Teil 4

Die Wohnung der Allegris liegt im dritten Stock des Wohnungsblocks, am Ende eines langen Ganges, der genau so leer und kahl aussieht, wie das Äußere dieses Betongebäudes. Aber ich weiß, dass wir gerade an Luscinia's Wohnung vorbeigehen.
Natürlich ist sie längst wieder verkauft worden. Jemand anderes wohnt jetzt dort, wie ich das an der Nummer auf der Türklingel erkennen kann.
Ms Alba hat aber von all dem keine Ahnung. Sie ist die einzige, die mich dieses Mal begleitet. Die anderen haben entschieden, im Auto zu warten.
Nur Sekunden nachdem ich geklingelt habe, öffnet Nanami ihre Tür. Sie trägt ihr Nummernschild auf der Jacke, sie ist also gerade dabei, sich für die Arbeit fertig zu machen.
Sie wird blass und sieht mich entsetzt an. Erst öffnet sie den Mund, um etwas zu sagen, statt dessen packt sie mich dann am Arm und zieht mich direkt in ihr Schlafzimmer. Sie versucht die Tür hinter uns zuzuschlagen, aber Ms Alba hindert sie daran, indem sie sich selbst in den Raum drängt und die Tür danach lautlos hinter sich schließt.
Nanami ist immer noch schockiert. Für eine Sekunde lang sagt sie erst einmal gar nichts, dann dreht sie sich um, um den Verzerrer auf ihrem Nachttisch einzuschalten. Mit gepresster, angst- und wutverzerrter Stimme fragt sie dann: „Was tun Sie hier?“
Sie packt mich jetzt wieder an der Jacke und schüttelt mich: „Wo ist Natsuki?“
Nanami ist eine kleine Frau asiatischer Abstammung. Sie ist etwa Mitte dreißig, sieht aber älter aus, sogar älter als das letzte Mal, als ich sie gesehen habe. Dunkle Schatten, die von vielen schlaflosen Nächten zeugen, zeichnen sich unter ihren Augen ab. Und da ist natürlich immer noch die lange Narbe, die eine tiefe Linie von einem Augen zu ihrem Mundwinkel formt. Wie die Narben, die ich auch schon an anderen Frauen gesehen habe, sieht diese nicht aus, als sei sie durch einen Unfall entstanden.
Gerade jetzt ist Nanami aber stärker, als ich es mir je vorstellen konnte.
Sie schüttelt mich noch einmal: „Wo ist Natsuki“, Panik liegt jetzt im schrillen Ton ihrer Stimme.
Ich versuche sie zu beruhigen: „Sie ist in der äußeren Welt, Nanami, genau wie Sie das wollten. Sie ist bei Luscinia. Und sie wartet auf Sie nur ein paar Meilen von hier. Heute Nacht werden Sie sie wiedersehen, wenn Sie das Land mit uns verlassen wollen.“
Nanami atmet aus. Sie wird ein bisschen weniger blass. Doch sie schüttelt den Kopf: „Wir haben es Luscinia gesagt und Ihnen auch, dass wir von hier nicht weg können. Pedro und ich, wir beide können das Land nicht verlassen. Wir können nirgendwo hin. Niemand in der äußeren Welt würde uns aufnehmen.“
Ich schüttele meine Kopf: „Das stimmt nicht. Luscinia hat mir Ihren Eltern auf dem Friedensnetz geredet und auch mit Repräsentanten Ihres Dorfrates. Sie wollen, dass Sie zurückkommen.“
Nanami sieht mich ungläubig an, und doch ist da ein Funken Hoffnung, der langsam ihr Gesicht erhellt. Jetzt erst scheint sie Ms Alba zu bemerken.
Sie kommen aus der äußeren Welt,“ dies ist weniger eine Feststellung als eine unsichere Frage.
Ja“, erwidert Ms Alba. „Und der junge Mr. Galt hat Recht. Ihr früheres Heimatdorf hat sich bereit erklärt, Ihnen, Ihrer Tochter und Ihrem Eheman Asyl zu gewähren.“
Langsam wird Nanami die Bedeutung von Ms Alba's Erklärung klar. Sie fällt auf die Knie und bedeckt ihr Gesicht mit ihren Händen. Dann beginnt sie lautlos zu schluchzen.
Nach ein paar Minuten beugt sich Ms Alba zu ihr hinunter und hilft ihr sanft wieder auf die Füße. Sie umarmt Nanami und erlaubt ihr so, sich wieder zu fassen.
Das Ganze überrascht mich etwas. Nach allem, was ich von Ms Alba bis jetzt mitbekommen habe, hätte ich nicht gedacht, dass sie so viel Mitgefühl für eine Regelbrecherin aufbringen könnte.
Nach einer Weile fragt Nanami: „Werden noch mehr Leute Orange Country verlassen?“
Ja“, bestätigt Ms Alba, „aber zuerst müssen wir mit Ihrem Mann sprechen.“
Ich weiß“, stimmt Nanami zu. „Aber bevor irgend jemand das Land verlässt, ist es unbedingt notwendig, dass Sie mit Dr. Bukovic sprechen.“
Mit wem“, frage ich.
Mit dem Mann, der Luscinia mit ihren Chips geholfen hat,“ erklärt Nanami. „Erinnern Sie sich nicht?“
Natürlich erinnere ich mich an ihn,“ erwidere ich. „Aber ich kannte doch seinen Namen nicht.“
Klar kannten Sie den Namen nicht“, Nanami's Stimme hat jetzt einen sarkastischen Unterton.“Nur Eliten wie Sie haben Namen, Leute wie wir haben nur Nummern.“
Wie kann sie mir das jetzt vorwerfen, nach all dem, was ich für sie und ihren Mann gerade tue. Dieser Doktor hat uns niemals seinen Namen genannt, wie sollte ich ihn dann kennen.
Freunde haben auch Namen“, entgegne ich ihr. „Sind wir denn keine Freunde, Nanami?“
Nanami sieht mich nicht an, als sie erwidert: „Luscinia ist meine Freundin, Mr. Galt.“
Diese Anspielung in ihrer Antwort ärgert mich ganz schön, aber Ms Alba unterbricht uns und hindert mich an einer weiteren Bemerkung: „Können Sie jetzt Ihren Mann erreichen, Ms Allegri?“
Ich erkenne, dass wir jetzt wirklich keine Zeit für verletzte Gefühle haben.
Nanami schüttelt den Kopf: „Nicht sofort und auch nicht elektronisch, aber ich habe andere Methoden.
Pedro macht um 14:30 eine Mittagspause. Ich gebe Ihnen die Adresse des Restaurants. Und ich werde gleichzeitig auch Dr. Bukovic kontaktieren. Bringen Sie bitte niemanden außer Landes, bevor sie mit ihm gesprochen haben.“
Wir werden das sowieso nicht vor dem späten Nachmittag tun“, versichere ich ihr. „Und vorher müssen wir noch unbedingt mit Ihrem Mann sprechen.“
Nanami erklärt daraufhin zufrieden: „Ich gehe jetzt zur Arbeit, damit meine Abwesenheit keinen Verdacht erregt. Unterwegs werde ich den Doktor kontaktieren.“
Sehr gut“, lobt Ms Alba den Plan, während ich immer noch ein wenig von Nanami's ungerechter Bemerkung genervt bin. Während wir Nanami nach unten und aus dem Haus folgen, schießt mir der ungebetene Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht irgendwie Recht haben könnte. Wieviele Namen kenne ich denn wirklich von all den Leuten, die ich für mich und meinen Vater habe arbeiten sehen. Bevor wir uns verabschieden, fällt mein Blick noch einmal auf das Nummernschild auf Nanami's Brust, die äußere Zahl, die ihre innere reflektiert.

***

Es war jetzt dunkel, ganz dunkel. Alles war verschwunden, die ganze Welt. Nichts war mehr geblieben.
Und doch war die Dunkelheit nicht ganz schwarz, eher eine Art von braun-grau. Es gab noch eine Erinnerung von Farbe. Aber das war alles, nur eine Erinnerung -nichts sonst.
Es gab auch eine Erinnerung an einen Klang, ein Zischen und ein Fließen, auf- und absteigend, ein statisches Geräusch und ein Rhythmus dazu: bum...bu...bu...bumm, bum...bu...bu...bumm, ein Herzschlag...
Mach doch deine Augen auf, bitte öffne sie!“ Eine Stimme sprach in seiner Erinnerung, eine klare Stimme.
Es war die Stimme von Hope.
Dann erinnnerte er sich wieder, er war jemand, eine Person, aber er war nicht Hope.
Bitte, Ur-ur-... bitte... Mr. Ragnarsson, öffne deine Augen. Ich kann doch gar nichts sehen.“
Hope hörte sich verängstigt an. Und dann erinnerte er sich: Ja, er war Mr. Ragnarsson, und Hope sollte...
Nenn mich doch David“, seine Stimme war rauh und fast unhörbar leise. Und seine Kehle fühlte sich so trocken an, und sie tat weh, als ob er schon lange nicht mehr heruntergeschluckt hatte.
Und jetzt spürte er auch den Rest seines Körpers wieder. Er war steif und schmerzend. Er hörte sich selbst schwer durch seinen Mund ein- und ausatmen. Er schloss den Mund. Und jetzt konnte er auch wieder durch die Nase atmen. Das war weniger schmerzhaft. Er konnte sein Gesicht wieder fühlen, seine Augen. Er versuchte sie zu öffnen, auch wenn sich die Augenlider so unglaublich schwer anfühlten, beinahe zu schwer für diese Aufgabe. Und als es ihm endlich gelungen war, da gab es da nichts erkennbares vor seinen Augen. Da war nichts als eine Ansammlung von unscharfen Farben, die sich erst nur chaotisch um sich selbst drehten, und sich danach von einer Seite zur anderen bewegten.
Plötzlich konnte er Hope ganz genau erkennen. Sie saß neben ihm auf der Bank und sah ängstlich aus. Er konzentrierte sich auf ihr Gesicht und dadurch formten sich die unscharfen, verdrehten Farben um sie herum endlich auch wieder zu einem realen Bild.
Vor ihm lag die Straße. Ein roter Ford fuhr gerade vorbei, ein neuer Focus wahrscheinlich, und trotzdem schien der Probleme mit dem Auspuff zu haben, denn die Kiste dröhnte so laut in seinen Ohren, dass sie schmerzten und ihm auch noch Kopfschmerzen bereiteten. Und die beiden Frauen, die gerade an ihm vorbei gingen, redeten auch viel zu laut.
Eine von ihnen erzählte von einem Jungen aus der High-School, der doch viel zu alt war, um sich ständig mit Jenny zu treffen. Sie war schließlich erst 13.
Da konnte David nur zustimmen, dreizehn war wirklich zu jung, um schon einen festen Freund zu haben, und dieser Junge, der sollte doch... Und dann erinnerte sich David daran, dass er weder Jenny noch ihre Mutter kannte.
Aber er kannte Hope, sie gehörte zu seiner Familie, und so bat er sie: „Nenn mich doch nicht Mr. Ragnarsson; ich dachte ich wäre dein Ur-ur-...“
Stimmt schon,“ erklärte Hope. „Aber das ist doch eine so lange Anrede. Und du siehst auch gar nicht so alt aus, wie ein Ur-ur- oder so was Großvater aussehen sollte.“
Nenn mich doch einfach...“ begann David und hielt dann inne. Inzwischen hatte er bereits erkannt, dass die Leute in Hope's Zeit viel formeller miteinander umgingen als in seiner. Selbst diejenigen, die sich gut zu kennen schienen, nannten sich selten beim Vornamen. Und Kinder redeten die Erwachsenen praktisch immer mit ihrem Titel an.
In Ordnung, du kannst mich Onkel David nennen,“ schlug David ihr vor.
Ja, er war wirklich David, ob Onkel oder fünfmal entfernter Urgroßvater oder vielleicht auch einfach nur durchgeknallt, aber trotzdem war er er selbst. Er saß auf einer Parkbank des 21. Jahrhunderts mit eingeschlafenen Beinen und einem dumpfen Gefühl von Übelkeit in seinem Magen.
Es tut mir Leid“, sagte Hope. „Es tut mir wirklich Leid. Ich glaube, du bist zu lange in meinen Erinnerungen gewesen. Ich denke, das war nicht gut für dich. Es hat dich krank gemacht und vielleicht auch verwirrt... und mich auch. Ich habe fast vergessen, wo ich war...“
Ich hatte es auch vergessen“, murmelte David
Er hatte nicht nur vergessen, wo er war, sondern auch wer er war. Eine Zeit lang hatte es keinen Unterschied mehr zwischen ihm gegeben und Hope. Er war da nicht nur ein gesichtsloser Beobachter ohne eigene Meinung gewesen, sondern mehr noch war er völlig in Hope's Bewusstsein eingetreten. Ihre Gedanken und ihre Gefühle waren die seinen geworden.
Ihr Zorn über die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit war ebenso sehr sein eigener geworden, wie ihre Abscheu vor dem 'hässlichen Gemälde'.
Jetzt musste sich David konzentrieren, um sich irgendwie selbst wieder zu finden. Er war kein dreizehnjähriger Teenager aus dem 23. Jahrhundert. Er war ein Erwachsener, der Kunst genauso zu schätzen wusste, wie andere gebildete New Yorker seiner Zeit.
Was ihn abstieß, war nicht der Salvador Dali Stil des Gemäldes und die Gewalt, die darin ausgedrückt wurde, es war die Botschaft, die der Professor aus dem Bild herausinterpretiert hatte. Es schien ihm, als ob alle Verschwörungstheorien seiner Zeit sich in den grün-braunen Schlangenfarben dieser absurden Struktur und in ihren verzerrten Figuren wiedergefunden hatten.
David hasste Verschwörungstheorien, hatte sie immer gehasst. Seine Welt war eine, die auf nachprüfbare Fakten aufgebaut war, Fakten, wie sie von vertrauenswürdigen Autoritäten präsentiert wurden. Wenn es jetzt ein Jahr früher gewesen wäre, dann hätte er über so eine Pyramiden-Hierarchie mit einem all-sehenden Auge in der Mitte, sei sie nun verzerrt oder auch nicht, einfach nur laut gelacht. Er hätte sie als das Lieblingsmotiv der durchgeknallten Alu-Hut-Träger erkannt, gleich neben den fliegenden Untertassen und den Entführungen durch Außerirdische.
Aber heute war nicht vor einem Jahr, es war jetzt, oder eigentlich war das, was er gesehen hatte, ein jetzt, das 210 Jahre in der Zukunft lag, jedenfalls nach Hope's Angaben.
Ich muss jetzt unbedingt etwas trinken, dachte David und stand auf. Das Taubheitsgefühl in seinem Körper hatte sich verflüchtigt, aber die Übelkeit im Magen fühlte er immer noch. Seine Kopfschmerzen verstärkten sich noch, und er spürte wie ihm kalter Schweiß den Rücken herunter lief.
Ich brauche jetzt unbedingt einen Drink, dachte David noch einmal, sah sich um und versuchte sich daran zu erinnern, wo von hier aus der nächste Alkohol-Laden war.
Da traf ihn plötzlich die Erkenntnis. Es war eine Wahrheit, die er zuvor nicht erkannt hatte, obwohl jede seiner Handlungen an jedem einzelnen Tag in den letzten paar Monaten darauf basierte.
Er hatte nicht getrunken, weil die Welt ihn irgendwie schlecht behandelt hatte, sondern deshalb, weil er das fundamentale Vertrauen in diese Welt verloren hatte.
Ungebeten kam ihm das Bild von den Schlangen in den Sinn, die sich langsam in Matsch verwandelten. Er schüttelte es ab, um den Faden seiner Gedanken nicht zu verlieren, auch wenn dies schmerzhafte, kaum erträgliche Gedanken waren.
In all den Monaten hatte David seine Trinkerei als eine natürliche Reaktion darauf gerechtfertigt, dass er seinen Job und seine Beziehung verloren hatte, und dass es ihm obendrein noch verwehrt worden war, Mikey wiederzusehen.
Und jetzt musste er sich nun eingestehen, dass Tina sich nicht darum von ihm getrennt hatte, weil sie sich von ihm distanzieren wollte, um ihre eigene Karriere nicht zu gefährden, wie er sich das immer wieder vorgesagt hatte.
