kam. Sie sagte kein Wort, ging nur in die Küche und brachte mir ein Glas Wasser. Sie richtete mich auf und gab mir zu trinken. Danach half sie mir aufzustehen, und sie stützte mich, während wir zu ihrer eigenen Wohnung gingen. Die Schmerzen waren so stark, dass ich kaum gehen konnte, aber mir war das gleichgültig.
Sie brachte mich in ihr Schlafzimmer. Wortlos wusch sie mir das Blut von den Beinen und gab mir danach neue Kleider aus ihrem eigenen Schrank. Schließlich sagte sie zu mir, dass ihr Name Nanami Allegri sei.
Dies war das erste Mal seit ich nach Orange Country gekommen war, dass mir irgendjemand seinen wirklichen Namen, statt einer Nummer nannte. Nanami sagte mir, ich solle mich in ihrem Bett ausruhen, während sie ihr kleines Mädchen von den Nachbarn abholte. Sie hatten auf sie aufgepasst, während Nanami die Abendschicht in der Produktionsanlage gearbeitet hatte, und ihr Mann Pedro auf Nachtschicht war.
Als Nanami zurückkam, trug sie ein schlafendes Kind. Sie legte das kleine Mädchen in ein Kinderbett neben ihrem Bett, und dann drückte sie einen Knopf auf einem quadratischen Apparat, der danach ein zischendes Geräusch von sich gab. Sie erklärte mir, dies sei ein Verzerrer, der es allen Stimmen-Abhör-Geräten unmöglich machte, uns abzuhören. Dies würde es uns erlauben, frei zu sprechen. Nanami erklärte mir, dass es keinen Raum in diesem Gebäude oder in irgendeinem anderen Gebäude Nephilim Citys gab, in dem nicht ständig Abhörgeräte liefen. Alle gesprochenen Worte würden aufgenommen und danach würden die 'Daten-ausgewertet'.
Ich war zu müde zu fragen, warum um Himmels willen alle Gespräche in Nephilim City aufgenommen wurden, und was 'Daten-ausgewertet' bedeutet, aber sie erklärte es mir trotzdem.
Sie sagte mir, dass die Sicherheitsdienste in den Gesprächen aller Leute mit Computerprogrammen nach verdächtigen Worten und Ausdrücken suchten, um Angriffe auf Leben oder Besitz versicherter Personen zu verhindern, aber auch Angriffe auf ganz Nephilim City. Aber es würden nur versicherte Personen beschützt werden, und deshalb benötigte jeder Mensch eine Versicherungs-Police, ganz besonders Frauen.
Danach begann sie trotz des Verzerrers zu flüstern, und sie erklärte, dass diese Männer, die mich angegriffen hatten, höchstwahrscheinlich zu einer Gruppe gehörten, die sich selbst 'Schakale' nannten. Ihr offizieller Titel sei: Spezialtruppen für die Sicherheits-Vollstreckung. Sie arbeiteten als Einheiten für alle Sicherheitsdienste gleichzeitig. Ihre offizielle Aufgabe war es, diejenigen zu bestrafen, die sich gegen die Kunden der Agenturen vergingen. Die zweite, geheimere Aufgabe der 'Schakale' war es, dass alle -ganz besonders Frauen- wussten, dass eine Versicherungs-Police notwendig war.
Und am Ende sagte Nanami etwas, das mich beinahe dazu gebracht hätte, aus dem Bett zu springen und wegzulaufen, wenn ich nicht zu schwach gewesen wäre alleine aufzustehen. Sie sagte mir, dass ihr Mann Pedro auch für diese Sicherheitsdienste in ihrem Hauptbüro arbeitete. Er war dort einer, der die Daten auswertete. Aber sie sagte mir auch, dass er diese Arbeit nicht wirklich mochte. Aber es wäre eine Arbeit, die ihm weit mehr Coin einbrachte, als jede andere Arbeit. Und Pedro und Nanami hofften, dass sie so genug Coin sparen konnten, um die Versicherungssumme für ihre Tochter Natsuki aufbringen zu können, wenn diese einmal fällig sein würde, sobald sie zwölf Jahre alt war, so dass Natsuki niemals in einem Venus Projekt arbeiten müsste.
Ich sagte Nanami, dass ich auch nicht in einem Venus Projekt arbeiten wollte.
Sie erwiderte, dass ich wahrscheinlich keine Alternative dazu haben würde. Aber sie erwähnte, dass ein paar der Nahrungs-produzierenden Dörfer außerhalb Nephilim City weiblichen Exilanten hin und wieder Asyl gewährt hatten, aber dass sie es seit einiger Zeit nicht mehr taten.
Sie erklärte mir noch ein paar andere Dinge, aber ich war inzwischen zu erschöpft, um weiter zuzuhören, und schlief ein, während sie redete.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, als ich Nanamis Mann nach Hause kommen hörte. Ich stand schnell auf, um zu gehen, dankte ihr für ihre Freundlichkeit und lehnte das Frühstück ab, das sie mir anbot. Ich wollte nicht mit einem Mann reden oder auch nur in derselben Wohnung mit ihm sein, der für dieselbe Organisation arbeitete, wie die Männer, die mich angegriffen hatten. Aber ich traute mich auch nicht mehr zurück in meine eigene Wohnung.
So ging ich los, um einen Bus zu finden, der mich aus Nephilim City zu einer der Nahrungs- produzierenden Dörfer bringen konnte. Als ich an der Bus-Station ankam, wählte ich einen Bus nach Antonio-Dorf aus, weil der der erste war, der die Stadt verließ. Das Dorf war auch eines der nächsten. Als der Bus am Tor seines Zielortes angekommen war, bemerkte ich, dass Antonio-Dorf fast völlig von einer hohen Mauer umgeben war.
Am Tor stieg ein Mann in den Bus, der einen kleinen Scanner in der Hand hielt. Er kontrollierte die Hand-Chips aller Passagiere, die er nicht persönlich kannte. Als er meine Hand gescannt hatte, befahl er mir den Bus zu verlassen, da ich keine Aufenthaltserlaubnis hätte.
Ich fragte den Mann, wie ich so eine Aufenthaltserlaubnis bekommen könnte, und er erklärte mir, dass eine unversicherte Person so eine Erlaubnis niemals erhalten würde. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich in Antonio-Dorf Asyl beantragen wollte. Er antwortete mir nicht und packte mich einfach am Arm und führte mich so aus dem Bus. Anschließend hielt er mich so lange fest, bis der Bus durch das Tor gefahren war und es sich hinter ihm wieder geschlossen hatte. Dann erklärte er mir, dass ich hier so lange warten müsste, bis der Bus wieder zurückkam. Danach könnte ich wieder nach Nephilim City zurückkehren.
Nach diesen abschließenden Worten verschwand er in einer kleinen Hütte neben dem Tor und schloss die Tür hinter sich. Ich begann mit den Fäusten an die Tür zu hämmern, und rief und bettelte, dass er mir erlauben sollte, mit irgendjemandem der Dorfleute zu sprechen, und ich wiederholte mein Asyl-Begehren immer und immer wieder.
Schließlich kam eine Frau durch das Tor. Ihr Name sei Sally, stellte sie sich mir vor. Und dann erklärte sie mir, warum Antonio-Dorf keinen Exilanten-Frauen mehr Asyl gewähren konnte.
Sie hatten es ein paar Mal getan, aus Mitleid für die Frauen, die an ihr Tor geklopft hatten. Aber eines Tages, vor einem halben Jahr etwa, waren Sicherheitsvollstrecker am Tor erschienen. Sie hatten es mit einer starken Explosion aufgesprengt und dabei den Torhüter, der gerade Dienst hatte, schwer verletzt.