Nein, sie hatte ihn anfangs sogar unterstützt. Ohne Zweifel anzumelden, hatte sie akzeptiert, dass David, der Realist, wirklich eine große und gefährliche Verschwörung aufgedeckt hatte, und dass er danch selbst Opfer einer solchen geworden war. Monatelang hatte sie an seiner Seite gestanden, als das niemand anderes getan hatte, bis da am Ende niemand mehr war, neben dem sie hätte stehen können. Denn der David, dem sie vertraut hatte, den gab es nicht mehr.
Sie hatte ihn verlassen, weil David sich tagein und tagaus bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hatte. Und dann war er nicht einmal zu seiner Sorgerechts-Anhörung nüchtern erschienen. Stattdessen hatte er in der Erwartung, dass der Richter genau so wie alle anderen in die Sache verwickelt war, ihm und ebenso Tina Beleidigungen an den Kopf geworfen, die es nur logisch erscheinen ließen, ihm den Umgang mit seinem Jungen zu verwehren.
Er hatte Mikey verloren, weil er betrunken gewesen war. Er hatte Tina verloren, weil er ständig trank. Und es war ihm unmöglich gewesen, eine neue Arbeit zu finden, nachdem er monatelang an der Flasche gehangen hatte. Und David hatte begonnen zu trinken, weil er das wichtigste in seinem Leben verloren hatte, wichtiger als die Frau, die er liebte, und sogar wichtiger als sein eigener Sohn: das Vertrauen in seinen Beruf.
Wie korrupt die Welt von Wirtschaft und Politik auch immer war, -und darüber hatte er auch vorher keinerlei Illusionen gehabt-, so waren da doch immer noch die Medien gewesen, seine Zeitung, die weißen Ritter in ihrer strahlenden Rüstung, die Beschützer der Unschuldigen, die Rächer der Enterbten.
Ja, David hatte wirklich an dem naiven Schuljungen-Glauben festgehalten, dass die Medien die vierte Macht im Staate seien, die die Exekutive, die Legislative und die Gerichte immer wieder auf den schmalen und geraden Pfad der Tugend und Demokratie zurückbrachten, indem sie das Fehlverhalten der Mächtigen aufdeckten. Und genau darum war für ihn die amerikanische Demokratie immer noch das beste System der Welt gewesen.
Und während er daran so fest geglaubt hatte, wurden er von denen verraten, denen er am meisten vertraut hatte. Und so war seine Welt auseinander gefallen.
David spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Da stand ein Baum neben seiner Bank. Mit wackeligen Beinen stellte er sich nun hinter den Baum und übergab sich. Der ganze Inhalt seines Magens entleerte sich und mit ihm der Schmerz, der ihn so lange zusammengepresst hatte. Und er kotzte und kotzte, bis nichts mehr in ihm war als Leere und Trauer über den Verlust.
Die Übelkeit war nun verschwunden, und auch seine Kopfschmerzen hatten sich gelegt, trotzdem fühlte sich David immer noch schwach auf den Beinen, und er musste sich am Baum abstützen.
Plötzlich hörte ein Klappern und ein Murmeln hinter sich. Und bevor er sich noch umdrehen konnte, schob sich eine Faust direkt unter seine Nase. Er sprang zurück, bereit sich zu verteidigen und verlor fast die Balance.
Aber die Faust öffnete sich, und auf der offenen Handfläche lag ein kleines Päckchen. Überrascht drehte sich David um, nur um festzustellen, dass die Hand zu der obdachlosen Frau gehörte, die ihn vorhin mit ihrem Einkaufswagen fast über den Haufen gefahren hätte.
Wie zuvor sah sie ihn nicht direkt an, sondern starrte an ihm vorbei, wobei ihr Murmeln lauter wurde. David sah sich das kleine Päckchen noch einmal an. Und richtig, das war wirklich so eine eingepackte feuchte Serviette, wie man sie immer in einem Flugzeug bekam, obwohl diese Frau mit Sicherheit schon lange mit keinem Flugzeug mehr geflogen war.
David konnte jetzt verstehen was sie da vor sich hin murmelte: „Ein Mann sitzt auf einer Bank und träumt, ein Mann wacht auf und redet, ein Mann steht auf und geht hinter einen Baum, ein Mann kotzt hinter dem Baum, ein Mann macht sich sauber mit einem feuchten Tuch, ein Mann sitzt auf einer Bank und träumt...“
Die Frau stand immer noch bewegunslos vor ihm und hielt ihre ausgestreckte Hand unter David's Nase, ohne ihn dabei anzusehen. David nahm die eingepackte Serviette entgegen und murmelte: „Danke schön.“
Die Frau zog ihre Hand zurück und packte dann den Griff ihres Einkaufswagens wieder mit beiden Händen und schlurfte langsam weiter, wobei sie ohne Pause mit sich selbst redete: „...ein Man wacht auf und redet, ein Mann steht auf und geht hinter einen Baum, ein Mann kotzt hinter dem Baum, ein Mann macht sich sauber mit einem feuchten Tuch...“
David öffnete das Servietten-Päckchen und säuberte sein Gesicht mit dem feuchten Tuch. Es war mit einem Zitronenduft parfümiert und fühlte sich erfrischend an.
Laut sagte er zu Hope: „Ich hätte schwören können, dass sie niemanden um sich herum beachtet, und dass sie ganz bestimmt nicht bemerkt, wenn jemand ein Tuch zum Abwischen braucht.“
Na ja, sie hat dich auch vorhin schon bemerkt,“ erwiderte Hope.
Das war doch nur, weil sie mir den Wagen direkt in den Rücken gerammt hat... Na, gut, lass uns einfach jetzt zur Bushaltestelle gehen. Der Bus müsste jeden Moment kommen. Schau mal, da steht schon eine Schlange von Leuten, die auf ihn warten.“ David lief los und Hope folgte ihm. Aber in Gedanken war sie immer noch bei der obdachlosen Frau: „Ich glaube, sie ist auf halbem Weg zum Himmel, deshalb wusste sie, was du gebraucht hast.“
Auf halbem Weg zum Himmel? Was meinst du denn damit? Denkst du sie stirbt bald?“ fragte David überrascht.
Oh nein, wahrscheinlich nicht gerade jetzt, und das ist auch gar nicht die Bedeutung von diesem Ausdruck,“ antwortete Hope lächelnd.
Wir sagen das nur immer, wenn Leute nicht genau so denken und reden können wie die meisten Leute. Bei diesen Leuten sagen wir, dass ihr Sinn schon auf halbem Weg zum Himmel ist, und dass sie deshalb himmlische Segnungen zu den Menschen bringen können, zu all denen, die in ihre Nähe kommen.
Und weißt du was, Onkel David, das stimmt wirklich. Da gibt es ein Mädchen in unserer Hausgemeinschaft, die wohnt im achten Stock. Ihr Name ist Tabitha, sie ist schon 22 Jahre alt. Als sie ein kleines Mädchen war, da hatte sie einen Unfall weit draußen im Wald, bei dem sie das Bewusstsein verlor und die Atmung aussetzte. Und da war ihr Gehirn dann zu lange ohne Sauerstoff, bevor sie beatmet werden konnte. Nach diesem Unfall konnte sie nicht mehr laufen, und auch nicht mehr so sprechen wie wir.
Jetzt sitzt Tabitha immer nur in ihrem Spezial-Massage-Stuhl vor der Wohnung ihrer Eltern. Manchmal schläft sie, und manchmal öffnet sie ihre Augen und lächelt dich an. Und jeder, der vorbeigeht, schüttelt ihre Hand, und die Kinder legen sich ihre Hand auf den Kopf, damit sie die Segnungen vom Himmel bekommen. Und die Menschen, die viele Probleme haben, die kommen und setzen sich zu ihr und reden mit ihr. Und Tabitha hört immer zu, sogar mit geschlossenen Augen.
Und wenn sie die Augen öffnet und dich anlächelt, dann fühlst wie der Stein in deinem Magen, der dir so lange auf die Lunge gedrückt hat und sogar den ganzen Weg hinauf bis in deine Kehle, sich plötzlich auflöst. Und dann ist er weg.“
David konnte Hope's Beschreibung in seinem eigenen Magen spüren, und er wusste, dass sie aus Erfahrung sprach. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte Hope die Hilfe diese Mädchens Tabitha häufig gebraucht.
David lächelte Hope verständnisvoll an. Er hatte jetzt die Bushaltestelle erreicht und stellte sich hinten in der Schlange an.
Die Frau vor ihm schob mit einer Hand einen Kinderwagen, während sie mit der anderen ein etwa dreijähriges Mädchen festzuhalten versuchte. Das Kind hatte offensichtlich etwas Interessantes am Boden gesehen. Es sah aus wie ein glitzerndes Bonbonpapier.
Gerade blies ein Windstoß das glitzernde Papier vor sich her. Aber es war keine Zeit mehr es sich genauer anzusehen, um festzustellen, ob es der Mühe wert war, es aufzuheben. Das war jedenfalls die feste Meinung der Mutter der Kleinen. Diese war im Augenblick mit der mühsamen Arbeit beschäftigt, den Kinderwagen mit einer Hand in den Bus zu hieven, während sie mit der anderen ihre Dreijährige nicht loslassen durfte, die nun mal völlig anderer Ansicht war.
Kann ich ihnen helfen?“ bot David der gestressten Mutter an, wobei er bereits nach dem Kinderwagen griff. Die junge Frau hielt den Griff daraufhin nur noch fester in der Hand und sah David misstrauisch an. „Ich schaff das schon“ behauptete sie.
David schenkte ihr sein wärmstes Lächeln, eines, das ihm früher so viele Türen und Herzen geöffnet hatte. „Bitte“, fügte er hinzu.
Und wie er es gewohnt war, so brach auch diesmal dieses Lächeln den Widerstand der Person, für die es bestimmt war: „Vielen Dank“, sagte sie und erlaubte David den Kinderwagen in den Bus zu heben.
Nachdem er das Ticket bezahlt hatte, schob er den Wagen dann den Gang entlang und sah dabei auf das immer noch schlafende Baby hinab. Im mittleren Teil des Busses hielt er an, denn dort waren Gurte angebracht, mit denen man Fahrräder und Buggys sichern konnte.
Die Frau dankte David noch einmal für seine Hilfe und erwiderte sein Lächeln, bevor sie sich mit ihrer älteren Tochter auf dem Schoß auf den Sitz neben dem Kinderwagen setzte. Die Kleine schien immer noch entrüstet darüber zu sein, dass sie womöglich einen wertvollen Schatz verloren hatte.
David beobachtete Mutter und Kind noch einen Augenblick und dachte dabei an Mikey und Tina.
Das kleine Mädchen hatte endlich aufgehört herumzuzappeln und erlaubte jetzt ihrer Mutter sie zu trösten. David lächelte die beiden noch einmal an, und dann erkannte er plötzlich, dass er heute seit langem wieder ein paar Mal ein ganz ehrliches Lächeln hervorgebracht hatte, nicht nur so eine sarkastische Mundverzerrung, wie sie ihm jetzt so oft über die Lippen kam. Überrascht bemerkte er auch, dass das, was man über das Lächeln so behauptete, sich bei ihm wirklich bestätigte. Irgendwie löste es tatsächlich in seinem Gehirn ein paar kleine Glückshormone aus. Er fühlte sich auf einmal besser.
Eigentlich hatte er diese Erfahrung schon vor langer Zeit gemacht, damals als er in der Highschool war, und als er dann nach Jahren der Rebellion und der Wut auf alles und jeden, Mr. Aristes traf. Er war dieser ganz spezielle Lehrer gewesen, von dem er am meisten gelernt hatte, unter anderem eben auch etwas über die geheimnisvolle Kraft des Lächelns. Und so hatte David begonnen sich aus seinen vielen Problemen herauszulächeln.
Zuerst war dieses Lächeln nicht immer so ganz echt gewesen, und deshalb funktionierte es einmal und das andere Mal nicht. Nach kurzer Zeit erkannte er aber, dass er sein Herz in dieses Lächeln einbringen musste. Sobald er das tat, geschah etwas, nicht nur mit den Leuten, an die es gerichtet war, sondern auch mit ihm selbst. Die Welt sah plötzlich um vieles besser aus, genau wie die Menschen um ihn herum.
Im letzten Jahr hatte er das anscheinend alles vergessen... bis er Hope getroffen hatte.
David seufzte, wobei er sich eingestand, dass wenn die junge Mutter ihn gestern gesehen hätte, sie ihm mit Sicherheit nicht erlaubt hätte, den Kinderwagen zu schieben. Er drehte sich um und ging den Gang weiter hinunter. „Oh, Mikey“, dachte er und fühlte wieder den Klumpen in seiner Kehle.
David beschloss, dass er nicht wollte, dass die Leute im Bus ihn für verrückt hielten, also formulierte er seine nächsten Worte nur in seinen Gedanken:
Vielleicht könnte ich eine Sitzung mit deiner Psychotherapeutin, Ms Tabitha, auch ganz gut gebrauchen.“
Hope hatte seine Worte ganz klar gehört und doch verwirrten sie sie: „Warum ist Tabitha eine Psychotherapeutin?“
Weißt du nicht, was das ist“, fragte David überrascht zurück. „Also du könntest einen Psychotherapeuten als jemanden beschreiben, der ganz genau zuhört, wenn du ihm von deinen Problemen erzählst, so wie das Mädchen Tabitha, von dem du mir erzählt hast. Nur dass die Therapeuten bei uns meist nicht nur zuhören, sondern auch mit dir reden.“
Ach so“, meinte Hope mit einem verstehenden Lächeln, „also solche Leute wie dein Pfarrer, oder deine beste Freundin oder deine Mama oder deine Schwester oder jemand, wie mein Großonkel Professor.“
Wahrscheinlich hast du Recht“, stimmte David ihr zu. Vielleicht war es wirklich so, dass die Psychotherapeuten seiner Zeit nichts anderes als eine Art Notbehelf waren für diejenigen, die sonst niemanden hatten.
Aber im Augenblick hatte David noch ein paar Fragen, die ihm zur Zeit viel wichtiger erschienen. Also ließ er eine ganz Reihe leerer Sitze hinter sich und ging ganz bis zu den Stehplätzen am Ende des Busses.
Niemand sonst stand dort, und so konnte David sich ziemlich sicher sein, dass ihn auch niemand hören würde, wenn er doch versehentlich einmal laut mit Hope redete. Nachdem er stundenlang auf der Parkbank gesessen hatte, würde ein bisschen stehen ihm sowieso ganz gut tun. Und außerdem würde er Hope auf diese Weise ein bessere Aussicht auf das New York des 21. Jahrhunderts verschaffen, das ja anscheinend so grundverschieden war von Hope's Welt im 23. Jahrhundert.
Wenn Hope wirklich real war, dann hatte die Zukunft eine sehr unerwartete Wendung genommen, eine die keiner vorhergesagt oder vorhergesehen hatte. David vermutete, dass das vielleicht daran lag, was die Menschen dieser Zeit von der Vergangenheit dachten, mit welchen Augen sie seine eigene Zeit und die vorangegangenen Zeitalter betrachteten.
Diese Geschichte, die dein Großonkel dir erzählt hat... Sehen alle Leute in deiner Zeit die Vergangenheit auf diese Weise“, fragte er Hope.
Sie zögerte einen Augenblick und erklärte dann: „Die Geschichte aus der Steinzeit, die ist natürlich nur erfunden. Großonkel Professor hat sie sich ausgedacht, damit er mir die Sachen besser erklären konnte, genau wie dieses Gemälde nicht wirklich eine echte Pyramide gezeigt hat. Ich meine, es gibt ja nicht wirklich irgendwelche Gebäude, die aus Schlangen gebaut wurden.“
Bist du dir da ganz sicher,“ fragte David unschuldig grinsend, „nicht einmal in meiner Zeit? Vielleicht hast du einfach noch nicht genug von meiner Zeit gesehen? Schau mal da drüben! Das ist doch riesig dort und schau dir nur die Zähne an, siehst du es nicht?“
Er deutete auf ein Kino, an dem sie gerade vorbeifuhren. An dessen Wand machte gerade ein Plakat mit einem monströsen Reptil Reklame für den Haupt-Film des Abends, der von außerirdischen Invasoren handelte.
Hope starrte fasziniert auf das Plakat, während der Bus es langsam hinter sich ließ.