Die Vollstrecker scannten das ganze Dorf nach den Ortungs-Codes der Exilanten-Frauen und zerrten diese dann aus den Häusern, zusammen mit einigen jungen Mädchen aus dem Dorf, nachdem sie ihnen Gewalt angetan hatten.
Den Dorfbewohnern wurde gesagt, dass alle Exilanten Nephilim City gehörten, und wenn sie jemals wieder Exilanten in ihrem Dorf beherbergten, dann würden ihre eigenen Mädchen nach Nephilim City verschleppt werden.
Dann weinte Sally nur noch. Am Ende schaffte sie es, mit erstickter Stimme zu erklären, dass eines der Mädchen, der Gewalt angetan worden war, ihre eigene Tochter gewesen war. Danach flüchtete sie zurück hinter die Mauer, während ich hoffnungslos davor stand und darauf wartete, dass der Bus mich wieder nach Nephilim City brachte.
Als ich in meiner Straße ankam, ging ich nicht nach Hause. Stattdessen ging ich um die Ecke in das Haus mit dem Lilien-Brunnen davor und unterschrieb einen Fünf-Jahres-Vertrag.“
Luscinia atmete aus und ließ das Pult los, vielleicht als Zeichen der totalen Niederlage oder auch nur der völligen Erschöpfung. Das Murmeln unter den Zuhörern wurde wieder hörbar, aber Luscinias Geschichte war längst noch nicht beendet. Sie spannte wieder ihre Schultern und griff nach dem Pult. Dann fuhr sie in einer Stimme fort, die sie bewusst ruhig und gefasst hielt:
Am ersten Tag der Arbeit wurde mir gesagt, dass ich meinen Armbandcontroller bei den Sicherheitsvollstreckern am Eingang lassen musste. Dann wurde mir ein Schildchen übergeben, das ich auf meiner Kleidung befestigen sollte. Auf dem war keine Nummer zu lesen war, sondern ein Name. Aber es war nicht mein Name.
Die Namen, die den Frauen gegeben wurden, die in dem Venus Projekt arbeiteten, endeten alle auf Y, wie Hussy, Tiffy, Slutty und Bunny. Ich wurde Candy genannt. Drei andere Candies arbeiteten im selben Haus, ebenso wie vier verschiedene Hussies und sechs Bunnies, meistens jedoch in unterschiedlichen Schichten.
Mir wurde beigebracht, wie ich mein Gesicht und meine Nägel anmalen sollte, und wie ich gehen und sprechen sollte. Eine Zeit lang war das allerdings schwierig, Hussy-3 und Bunny-2 nannten mich 'prüde', was das schlimmste Schimpfwort war, das gegen eine Frau im Venus Projekt verwendet werden konnte.
Während der ersten paar Wochen musste ich viele Stunden im Keller des Gebäudes verbringen, wo die Krankenräume und Lernzellen angesiedelt waren. In den Lernzellen wurde ich von einer weiblichen Stimme unterrichtet, während sanfte Musik im Hintergrund spielte und Bilder von Männern und Frauen auf einen Schirm projiziert wurden. Die Stimme erklärte, dass es die höchste und natürlichste Aufgabe einer Frau sei, das Verlangen von Männern zu erwecken. Ihr Haltung, ihre Stimme, der Stil ihre Kleidung und all ihre Bewegungen müssten auf dieses einzige Ziel abgestimmt werden.
Nach einiger Zeit begann ich zu glauben, was mir dort als der Sinn und Zweck, eine Frau zu sein, vermittelt wurde. Immer mehr gewöhnte ich mich an die Dinge, die ich bei meiner Arbeit tun musste. Mit der Zeit begann ich sogar mit den anderen darin zu konkurrieren, wie man am besten die Aufmerksam der Kunden erregte. Es war inzwischen eine andere, neu hinzu gekommene Exilantin, der das Attribut 'prüde' zugedacht wurde.
Materiell wurde ich gut versorgt. Der Manager engagierte Arbeiter, die meine Wohnung reparierten und sie in den Farben anmalten, die ich mir selbst auswählen durfte. Wenn ich meine Venus-Vertragskarte benutzte, konnte ich in jedem J.G. Kaufhaus Lebensmittel, Kleidung oder Möbel bekommen. Ich konnte alles mitnehmen, was ich wollte, auch dekorative Objekte für mich oder meine Wohnung.
Jede Woche besuchte ein Arzt das Projekt, um jede Frau nach Krankheiten zu untersuchen, und uns Medikamente zu geben oder auch Injektionen, damit wir nicht schwanger würden. Die Medikamente und Injektionen verursachten erst einmal Übelkeit, aber uns wurde gesagt, dass sie notwendig seien.
Die Kunden, für die wir tanzten oder andere Dienstleistungen erbringen mussten, waren meist laut und unhöflich. Die meisten rochen auch nach alkoholischen Getränken. Einige von ihnen benahmen sich wie geistesgestört. Tiffy-1 erzählte mir, dass einige von denen, die sich verrückt benahmen, von einer Substanz konsumiert hatten, die Crack genannt wurde.
Sie schlug vor, ich sollte meine Kunden fragen, ob sie mir etwas von dieser Substanz abgeben würden. Ich fragte sie, warum ich mir wünschen sollte, mich genau so verrückt zu benehmen, wie diese Kunden, und sie meinte, die Substanz würde einem helfen, sich besser zu fühlen. Tiffy und einige andere Frauen, ließen sich augenscheinlich oft helfen, sich besser zu fühlen, aber ich dachte, dass es sie jedes Mal schlechter aussehen ließ.
Eines Tages sah mich ein reicher Kunde tanzen, und er verlangte danach, mich exklusiv für seine Dienste buchen zu können. Der Manager erklärte mir, dass es eine große Ehre sei, von so einem einflussreichen Kunden ausgewählt zu werden. Jetzt müsste ich nicht mehr für anderen Kunden tanzen oder Dienstleistungen übernehmen, und die anderen Frauen würden mich darum beneiden, einen so besonderen Kunden ergattert zu haben.
Nachdem ich den ersten Tag mit diesem reichen Kunden, den ich Mr X nennen sollte, verbracht hatte, bettelte ich den Manager an, mich in die öffentlichen Räume zurück zu bringen. Jedoch der Manager weigerte sich, und erklärte mir, dass ich in dieser Sache keine Wahl hätte, da ich ja einen Vertrag mit dem Projekt unterschrieben hatte. Und laut dieses Vertrags seien alle Dienste mit eingeschlossen, für die ein Kunde bezahlte.
Als Mr X hörte, dass ich gebeten hatte, nicht mehr in seinen exklusiven Diensten stehen zu müssen, da fügte er mir mehr Gewalt zu, als ich je zuvor erfahren hatte und hinterließ danach auf mir die ersten der Mahle, von denen Dr Perez dem Dorfrat berichtet hat. Mr X drohte mir, dass es noch schlimmer kommen würde, wenn ich je wieder mit jemandem über ihn sprach. Und falls ich vorhatte wegzulaufen, dann sollte ich wissen, dass ich mich nirgendwo verstecken könne. Innerhalb von Stunden würde man mich finden und töten.“
Jetzt war ein kollektives geschocktes Atmen aus dem Saal zu hören. Und zum ersten Mal nahm Hope ihre Augen vom Schirm. Sie sah sich um und bemerkte, dass Marcella beide Hände vor den Mund hielt, um einen Schrei zu unterdrücken. Mit Ausnahme von Jennys kleinen Brüdern, die auf dem Teppich eingeschlafen waren, waren alle im Zimmer so blass geworden wie Geister, die Mädchen und die Jungen. Niemand sprach ein Wort.