Ach, du machst dich ja über mich lustig“, beschuldigte sie David
Tut mir Leid“, entschuldigte sich David, „aber weisst du, das nämlich, was dein Großonkel so von der Vergangenheit erzählt hat, das fühlt sich für mich genau so an, als wäre es ein Film von einer Invasion durch Außerirdische. So etwas, wie sie es da drüben in dem Kino zeigen. Du würdest das vermutlich eine Bildergeschichte nennen. Glauben alle Leute wirklich, dass die Menschheitsgeschichte so abgelaufen ist, wie dein Großonkel es erklärt hat?“
Hope nickte: „Ja das glauben sie, weil es nämlich so gewesen ist. So ist das im Friedensnetz so aufgeschrieben worden, und Sensei hat auch schon über viele derselben Themen geredet, wie mein Großonkel. Nur Sensei erklärt uns Schülern das nicht alles auf einmal, sondern nach und nach in kurzen Lektionen.
Letzten Monat hat er uns in einer Lektion zum Beispiel, in der es um das Coin-System der Dunklen Zeiten ging, eine Bildergeschichte vorgeführt, die hieß 'Geld als Schuld'. In der Geschichte ging es um ein scharfzähniges Monster, das Zins, genannt wurde, das wuchs und wuchs, bis es am Ende den ganzen Planeten Erde verschlungen hatte.“
Hope ließ das großmäulige Monster, das gerade die Erdkugel in den Fängen hatte, vor David's Augen erscheinen.
Möchtest du vielleicht die ganze Bildergeschichte ansehen,“ fragte sie hilfreich.
David schüttelte den Kopf: „Die habe ich schon gesehen.“
Und das hatte er wirklich. Als er so durch das Netz gesurft war, nicht so ganz nüchtern zu der Zeit, hatte er diese animierte Dokumentation eigentlich ganz lustig gefunden. Nachdem er dann aber verkatert aufgewacht war, hatte ihn die Erinnerung an diese Doku eher genervt als amüsiert. Sie war seiner Meinung nach einfach ein viel zu primitiver Erklärungsversuch für das Finanz-System der Welt gewesen.
Kein System konnte auf diese Weise funktionieren. Aber das von Hope's Welt schien dann noch viel primitiver zu sein. Und auf was war das aufgebaut? Auf nichts als gutem Willen?
Dein Großonkel hat einen ziemlich großen Teil der Geschichtslektion unserem Geldsystem gewidmet. Glaubt er wirklich, dass Geld die Wurzel allen Übels ist?“
Nun ja“, antwortete Hope vorsichtig, „irgendwie schon. Also euer Coin-Sys... ich meine 'Geld-System' das basiert auf Gier und Verknappung. Und das gibt euch dann das Gefühl, als ob es niemals genug für alle gibt, so dass nicht jeder seine Bedürfnisse befriedigen kann. Und darum müsst ihr ständig um das viel zu knappe Geld kämpfen. Und ihr müsst es horten, so dass ihr dann in der Lage seid, mit dem Gehorteten das zu kaufen, was ihr zum Leben benötigt.“
Tut mir Leid, aber das Ganze verstehe ich trotzdem noch nicht,“ unterbrach sie David. „Wie kann denn euer System vom fließenden Geld überhaupt funktionieren? Ständig müsst ihr darauf achten, dass möglichst wenig auf eurem Konto ist, damit ihr überhaupt etwas verkaufen könnt. Und dann müsst ihr auch noch ständig in irgendwelche Töpfe einzahlen. Wie könnt ihr dann jemals etwas Geld ansparen, um es einmal später zu verwenden, zum Beispiel, wenn ihr alt seid und nicht mehr arbeiten könnt?“
Die Leute müssen doch keine Coin horten, nur damit sie ihren Lebensunterhalt im Alter haben“, rief Hope. „Das wäre doch ganz und gar lächerlich. Coin haben doch gar keinen realen Wert. Die existieren nur, dass man mit ihnen reale Güter austauschen kann. Wohnungen haben einen Wert und Läden, aber doch keine Coin.“
Mit ihren extra-Coin können Leute zum Beispiel eine zweite Wohnung kaufen, und die können sie dann an junge Leute oder an Touristen vermieten. Oder sie können anderen Leuten helfen einen Laden zu eröffnen oder auch eine Werkstatt. Und auf diese Weise können sie Teil-Eigner von diesen Unternehmen werden. Bei uns in Spesaeterna sind die meisten älteren Leute Teil-Eigner von unserem größten Produktions-Betrieb.
Aber wenn jemand alt oder krank geworden ist, ohne dass er irgendetwas kaufen konnte, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, dann wird er vom Doppelzehnten seiner Hausgemeinschaft versorgt.
Der Doppelzehnte, was ist das denn nun wieder“, fragte David.
Also“, erklärte Hope, „den ersten Zehnten nennt man den kleiner Teil von dem was man verdient, den jeder in den Gesundheitstopf einbezahlen sollte. Davon werden die Gesundheitsunterstützer bezahlt. Das sind die Ärzte und die Krankenschwestern, ebenso wie die Masseure und die Apotheker.
Und der andere Zehnte sollte in den Religionstopf eingebracht werden. Die Religionsarbeiter, bei den Christen ist das Pater Maxmilian und die Diakone, die besuchen dann die armen und kranken Menschen und erfahren so wer Hilfe in irgendeiner Weise benötigt.
Niemand muss bei uns Hunger leiden oder ohne andere lebensnotwendige Dinge auskommen, wie so viele Menschen in den Dunklen Zeiten das mussten. Sensei hat uns gelehrt, wie anders es damals war und warum“, erklärte Hope bestimmt und zitierte dann betont langsam ein gelerntes Wissen in Worten, die offensichtlich nicht zu ihrem alltäglichen Sprachschatz gehörten:
Die Geldsysteme der Vergangenheit definierten die geistige Einstellung der Menschen in diesen Kulturen. Ebenso haben die kulturellen und geistigen Einstellungen der Menschen sowohl die persönlichen und als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft bestimmt. Die künstlich knapp gehaltene Kaufkraft der Dunklen Zeiten erzeugte eine künstliche Knappheit von Resourssen, die dann zu Hunger und Verzweiflung führte und oft auch zu Gewalt und Krieg.“
Also jetzt warte mal, einen Augenblick“, protestiert David. „Sagen wir mal, dass bei uns das Geld wirklich systematisch knapp gehalten wird, spiegelt das denn dann nicht einfach die ganz reale Knappheit von Resourssen wieder? Wenn mehr Geld im Umlauf wäre, dann würde das doch nur die Preise für diese Resourssen erhöhen, die nun einmal nicht in unbeschränkter Menge vorhanden sind.“
Hope schüttelte entschieden den Kopf: „Seit der Mitte der Dunklen Zeiten gab es keine echte Knappheit an Resourssen mehr, nur noch eine künstliche.“
Jetzt schüttelte David den Kopf: „Dann glaubst also nicht, dass es bei uns Dürren, Stürme oder Erdbeben gegeben hat, wodurch Ernten zerstört wurden?“
Natürlich gab es die“, erwiderte Hope, „aber doch nicht überall gleichzeitig. Und weil es schon ganz lange weltweite Handelsbeziehungen gab, da wäre es leicht möglich gewesen den Überfluss von einem Ort dorthin zu schicken, wo gerade Mangel war.“
Aber diejenigen, die lebensnotwendige Dinge brauchten, hatten nicht die Coin, um sie zu bezahlen. Und die anderen, die mehr produziert hatten als sie benötigten, hatten Angst dass sie nicht genug Coin für ihre Waren bekommen würden, um ihre Schulden bei den Banken zu bezahlen. Und so haben sie anstatt den Überfluss zu teilen ihn lieber zerstört, um künstliche Knappheit zu erzeugen und dadurch den Coin-Wert ihrer Waren zu vergrößern.“
In Ordnung“, lenkte David ein. „Nehmen wir mal theoretisch an, dass wir auf dem ganzen Planeten wirklich genug Nahrungsmittel produzieren, um die ganz Menschheit zu ernähren, da gibt es aber dann auch noch andere Resourssen, die wirklich knapp sind, Seltenerdmetalle zum Beispiel, die man doch heute für die meisten elektronischen Geräte und Maschinen benötigt.“
Also bei uns“, meinte Hope, „da sind die Coin, um Dinge zu kaufen niemals knapp. Und wenn es Resourssen gibt, die wirklich nicht für alle reichen, dann werden diese entweder teilweise oder ganz mit anderen ersetzt, die reichlich vorhanden sind. Dafür haben die Menschen ihren Einfallsreichtum, um Lösungen für Probleme zu finden, ganz besonders für die Probleme, wenn es zu wenig von etwas gibt.
Und in unserer Zeit“, fügte sie stolz hinzu, „da wird das Wissen zu Problemlösungen durch das Friedensnetz überall verbreitet.“
Das hörte sich wirklich gut an, und David war ziemlich beeintrugt. Er hatte aber doch noch ein paar Fragen: „Der Professor sagte, dass wir in unserer Zeit glauben, dass fossile Brennstoffe aus Dinosaurier-Ürberresten entstanden sind. Das glauben wir natürlich nicht, aber wir denken doch, dass sie sich aus prähistorischen Lebensformen gebildet haben, und dass sie deshalb nur in begrenztem Maße verhanden sind... Benutzt ihr eigentlich immer noch Erdöl und Erdgas? Gibt es noch etwas davon?“
Hope nickte: „Aber sicher gibt es das noch. Unsere Nation hat eine eigene Gasquelle, und unser Dorf ist an die Gasleitung angeschlossen. Aber wir haben dieses Gas schon lange nicht mehr benutzt. Wir könnten so viel Gas benutzen wir wollten. Aber weißt du, wir wären nicht so richtig unabhängig und souverän, wenn wir immer dieses Erdgas benutzen würden, um unseren Energiebedarf zu decken.
Souveränität für uns bedeutet, dass wir zumindest die Fähigkeit besitzen, unsere Lebensmittel und unsere Energie ganz selbst herzustellen. Und wenn wir dann irgendwann einmal mit anderen Dörfern um uns herum keinen Handel mehr treiben wollen, weil die vielleicht irgendwelche Bedingungen stellen, die wir nicht erfüllen können oder wollen, dann müssten wir trotzdem keine Not leiden. Denn wir könnten dann alles, was wir zuvor von diesen anderen Dörfern gekauft haben, durch eigene Produkte ersetzen. Und deshalb haben wir mit der Zeit das Gas aus der nationalen Gasleitung mit mehr Photovoltarik-Anlagen, Sonnen-Hitze-Anlagen und Windrädern ersetzt und auch durch unterirdisch liegende tiefe Thermal-Leitungen.
Thermal-Leitungen“, fragte David.
Hope erklärte: „Wir nutzen den Unterschied zwischen der Temperatur über der Erde und der unter der Erde, um unsere Wohnungen im Winter zu beheizen und im Sommer abzukühlen, indem wir Wasser durch diese unterirdischen Leitungen pumpen -mit oder ohne verstärkten Druck.
Und dann ist da auch noch die Abfallenergie ganz wichtig. Du weisst schon, die biologischen Abfälle aus den Hühnerställen und den Kuhställen, und wenn die Menschen, na ja... so auf die Toilette gehen... verstehst du?“ Hope errötete und grinste dann.
David lächelte, nickte und fragte dann doch noch skeptisch: „Könnte es nicht sein, dass ihr vielleicht nur deshalb diese Kohlenstoff Energieträger vermeidet, weil sie ja doch dem Klima zu sehr schaden würden? Das wäre zumindest meine Hauptsorge, wenn Erdöl und Erdgas wirklich in unbegrenztem Maße zur Verfügung ständen, und wenn die dann ebenso unbegrenzt benutzt würden, dann wäre das doch eine Katastrophe für unsere Welt. Der konstante Anstieg an CO2 in der Luft würde dazu führen, dass das Klima sich zu stark erhitzt und dann auch andere klimaschädliche Gase wie Wasserdampf anstiegen, und all das würde irgendwann die Erde in eine zweite Venus verwandeln...
Ich weiss, ich weiss“, unterbrach sich David bevor Hope es tun konnte, „ihr lernt in der Schule, dass ihr die Kälte zu fürchten habt und nicht die Hitze. Aber ich glaube, ihr habt Unrecht, ihr Leute wollt das nur nicht zugeben.“
Hope schüttelte ungläubig den Kopf: „Was ihr doch für eine merkwürdige Idee vom Klima habt, dass ihr alles an einem einzigen Gas festmacht. Selbst in unserer Zeit kennen wir nocht nicht alle Faktoren, die das Klima beeinflussen, hat uns Sensei erklärt.“
Und wieder zitierte Hope ihre Schulweisheit: „CO2 ist ein Faktor, der das Klima beeinflusst und Methangas ist ein anderer. Und bei CO2 ist es so, dass lange bevor es Menschen auf der Erde gab, da waren häufig die CO2 Konzentrationen in der Luft viele Male höher als sie es jetzt sind. Damals gab es dann auch viel mehr Pflanzen auf der Erde und größere pflanzenfressende Tiere.
Letztes Jahr haben wir bei Sensei etwas über die Milanchovic Zyklen gelernt -das sind die kleinen regelmäßigen Veränderungen in der Umlaufbahn der Sonne, und auch etwas über die eher unregelmäßigen Sonnenexplosionen, die kosmische Winde erzeugen. Unsere Wissenschaftler sagen, dass es vor allem diese beiden Faktoren sind, die zusammen mit den Kontinental-Verschiebungen wärmere und kältere Klima-Perioden auslösen. Veränderte Wolkenbildung und Wasserverdunstung zum Beispiel durch große Vulkanausbrüche spielen auch eine Rolle.
In der Erdgeschichte hat es haufig sehr viel wärmere und manchmal auch viel kältere Zeitperioden gegeben als gerade jetzt. In unserer Zeit wird es wieder kälter. Und unsere Wissenschaftler haben die Vermutung, dass wir jetzt bereits beinahe am Ende des Holocene sein könnten. Das ist der Name der zwischen-eiszeitlichen Periode, in der wir uns zur Zeit befinden. Sie sagen voraus, dass innerhalb dieses Jahrtausends eine neue Eiszeit beginnen könnte.
Das ist auch der Grund warum der internationale Hilfskongress die Eisbrecher-Missionen organisiert, damit wir nämlich die Chance bekommen, unsere zwischen-eiszeitliche Zeitperiode weiter auszudehnen. Sensei meint, dass es irgendwann, vielleicht in vielen hundert Jahren, einmal möglich sein wird, dass wir das warme Klima des Holocene Optimums wieder erreichen können. Das war die Zeit damals vor 8000 Jahren, die wärmste und fruchtbarste Periode unserer gegenwärtigen zwischen-eiszeitlichen Ära, in der die Menschen den Ackerbau erfunden haben. Aber zur Zeit können wir nur hoffen eine weitere Abkühlung zu verhindern.“
David war jetzt mehr als skeptisch: „Wie soll denn so ein Eisbrechen eine Abkühlung verhindern?“
Weil man damit vielleicht das Eis-Feedback stoppen kann“, erklärte Hope und ging dann ins Detail:
In kühleren Zeiten sammelt sich mehr Eis im Winter an, als dann im Sommer geschmolzen wird. Das vergrößert die Gletschermasse auf dem Planeten und hat dadurch einen kühlenden Einfluss auf das umliegende Land und somit auf das Klima an sich. Das Eis ist dann zusätzlich noch so weiß, dass es die wärmenden Sonnenstrahlen weniger gut aufnehmen kann, sondern sie ungenutzt ins All zurückreflektiert. Dadurch wird dann noch weniger Eis im Sommer geschmolzen.
Dieses Feedback der größeren Gletschermassen führt dazu, dass die Abkühlung immer schneller und schneller voranschreitet, so lange bis die Hälfte der nördlichen Hemisphäre unter einer dicken Eisschicht begraben liegt.
Aber wenn wir jedes Jahr so viel Eis schmelzen können, wie es zwar im Winter aufgebaut, aber im Sommer von der Sonne nicht geschmolzen wird, dann können wir unter Umständen den Teufelskreis der Abkühlung und des Eis-Feedbacks durchbrechen. Wir könnten dann vielleicht die lebenszerstörenden Gletschermassen auf unseren Kontinenten verhindern. Das wäre gut für uns und für alle Tiere und Pflanzen, die mit uns auf der Erde leben. Und dadurch würden die Menschen zu einem Segen für den ganzen Planeten.“
Das hörte sich für David einfach zu gut an, um wahr zu sein. Es konnte ihn nicht überzeugen. Der Gedanke, dass wir das Abkühlen des Planeten fürchten müssen und nicht die globale Erwärmung, und dass die Menschheit ein Segen für die Erde und nicht ein Fluch für sie sein könnte, war eine einfach zu fremdartige Vorstellung für David's Verständnis von der Welt. Es widersprach viel zu vielen Theorien, die David sein ganzes Leben lang für die absolute Wahrheit gehalten hatte.