Unten im Ratssaal fuhr Luscinia mit ihrer Geschichte fort:
Als er mir sagte, dass er mich töten lassen würde, war ich nicht sicher, ob ich überhaupt am Leben bleiben wollte. Eine Zeit lang hörte ich auf zu essen, außer an den Tagen, wo er mich zu einem Restaurantbesuch mit ihm abholte. Dreimal in der Woche kam Mr X zum Venus Projekt, um mich in seinem Fahrzeug mit den dunklen Fenstern abzuholen.
Es war jedes Mal dieselbe Routine: In dem Fahrzeug musste ich mich umziehen, und mich in eine glitzernde Bekleidung und goldene Zehenspitzenschuhe zwängen. Wie alle Kleidung in Nephilim City, so war auch diese extrem eng und ließ meine Arme, einen Teil meiner Brust und diesmal sogar meinen Rücken unbedeckt. Und obwohl es meine Beine bis zum Fußgelenk bedeckte, war der Unterteil des Kleidungsstücks an der rechten Seite bis zur Hüfte hin aufgeschnitten, so dass mein rechtes Bein immer unbedeckt war, wenn ich in den Zehenspitzen-Schuhen gehen musste. Über meine Hand- und Fußgelenke und um meinen Hals musste ich Zierketten mit glitzernden Steinen tragen.
Die Kleidung war auch mit Glitzersteinen bedeckt, aber diese Steine seien aus Glas, informierte mich Mr X, während die Steine auf den Zier-Ketten einen höheren Wert hätten als zehn Frauen so wie ich eine bin. Für mich sahen alle diese Glitzersteine allerdings gleich aus.
Die Restaurants, in die mich Mr X führte, waren genauso glitzernd wie die Kleider, die ich tragen musste. Von den Dekorationen an den Wänden und an der Decke, bis zu denen auf den Tischen, alles glitzerte.
Die Männer, die an den anderen Tischen saßen, schienen alle Mr X zu kennen. Wie er hatten sie auch Frauen wie mich bei sich, die auch ähnliche Kleidung trugen und ähnliche Zierketten um den Hals. Oft redeten die Männer mit Mr X, wobei sie mich dann mit abschätzenden Blicken ansahen, und danach Mr X für seine Wahl gratulierten. Wie ich, so haben auch die anderen Frauen, die bei diesen Männern saßen, kein Wort geredet.
Nachdem wir gegessen hatten, führte mich Mr X in ein Stockwerk über dem Restaurant, wo ein großes Bett stand. Dort sahen wir dann auf einem Bildschirm jedes Mal zwei Bildergeschichten aus den Dunklen Zeiten, eine nach der anderen, und jedes Mal andere. In der ersten Geschichte erschossen Dunkle-Zeiten-Leute andere Dunkle-Zeiten-Leute oder sprengten sie in die Luft, dann lachten sie über die Dinge, die sie getan hatten, und bewunderten diejenigen, welche die meisten Leute getötet hatten. Mr X zwang mich sogar Geschichten über einen Mann namens Hannibal anzusehen, der zuerst Menschen tötete und dann seine Opfer aufaß.“
In diesem Moment bemerkte Hope, wie Marcella aus ihrem Sessel sprang und aus dem Zimmer lief. Hope wusste genau warum, denn sie spürte dieselbe Übelkeit auch. Trotzdem konnte sie ihre Augen nicht vom Schirm abwenden, sie musste in entsetzter Faszination weiter zuhören.
Luscinia unten im Gemeindesaal fuhr mit neutraler Stimme fort:
Die jeweils zweite Geschichte, die mich Mr X zwang mit ihm anzuschauen, und er schlug mich immer dann, wenn ich auch nur versuchte meine Augen zu schließen oder meine Ohren zu bedecken, war sogar noch schlimmer als die erste. Auch wenn es jedes Mal eine andere Geschichte war, so begannen sie immer ähnlich. Männer belegten Frauen mit hässlichen Namen und zogen sie dann an den Haaren schrien sie an. Danach taten sie unaussprechliche Dinge mit den Frauen ... schmerzhafte Dinge für den Körper und die Seele...
Nachdem er diese Geschichten angeschaut hatte, tat Mr X dann das mit mir, was er in den Geschichten gesehen hatte...“
Luscinia hielt inne, atmete tief ein und danach, wobei ein leichtes Zittern in ihrer Stimme blieb, das ungewollt ihre Gefühle verriet, fuhr sie fort:
Einmal habe ich Mr X gefragt, warum er mir diese Dinge antat. Er antwortete, dass dies die Art und Weise wäre, wie man Frauen behandeln müsse. Entweder Männer dominierten die Frauen oder sie würden von ihnen dominiert. Nachdem Mr X dann fertig damit war, mir Gewalt anzutun, brachte er mich zum Projekt zurück.
Nach dem zweiten Mal, war ich bereit zu sterben, und ich wäre wohl gestorben, wenn es nicht für eine Frau im Venus Projekt gewesen wäre. Ihr Name war Inessa- und ja, das war ihr richtiger Name.“
Luscinias Stimme, die sie absichtlich mit einer künstlichen Objektivität unpersönlich gehalten hatte, wurde wärmer und sanfter:
Die meisten Frauen sprachen von Inessa nur als von der 'Kranken unten im Keller' oder von der 'mit dem lebenslänglichen Vertrag'. Und ja, sie war die einzige Frau, die einen unbegrenzten Vertrag hatte. Sie war so an diesen Vertrag gebunden, dass sie nicht einmal das Projekt verlassen durfte, und es seit 15 Jahren auch nicht mehr verlassen hatte.
Wenn sie versuchen würde durch Türen oder Fenster zu entkommen, würde ein Sicherheitsalarm losgehen, war mir gesagt worden. Der Alarm sei mit dem Ortungscode in ihrem Nacken verbunden. Doch sie hatte schon viele Jahre nicht mehr versucht wegzulaufen.“
Jetzt war Traurigkeit in Luscinias Ton zu hören:
Als ich Inessa zum ersten Mal traf, war sie schon schwer krank. Die Medizin, die uns Frauen gegen die Krankheiten verschrieben wurden, die wir durch die Arbeit im Projekt bekamen, wirkte für Inessa nicht mehr. Sie hatte zu viele Jahre dort gearbeitet. Jetzt konnte Inessa kaum noch ihr Bett verlassen, und um zum Badezimmer zu gehen, brauchte sie Hilfe.
Seit einer Weile schon hatten sich die Frauen im Projekt dabei abgewechselt, sich um Inessa zu kümmern. Aber nachdem ich nichts anderes mehr zu tun hatte, als darauf zu warten, von Mr X abgeholt zu werden, war dies jetzt beinahe ganz meine Aufgabe geworden.
Und obwohl Inessa so krank war, war sie doch eine gute Zuhörerin. Als ich ihr sagte, dass ich sterben wollte, sagte sie mir: 'Du musst überleben, bis du eines Tages aus dem Projekt herauskommst.“
Luscinia atmete tief ein und fuhr fort: „Als ich ihr sagte, ich könne es nicht mehr ertragen, sagte sie mir: 'Mr X wird dich bald Leid sein, und dann ist das Schlimmste überstanden'.“
Luscinia atmete noch einmal tief: „Und am Ende sagte sie mir, dass ich beten sollte. Ich antwortete ihr, dass da kein Gott sei, zu dem ich beten könnte, denn Nephilim City sei die Hölle. Und sie antwortete: 'Kein Ort existiert, wo Gott nicht ist'...“
Luscinia schüttelte in sanfter Verwunderung ihren Kopf: „Ich konnte nicht verstehen, dass sie immer noch an etwas glauben konnte, nach all dem, was ihr angetan worden war.“
Nach einer kurzen Pause und immer noch kopfschüttelnd fuhr Luscinia fort: „Sie hätte einen Sohn, erzählte sie mir, einen Sohn namens Jonathan. Als der Junge fünf Jahre alt gewesen war, hatte ihr Ehemann sie gewaltsam in das Projekt gebracht und darauf bestanden, dass sie einen lebenslangen Vertrag erhielt und das Gebäude nicht verlassen durfte.
Nachdem sie mehrfach versucht hatte zu fliehen, wurde sie in ihrem Zimmer angekettet. Bestimmte Sorten von Männern, fühlten sich angezogen von ihrer Hilflosigkeit. Männer wie Mr X kannte sie nur zu gut. Später wurden die Ketten durch den elektronischen Alarm ersetzt. Und trotz all dem glaubte sie immer noch, dass sie eines Tages ihren Sohn wieder sehen würde, und obwohl dieser bei seinem Vater aufgewachsen war, würde er trotzdem nicht so sein wie sein Vater.
Und sie sagte dann auch noch, wenn ich die Hoffnung nicht aufgäbe, dann würde ich eines Tages Orange Country verlassen und in mein Heimatdorf zurückkehren...
Wir alle im Projekt wussten, dass Inessa bald sterben würde.“ Wieder war Traurigkeit in Luscinia's Stimme getreten. „Sie war ein so erbarmungswürdiges Wesen, und doch war sie unglaublich freundlich. Ich wollte sie nicht aufregen, obwohl ich sicher war, dass diese Wunschträume niemals wahr werden würden. Und um sie glücklich zu machen, tat ich so, als ob ich an diese Trugbilder glaubte, die sie sich selbst ausmalte.“
Jetzt machte Luscinia eine längere Pause, bevor sie voll Verwunderung in der Stimmer weiter redete:
Aber sie hatte Recht, und ich lag falsch. Eines Tages kam Inessa's Sohn Jonathan in das Projekt, nachdem er sie 15 Jahre lang nicht gesehen hatte. Und er war tatsächlich nicht wie sein Vater.“
Luscinia schüttelte noch einmal den Kopf und sah voll Bewunderung auf den jungen Mann hinunter, der neben ihr saß und das inzwischen eingeschlafene Kind im Arm hielt.
Von jenem Tag an kam Jonathan jeden Abend und saß stundenlang neben seiner Mutter. Er bezahlte dem Manager viele Coin, damit er seine Besuche vor dem Eigentümer des Projekts, John Galt, Jonathans Vater und Inessas Ehemann, geheim hielt.
Drei Wochen später starb Inessa. Doch vorher sagte sie Jonathan und mir immer wieder, dass wir einen Weg finden müssten, um Orange Country zu verlassen.“
Luscinia machte eine weitere lange Pause, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Aber die Heiserkeit in ihrer Kehle konnte sie nicht verbergen.
Das taten wir. Wir benutzten eine Karte der Kanalisation von Nephilim City, und Jonathan fand einen Ort, wo diese am Nächsten an die große Mauer heranreichte. Von dort aus konnte er einen Tunnel unter der Mauer hindurch bauen. Er brauchte zwei Monate dafür.
Irgendwann während des ersten Monats wurde Inessa's andere Vorhersage wahr. Mr X verlor sein Interesse an mir. Jetzt konnte Jonathan den Manager bezahlen, und mich exklusiv für sich selbst haben, weg von den anderen Kunden, aber Jonathan wollte keine Dienstleistungen von mir. Jeden Tag kam er zum Projekt, um mir zu erzählen, welche Fortschritte er beim Tunnel-Graben hatte. In den letzten paar Wochen, bin ich mit ihm gegangen, um ihm zu helfen.
Aber er konnte nicht seine ganze Zeit fürs Graben verwenden, denn er musste immer noch die Arbeit als Assistent seines Vaters machen, um keinen Verdacht zu erwecken. Er dachte, dass er alles unter Kontrolle hätte, aber wir beide hatten die Abhörgeräte vergessen.“
Luscinia atmete tief ein.
Eines Tages, als ich nach Hause in meine Wohnung kam, erwartete mich meine Nachbarin Nanami vor der Tür und bat mich sie zu besuchen. Sie lud mich in ihr Schlafzimmer ein, wo sie den Verzerrer anstellte.
Zu meinem großen Schrecken erzählte sie mir dann, dass sie und ihr Mann Pedro genau wüssten, was Jonathan und ich geplant hätten. Wie überall, so waren auch im Venus Projekt Abhörgeräte installiert, und einige unserer Worte, hatten einen Alarm ausgelöst. Glücklicherweise, war dieses Projekt in dem Datenauswertungs-Distrikt von Nanamis Ehemann. Und er hatte beschlossen seine Vorgesetzten nicht zu informieren. Stattdessen verlangten er und Nanami von uns, dass wir etwas für sie tun sollten. Nämlich ihre kleine Tochter Natsuki mitnehmen.
Ich traute beinahe meinen Ohren nicht. Ich wusste wie sehr Nanami ihre Tochter liebte, und fragte sie entsetzt: Warum, um Himmels willen?
Und dann erzählte sie mir unter Tränen, dass die Versicherungsagenturen ganz plötzlich die Versicherungsbeiträge für Mädchen zwischen 12 und 25 Jahren erhöht hätten. Und wie sehr sie es auch versuchen würden, so könnten Pedro und sie diese Summe niemals aufbringen. Und darum würden sie Natsuki nicht vor dem Venus Projekt schützen können. Genau wie alle anderen Frauen in den letzten dreißig Jahren, so hatte auch Nanami dort gearbeitet... und sie hatte dort auch Kunden wie Mr X getroffen. Diese schreckliche Lebenserfahrung wollte sie ihrer Tochter ersparen.
Deshalb beschlossen sie und Pedro, Natsuki mit mir und Jonathan in die äußere Welt zu schicken. Ich fragte sie, warum sie und ihr Mann uns nicht begleiteten, aber Nanami war überzeugt davon, dass ihre Heimatdörfer ihnen eine Rückkehr nicht erlauben würden. Aber Natsuki war unschuldig, ihre würde das Asyl sicher nicht verweigert werden.
Zwei Tage später beendete Jonathan den Tunnel. Nanami und Pedro meldeten ihre Tochter als verstorben und ließen einen leeren Sarg kremieren. Pedro hatte das Gerät besorgt, mit dem man die Chips deaktivierte und einen Arzt gefunden, der den Ortungs-Chip entfernen konnte. Der Arzt redete nicht viel, und ich habe seinen Namen nie erfahren, nicht einmal seine Nummer. Aber er führte in Nanamis Schlafzimmer die Operationen aus und entfernte die Chips in meinem Nacken und meiner Hand. Mit diesen Chips konnte mich der Projekt Manager, der durch Drohungen und Bestechung dazu gebracht worden war, als verstorben melden, in dem er die Chips zur Grenzstation schickte und einen Sarg mit einem Tierkadaver verbrennen ließ.
Der Gedanke, dass inzwischen so viele Menschen von unseren Plänen wussten, machte mir Angst, aber Nanami sagte, dass ich ihnen vertrauen müsste.“
Luscinia schüttelte nun den Kopf und erklärte: „Seit ich in Orange Country lebte, war meine Fähigkeit zu vertrauen fast verloren gegangen. Um sicher zu gehen, dass Natsuki und ich nicht vermisst wurden, waren all diese Maßnahmen unabdingbar, darüber waren wir uns alle einig. Deshalb zwang ich mich, meine Angst zu unterdrücken.
Am Tag vor unserer Flucht, erklärte Jonathan seinem Vater, dass er auf einen dreiwöchigen Urlaub in eines der Dörfer am Meer gehen würde. Sein Vater akzeptierte diese Erklärung für seine zeitweilige Abwesenheit und sagte, er hoffe, dass Jonathan nach seiner Rückkehr wohl genug ausgeruht sein würde, um härter zu arbeiten, als er es in den letzten Monaten getan hätte.