Er schüttelte den Kopf: „Ich glaube es einfach nicht... Ich weiss, ich weiss genau, dass du jetzt denkst, ich sein ein Opfer der kognitiven Dissonanz-Ich kann nur das sehen und glauben, was ich gelernt habe zu glauben.
Aber sag mir mal eines, Hope. Wie kannst du so verd...“ Er schluckte das Wort herunter und begann noch einmal: „Wie kannst du so sicher sein, dass du nicht selbst ein Opfer der kognitiven Dissonanz bist -dass es nicht du und deine Leute es sind, die Dinge glaube, die einfach falsch sind, grundfalsche wissenschaftliche Theorien, zum Beispiel? Könnte es nicht sein, dass genau deine Leute Irrtümer als angeblich bewiesene Fakten darstellen und eine Pseudo-Wissenschaft kreiert haben?“
Hope biss sich auf die Lippe und dachte eine Weile nach: „Ich denke, du könntest Recht haben, und wir könnten genau so falsch liegen wie ihr. Aber wir hatten immerhin noch über 200 Jahre mehr Zeit, um unsere Wissenschaft zu entwickeln und das Klima zu beobachten. Es wäre doch nur logisch, dass wir irgendetwas in all dieser Zeit gelernt haben, oder meinst du nicht?“
Hope's Worte hörten sich ein wenig selbstgefällig an, aber ganz unlogisch waren sie auch nicht. Aber dann fielen David die ganzen anderen Behauptungen ein, die der Professor in seiner kleinen Geschichtsreise aufgestellt hatte. Meine Güte, er hatte ihn, oder wenigstens Hope beinahe dazu gebracht, das Verbrennen von Heretikern gut zu heißen.
Na ja, eigentlich hatte er das ja nicht getan, musste David sich eingestehen, und trotzdem... so wie der Professor die Menschheitsgeschichte dargestellt hatte, das war so... so... anders. Die Guten, wie David es gelernt hatte, waren beim Professor die Bösen geworden. Es war praktisch eine Geschichtsschreibung, die auf den Kopf gestellt war... das war einfach zu viel, als dass David es akzeptieren konnte.
Also dein Großonkel, der redet wirklich sehr viel“, kommentierte David.
Aber ich mag es, wie er redet“, verteidigte Hope, die natürlich David's Gedanken gefolgt war, ihren geliebten Großonkel.
Er redet mit mir als wäre ich erwachsen. Er glaubt nicht, dass ich immer noch zu jung dafür bin, schwierige Themen zu verstehen, so wie die anderen Erwachsenen das glauben.“
David schwieg nun, während er beobachtete, wie die Häuser vor dem Busfenster an ihm vorbeizogen. Sich auf diese so vertraute Landschaft New Yorks zu konzentrieren, hatte etwas Beruhigendes. Inzwischen hatten sie die Bronx hinter sich gelassen und fuhren nun durch die Straßen von Manhattan mit seinen viel höheren Gebäuden in der eleganteren Umgebung. David spürte wie Hope den Anblick mit einer Mischung von Faszination und Ungläubigkeit aufnahm. Sie hatte so etwas noch nie zuvor gesehen.
David hatte aber immer noch Fragen: „Weisst du Hope, das merkwürdigste an der Geschichte deines Großonkels ist das Ende, als die sogenannte Pyramide der Macht sich plötzlich auflöste und verschwand. Die ganze Zeit hatte er ständig von diesen 'grund-bösen' Marodern geredet, deren Macht und Reichtum konstant angewachsen sind. Und nach all dem sollten die dann ganz plötzlich und ohne eine Revolution ihre Macht aufgegeben haben, nur wegen so einem 'Wahrheitslicht'?
Und dann gab es da noch nicht einmal Massenverurteilungen. Keine Schreie nach Rache wurden laut unter der Bevölkerung, während sich diese Machteliten selbst von einem Augenblick zum nächsten einfach so auflösten? Das hört sich ja nun mehr als unwahrscheinlich an.“
Aber so ist es wirklich geschehen,“ beharrte Hope auf ihrer Narrative. „Genau so, wenn auch nicht in einem einzigen Augenblick. Es brauchte eine gewisse Zeit, wie alles in der Geschichte der Menschheit, eigentlich eine ganze Menge Zeit. Fast ein ganzes Jahrhundert hat es gedauert, bis die Welt sich völlig transformiert hatte. Erst vor ein paar Wochen haben wir etwas über diese Übergangsperiode in der Schule gelernt.“
David sah Hope immer noch skeptisch an, doch sie redete einfach weiter: „Als die Wahrheit über die falschen Kriegsgründe an den Tag kamen, da weigerten sich immer mehr Soldaten, in den Krieg zu ziehen oder in diesen Kriegen Leute zu erschießen. Und die Richter wollten diejenigen, die nicht mehr kämpfen wollten, auch nicht mehr verurteilen.
Als alle die Wahrheit über das korrupte Coin-System erfahren hatten, da weigerten sich dieselben Richter den Banken das Recht zuzusprechen, die Menschen aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Und die Polizisten wollten auch nicht mehr länger dabei mithelfen, den Menschen ihr Land und ihre Häuser wegzunehmen.
Gleichzeitig begannen Menschen in der ganzen Welt damit, ihre eigenen Dorf-Coin zu entwickeln, und mit denen dann Handel zu treiben. Die Dörfe und die Städte eröffneten ihre eigenen Banken, die nicht mehr den Marodern gehörten. Immer mehr Menschen -und am Ende waren es alle Menschen- wandten sich von den Maroder-Banken ab, um ihren Coin-Bedarf nun mit Krediten von den kleinen Banken deckten.
Die Menschen fingen auch an, immer mehr mit den kleinen Produktionsstätten Handel zu treiben statt mit den großen, die den Marodern gehörten. Und als die Maroderbanken und die Maroderproduktionsstätten die allermeisten Menschen nicht mehr davon überzeugen konnten, mit ihnen Handel zu treiben, da verloren sie ihre Macht und konnten nicht mehr existieren.
Als immer mehr Wahrheit ans Licht kam und immer mehr Lügen aufgedeckt wurden, da wollten dann sogar die Politiker nicht mehr auf der Seite der Maroder stehen.
Als dann nach und nach die Maroder-Philosophien ihre Macht über die Gedanken der Menschen verloren hatten, da veränderte sich das Bewusstsein. An dem Punkt angekommen, wurden dann alle Banken abgeschafft und durch Dorfkonten mit Intercoin ersetzt, damit die Dörfer überall auf der Welt ganz direkt miteinander Handel treiben konnten. Und für die Intercoin durfte niemand mehr Zinsen verlangen.
Und das war dann der Zeitpunkt, als die Politiker beschlossen sich selbst abzuschaffen. Und so wurde die Macht, Entscheidungen über die Regeln zu treffen, denen die Menschen folgen sollten, den Menschen in ihren Dörfern selbst gegeben.
David schüttelte den Kopf: „Das ist unmöglich, absolut unmöglich“, rief er laut, bevor er sich darauf besann, wo er war und dann den nächsten Satz wieder in seinem Kopf formulierte.
Ein Militär, das sich weigert in den Krieg zu ziehen, Politiker, die sich selbst überflüssig machen, eine globalisierte Welt, die sich in kleine Dörfer dezentralisiert und mächtige reiche Eliten, die nichts tun, ihre Macht und ihren Reichtum zu bewahren... das wäre doch gegen die menschliche Natur, gegen historische Vorbilder, gegen jegliche Logik. Wie sollte so etwas geschehen?“
Hope war etwas frustriert über diesen Mangel an Verständnis, und so fragte sie:
Kannst du das nicht sehen? Wenn das Wahrheitslicht scheint, dann können die Rechtfertigungen dafür, schlimme Dinge zu tun, nicht mehr bestehen. Das Bewusstsein von fast allen Leuten ändert sich dann. Was die Leute früher für gut und richtig gehalten haben, das wird dann zur Schande.
Habgier wird dann eine Schande, Selbstsucht und Geiz wird dann zur Schande genau wie Machtgier. Und die Söhne und Töchter der Maroder wollten nicht länger das tun, was ihre Eltern getan haben, weil sie sich dafür schämten. Stattdessen sind sie aus ihren großen Häusern hervorgekommen, und dann haben sie alles erzählt, was sie wussten. Und auf diese Weise haben sie dazu beigetragen, dass noch mehr Wahrheit ans Licht kam...“
Hope's Stimme wurde schwächer. Obwohl sie gerade einen positiven Prozess beschrieben hatte, spürte David, wie ganz plötzlich wieder eine Welle von Schmerz von ihr ausging.
Er sah sie überrascht an und fühlte, wie die Worte 'Nephilim City' wieder alle anderen Gedanken erdrückte, obwohl Hope ganz schnell versuchte diese Worte abzublocken.
Noch überraschter war David, als er spürte wie sich ihr Schmerz auf einmal in einen rasenden Zorn verwandelte.
Der Bus hielt an, wahrscheinlich wegen einer roten Ampel, denn der Verkehr selbst war zur Zeit gar nicht so dicht.
Es gab da einiges zu sehen: Ein Einkaufszentrum in den unteren Stockwerken eines Hochhausen und eine Menge Leute, die des betraten und verließen. Auf dem Bürgersteig waren ein paar Touristen über eine Karte gebeugt. Ein anderer beugte sich gerade so weit nach hinten, nur um den richtigen Winkel für seine Aufnahme zu finden, dass er beinahe auf den Hintern gefallen wären. Seine Frau oder Freundin stand daneben und lachte sich einen ab.
Doch Hope schien weder an dem Gebäude, noch an den Menschen davor interessiert zu sein. Stattdessen war ihr Blick auf den uninteressantesten Teil der Umgebung gerichtet, auf eine Reklametafel für eine Investmenbank, die an einem der oberen Stockwerke des Hochhauses angebracht war.
Sie zeigte ein gutkleidetes Paar, bei dem die Frau ein scheinbar schwereloses Investment-Portfolio über ihrem rechten Zeigefinger balanzierte. Der Slogan darüber verkündete: „Erfolgreiche Leute vertrauen uns ihre Zukunft an!“
David fühlte wie Hope's Zorn sein eigenes Bewusstsein fast überwältigte, aber er konnte es sich für die Welt nicht ausmalen, was eigentlich diese Überreaktion hervorgerufen hatte.
Hope, das ist doch gar nichts“, versuchte er sie zu beruhigen „nichts als ein Werbeplakat. Es hat überhaupt nichts mit der richtigen Zukunft zu tun.“
Hope starrte immer noch auf das Werbeposter, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Die Bus fuhr wieder los und sie ließen das Plakat hinter sich. Endlich fing Hope wieder an zu sprechen, und was sie sagte, überraschte David wirklich: „Ich hasse ihre Kleidung! Dieses hässliche, hässliche Kleid!“
Jetzt starrte David sie an. Die Frau auf dem Plakat hatte ein tiefausgeschnittenes Designer-Abendkleid getragen, das an der Seite einen Schlitz hatte, der fast bis zur Hüfte reichte, wodurch sie eine perfekte Figur und ein fast unmöglich langes Bein zur Schau stellte.
Jetzt fiel es David wieder ein, wo er die beiden Models auf dem Plakat schon gesehen hatte. Es waren die Hauptdarsteller eines neuen Blockbusters gewesen. David hatte den Trailer gesehen, und wenn er sich recht erinnerte, dann hatte die Dame dort ihre langen Beine dazu benutzt, einer ganzen Reihe von Männern in den Hintern zu treten.
David fing an zu lachen: „Das Kleid- das ist wirklich das, was dich so sauer macht? Ich hab ja schon gesehen, dass der Kleidergeschmack in deinem Jahrhundert anders ist als heute. Also deine Kleidung würde in meiner Zeit nicht gerade als cool durchgehen. Aber warum solltest du dich darüber so aufregen? Die Mode hat sich halt verändert.“
Hope schüttelte heftig ihren Kopf: „Meine Kleidung soll doch gar nicht cool sein. Meistens soll sie mich warm halten. Der Stoff ist thermostatisch, er soll immer die optimale Temperatur für meinen Körper erzeugen. Die Kleidung soll mich wärmen, wenn es kalt ist und mich abkühlen, wenn es heiß ist, wenn ich Sport treibe, oder wenn ich Fieber habe.
Hier oben ist der Thermostat und die Batterien“, erklärte sie und berührte ihre Schulterpolster. „Und von hier und hier“, sie berührte ihre Armbündchen und den Schirm ihrer Mütze, „wird warme oder kühle Luft ausgeströmt, die über mein Gesicht und meine Hände bläst. Das ist die perfekte Kleidung für Menschen. Und das da drüben“, sie zeigte in Richtung des Plakats, „ist weder dazu da dich warm noch kühl zu halten. Es ist Kleidung um Frauen weh zu tun, die so was tragen müssen.“
Jetzt schüttelte David ungläubig seinen Kopf: „Dieses Kleid wird bei uns als modisch und chic angesehen. Und außer vielleicht dem Ehemann, der die Rechnung bezahlen muss, so tut das Kleid keinem weh. Tatsächlich würden viele Frauen alles dafür geben, wenn sie sich so ein Kleid leisten könnten und es ihnen auch noch so gut stehen würde, wie dieser Schauspielerin auf dem Plakat.“
Hope war immer noch grundlos wütend: „Das sieht nicht gut aus, nicht für Frauen jedenfalls. Und diese Frau hat das nur angezogen, weil sie sonst ihren Lebensunterhalt nicht verdienen konnte. Es ist nur für Männer gemacht, nur für Männer, so dass sie die nackte Haut von der Frau sehen können. Darum zwingen die Männer die Frauen so etwas anzuziehen, sie sollen halbnackt herumlaufen, damit die Männer sie demütigen können, während sie selber völlig angezogen sind, wie der Mann neben der Frau in dem Bild. Diese Dunkel-Zeit-Männer, diese bösen, bösen Männer. Die wollen jede Frau zu etwas machen, etwas... Ich weiss nicht, etwas... was sie benutzen können, kein richtiger Mensch mehr. Erst schauen sie die Frau mit gierigen Augen an, und am Ende tun sie ihr weh, sie tun ihr Gewalt an!!!“
Hope brüllte die letzten Worte jetzt so laut, dass David sich instinktiv umsah. Natürlich hatte niemand außer ihm sie gehört.
Was um Himmels Willen hatte diesen Wutausbruch ausgelöst, und was sollte er darauf erwidern? Langsam formte sich ein Verdacht in ihm. Er versuchte ihn so taktvoll wie möglich auszusprechen: „Hat dir vielleicht jemand auf diese Weise Gewalt angetan?“
Hope schüttelte den Kopf.
Daraufhin fragte David weiter: „Dann war es vielleicht jemand, den du kennst?“
Hope antwortete diesmal nur zögerlich: „Ich kenne sie nicht wirklich gut. Sie ist ja acht Jahre älter als ich. Aber es stimmt, ihre wurde Gewalt angetan, sehr, sehr schreckliche...“
David spürte, dass Hope, obwohl sie erklärt hatte, dieses Mädchen nicht sehr gut zu kennen, sich doch mit ihr identifizierte. Und deshalb fragte er vorsichtig: „Und hat so ein Kleid in dem, was mit diesem Mädchen geschehen ist, eine Rolle gespielt?“
Hope nickte: „Sie haben sie gezwungen diese Kleidung zu tragen und danach...“ Hope schloss ihre Augen, und Tränen begannen ihr übers Gesicht zu strömen.
Ist das in deinem Dorf passiert“, fragte David
Hope schüttelte entrüstet den Kopf: „Natürlich nicht! Niemand in meinem Dorf würde eine Frau auf diese Weise verletzen... niemals. Und niemand würde bei uns so ein Kleid herstellen. Das wäre gegen die Paarwerdensregeln von Spesaeterna.“
Paarwerdenssregeln?“
Hope begann zu erklären: „Das Paarwerden bedeutet, wenn ein Mann und eine Frau...“ Sie presste beide Hände mit den Handflächen aneinander, scheinbar in einer Geste des Gebets, trotzdem verstand David, was sie meinte: „Ich verstehe. Aber was sind die Paarwerdensregeln?“
Hope trocknete sich die Tränen und ihre Stimme festigte sich wieder, die Regeln ihrer Welt zu erklären, schien sie zu beruhigen.
Sie zitierte: „Das Paarwerden ist die wunderbare Vereinigung zweier Menschen, und es sollte nur zwischen zwei verheirateten Menschen geschehen, und zwar an einem privaten Ort und hinter verschlossenen Türen. Alles, was zu einem künstlich gesteigerten Paarwerdensverlangen führt, ist verboten. Dazu gehören Nacktheit oder Paarwerdensküsse in der Öffentlichkeit, so wie Paarwerdensbilder oder Bildergeschichten.“
Sie fügte hinzu: „So ein Kleid wie das, was wir gesehen haben, das würde als Nacktheit in der Öffentlichkeit angesehen werden.“
Nach der Kleidung, die in Hope's Dorf getragen wurde, zu schließen, hatte David bereits vermutet, dass ihre Welt eher puritanisch angehaucht war. Aber diese Paarwerdens-Regeln, waren dann doch strenger als er es erwartet hatte. Und diese Wendung der Zukunft direkt zu den Sitten und Gebräuchen der Vergangenheit gefiel ihm gar nicht.
Ohne darüber nachzudenken entfuhr es ihm darum: „Und wer immer diese Regeln bricht, der wird gesteinigt, oder?“
Im selben Moment als er sie aussprach, bereute er diese Bemerkung auch schon. Sie war taktlos gewesen. Und er wollte Hope wirklich nicht noch mehr aufregen.
Sie nahm seine Worte allerdings gar nicht so schlecht auf: „Gesteinigt?“ fragte sie.
Du meinst so wie in der Bibel? Nein, natürlich tun wir so was nicht. Bei uns wird überhaupt kein Regelbrecher getötet, wie ihr das bei euch in den Dunklen Zeiten getan habt. Nein, nein, schwere Regelbrecher, also Leute, die andere Menschen schwer verletzt haben, oder Leute, die nicht aufhören wollen die Spesaeterna Regeln zu brechen, die werden einfach nur ins Exil geschickt.“
Ins Exil“, fragte David nicht sicher, was das konkret bedeuten sollte.
Hope erklärte es ihm nun in ruhigem Ton: „Wenn ein schwerer oder häufiger Regelbrecher ein Jugendlicher ist, also jemand, der jünger ist als 25 Jahren, der wird dann vom Dorfrat zu einem zeitlich begrenzten Exil verurteilt. Jugendliche werden von ihren Hormonen oft so stark beeinflusst, dass ihr Verstand verwirrt ist. Und deshalb tun sie dann Dinge, die sie nicht tun sollten, weil sie sich nicht richtig beherrschen können.
Das Exil dauert dann ein paar Wochen oder Monate, manchmal sogar ein Jahr oder mehr. Es kommt darauf an wie schlimm der Regelbruch war. Der Exilant bekommt ein Sonnenmobil von seiner Hausgemeinschaft ausgeliehen, und dann wird er damit zu einem Reisenden. Man kann darin schlafen. Und in seiner Datenbank ist alles über die Natur gespeichert ebenso wie die Landkarten der ganzen Welt. Die Reisenden bekommen auch einen Pflanzen-Scanner, mit dem man herausfinden kann, ob Pflanzen, Pilze oder Wurzeln essbar sind. In dem Sonnenmobil sind auch Feuersteine, um Feuer zu machen, ebenso wie Feuerschutzsteine, die um das Feuer gelegt werden und verhindern, dass Funken im Unterholz einen Brand auslösen. Und dann sind in dem Vehikel noch eine Angelrute, um zu fischen und eine Elektroschock-Pistole, um kleine Tiere zu jagen.
Wenn sich ein Reisender aber selbst nicht mit genug Essen versorgen kann, dann existieren da immer noch am Rand der meisten Dörfer Essens-Stationen. Das sind Gefrierboxen, in die ein dortiger Pfarrer, ein Imam oder ein Shifu Lebensmittel legt, damit die Reisenden, die an den Stationen vorbeikommen, sich das Essen von dort nehmen können.
Jeder Reisende bekommt ein spezielles Armband, das Informationen über seine Gesundheit sammelt und diese an sein Dorf weiterleitet. Wenn der Reisende dann krank ist, dann löst dieses Armband einen Alarm in seinem Dorf aus, so dass von dort das nächstgelegene Dorf gebeten werden kann, sich um den Reisenden zu kümmern. Dann wird auch der Isolier-Pulsator abgeschaltet, damit die Menschen aus dem anderen Dorf ihm wirklich helfen können. Und das tun sie dann auch, genau wie wir Reisenden aus anderen Dörfern helfen würden.“
Was ist denn ein Isolier-Pulsator“, fragte David.
Also“, erklärte Hope, „wenn ein Reisender ein Exilant ist, dann bekommt er ein Armband, das ein isolierendes elektro-magnetische Kraft-Feld in einem Umkreis von 5 Metern um ihn herum erzeugen, um Tiere und Menschen abzuschrecken, die sich ihm nähern wollen. Es gibt dem Reisenden auch selbst einen elektrischen Schock, wenn er versucht sich anderen zu nähern.
Sensei hat uns erklärt, dass so ein Pulsator notwendig ist, damit ein gewalttätiger Exilant keine anderen Menschen auf seinen Reisen verletzen kann. Einmal in der Woche bekommt der Reisende dann auch über Satellit Zugang zum Friedensnetz, damit er seine Eltern anrufen kann.“
Auf Hope's fragenden Blick hin, nickte David, dass er verstanden hatte. Das Strafrecht in Hope's Zeit sah also -zumindest für Teenager und junge Erwachsene- eine Art von Einzelhaft vor, und zwar nicht in einer Zelle, sondern draußen in der Natur. David war sich nicht sicher, ob man das wirklich als eine Verbesserung zu den Gefängnisstrafen seiner Zeit ansehen konnte. Schließlich wurde ja von vielen Experten Einzelhaft zu einer Foltermethode erklärt. Andererseits stellte sich die Frage, ob man es denn wirklich eine Einzelhaft nennen konnte, wenn die Leute gar nicht eingesperrt waren, sondern sie sich frei draußen bewegen konnten.
Was David mit noch mehr Unbehagen füllte, war die Frage, dass manche dieser Kids auf diese Weise vielleicht für so etwas harmloses wie einen Kuss in der Öffentlichkeit bestraft wurden.
Betont vorsichtig, um Hope nicht zu beleidigen, fragte David sie: „Also eure 'Paarwerdens-Regeln' sind die deshalb so streng, weil deine Welt sehr religiös ist?“
Hope schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht der Grund“, erwiderte sie. „Klar, es ist schon so, dass in den heiligen Schriften alle großen Religionen strenge Paarwerdens-Regeln aufgeschrieben sind.
Das ist deshalb, weil der liebe Gott uns so gut kennt, und uns vor unseren Fehlern beschützen will. Schließlich hat Er uns so gemacht, wie wir sind. Und Paarwerdens-Regeln sind für Menschen eine physiologische Notwendigkeit.“
Wirklich“, fragte David skeptisch. „Ich weiss auch, dass sexuell übertragene, ich meine durch die 'Paarwerdung' übertragene, Krankheiten existieren. Aber unsere heutige Medizin hat die meisten dieser Krankheiten bereits ziemlich harmlos werden lassen. Und ich würde doch annehmen, dass die Medizin in deiner Zeit weitere Fortschritte gemacht hat.“
Ich weiss nichts über solche übertragenen Krankheiten“, antwortete Hope. „Ich habe noch nie von so etwas gehört. Aber ich weiss, dass die Gefahr in der Physiologie des Gehirns liegt.“
Des Gehirns“ fragte David, „in wie fern denn?“
Hast du schon einmal etwas von Neurotransmittern gehört“, gab Hope zurück.
Als David nickte, fuhr sie fort: „Da sind mehrere unterschiedliche Neurotransmitter zusammen mit Paarungs-Hormonen an dem Prozess der Paarwerdung beteiligt. Alle sind sie dafür notwendig, und doch sind diese Neurotransmitter nicht in unbegrenztem Maße im Gehirn vorhanden.
Die eigentliche Funktion des Paarwerdens ist es Babies zu haben und gleichzeitig die Beziehung der Eltern so zu stärken, dass sie ihr Baby in Sicherheit großziehen können.“
David war anderer Meinung, aber er behielt das für sich.
Hope fuhr fort: „Einige Neurotransmitter im Gehirn, besonders das Dopamin, kontrollieren wieviel Paarungshormone dem Körper bereit stehen. Dopamin erzeugt Verlangen, jede Art von Verlangen, wie das nach Nahrung oder das nach Wissen und Verstehen, das Verlangen nach Freude und Glück, und eben auch das Verlangen nach Paarwerdung.
Zu bestimmten Zeiten da sind sowohl Dopamin als auch die primären Paarungshormone im Überfluss vorhanden. Und wenn dann das Paarwerdungs-Verlangen gestillt wurde, dann wird durch die Ausschüttung großer Mengen verschiedener Neurotransmitter, ein Hochgefühl im Gehirn erzeugt. Eines dieser Neurotransmitter, das Serotonin, erzeugt auch ein anhaltendes Gefühl der Befriedigung.
Wenn das Paar dann ein Baby bekommen hat und sie es gemeinsam großziehen, dann bleibt der Serotonin-Spiegel eine Zeit lang hoch und unterdrückt das Dopamin im Gehirn und vermindert so das Verlangen nach weiterer Paarwerdung. Nach einer Weile, wenn das Paar bereit ist ein weiteres Baby zu zeugen, dann dreht sich der Prozess wieder um.
Aber wenn das Paar älter wird, dann fällt der Dopamin-Spiegel im Allgemeinen, und das zeigt an, dass jetzt genug Zeit war Kinder zu haben und jetzt kommt die Zeit sie gut zu erziehen bis sie ganz erwachsen sind. Wenn das geschieht, dann verringert sich das Verlangen nach Paarwerdung, genau wie die Fruchtbarkeit, also die Fähigkeit Babies zu haben.“
David erkannte, dass der Sexualkunde-Unterricht in der Zukunft ganz offensichtlich nichts anderes als eine Lektion in Hirn-Chemie zu sein schien. Wenn er an die Bananen-Lektionen aus seiner Schulzeit dachte, die immer von teils hysterischen teils peinlichen Lachattacken der ganzen Klasse begleitet wurden, dann war Sexualkunde zu seiner Zeit entschieden aufregender gewesen.
Bananen-Lektionen,“ fragte Hope, und David unternahm alle Anstrengungen sie aus seinen automatisch folgenden Gedanken auszuschließen. Die waren jetzt wirklich nicht ganz passend.
Eigentlich gar nix“, winkte er ab.
Hope zuckte mit den Achseln und fuhr fort: „Aber es gab Zeiten, in denen die Menschen unter schweren Stress erzeugenden Bedingungen lebten, zum Beispiel nach Naturkatastrophen, Epidemien oder in Zeiten von Krieg und Unterdrückung. Immmer dann, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden können, dann bleibt der Dopamin-Spiegel konstant hoch, und somit sind dann auch mehr Paarungshormone im Blut. Andere Neurotransmitter steigern die Fruchtbarkeit und deshalb können die Menschen unter diesen Bedingungen mehr Babies haben.“
David musste zugeben, dass diese Erklärung nicht ganz unlogisch zu sein schien, wenn man bedachte, dass die Geburtenraten in den Ländern mit den schlechtesten Lebensbedingen oft am höchsten waren. Und das schien sogar bei den ausgegrenzten Minderheiten in den reicheren Ländern so zu sein.
Hope nickte zu David's Gedanken: „Der Grund dafür ist, dass dann wenn wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt werden, sich das Dopamin mit einem Stresshormon verbindet, das wiederum die Paarwerdungshormone fördert und das Verlangen nach Paarwerdung.
Weil jedoch die Paarwerdung so ein Hochgefühl erzeugt, darum haben die Leute in vielen Zeitaltern versucht, ihr Verlangen danach und ihre Fähigkeit dafür über das natürliche Maß hinaus zu steigern. Manchmal haben sie bestimmte Lebensmittel und Chemikalien dafür benutzt. Und manchmal waren es bestimmte Formen der Nacktheit, oder sie haben sich selbst oder andere gedemütigt oder Bildergeschichten von so etwas gemacht. Das würde dann genug Stress erzeugen, um diese Hormone ansteigen zu lassen.
Aber weil das Serotonin nicht in unbegrenztem Maß vom Körper erzeugt werden kann, darum kann es nach solchen ungewöhnlich hohen Paarwerdungs-Aktivitäten auch kein tiefes Gefühl der Befriedigung erzeugen. Es gibt dann ein kurzes Hoch und danach ein Gefühl tiefer Enttäuschung und Leere, das nur durch ein Verlangen nach immer größeren Paarwerdungs-Demütigungen oder Bildern davon verdrängt werden kann.
Und was daraufhin folgt, weil dieses Gefühl des Verlangens nie wirklich befriedigt wird, ist ein wachsender Spiegel des Stresshormons im Blut, das die Menschen dann immer agressiver macht. Bis sie dann gewälttätig werden, eine Gefahr für den Frieden...“
Was David jetzt hörte, war nicht mehr Hope's Stimme, sondern die von Sensei, ihrem Lehrer: „Wir hier in Spesaeterna glauben, dass eine Gemeinde, die die unnatürliche Praxis von Paawerdungs-Demütigungen und Bildern von so etwas nicht unterbindet, niemals in der Lage sein wird, den Frieden im Inneren und nach außen zu seinen Nachbarn hin zu wahren.“
Ja das schien wirklich eine wissentschaftliche Erklärung für die puritanische Geisteshaltung in Hope's Dorf zu sein. Und wenn das mit den Neurotransmittern wirklich stimmte -und David zweifelte eigentlich daran-, dann würde das irgendwie sogar Sinn machen. Und trotzdem fühlte er sich unwohl damit.
Ihm war beigebracht worden, dass es genau diese sexuellen Restriktionen waren, die eine Gesellschaft gewalttätig machten. 'Macht Liebe – nicht Krieg' war einmal ein berühmter Slogan gewesen. David hatte auch gehört, dass es nun einmal die brutalen, autoritären Regime waren, die die Sexualität ihrer Untertanen am meisten unterdrückten. Was wäre, wenn die religiösen Autoritäten aus Hope's Dorf einen Weg gefunden hätten, wie sie ihre religiösen Vorurteile als pseudo-wissenschaftliche Fakten verkaufen konnten?
Nein, nein, nein, diese Fakten sind nicht pseudo-wissenschaftlich, die sind wahr, wirklich wahr,“ stieß Hope hervor. Sie war dabei so erregt, dass David bereute seine Gedanken nicht besser im Griff gehabt zu haben.
Ich weiß, dass das wahr ist,“ wiederholte Hope.
In Ordnung,“ lenkte David ein.
Hope atmete tief ein und aus und fuhr dann fort:
Sensei hat uns in seiner Lektion letztes Jahr auch erklärt, dass sich während der Pubertätsphase die Hormone und Neurotransmitter immer noch anpassen müssen. Und wenn wir das Gefühl hätten, dass wir nicht nach den Regeln leben könnten, weil wir uns wegen unserer Hormone die ganze Zeit frustriert fühlten, dann sollten wir nicht warten bis wir zu Regelbrechern würden, statt dessen sollten wir freiwillige Reisende werden. Ein freiwillig Reisender kann sich selbst aussuchen wie lange er in der Wildnis bleiben will, wo er über sich selbst und seinen Platz in Gottes Schöpfung nachdenken kann. Dabei kann er den Vögeln zuhören, den Wald und die Natur um sich betrachten und zu den Sternen aufschauen...“
Vor David erschien die Projektion einer einsamen Person, die in einem geflügelten Fahrzeug mit einem durchsichtigen Dach lag, in mitten einer Waldlichtung unter einem sternenbedeckten Firmament. Die Flügel waren offensichtlich nicht zum Fliegen gedacht, sondern sie enthielten die Solarzellen, die das Fahrzeug mit Antriebsenergie versorgten.