Am Abend der Flucht holte Jonathan mich und Natsuki aus meiner Wohnung ab. Nanami hatte ihrer Tochter ein Schlafmittel gegeben, damit sie unterwegs schlief und nicht weinen würde. Dann übergab sie sie mir und küsste sie zum Schluss noch einmal zum Abschied. Dann verließ sie unter Tränen meine Wohnung..
Jonathan nahm dann Natsuki auf den Arm, und ich trug den Projektor und ein Bündel mit Kleidern, die ich aus den Vorhängen meiner Wohnung genäht hatte. Denn die Kleidung von Nephilim City zu tragen, wäre in der äußeren Welt viel zu auffällig gewesen, selbst an anderen Orten als Spesaeterna.
Wir gingen zu Fuß dahin, wo man in die Kanalisation hinunterklettern konnte. Obwohl Jonathan ein kleines Transport-Fahrzeug besitzt, das er benutzt hatte, als er den Tunnel baute, wussten wir, dass wir es nicht riskieren konnten, das Fahrzeug in Nephilim City geparkt zu lassen, da er doch in einem der Meeresdörfer sein sollte. Wir kletterten in die Kanalisation, und nach ein paar Kilometern kletterten wir dann durch Jonathans engen Tunnel. Nachdem wir auf der anderen Seite herausgekommen waren, wechselte ich die Kleidung.
Wir baten die Menschen im nächsten Dorf, uns zu helfen, damit wir die Maglev benutzen konnten, und wir erzählten ihnen die Wahrheit über Orange Country. Die Dorfbewohner waren nicht sicher, was sie tun sollten, aber als sie die kleine Natsuki sahen und von dem Venus Projekt hörten, hatte eine älteres Ehepaar, Henry und Lea Bower, Mitleid mit uns. Sie kauften uns Fahrkarten für die Reise nach Spesaeterna. Und so sind wir am Ende hier angekommen.“
Luscinia machte eine Pause, und man konnte ein lauter werdendes Gemurmel hören. Ms Keilar war schon halb aufgestanden, als Luscinia ihren Kopf schüttelte und entschuldigend noch einmal begann:
Mit Ihrer Erlaubnis, Ms Keilar, möchte ich bitten, dass Jonathan auch noch reden darf. Ich glaube, was er über Nephilim City zu sagen hat, ist wahrscheinlich noch wichtiger, als das, was ich Ihnen bis jetzt erzählt habe.“
Ms Keilar nickte, um anzuzeigen, dass die Erlaubnis gewährt war, und Luscinia setzte sich hin. Jonathan legte ihr nun die schlafende Natsuki in die Arme und stand auf.
Als das Pult auch aufgestiegen war, räusperte er sich und begann zu sprechen: „Mein Name ist Jonathan Galt, und ich bin der Sohn von Inessa Stakova und John Galt.
Als ich fünf Jahre alt war, sagte mir mein Vater, dass meine Mutter gestorben sei. Und während ich das das überhaupt nicht begreifen konnte, präsentierte er mir Mr Tanner, der von nun an mein Lehrer sein sollte.
Als ich acht Jahre alt war, begann Mr Tanner, ohne dass mein Vater es mitbekam, mir Lektionen zu geben, die anders waren als das, was mein Vater mich lehrte. Diese heimlichen Lektionen handelten von dem, was in Orange Country die 'äußere Welt' genannt wird, und wie die Menschen dort lebten und was sie glaubten. Obwohl ich meinen Vater als Kind liebte und bewunderte, vertraute ich nach und nach Mr Tanner viel mehr.
Als ich 15 Jahre alt war, wurde Mr Tanner als mein Lehrer entlassen und mein Vater übernahm meine Erziehung selbst. Er bildete mich auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern aus, und ließ mich an seinen wissenschaftlichen Projekten als sein Assistent arbeiten.
Vor drei Monaten traf ich Mr Tanner wieder, und er erzählte mir, dass meine Mutter noch am Leben sei, und in einem Venus Projekt meines Vaters gefangen gehalten wurde. Wie Luscinia es Ihnen bereits berichtet hat, starb meine Mutter kurze Zeit später.
Eine Woche danach führte mich mein Vater in die Transhumanistische Gesellschaft ein. Dort erfuhr ich, was für unvergleichlich bösartige und gefährliche Männer er und seine Freunde tatsächlich sind.
Da Sie mich hier in Spesaeterna nicht kennen, kann ich nicht von Ihnen erwarten, dass sie allein meinen Worten glauben. Aber ich weiß mit Sicherheit, dass es lebenswichtig für Sie alle hier und für die gesamte äußere Welt ist, zu erfahren, was in diesen Laboratorien von Nephilim City wirklich geschieht.
Deshalb habe ich, bevor ich Nephilim City verlassen habe, eine audio-visuelle Aufnahme gemacht, die ich Ihnen zeigen möchte. Die Aufnahme enthält eine Rede, die auf der letzten Versammlung der Transhumanistischen Gesellschaft im letzten Monat gehalten wurde.
Ich habe auch einen Projektions-Apparat mitgenommen, da ich annehme, dass die Technologie von Orange Country nicht mit der Ihren kompatibel ist.“
Nach diesen Worten holte Jonathan ein kleines Gerät aus der Tasche zu seinen Füßen. Er platzierte das Gerät auf das Pult, schaltete es ein und drehte den Strahl, der daraus hervortrat, gegen die Wand. Nachdem er die Bildschärfe eingestellt hatte, redete er weiter:
Der Mann, der die Rede hält, ist John Galt, mein Vater, der Haupteigner des J.G.Konzerns, mit all den dazugehörigen Geschäften, Produktionsanlagen, Versicherungen und Sicherheitsfirmen. Zu seiner Rechten werden Sie Larry Wurner, Haupteigner des L.W. Konzerns und Stanley Kern vom S.K. Konzern, der Mann, den Luscinia als Mr X kennt, sehen. Links von meinem Vater sitzen Valerij Rukowski vom V.R. Konzern und Paolo Ramirez vom P.R. Konzern.“
Nachdem das Gerät eingestellt war, hörte Jonathan Galt auf zu sprechen und überließ diesem das Reden.
Die Projektion begann damit, dass mehrere Dutzend Männer, alle in Anzügen, applaudierten, während fünf andere Anzugträger einen Saal, der wie ein Auditorium aussah, betraten. Sie gingen dort zu dem erhöhten Podium. Der Applaus hörte auf, und eine respektvolle Stille folgte.
Vier Männer setzten sich rechts und links neben das Rednerpult, während der fünfte, ein Mann in den späten Fünfzigern, dem Jonathan Galt sehr ähnlich sah, direkt zum Pult ging und dort in Interlingua zu reden begann:
Meine Transhumanistischen Freunde, geehrte Mitglieder unserer Vereinigung.
Es erfüllt mich mit großer Freude und immensem Stolz, dieses unser 35-jähriges Jubiläum mit euch feiern zu können.
Zu einem Zeitpunkt wie diesem ist es angebracht, auf unsere einfachen Anfänge zurückzuschauen, und zu sehen, wie weit wir von dort durch all unsere Anstrengungen gekommen sind.
Wie ihr alle wisst, so begann alles mit uns fünf hier auf dem Podium, die wir eine Vision hatten, keine kleine Vision, sondern eine großartige und glorreiche – eine Vision von einer Zukunft, die dem Fortschritt gewidmet sein würde.
Ihr alle hier wisst doch nur zu gut, was in den letzten 200 Jahren geschehen ist. Die gesamte Menschheit wurde in ihrer Entwicklung zurückgehalten, man könnte fast sagen, zum Rückschritt gezwungen. Die Wissenschaft wurde kastriert und wurde als nichts anderes mehr benutzt als ein Küchenwerkzeug, um die Mägen einer viel zu bequemen Menschheit zu füllen.