Und jetzt hörte David wieder die Stimme von Sensei: „Selbst Erwachsene beschließen manchmal freiwillige Reisende zu werden, um Zeit für die stille Einkehr und Reflektion ihres Lebens zu finden. Und für Jugendliche ist es so viel besser, als wenn sie später Exilanten werden müssten. Denn in vielen Dörfern der Welt traut man denen nicht, die schon einmal Exilanten waren, zumindest nicht für eine sehr lange Zeit. Projekt-Anleiter wollen sie in ihren Teams nicht haben, und es dauert auch eine lange Zeit, bis die meisten Dörfer diese Leute wieder als Touristen willkommen heißen. So ihr seht, dass das eine sehr ernste Angelegenheit ist.“
Die Projektion des Fahrzeugs verschwand, und jetzt konnte David wieder Hope's Klassenzimmer erkennen.
Dieses Mal saßen nur die älteren Schüler um ihren Lehrer herum. Aus den Augenwinkeln konnte David sehen, dass die jüngeren Kinder damit beschäftigt waren holografische Bilder schwebender Würfel in eine bestimmte Ordnung zu bringen. Er konnte sie kichern hören, es schien eine lustige Aufgabe zu sein.
Die Stimme von Sensei war jedoch todernst. Obwohl er leise sprach, hatte sie doch einen autoritären Tonfall, der keinen Widerspruch duldete: „Niemals, niemals, nie dürft ihr euch jedoch frühzeitig zu Erwachsenen erklären lassen! Ihr müsst nicht vorzeitig heiraten! Wenn die Person, die ihr heiraten wollt, nicht auf euch warten will, dann ist sie einfach nicht die richtige für euch! Habt ihr mich verstanden?!“
Die älteren Schüler nickten, und David spürte ihre Verunsicherung, genau wie die von Hope. So hatten sie ihren Lehrer noch nie gesehen. Sie spürten, dass etwas geschehen war, von dem er ihnen nichts erzählen wollte.
Statt dessen fuhr er mit seiner Lektion fort: „Wenn jemand, der einen schwerwiegenden Regelbruch begangen hat, älter als 25 Jahre ist, was geschieht dann mit ihm? Weiß das jemand von euch?“
Hope wusste es, aber sie meldete sich nicht dazu. Diese neue Art ihres Lehrers, den Unterricht zu halten, erschreckte sie. Ein Junge namens Jason gab die Antwort: „So eine Person wird nach Orange Country geschickt, weil es jemand ist, der nicht nach den Regeln unseres Dorfes leben kann.
Aber Jason hatte dazu eine Frage: „Ich habe aber gehört, dass Regelbrecher von einem Dorf in einem anderen Dorf Asyl suchen können, da wo es andere Regeln gibt, sogar jugendliche Regelbrecher können das.“
Du hast ganz Recht,“ bestätigte Sensei. „Es gibt allerdings bestimmte Regeln, die praktisch überall gleich sind, außer in Orange Country natürlich, wo es keine Regeln gibt. Diese universellen Regeln sind die, die das erste Prinzip betreffen, den Respekt vor Leben und Würde des Menschen. Wenn jemand einem anderen Menschen absichtlich schwere oder gar tödliche Verletzungen zufügt oder dessen Würde verletzt, dann wird kein anderes Dorf seinen Asylantrag akzeptieren. Denn der Regelbrecher hat gezeigt, dass er nicht nach den Regeln von irgendeinem Dorf leben kann.“
Und deshalb,“ schlussfolgerte Jason, „ist es besser für so eine Person, in einem Dorf zu leben, das keine Regeln hat.“
Ganz genau,“ stimmte Sensei zu. „Aber trotzdem ist das sehr traurig. Weil nämlich so eine Person nie wieder Kontakt zu ihrer Familie oder ihrer Hausgemeinschaft oder ihrem Dorf oder mit irgendjemandem anders in der ganzen Welt außerhalb Orange Country haben kann.“
Warum kann derjenige denn nicht mit seiner Familie auf dem Friedensnetz sprechen, wie das die Reisenden tun können?“ fragte Jason.
Weil nämlich Orange Country vom Friedensnetz völlig ausgeschlossen ist,“ erwiderte Sensei.
Aber warum denn das,“ fragte Hope's Freundin Ameenah ungläubig. „Jeder musst doch auf dem Friedensnetz sein, so dass wir den Frieden bewahren können.“
Sensei seufzte: „Orange Country wurde vor knapp einhundert Jahren vom Friedensnetz abgeschnitten. Weil es eine Nation ohne Regeln ist, hatten ihre Bürger auch keinerlei Respekt für die Regeln von anderen. Die Art von Bildergeschichten, die sie über des Friedensnetz schickten, waren Frieden-zerstörend, weil sie die Würde von Menschen verletzten, besonders die von Frauen.
Und deshalb wurde dies als eine gemeinsame Entscheidung von allen Dörfern der restlichen Welt getroffen. Jegliche Kommunikation mit dem Land erfolgt nun durch Papierbriefe, die die Grenzwachmänner denen überreichen, die die Exilanten an die Grenze von Orange Country eskortieren.
Im allgemeinen sind diese Papiere nur Forderungen an die Dörfer, die einen ihrer Bürger nach Orange Country ins Exil schicken, Forderungen für Lebensmittel und Rohstoffe, die mitgeliefert werden sollen, um den Lebensunterhalt des Exilanten in Zukunft zu sichern. Diese Forderungen haben sich über die Jahre immens erhöht. Sie belaufen sich zur Zeit auf beinahe eine Tonne verschiedener Nahrungsmittel und eine Tonne von Eisen und anderen Mineralien. Und immer ändert sich, was genau verlangt wird.“
Sensei's Miene nahm nun einen verächtlichen Ausdruck an: „Es scheint, als ob eine Nation, die zwar nur die Hälfte unseres Territoriums besitzt, in der dafür aber auch nur ein Zehntel so viel Menschen beheimatet sind, immer noch nicht in der Lage ist, sich selbst mit Lebensmitteln zu versorgen.“
Er fügte hinzu: „In den letzten hundert Jahren haben praktisch alle Dörfer irgendwann einmal einen Exilanten nach Orange Country geschickt. Seit es aber vom Friedensnetz ausgeschlossen wurde, haben wir keine exakten Bevölkerugsstatistiken mehr. Wir können also nur Schätzungen darüber erstellen.“
Ameenah stellte eine andere Frage, eine die auch Hope auf der Zunge lag: „Warum schicken denn alle Dörfer Exilanten nach Orange Country?“
Um das zu verstehen“, erklärte Sensei, „müssen wir uns mit der Geschichte von Orange Country befassen:
Als die Dunklen Zeiten zu Ende gingen und die Menschen begannen, ihre Dörfer auf eine neue Weise anzulegen, da gab es viele verschiedene Ideen, wie so eine Dorfgemeinschaft regiert werden sollte und nach welchen Regeln und Gesetzen.
Wie ihr bereits wisst, hoffe ich jedenfalls, so hat jedes Dorf unterschiedliche Regeln, nach denen denen die Menschen darin leben. Aber es gibt auch Regeln, die mit der Zeit in fast allen Dörfern völlig gleich oder zumindest ähnlich geworden sind.
Aber es gab zur damaligen Zeit auch Leute, die glaubten, dass es die beste Art und Weise sei, um ein Leben in Frieden zu führen, wenn man überhaupt keine Regeln in seinem Dorf befolgen musste. Sie glaubten, dass es keinen Dorfrat geben sollte und auch keine Repräsentanten für Distrikte oder Nationen. Es sollte keine internationalen Gesetze geben und überhaupt keine Gruppenvereinbarungen,“
Marcella, eine andere von Hope's Freundinnen unterbrach: “Aber Sensei, kein Dorf kann ohne Regeln existieren. Wie können die Menschen kooperieren, wenn es keine Regeln gibt?“
Sensei antwortete: „Die keine-Regel Leute glaubten, dass jede Form von Kooperation eine Art Handel sein müsse, wie wenn man Güter austauscht, wo ich dir ertwas gebe und du gibst mir etwas von gleichem Wert zurück. Und wenn eine längere Zusammenarbeit von Nöten sei, dann sollten die Personen, die darin involviert sind, private Verträge miteinander abschließen, die so lange gültig seien, wie die Kooperation andauerte. Alle Verträge seien jedoch zeitbegrenzt und nur für die Vertragspartner gültig. So ein Leben ohne Regeln, glaubten sie, sei die höchste Form von Freiheit und würde zum erfülltesten aller Leben führen.
Und so haben die keine-Regel Leute ihre Dörfer gebaut. Aber über die Jahre hat kaum eines dieser Dörfer Bestand gehabt. Am Ende haben sie sich alle in normale Dörfer wie unseres umgewandelt. Es gab aber ein paar keine-Regel Dörfer, die auf Dauer ausharrten, und das waren diejenigen, die auf dem Gebiet gebaut wurden, das heute Orange Country ist. Nach einer Weile sind alle keine-Regel Leute in dieses Gebiet gezogen, um dort zu leben.
Aber weil die keine-Regel Leute keine Regeln achteten, auch nicht die andere in Ruhe zu lassen in ihrer Lebensweise, da konnten die anderen Dörfer in der Gegend nicht in Frieden mir ihren Nicht-Regel Nachbarn leben. Und so beschlossen die umliegenden Dörfer eine Mauer zu bauen, um sich von diesen regellosen Nachbarn zu schützen. Sie war zwar nicht so lang wie die große chinesische Mauer, die China vor den mongolischen Plünderern schützen sollte, erfüllte aber im Prinzip den gleichen Zweck. Sie sollte Schaden von ihren Dörfern abwenden.
Kurze Zeit später hat dann die restliche Welt eine andere Art Mauer gebaut, in dem sie Orange Coutry vom Friedensnetz abtrennten.
Auf diese Weise konnte Orange Country die anderen Dörfer nicht mehr mit Dingen überschwemmen, die sich über deren Regeln hinwegsetzten, wie zum Beispiel Bildergeschichten aus den Dunklen Zeiten, die Bewunderung für Krieg und andere Arten von Gewalt ausdrückten.
Als die Menschen von Orange Country nicht mehr mit solchen Bildergeschichten Handel treiben konnten, da begannen sie den Handel mit Menschen.
Sie hatten immer schon andere Anhänger der keine-Regel Philosophie in ihre Dörfer eingeladen. Jetzt aber würden sie all den Leuten eine neue Heimat anbieten, die nicht nach den Regeln ihrer eigenen Dörfer leben konnten.“
Das waren die Exilanten,“ fasste Marcella zusammen.
Genau,“ stimmte Sensei zu. „Und diese Exilanten mussten aber mit Resourcen kommen, die im Allgemeinen von ihren eigenen Dörfern zur Verfügung gestellt wurden, damit sich die Exilanten in Orange Country ein Haus kaufen konnten. Dieser Handel mit Exilanten ist nun der einzige, den diese Nation mit der restlichen Welt aufrecht erhält.“
Das hört sich aber nicht so gut an,“ meinte Hope. Und David spürte ihr Unbehagen.
Sensei sah Hope an, und sie spürte, dass auch er sich unbehaglich fühlte.
Du hast Recht Hope, das hört sich wirklich nicht besonders gut an. Und trotzdem ist es vielleicht das Beste, das wir für diejenigen tun können, die nicht in der Lage sind, nach unseren Regeln zu leben, dass man ihnen erlaubt, dort zu leben, wo es keine Regeln gibt. Das siehst du doch ein?“
Die Szene verblasste und Hop tauchte wieder auf. Sie war still, doch David konnte ihre Unruhe fühlen.
Also das war es also, dieses mysteriöse Orange Country: nichts anderes als eine Art Gefängnisstaat, ein Gefangenenlager, das von den Insassen selbst regiert wurde. Vielleicht hatte das Ganze einmal als eine Ansammlung anarchistischer Gemeinden begonnen, aber mit der Aufnahme der Unerwünschten der gesamten Welt, musste es sich einfach in etwas anderes verwandelt haben.
Und die schickten Frauen an so einen Ort? Es gab gute Gründe, warum Männer und Frauen in heutigen Gefängnissen voneinander getrennt wurden, dachte David.
Und dann ging ihm ein Licht auf: „Das Mädchen, von dem du mir erzählt hast, das so schlimm verletzt wurde, ihr ist das in Orange Country angetan worden, stimmt's?“
Hope nickte traurig.
Und nachdem sie nur acht Jahre älter ist als du,“ fuhr David fort, nachdem er nachgerechnet hatte, „da war sie noch keine 25 Jahre alt, als sie dort hingeschickt wurde.“
Hope nickte wieder: „Das ist im letzten Jahr passiert, an dem Abend bevor Sensei uns die Lektion über Orange Country gegeben hat. Aber Sensei hat uns damals gar nicht gesagt was geschehen war, keiner von den Erwachsenen hat das getan... Wir haben das alles erst kürzlich erfahren.
Ihr Name ist Luscinia, und sie war damals nur 19 Jahre. Sie hatte sich selbst für erwachsen erklären lassen, weil sie frühzeitig heiraten wollte. Der Doktor von ihrer Hausgemeinschaft und ihr früherer Sensei und viele andere Leute haben alle erklärt, dass sie reif genug dafür wäre, um als Erwachsene zu gelten.
Und dann hat ihr Verlobter die Verlobung gelöst, und kurze Zeit später wurde sie zur Regelbrecherin. Aber ich weiß immer noch nicht ganz genau, was sie damals eigentlich getan hatte. Aber weil sie sich zuvor zur Erwachsenen erklärt hatte, wurde sie vom Dorfrat zu permanentem Exil verurteilt.
Aber sie haben doch nicht gewusst, was mit ihr geschehen würde, wirklich nicht...“ Hope hörte sich fast schon verzweifelt an, wie sie da versuchte sich selbst zu überzeugen, mehr noch als David.
Aber, wenn ihr doch keinen Kontakt zu diesem Ort habt,“ stellte David die logische Frage, „wie habt ihr dann überhaupt herausgefunden, was dort mit ihr geschehen ist?“
Sie ist zurückgekommen,“ flüsterte Hope. „Sie war die Aller-erste, die jemals zurückgekommen ist, zusammen mit einem anderen Jugendlichen, einem Jungen und mit einem kleinen Kind.“
Ihr Kind?“ fragte David.
Hope schüttelte den Kopf: „Nein, nicht ihr Kind.“
Danach wurde sie still. David wollte noch mehr fragen, hielt sich dann aber zurück, als er erkannte, dass Hope nicht bereit war, ihm mehr zu erzählen. Sie konnte es einfach nicht. Sie war verzweifelt dabei, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen.
Und während es unausgesprochen blieb, und Hope ihn auch mental abblockte, so spürte David doch, dass es an dieser Geschichte von Orange Country noch einen schlimmeren Teil gab, als der von der Vergewaltigung an Luscinia.
David sah sich um. Er erkannte die Haltestelle, der sich der Bus gerade näherte. Und er beschloss, dass während Hope mit ihren inneren Dämonen kämpfte, er sich seinen eigenen stellen konnte.

***

Wir haben jetzt ein bisschen Zeit. Mr Wang ist gerade aus dem Supermarkt gekommen, wo er ein paar Flaschen mit koffeinhaltigen Sprudel-Getränken und dazu noch ein paar belegte Brote für uns alle gekauft hat. Wir werden im Wagen essen.
Als Darryl seinen ersten Schluck genommen hat, verzieht er das Gesicht. „Viel zu süß,“ kommentiert er.
Mr Wang hat da eine ganze Menge mehr zu sagen, als er von seinem Sandwich abgebissen hat; etwas zu den mangelhaften Fähigkeiten der Leute hier in Nephilim City, anständig zu kochen oder zu backen. Keine seiner Bemerkung zeugte von irgendwelchem Verständnis für so etwas.
Ich versteh diese Leute hier in meinem Auto nicht. Ich finde das Brot schmeckt doch eigentlich recht gut, besonders mit dem Schinken und dem Käse darauf. Und der Zucker und das Koffein in meinem Getränk ist genau das, was ich im Moment brauche. Aber vielleicht sollte ich daran denken, dass Mr Wang in seinem normalen Leben ein Bäcker ist. Und ich nehme mal an, sowas macht ihn zum Experten, zumindest, was das Brot angeht.
Plötzlich sehe ich eine ganze Einheit uniformierter Sicherheitsvollstrecker in unsere Richtung marschieren. Wir alle erstarren und verstummen.
Die Sicherheitsleute sind aber gerade jetzt nicht an irgendeinem geparkten Auto interessiert, nicht einmal an einem so auffälligen wie meinem. Sie haben bereits ein anderes Opfer gefunden.
Wir konnten bereits eine Weile lang eine alte Frau beobachten, wie sie auf dem Bürgersteig uns entgegen in Richtung Supermarkt gehumpelt ist. Ich schätze sie auf so Anfang fünfzig, obwohl die Narben in ihrem Gesicht sie vermutlich älter aussehen lassen, als sie wirklich ist. Die Vollstrecker sind jetzt bei ihr angelangt und haben begonnen sie auf dem Bürgersteig hin und her zu schubsen.
Mach Platz, du alte Schlampe“, brüllt einer von ihnen. „Siehst du nicht, dass wir es eilig haben?“
Ein muskulöser Vollstrecker-Typ zieht sie von der Wand, an die sie sich zu drücken versucht und schubst sie dann endgültig mit einem brutalen Stoß auf die Straße, während alle anderen lauthals grölend sich vor Lachen nicht einkriegen können.
Ein Auto weicht aus und verfehlt die Frau nur knapp, während der Fahrer des nächsten Wagens ungeduldig auf die Hupe drückt.
Ms Alba, die neben mir sitzt, hat bereits eine ganze Zeit lang unterdrückte Wutlaute von sich gegeben, genau wie Darryl hinter mir. Aber es gibt nichts, was sie oder einer von uns anderen in diesem Moment für die arme Frau tun können.
Die alte Frau steht jetzt auf der Straße. Sie hält ihren Kopf gebeugt. Hilflos und schicksalsergeben wartet sie darauf, dass die Vollstrecker endlich an ihr vorbeiziehen.
Aber deren Gelächter war noch nicht abgeklungen.
Der erste brüllte wieder: „Hat jemand schon ihre Versicherungs-Police überprüft. Ich bezweifle schwer, dass so eine hässliche Alte jemals eine bekommen hat.
Der Vollstrecker, der ihr am nächsten steht, packt ihre Hand, und als er ihre Handflächen berührt, sieht er auf seinen Display.
Yeah“, ruft er den anderen zu, „sie ist versichert.“ Dann fügt er bedrohlich hinzu: „...zumindest zur Zeit noch.“
Endlich sind die Vollstrecker weitergezogen, und die alte Frau betritt vorsichtig wieder den Bürgersteig, um dann humpelnd ihren Weg zum Supermarkt fortzusetzen.

***

Als David aus dem Bus stieg, sah er vor sich ein zwanzig-stöckiges Hochhaus. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt hier auszusteigen. Hatte er doch gedacht, dass es zu schmerzhaft sein würde, diesen Zeitungsverlag wieder zu sehen in dem Gebäude, das über so viele Jahre sein zweites Zuhause gewesen war.
Merkwürdigerweise aber fühlte er gar nichts. Dieses Haus war ein Teil seiner Vergangenheit, eine Vergangenheit, die jetzt vorüber war. Und David hatte das akzeptiert.
Wann war er zu diesem Punkt gelangt?
Er war sich nicht sicher... Es musste wohl irgendwann heute geschehen sein. Letzte Nacht da war ihm diese Vergangenheit wie ein unüberwindliches Hindernis für irgendeine Art von Zukunft erschienen. Heute war die Vergangenheit vorbei und bewältigt, und die Zukunft, sie schien... na ja, zumindest mal irgendwie interessant zu sein.
David sah Hope an. Sie war immer noch nicht ganz bei ihm, immer noch in einen Kampf mit ihren Gefühlen verwickelt, ein Kampf, von dem sie ihn ausschloss. Das gab David jetzt zumindest die Gelegenheit, sich einmal ungestört mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen, darüber nachzudenken, was er inzwischen von Hope's Zeit wusste und wie er das so einschätzte. Einige systemische Bedingungen schienen ganz offensichtlich ein Fortschritt zu denen in seiner eigenen Zeit zu sein, das musste er zugeben. Aber was war mit den anderen?
Alle Verbrecher der gesamten Welt wurden zu einem einzigen Ort ins Exil geschickt, wenigstens diejenigen, die älter waren als 25 Jahre ... einschließlich Sexualstraftäter...!? Was hatten denn Hope's Zeitgenossen eigentlich erwartet, als sie ein junges Mädchen in so eine Löwengrube schickten...
David vermutete, dass Hope genau dasselbe dachte. Ihre Leute hatten nicht gewusst, was dort geschah, hatte sie David erklärt... aber mit nur einem Funken Fantasie hätten sie das doch erahnen können...
Und dann war da auch noch die Frage, was in Hope's Dorf so als Verbrechen galt, das mit 'lebenslänglich' bestraft wurde. Gehörten vielleicht Küsse in der Öffentlichkeit auch dazu?
Seit er in die Pubertät gekommen war, war David hundertprozentig davon überzeugt gewesen, dass die sexuelle Befreiung eine der wichtigsten Fortschritte war, die das 20. Jahrhundert den Menschen der westlichen Welt gebracht hatte. Was in sexuellem Bereich zwischen willigen Erwachsenen geschah, war deren Sache und deren allein.
Nicht, dass er diese sexuelle Freiheit wirklich aus persönlichen Gründen verteidigte, bis jetzt war er schließlich immer ein 'eine-Frau-auf-einmal Mann' gewesen. Und wenn er es recht bedachte, dann würde sein persönlicher Lebensstil fast in Hope's Welt hineinpassen. David musste grinsen.
Obwohl er sich vor seinen Kumpels natürlich eines anderen hatte brüsten müssen, hatte er doch seine erste sexuelle Beziehung erst in seinem zweiten Studienjahr begonnen. Mit dieser Freundin war er dann sechs Monate zusammen gewesen, und der Liebeskummer nach Abbruch der Beziehung hatte sogar noch länger angehalten.
Seine nächste Freundin war dann schon Tina gewesen. Er hatte sie an der Columbia-Journalismus Schule getroffen. Die Liebe zwischen ihnen war auf gemeinsamen Interessen und Zielen im Leben aufgebaut gewesen.
Sechs Jahre waren sie zusammen gewesen. Und als Tina mit Mikey schwanger wurde, da hätte David sie gern geheiratet. Aber Tina betrachtete die Ehe nun einmal als eine veraltete Institution, eine, die im Grunde einzig dazu bestimmt war, Frauen zu unterdrücken.
David hatte ihre Ansichten dahingehend akzeptiert, sie lagen schließlich gar nicht so weit entfernt von seinen eigenen. Die Ehe seiner Eltern hatte ihm auch keine allzu hohe Meinung von dieser Institution auf den Weg mitgegeben. Allerdings hatte David trotz allem immer noch eine Wertschätzung für das Prinzip der Treue behalten. Er hatte Tina nie betrogen, und so viel er wusste, war auch sie ihm während ihrer Beziehung treu geblieben.
Sexuelle Freiheiten zu verteidigen war also kein privates Anliegen für ihn, sondern es war eine Sache des Prinzips, bekräftigte David sich selbst. Freiheit in der Sexualität hatte vor allem etwas damit zu tun, den gesamten Menschen zu akzeptieren, den menschlichen Körper als schön zu empfinden, ganz im Gegensatz zu den christlichen Einschränkungen in der Sexualität, die doch eigentlich nichts anderes als Verachtung für den menschlichen Körper ausdrückten.
Wenn Hope's Dorf den sexuellen Akt wirklich als eine wunderbare Vereinigung zweier Menschen ansah, warum mussten dann diese Leute dort alles, was ihre Sexualität und ihren Körper betraf, so voreinander verbergen, bis sie zu dem Punkt kamen, wo sogar das teilweise Entblößen von Brust oder Beinen zu einem Verbrechen wurde?
War das denn nicht der absolute Widerspruch in sich selbst?
Na ja, was die öffentliche zur Schau-Stellung von Sexualität in Form von Pornographie anging, da musste David zugeben, dass es da auch unter normalerweise liberalen Menschen seiner eigenen Zeit eine Kontroverse gab. Selbst er und Tina waren da nicht auf gleicher Linie gelegen.
Nicht, dass David selbst je ein regelmäßiger Konsument von pornographischen Filmen gewesen wäre. Er hatte sich als Teenager wohl hin und wieder mal ein paar Porno-Streifen reingezogen, -damals als das Internet noch jung und Pornographie sein Hauptprodukt war, und weil er schließlich auch die Kumpels hatte beeindrucken müssen- hatte dann aber irgendwann beschlossen, dass Porno nicht so sein Ding war.
Und dann kam die Zeit, als Tina ein Interview mit einer glühenden Anti-Pornographie Feministin geführt hatte, mit der sie sich dann später auch angefreundet hatte. Danach hätte er das Zeug nicht einmal mit einer Mistgabel berühren wollen.
Allein die mündliche Beschreibung der Anti-Porno-Aktivistinnen, was Frauen in diesem nach immer mehr Gewalt verlangenden Geschäft angetan wurde, drehte ihm den Magen um.
Die Pornographie von heute“, hatten ihm die beiden Frauen erklärt, „ist nicht mehr wirklich das Zeug aus den 1970gern, in denen damals langhaarige Mädchen nackt auf einer Wiese tanzten. Pornofilme heutzutage, sind bis zum Rand voll von Vergewaltigungs-Szenen, die dann noch mit Szenen verbaler und brutaler körperlicher Misshandlungen angereichert werden.“
Nein, die Pornographie von heute konnte man wirklich nicht als eine Zellebrierung der Schönheit des menschlichen Körpers betrachten - eher im Gegenteil, musste David zugeben.
Und doch war David nicht bereit gewesen, Tina in ihrer Kampagne für ein Verbot von Gewalt-Pornographie voll zu unterstützen. Denn im Grunde war die Gewalt in diesen Filmen ja doch nur simuliert, nicht wirklich real.
Für ihn wäre so eine Zensur ein Verrat an seinen heiligsten Prinzipien. Wenn man begann, eine bestimmte Ausformung der Redefreiheit zu zensieren, wo würde das dann enden. War denn die restriktive Kleiderordnung und die 'Paarwerdungs-Regeln' in Hope's Dorf, durch die die Sexualität völlig eingeschränkt wurde, nicht ein klarer Beweis dafür, wie schnell man auf dem schlüpfrigen Pfad der Zensur in immer tiefere Regionen abrutschen konnte?
Klar, sie rechtfertigten ihre engen Sexual-Beschränkungen irgendwie mit dieser Neurotransmitter Erklärung. Und wenn er die Entwicklung der Pornographie bis heute als immer extremer werdende Gewaltspirale betrachtete, so jedenfalls wie Tina das immer wieder portraitiert hatte, dann schien diese Erklärung irgendwie sogar ein bisschen Sinn zu machen, aber trotzdem...
Nein er würde sich NICHT so einfach rumkriegen lassen! Wenn Tina ihn nicht von den guten Seiten einer Zensur hatte überzeugen können, dann würde das Hope mit ihren einseitigen Theorien, die sie in der Schule gelernt hatte, ganz bestimmt auch nicht. Als professioneller Journalist war ihm die Freiheit der Meinungsäußerung in Wort und Bild nun einmal heilig.
Er schüttelte den Kopf und dachte an den alten Pop-Song: 'If I said you had a beautiful body, would you hold it against me?' In Hope's Dorf würden sie so eine Anspielung auf die körperliche Schönheit einer Frau mit Sicherheit gegen den männlichen Sänger auslegen...
Aber dann, wenn er so darüber nachdachte, was bedeutet Schönheit eigentlich grundsätzlich? Man sagt sie sei im Auge des Betrachters. Ein Sonnenuntergang über einem Berggipfel ist sicherlich schön zu nennen... für jeglichen Betrachter.
Für eine gute Geschichte war David einmal einer Gruppe von Bergsteigern beim Aufstieg gefolgt. Sie hatten das Ganze eine ultra-simple Übungstour genannt. David hatte diese allerdings keineswegs als einfach empfunden. Und doch war die Belohnung für die Anstrengung wirklich und wahrhaftig der ganzen Mühe wert gewesen. Die Aussicht von dieser Bergspitze einfach nur majestätisch schön zu nennen, schien ihm in diesem Augenblick die Untertreibung des Jahrhunderts zu sein. Doch David, der professionelle Wortakrobat, war plötzlich unfähig das in Worte zu fassen, was er bei dem Anblick dieser grandiosen Schönheit von Farben und Formen empfand, die ihm von den Augen in die Seele drangen. Er war erfüllt von einer Art Ehrfurcht, einem Gefühl, das er nie zuvor empfunden hatte.
Sicher, so ein Berg-Panorama könnte man sicherlich als etwas universell Schönes klassifizieren, oder nicht?
Aber wie ist das dann mit Menschen? Wann würde man eine Person als universell schön bezeichnen?
Einige sagen ja, dass menschliche Schönheit etwas mit der perfekten Symmetrie eines Gesichts über einem schlanken, gut geformten Körper zu tun habe. Die Schauspielerin auf dieser Reklametafel, die mit den langen Beinen, über deren Kleidung sich Hope so aufgeregt hatte, würde mit Sicherheit in die Kategorie 'Schön' fallen, jedenfalls für die meisten Männer
David sah sich um. Von dort, wo er da stand an der Bush-Haltestelle, konnte er ein paar Dutzend Leute beobachten. Unter all diesen Menschen gab es vielleicht eine einzige junge Frau, die sich vielleicht mit dieser Schauspielerin hätte messen können, was im Grunde ganz normal war. Denn sehr wenige Frauen auf der Welt konnten solche langen und schlanken Beine oder so eine Figur vorzeigen. Und genauso konnten nur die wenigsten Männer solche Muskeln inklusive Waschbrettbauch aufweisen, wie David wusste, dass ihr weltbekannter Co-Star sie hatte, auch wenn das auf dem Plakat so nicht wirklich zu sehen gewesen war.
Denn mit einem hatte Hope Recht gehabt: Der Schauspieler dort auf dem Plakat war darauf in Schlips und Designer-Anzug voll bekleidet gewesen, während die körperlichen Eigenschaften seiner Kollegin in ihrer sexy Garderobe deutlich zur Schau gestellt wurden. David schüttelte wieder den Kopf. Er war nicht bereit, sich durch Hope's Ansichten verrückt machen zu lassen...
Und doch drehten sich seine Gedanken unwillkürlich wieder zu dieser grundsätzlichen Frage, was denn Schönheit sei. Gab es denn echte Schönheit in Menschen, auch wenn diese nicht körperlich perfekt waren?
Wenn Filme und Fernsehserien körperliche Makel portraitierten, dann wurden diese oft zum Anlass für eine Humoreinlage genommen, ganz besonders wann immer es um den gebräuchlichsten Makel ging, das starke Übergewicht. Die Kamera zoomte dann in auf die Fettpolster, während in das Audio der Szene Schock-Effekte eingebaut waren, die dann einen kurzen Ekel im Zuschauer auslösen sollten, gefolgt eine Sekunde später von schallendem Gelächter... Nein, da gab es nicht allzu viel Schönheit in so einer Szene.
Etwa die Hälfte aller Leute, die David jetzt im Moment beobachten konnte, waren mittel bis stark übergewichtig, was in etwa dem nationalen Durchschnitt entsprach.
Gerade ging ein großer, stark übergewichtiger Mann an ihm vorbei. Seine Frau, die auch nicht gerade dünn war, sah klein neben ihm aus, und die drei Kinder, die sie im Schlepptau hatten, waren winzig. Der Mann trug über seinem Sweat-Shirt ein ziemlich unpassendes T-Shirt mit der Aufschrift: 'Kansas ist überall'.
Sein jüngstes Kind, ein kleines etwa fünfjähriges Mädchen, rief gerade: „Daddy, ich kann die Spitze von dem Haus nicht sehen!“
Ihr Vater hob nun die Kleine auf seine Schultern, wobei er sie an den Fußgelenken festhielt, damit sie dort stehen konnte. Das Kind balancierte da oben glücklich, aber ziemlich wackelig, und rief begeistert: „Jetzt kann ich sie sehen“, während ihre Mutter, die ihr den Spaß nicht verderben wollte, aber trotzdem etwas nervös war, mit ausgestreckten Armen um ihren Mann herumtanzte.
Der hob das kleine Mädchen wieder von seiner Schulter herunter und legte sie in die Arme ihrer erleichterten Mutter. Er klopfte seiner Frau kameradschaftlich auf den Rücken, und sie warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu.