Die aufgeklärten Progressiven Zeiten wurden in der äußeren Welt als die Dunklen Zeiten diffamiert, und die gesamte menschliche Rasse ist in einen weibischen Märchentraum verfallen.
Jedoch vor 35 Jahren wurde der Kuss des Erwachens vorbereitet, als diese Gesellschaft ins Leben gerufen wurde.
Fortschritt ist endlich wieder in Sicht, und er wird uns in die Zukunft führen, zu den größten Errungenschaften, die die Welt je gesehen hat. Am Ende werden wir die Sterne erreichen und das Universum erobern.
Aber das Ganze kann nicht vorangetrieben werden, ohne einen guten Kampf auszufechten. Wir müssen enorme Hindernisse überwinden, und das ist auch gut so.
'Krieg dient zur Gesundheit der Nationen' hat ein weiser Mann einmal gesagt. Und wahrere Worte wurden nie gesprochen.
Krieg hat immer die Nationen so zusammengeführt, dass sie nach höheren Zielen streben konnten. Wenn der gemeinsame Feind bekämpft wurde, dann haben Männer ihre Stärken vereinigt und loyale Bruderschaften gebildet, alles im Streben nach einem höheren Gut. Im Verlaufe eines jeden Krieges steigen immer die intelligentesten und würdigsten Vertreter unserer Spezies zur Spitze auf.
Deshalb waren in der Vergangenheit die Zeiten des Krieges immer auch die Zeiten des größten Fortschritts. Die meisten Erfindungen wurden durch die Notwendigkeiten der Kriegsführung oder auch nur der Kriegsbedrohung auf den Weg gebracht. Dies hat es der menschlichen Gesellschaft in der Vergangenheit erlaubt, einen Großteil ihrer Ressourcen der Wissenschaft zu widmen.
Wie unsere progressiven Vorfahren es bereits wussten, so muss das Leben zwangsläufig ein Kampf sein, denn ohne Kampf gibt es nur Rückentwicklung und Entartung.
Die äußere Welt ist ein entarteter, verweiblichter Ort, wo das Leben stagniert. Und was stagniert, muss zwangsläufig verrotten.
Orange Country, jedoch, ist eine Nation, die zum Kampf bereit ist. Männlich, frisch und stark wird Nephilim City bald zum Zentrum der Welt werden, dem Zentrum von Wissenschaft und menschlicher Evolution.
Ich danke euch für eure unermüdliche Unterstützung und eure Anstrengungen, diese Vision, die wir vor 35 Jahren hatten, jetzt Wirklichkeit werden zu lassen.
Danke für eure Loyalität und Diskretion, ohne die wir unsere gegenwärtige Stufe niemals erreicht hätten. Denn wie ihr sicherlich wisst, so gibt es auch hier in Orange Country viel zu wenige, die genügend intellektuelle Kapazität besitzen, um zu begreifen, was geschehen muss, wenn die Menschheit in diesem evolutionären Kampf Erfolg haben will. Es ist deshalb eine Tatsache, dass das wirkliche Wissen immer ein Privileg sein muss, dass nur denen vermittelt werden kann, die würdig dafür sind.
Ihr, meine Mit-Transhumanisten, seid die Würdigen dieses Zeitalters, würdig Wahrheit und Erkenntnis zu erlangen. Ich applaudiere euch!“
Während John Galt in die Hände klatschte, begannen auch alle anderen im Publikum zu klatschen, bis der Applaus zu begeisterten Ovationen anwuchs.
Das unbeabsichtigte Publikum des Dorfes Spesaeterna, aber, war in eine tödliche Stille verfallen.
Auf sein Hand-Zeichen hin beendete die Transhumanistische Gesellschaft den Applaus, so dass John Galt mit seiner Rede fortfahren konnte:
Jetzt nach diesen einführenden Worten ist die Zeit gekommen, euch in der Praxis vorzustellen, wie weit wir die Werkzeuge, um unsere Visionen zu verwirklichen, bereits entwickelt haben.“
Nach einem weiteren Handzeichen betrat ein Mann, der durch eine Hintertür gekommen war, die Bühne. Er schob einen Wagen mit einem großen Glasbehälter vor sich her, der gefüllt war mit lebendigen, fliegenden Insekten.
John Galt erklärte: „Unsere Wissenschaftler haben seit mehreren Jahren bereits an diesem Projekt gearbeitet. Und ich bin stolz euch mitteilen zu können, dass wir weiter gekommen sind, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen je in so kurzer Zeit erhofft hatten.
Diese Moskitos in diesem Behälter sind die tödlichste Waffe, die die Menschheit je gekannt hat. Sie tragen einen Virus mit sich, der eine Tötungskapazität für menschliche Organismen von 90% Prozent aufweist, und das innerhalb von nur vier Tagen nach Beginn der Infektion. Nachdem das Subjekt einmal von einem Moskitostich infiziert wurde, wird er dann selbst zum Inkubator für den Virus, den er dann direkt an jeden weitergibt, mit dem er in Kontakt kommt. Es hat sich gezeigt, dass weniger als 10 Prozent der Infizierten die Symptome der Infektion überleben.
Wir haben auch bereits einen antiviralen Schutz für unsere eigenen Leute entwickelt, der injiziert werden wird, sobald diese Waffe zum Einsatz kommt.
Die Moskitos selbst sind genetisch so modifiziert worden, dass sie von den regulären elektro-magnetischen Insektenschutzvorrichtungen der äußeren Welt nicht mehr entdeckt werden können. Mit diesen Modifikationen können diese Insekten in jedes Dorf und jedes Haus eindringen und jede Person infizieren, die dort lebt. Was wir für dieses Waffensystem jedoch immer noch benötigen, ist ein weitreichendes Verteilungssystem.
Wie wir euch schon vorher berichtet haben, so haben wir seit Jahren bereits große Anstrengungen unternommen Langstreckentransportsysteme zu entwickeln. Indem wir die Tarnkappentechnologie der Progressiven Zeiten nutzen, werden wir bereits im Frühjahr nächsten Jahres bereit sein, tausende von Tarnkappendrohnen loszuschicken, die beinahe gleichzeitig in den Luftraum aller Nationen eindringen und dort ihre virologische Last ablassen können.
Strategische Pläne wurden gemäß unseres besten virologischen, soziologischen und psychologischen Wissen entwickelt. Der Angriff wird zuerst in den Gebieten voranschreiten, die von Orange Country am weitesten entfernt liegen, um keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen, dass der Ausbruch etwas mit unserer Nation zu tun hat. Die äußere Welt wird etwa vier bis fünf Wochen benötigen, bevor ein gemeinsamer Faktor gefunden werden kann und ein effektives Quarantäne-Regime eingerichtet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt, wird die Weltbevölkerung bereits um ein Drittel abgenommen haben. Der plötzliche Verlust, wird mit Sicherheit ein großes Chaos verursachen und den Zusammenbruch der meisten Dorfstrukturen und der Beziehungen zwischen den Dörfern auf dem ganzen Planeten.
Nach einer angemessenen Zeitspanne, wird es auch einen Ausbruch in unseren eigenen Nahrungsmittel-produzierenden Dörfern geben. Diese Dörfer werden umgehend unter Quarantäne gestellt werden, und innerhalb einer Woche werden wir dann unseren anti-viralen Impfstoff präsentieren. Nachdem dessen Effektivität bewiesen wurde, werden wir der äußeren Welt diesen Impfstoff anbieten. Da wir dann die einzige wirksame Medizin gegen diese Menschheits-bedrohende Seuche besitzen werden, wird Nephilim City dadurch in der Tat zum Zentrum der Welt aufsteigen.
Eine Nebenwirkung dieser lebensrettenden Impfung wird es sein, die weibliche Fruchtbarkeit drastisch zu reduzieren. Das wird innerhalb einer einzigen Generation dazu führen, dass die Menschheit um 50% reduziert sein wird. Natürlich wird es für die endgültige 95% Reduktion, wie sie von unseren Vorfahren während der Fortschrittlichen Zeiten angestrebt wurde, vermutlich noch ein Jahrhundert dauern.
Aber selbst diese provisorische Reduktion wird endlich die Grundlage für die größte und ehrgeizigste menschliche Vision legen, eine post-humane Welt. Diese fehlerhafte und heruntergekommene menschliche Rasse wird durch etwas wahrlich Besseres ersetzt werden, durch wirklich rationale Wesen, die nicht mehr an emotionale und intellektuelle Grenzen gebunden sind, Wesen, die in Wahrheit die Welt und das Universum erobern werden.“
Spontaner Applaus wurde aus dem Transhumanisten Publikum laut. John Galt nickte zufrieden und fuhr fort, indem er seine Stimme zu einem triumphalen Ton steigerte:
Und jetzt werde ich euch die Resultate der vierzigjährigen Forschung vorstellen, die ich selbst unternommen habe. Nachdem wir zahlreiche Hindernisse überwunden haben, kann ich euch endlich von unserem Erfolg in dieser ersten Stufe der menschlichen Selbst-Evolution berichten, etwas wovon die Weisen der Menschheit seit Jahrhunderten geträumt haben.
Er drehte sich um und gab den lauten Befehl: „Tanner, kommen Sie herein!“
Wieder betrat ein Mann den Saal durch die Hintertür. Der Mann hielt ein Baby in seinen Armen.
John Galt fuhr fort: „Meine Mit-Transhumanisten, darf ich euch vorstellen, den Gipfel unserer Forschung, die Zukunft selbst!
Dies“, er deutete auf das Baby, „sieht vielleicht wie ein ganz normales Kleinkind aus. Aber das Aussehen kann täuschen, oh, wie es uns heute täuscht. Dieses Kleinkind ist keiner weiblichen Gebärmutter entsprungen. Er ist der erste, seit über einem Jahrhundert, der in einem Reagenzglas gezeugt wurde. Er ist der erste überhaupt, der sechs Monate lang in einer Entwicklungskammer, die wie eine künstliche Gebärmutter funktioniert, herangewachsen ist und dann in weiteren sechs Monaten in einem speziell dafür entwickelten Brutkasten zur Reife gebracht wurde.
Aber da ist noch mehr an ihm. Aufbauend auf Tierversuchen aus den Progressiven Zeiten haben wir eine Methode der genetischen Veränderung gefunden, die es uns erlaubt das menschliche Genom weit mehr zu verbessern, als es je für möglich gehalten wurde.
Was unsere Vorfahren an Mäusen testeten, in Vorbereitung auf Menschenversuche, ist uns nun endlich gelungen. Wir haben in das Genom dieses Kindes ein extra Paar Chromosomen eingepflanzt, eines, das alle genetischen Eigenschaften, mit denen wir diesen Jungen ausstatten wollten, enthält. Nach beinahe tausend Versuchen, alle mussten vorzeitig abgebrochen werden, haben wir endlich unseren Prototypen erhalten:
Dieses Kleinkind wird aufwachsen, um dreimal stärker und schneller zu werden, als je ein Mensch gewesen ist. Und er wird mit der zehnfachen Intelligenz eines gewöhnlichen Menschen ausgestattet sein. Zusätzlich wird es ihm seine Hirn- und Körperphysiologie erlauben, nach und nach kybernetische Teile in sein Gehirn und seinen Körper einbauen zu lassen, welche Teile er auch immer benötigen sollte, um seine Ziele zu verfolgen.
Der Grund für all dies ist natürlich, dass dieses Kind kein Mensch mehr ist. Er ist die Erfüllung unserer und unserer Vorfahren sehnlichster Träume, er ist das erste post-humane Wesen.“
Wieder war ein begeisterter spontaner Applaus zu hören. John Galt erlaubte ihm, sich für eine Minute zu unterbrechen. Danach fuhr er mit seiner Rede fort:
Wie ich euch bereits gesagt habe, so ist dieses Kleinkind nach der Zeugung ein ganzes Jahr gereift, bis es vor zwei Wochen aus seinem speziellen Brutkasten geholt wurde. Aber bereits in diesem Brutkasten wurden seine Gehörnerven trainiert und sein Gehirn weiterentwickelt. In den letzten beiden Wochen schließlich, seit er aus dem Brutkasten genommen wurde, wurden seine oralen Muskeln so weit trainiert, dass er nun die Worte aussprechen kann, die er bereits während seiner vorherigen Entwicklungsphase gelernt hatte.
Mr Aaron Tanner, der auch der Tutor meines Sohnes Jonathan war, hat nun die Aufgabe übernommen, den Jungen zu unterrichten und die Entwicklung seiner natürlichen Fähigkeiten zu unterstützen. Und wie ihr jetzt hören werdet, so liegt die Sprachentwicklung dieses neugeborenen Kleinkindes bereits bei der eines gewöhnlichen Fünfjährigen.“
Indem er sich nun dem Baby zuwandte befahl John Galt: „Sag mir, post-humaner Junge, wer bist du und wie ist dein Namen?!“
Die Antwort kam in einer klaren Baby-Stimme: „Ich bin Alpha, der erste einer neuen Rasse, geboren ein König zu sein. Ich bin ein Prinz des Universums.“
Eine weitere begeisterte Ovation folgte, aber dabei stellte Jonathan Galt den Projektor ab.
In Spesaeterna war das frühere Stimmengemurmel zu einem Sturm angewachsen, wobei Dutzende von Leuten aufgesprungen waren und verlangten, gehört zu werden.
Im Wohnzimmer von Jennys Familie stellte Jason die Projektion der Dorfratsversammlung ab. Alle Kinder im Raum, mit Ausnahme der schlafenden kleinen Zwillinge, sahen blass und krank aus.
Einen Augenblick lang redete niemand. Endlich presste Jason mit leiser, krächzender Stimme heraus: „Wir müssen sie zerstören!“
Atemlos fragte Ameenah: „Du meinst doch die Virus-Moskitos, das meinst du doch?“
Jason antwortete nicht, er starrte sie und die anderen nur an.
Ameenah flüsterte: „Du meinst doch nicht die Leute, du kannst nicht die Leute meinen; das erste Prinzip, was ist mit dem ersten Prinzip...?
Jason schüttelte den Kopf. In einem dringenden Flüsterton hauchte er: „Es sind die oder wir, Ameenah... die oder wir!“
***


Wie versprochen hat Nanami Kontakt mit ihrem Ehemann Pedro und mit Dr Bukovik aufgenommen. Nanami hatte uns gesagt, wir sollten Pedro während seiner Arbeitspause in dem Restaurant treffen, in dem ein großer Teil der Angestellten des Sicherheitszentrums normalerweise zu Mittag isst. Diese Tatsache zerrt stark an meinen Nerven.
Als wir ankommen, wartet Pedro Allegri bereits draußen auf uns. Als er Darryl, mich und die drei aus Spesaeterna sieht, betritt er wortlos das Restaurant. Wir folgen Pedro und suchen uns Plätze in der hintersten Ecke. Dr Bukovik sitzt dort bereits, und eine Sekunde später hat Mr Wang seinen mitgebrachten Verzerrer angeschaltet.
Wie von allen erwartet, ist Pedro Allegri damit einverstanden, Darryl und sein Team in das Sicherheits-Hauptquartier einzuschleusen. In der Tat ist Pedro mehr als nur bereit, mich und die anderen Eindringlinge aus der äußeren Welt, darin zu unterstützen eine Nephilim City Revolution anzufachen. Und er sagt uns mit leiser Stimme, dass er nicht der Einzige vom Personal des Sicherheitszentrums ist, der so denkt.
Gerade diskutieren meine Begleiter einen 3-dimensionalen Gebäudeplan des Zentrums, den Pedro und Darryl gemeinsam mit Hilfe des holographischen Programms von Darryls Armbandcontroller erzeugen. Natürlich weiß Pedro, wo sich all die Überwachungs- und Kommunikationsabteilungen befinden. Ich weiß auch, dass all dies wichtig ist, aber ich spüre mehr und mehr wie nervös ich bin. Was ist, wenn jemand diese Projektion sieht.
Ja, ich weiß, Darryl behauptet, es sei für alle, die nicht am Tisch sitzen durch seine Abschirmtechnik unsichtbar. Aber dass unsere Gruppe überhaupt hier sitzt, inmitten einer ganzen Bande von Sicherheitsvollstreckern, scheint mir ein verrücktes Risiko zu sein. Meine Nerven lassen mich auf dem Stuhl unruhig hin- und herrutschen. Ich kann mich auf diese Planungen einfach nicht mehr konzentrieren, außerdem muss ich mal ganz dringend, wirklich dringend.
Und so flüstere ich Mr Wang zu, dass ich kurz zur Toilette gehe, nur um dann dort um einiges länger zu bleiben als nötig. Und es ist nicht gerade die frische Luft, die ich dort schöpfe, mit Sicherheit nicht. Nur ein Augenblick alleine, das ist, was ich am Dringendsten brauche.
Es sind da draußen einfach zu viele Leute um mich herum, und zu viele Erwartungen. Bald wird von mir erwartet, dass ich meinen Vater konfrontiere. Aber wie ich das tun soll, so nervös wie ich jetzt bin, ohne dass ich alles verrate, das weiß ich nicht. Ich sage mir selbst immer wieder, dass ich das ja schon oft getan habe. Ich habe Mr Tanners Geheimnisse für mich behalten, seit ich ein Kind war. Mein Vater hat auch nicht herausgefunden, dass ich meine Mutter gefunden habe, und nichts von Luscinia und dem Tunnel, den wir gemeinsam gebaut haben.
Aber dies ist anders. Es hängt so viel mehr davon ab als jemals zuvor. Wenn nur Luscinia bei mir wäre und dort an dem Tisch säße statt... statt Ms Alba zum Beispiel, mit ihrem ständigen misstrauischen Blick.
Als ich mich endlich wieder an den Tisch der Verschwörer setze, höre ich den Professor sagen:
Wir sind also alle einverstanden, dass es unsere erste Priorität ist, das Ortungszentrum zu deaktivieren, auch wenn sich dies hinter schwer zu knackenden Spezialtüren befindet. Ihr müsst also einen Weg dort hinein finden, sobald deine Männer im Zentrum sind, Darryl, selbst wenn das bedeutet, dass ihr Sprengstoff benutzen müsst, die Nano-Bots könnten zu langsam sein. Das hat absoluten Vorrang, denn wir haben hier weder die Zeit noch das medizinische Personal, um die Ortungs-Chips im Nacken von all denen, die wir retten wollen, außer Kraft zu setzen, während wir immer noch in Orange Country sind.“
Sprengstoff,“ unterbreche ich, „der würde doch alles verraten. Ihr seid dann nicht mehr unbemerkt, Darryl! Warum können wir nicht einfach so vorgehen, wie geplant? Die Ärzte können die Chips doch in den Quarantäne-Zelten auf der anderen Seite deaktivieren.“
Das Ganze verwirrt mich mehr als nur ein bisschen. Ich mag es nicht, wenn Pläne sich ändern. Das macht alles noch komplizierter. So viel kann schief gehen.
Dr Bukovik hat es dir nie gesagt, als er die Operation an Luscinia vorgenommen hat, nicht wahr?“ Der Professor sieht den Arzt fragend an, der daraufhin den Kopf schüttelt. Dann sieht er mich wieder an, mit so etwas wie Mitleid in den Augen.
Wenn Luscinia den Chip immer noch im Nacken gehabt hätte,“ erklärt der Professor dann, „als ihr die Grenze überschritten habt, dann wäre sie sofort getötet worden. Die Ortungselektronik löst dort die Selbstzerstörung des Chips aus.“
Mein Herz hört auf zu schlagen. Ich fühle, wie das Blut sich aus meinem Kopf leert und für einen Augenblick dreht sich die ganze Welt um mich herum. Ich schwanke und wäre vom Stuhl gefallen, wenn Ms Alba mich nicht festgehalten hätte.
Du bist ein Idiot, David Morgan,“ zischt sie. „Hättest du das dem Jungen nicht irgendwann später erzählen können?“
Die Gedanken drehen sich in meinem Kopf: Ich hätte sie getötet, Luscinia getötet. Ich dachte, ich könnte sie retten, aber meinetwegen wäre sie fast gestorben! Wenn Nanami und Pedro und ihr Doktor nicht gewesen wären...
Unbeirrt von Ms Albas Kritik redet der Professor weiter: „Hast du dich nie gefragt, warum ihr die ersten Menschen wart, die aus Orange Country zurückgekehrt sind? Jetzt weißt du warum. Dein Vater hat dir keinen Chip einpflanzen lassen, weil du zur Elite gehören solltest, Luscinias Chip wurde entfernt und das kleine Mädchen hatte noch keinen.
In welchem Alter werden Kindern diese Chips eingeplanzt, Mr Allergri?“ Der Professor sieht Pedro fragend an.
Wenn sie 10 Jahre alt sind,“ antwortet dieser. Und ich sehe an seinem Gesicht, dass er denkt, dass zumindest Natsuki niemals einen Chip tragen würde.
Der Professor dreht sich wieder zu mir: „Als wir mit Mr Allegri über unsere Pläne sprachen, viele Leute außer Landes zu schaffen, erzählte er uns etwas, das ich bereits vermutet hatte. Es gab hunderte, die bereits Fluchtversuche unternommen haben. Einige versuchten über die Mauer zu steigen, andere darunter hinweg, einige versuchten mit Booten zu entfliehen. Keiner schaffte es, alle wurden getötet.“
Aber warum haben wir nie etwas davon gehört,“ frage ich und schüttele wild meinen Kopf. Ich will es immer noch nicht glauben. „Warum haben uns unsere Nachrichtenagenturen nicht Bilder von den Leichen dieser Leute gezeigt?“
Diesmal ist es Pedro Allegri, der mit trauriger Stimme antwortet: „Die Leichen derjenigen, die überirdisch getötet wurden, sind von kleinen Laserdronen aus dem Sicherheitszentrum disintergriert worden. Die anderen,“ er zuckt mit den Achseln, „liegen wahrscheinlich immer noch in den Tunneln.“
Ich schaudere und denke an Luscinia und was hätte geschehen können...
Ich fühle den bereits vertrauten Zorn auf meinen Vater. Er und seine elitären Freunde haben auch diese Information von der Öffentlichkeit fern gehalten, noch eines von ihren Geheimnissen. Sonst hätte sicherlich niemand zu fliehen versucht, ohne erst zu versuchen den Chip zu entfernen. Und natürlich war genau das der Sinn der Sache, niemandem, nicht einer einzigen Seele sollte die Flucht gelingen.
Ich glaube, wir sind hier fertig,“ unterbricht Mr Wang mit seiner rauhen Stimme meine Gedanken. „Der Rest ist jetzt Ihre Sache, Mr Kenneth.“
Sicherlich,“ stimmt Darryl zu. „Meine Männer sind bereits in Position. Wir werden mit der Operation warten, bis wir das Signal von Ihnen und Jonathan bekommen haben.“
Es gibt nichts mehr zu sagen.
Der Professor, Ms Alba, Mr Wang und ich verlassen jetzt das Lokal, Darryl, Pedro und Dr Bukovik bleiben zurück.


***

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