Wollt ihr vielleicht auf so einem Wolkenkratzer ganz nach oben“, fragte der Mann dann seine Familie. Alle drei Kinder jubelten, und die ganze Familie lief los, um sich diesen Spaß zu genehmigen. Als er ihnen nachsah, dachte David an Mikey und Tina und ihr Leben zusammen. Und zum ersten Mal machte ihn dieser Gedanke nicht traurig.
Dann bemerkte er etwas an der Haltestelle der gegenüberliegenden Straßenseite. Eine Gruppe von Jugendlichen, zu ihnen gehörte auch das gutaussehende Mädchen, das David schon zuvor aufgefallen war, wartete dort auf den Bus. Einer der Jungen war gerade dabei, für die anderen eine Vorstellung zu geben. Er schien sich da über Behinderte lustig zu machen.
Als er aber genauer hinsah, erkannte David überrascht, dass das gar nicht stimmte. Der Junge imitierte nicht einen Behinderten, der unsichere Gang und die abgehackten Bewegung gehörten zu ihm selbst. Er spielte eine nicht-behinderte Person, jemand mit Schlips und Kragen, der seine Nase sehr hoch trug.
David sah sich die Zuschauer des Jungen genauer an. Sie alle schienen zwischen 16 und 17 zu sein, ansonsten waren sie so verschieden wie man nur sein konnte, sei es in Körpergröße, Aussehen oder ethnischer Zugehörigkeit. Vielleicht war es eine Schulklasse, aber kein Lehrer schien dabei zu sein.
Der Junge hatte seine Vorstellung beendet und vorbeugte sich nun theatralisch, während die anderen Kids begeistert klatschten. Zwei der Jungen, die das Aussehen von Football-Spielern hatten und auch noch mit ihren Team-Jacken bekleidet waren, klopften dem Alleinunterhalter so fest auf die Schultern, dass der kurzzeitig das Gleichgewicht verlor. Schnell stützten sie ihn dann aber sofort wieder ab, und versuchten sich bei ihm einzuhängen. Das passte aber einem Mädchen mit Brille gar nicht, die die beiden zur Seite drängte und sich selbst bei dem Comedy-Star einhängte. Er war schließlich ihr Freund.
Der junge Schauspieler zuckte mit den Achseln und seine Freunde grinsten. Einer von ihnen nahm dann seine eigene Freundin in den Arm, und die war -zu David's Überraschung- gar nicht die Cheerleader-Type, die man als Freundin so einer Sportskanone hätte erwarten können, ganz im Gegenteil.
Danach zog einer der Kids eine Karte aus der Tasche, und die anderen beugten sich gemeinsam darüber. Einem Jungen allerdings schien das nun zu langweilig zu werden, und er entfernte sich langsam von der Gruppe. David bemerkte, dass dies ein Junge mit Down-Syndrom war. Aber bevor David den Kids noch etwas zurufen konnte, hatte auch schon das Mädchen mit der Model-Figur den Ausreißer bemerkt. Schnell lief sie ihm hinterher und packte ihn am Ärmel.
David konnte zwar nicht genau hören, was sie sagte, aber ihren entrüsteten Gesten nach zu schließen, war sie wahrscheinlich die Schwester des Jungen. Dieser hörte erst mal mit niedergeschlagenem Blick der Tirade zu, dann legte er den Kopf leicht zur Seite und sah seine Schwester von unten herauf an.
Der Ärger des Mädchens löste sich augenblicklich in Luft auf, sie lachte, umarmte ihren Bruder und führte ihn zur Gruppe zurück. Ein anderer Junge, der offensichtlich nicht mit den beiden verwandt war, nahm den Bruder des Mädchens dann unter seine Fittiche, indem er ihm den Arm um die Schulter legte.
In diesem Moment kam dann auch schon der Bus an, und die ganze Gruppe drängte sich in die vordere Tür. Als der Bus dann abfuhr, wunderte sich David immer noch etwas über das, was er gerade gesehen hatte.
Es war schon merkwürdig..., da waren all diese Kids, die anscheinend wirklich gute Freunde waren und sich dabei gegenseitig unterstützten. Das hatte irgendwie keinerlei Ähnlichkeit mit den High-School Szenen, die man so auf der Leinwand sehen konnte. Dort teilten sich die Schüler immer gemäß ihrer Fähigkeiten oder ihres Aussehens oder eben auch ihrem Mangel an Fähigkeiten und gutem Aussehen in einzelne Klicken auf.
Klar, es war nicht ganz so krass an David's eigener Highschool damals gewesen. Allerdings war das schließlich auch eine Privatschule, mit einem Lehrer-Schüler Anteil von 1 zu 5. Und genauer betrachtet war die gesamte Schule schon immer nichts anderes als eine Klicke der Reichen und Privilegierten im Teenageralter. Aber diese Kids dort in dem Bus waren mit Sicherheit keiner Privatschule entsprungen.
Wo in der Welt konnte man Jugendliche finden, die so unterschiedlich voneinander waren, und trotzdem so gute Freunde, dachte David, während er geistesabwesend dem Straßenhändler, dessen Stand neben der Bushaltestelle aufgebaut war, zusah.
Ganz offensichtlich liebte der Mann seinen Job. Mit melodischer Stimme und großen Gesten pries er seine Waren an, wobei er seinen Singsang noch ab und zu mit einem lustigen Akzent unterstrich. Seine potentiellen Kunden belohnten seine Anstrengungen, und das Geschäft boomte. Und selbst diejenigen, die nichts kauften, bedachten den Mann mit einem Lächeln, eines das er großzügig zurückgab, was das Lächeln der anderen immer noch verstärkte und sie dann weiter auf ihrem Weg begleitete.
Autsch“, entfuhr es David, denn er war schon wieder von etwas im Rücken getroffen worden. Diesmal war das kein Einkaufswagen, sondern eine fliegende Handtasche. Er drehte sich um.
Eine zittrige Stimme entschuldigte sich: „Oh, das tut mir sooo Leid, das wollte ich wirklich nicht. Ich wollte doch nur meinem Mann etwas zeigen... und dann habe ich mich einfach zu schnell umgedreht.“
Die Stimme gehörte zu einer kleinen alten Dame. Und David fragte sich, wie sich so eine winzige Person in ihrem Alter so schnell drehen konnte, dass sie Handtaschen zum fliegen brachte. Der Mann der alten Dame, der so ziemlich ebenso klein war wie sie, konnte sich allerdings wirklich schnell bewegen. Und bevor David noch etwas tun konnte, bückte er sich und hob seiner Frau die Tasche auf.
Ich hoffe, sie wurden nicht verletzt“, bemerkte er zu David.
Natürlich nicht“, antwortete dieser.
Woraufhin der alte Mann scherzte: „Das wäre aber gut möglich gewesen, es ist eine ganz schön schwere Tasche.“
Er drehte sich seiner Frau zu und meinte: „Liebling, du solltest mich sie tragen lassen.“
Die aber lehnte das entschieden ab: „Nein mein Schatz, du hast im Leben schon genug Lasten für mich getragen. Ich kann zumindest meine Handtasche noch selbst tragen.“
Liebling“, protestierte der alte Mann sanft. „Du hattest immer die schwereren Lasten.“
Er lächelte sie an, ein Lächeln, das sie erwiderte. Das Lächeln der beiden zueinander war so tief, dass es sie von innen veränderte. Mund und Augen, und sogar jede einzelne Falter in diesen Gesichtern formten sich zu einem Kunstwerk, zu einem wunderschönen Gemälde.
Während David den beiden nachsah, wie sie langsam Hand in Hand den Bürgersteig entlang gingen, erkannte er plötzlich, dass er heute wahre Schönheit gesehen hatte. In der jungen Familie, den Jugendlichen, dem Straßenhändler und seinen Kunden und in dem alten Ehepaar... da war Schönheit, wirkliche Schönheit.
Richtig... Schönheit lag tatsächlich im Auge des Betrachters, doch jetzt erkannte David, dass es nicht das äußere Auge war, das diese Schönheit erfahren konnte. Das Schöne lag nicht an der Oberfläche, es kam von innen und musste erfühlt werden.
Die Schönheit eines Panoramas lag nicht so sehr in einem einzelnen Berg, einem Baum oder einer einzigen Blume, sie lag in der Verbindung, die diese mit ihrer Umgebung eingingen, miteinander und mit den Hügeln und Tälern im Licht der Sonne, wenn sie aufgeht, in ihrem Zenit, wenn sie untergeht, und manchmal auch in dem milderen und geheimnisvolleren Licht des Mondes und der Sterne.
Und David war jetzt zu der Erkenntnis gelangt, dass auch menschliche Schönheit vor allem in den Verbindungen lag, die Menschen untereinander eingingen, und in der des Betrachters.
Merkwürdig, dachte er, er war zwar gestern nicht direkt an diesem Ort gewesen. Und doch waren die Straßen, auf denen er so ziellos umhergewandert war, gar nicht so verschieden von dieser hier gewesen. Warum hatte er dann diese Dinge gestern nicht gesehen – die Schönheit des ganz gewöhnlichen Augenblicks?
Weil du nicht hingesehen hast“, beantwortete Hope David's stille Frage. Er bemerkte erfreut, dass sie jetzt wieder ganz zurückgekommen war und die Barriere zwischen ihnen abgebaut hatte.
Der Zorn, den er zuvor in ihr gespürt hatte, war verschwunden, und auch die Furcht hatte sich verringert. Und doch blieb immer noch eine durchdringende Traurigkeit, die ihrer Persönlichkeit eine tiefere Note verlieh, als sie eigentlich zu ihren jungen Jahren passte.
Schwere Gedanken belasten die Augen“, fügte sie hinzu.
David nickte. Sie verstanden einander. Er lächelte Hope ermutigend zu.
Ganz plötzlich gefror ihm das Lächeln auf den Lippen, als er nun an Hope vorbei sah. Die Gefühle, von denen David gedacht hatte, dass sie hätten kommen müssen, als er das Gebäude seines früheren Arbeitsplatzes wiedersah, und die dann doch nicht gekommen waren, diese Gefühle schwappten plötzlich wie eine große Welle über ihn, viel zu komplex und verwirrend, um sie sofort zu sortieren...
Wer ist dieser Mann“, fragte Hope, die David's Blick gefolgt war, der sich auf einen Mann fixiert hatte, der gerade das Gebäude verließ. Sie spürte David's inneren Aufruhr.
Das ist Ed, Ed Bernays, ein ehemaliger Kollege von mir an der Zeitung. Und dort drüben ist der Verlag der Zeitung, an dem wir beide gearbeitet haben“, erklärte David und fügte danach mit einem Seufzer hinzu, „...ich und mein bester Freund Ed, jedenfalls waren wir das einmal, beste Freunde.“
Ed hatte David auch bemerkt, obwohl er den Blick sofort abwandte und so tat, als hätte er ihn nicht gesehen.
Jetzt wurden David's Gefühle präziser, und er spürte einfach nur noch Wut in sich aufsteigen. Ed sollte damit nicht so einfach davonkommen.
Eine Sekunde später hatte David ihn bereits eingeholt und klopfte ihm auf die Schulter: „Hi Ed, wie geht's dir Kumpel? Lange nicht gesehen...“
Ed drehte sich mit einem falschen Lächeln zu ihm um: „Oh, hallo David, ich habe dich gar nicht bemerkt. Aber erst vor ein paar Tagen haben Moira und ich noch über dich geredet.“
Ohne Pause schwafelte Ed weiter: „Sie sieht sich regelmäßig Tina's Facebook Status an. Soweit ich das mitbekommen habe, geht es ihr ganz gut dort in Los Angeles. Aber es tut mir natürlich Leid, dass ihr euch getrennt habt. Was machst du denn so zur Zeit?“
Was ich so mache?“ David hatte im Augenblick keinerlei Interesse an Smalltalk. „Also, mal sehen... Letzte Nacht habe ich mir überlegt Selbstmord zu begehen, hätte das auch durchgeführt, wenn mich nicht jemand daran gehindert hätte. Aber du warst das nicht, mein Freund!“
Ed stand jetzt mit offenem Mund da. Er war für einen Moment geschockt, fing sich dann aber gleich wieder.
David, das tut mir aber Leid. Ich hatte doch keine Ahnung, dass dich die Trennung so getroffen hat. Wenn du mich nur angerufen hättest. Ich wäre ja für dich da gewesen. Ich habe doch immer eine offenes Ohr für dich gehabt.“
Ed war in seine Scheinwelt zurückgefallen. Aber David war nicht bereit, dabei mitzuspielen: „Es war nicht die Trennung, und das weißt du ganz genau!“
Doch Ed gab nicht so schnell auf: „Wenn du das mit dem Job meinst, da hätte ich nie gedacht... also das ist doch Monate her. Ich dachte du hättest inzwischen längst einen neuen Job.“
Einen neuen?“ explodierte David. „Das wäre wirklich ganz schön schwer, so einen an Land zu ziehen, wenn alle in der Medienwelt glauben, dass ich der größte Betrüger in der Zeitungs-Geschichte bin, einschließlich meines besten Freundes Ed Bernay, der Kerl der mit mir an so vielen Geschichten zusammengearbeitet hat. Übrigens, warum hast du mir eigentlich nicht geglaubt, Ed?“
Ed gab auf und murmelte mit unterdrückter Stimme: „Du hast den Kerl Abiffsen gehasst, das musst du doch zugeben! Du hast sein Bild schließlich ins Zentrum der Dart-Tafel mit den korrupten Politikern in deinem Büro aufgehängt.“
David zog eine Grimasse: „Wenn ich mich recht erinnere, dann hast du da doch viel häufiger getroffen als ich.“
Aber nur weil ich der bessere Dart-Spieler bin“, Ed zuckte mit den Achseln und warf David dann vor: „Aber du wolltest ihm immer was Richtiges anhängen.“
Aber deshalb würde ich doch keine Geschichten erfinden“, wies David die angedeutete Unterstellung von sich. „Ich bin schließlich ein Profi. Und was ist mit den fünf anderen Geschichten, die ich angeblich auch gefälscht haben soll?“
Ed sah zu Boden. Er zuckte noch einmal fast unmerklich mit den Achseln.
David warf ihm noch einmal einen frustrierten Blick zu und drehte sich dann um. Es gab nichts mehr zu sagen.
Aber bevor er noch einen Schritt machen konnte, war da ein fast unhörbares Flüstern hinter ihm zu vernehmen: „David, bitte geh nicht... Es ist anders als du denkst... Ich habe dir geglaubt... Ich konnte einfach nicht...
David drehte sich um und sah Ed überrascht an.
Wir müssen miteinander reden“, flüsterte Ed. „Lass uns einen Kaffee zusammen trinken.“
Vorsichtig sah er sich um. Danach lief er los und deutete David mit einer Kopfbewegung an, ihm zu folgen.
Sie steuerten mit schnellen Schritten um die nächste Ecke und betraten dort ein Lokal, das nicht wirklich ein Cafe war, eher so was wie ein Fast-Food Laden. David wusste, warum Ed dieses Lokal ausgesucht hatte. Der Laden galt als eine Touristenfalle, und kein respektierter Journalist seiner Zeitung hätte sich je in ihm blicken lassen. Deshalb war es auch ziemlich unwahrscheinlich, dass sie hier jemanden treffen würden, der sie kannte.
Möchtest du einen heißen Strudel zu deinem Kaffee?“ schlug Ed vor. „Ich zahle.“
David war hungrig. Er hatte schließlich kein Mittagessen gehabt, und sein Frühstück hatte er hinter einem Baum gelassen. Ed schuldete ihm mehr als nur einen Kaffee, und so verlangte er: „Ich will einen doppelten Hamburger, extra-große Pommes, einen Salat und eine Cola.“
Kein Problem,“ meinte Ed, „Du kannst ja schon nach oben gehen und uns einen Tisch aussuchen.“
David war es ganz klar, dass dies nur ein weiteres Mittel war, zu verhindern, dass jemand sie zusammen sah, falls da wirklich ein Bekannter durch die offene Tür schauen sollte. Er machte aber kein großes Ding daraus und stieg einfach die Treppe hinauf.
Er fand dort einen leeren Tisch in einer Ecke. Am nächsten Tisch saß eine Gruppe japanischer Touristen, also bestand da auch keine Gefahr, dass jemand ihr Gespräch belauschte.
Hope sah David fragend an. Aber er war gerade nicht in der Stimmung, ihr irgendetwas zu erklären. Dies war allein seine Sache. Und er war neugierig, wie Ed sein Verhalten erklären würde.
Sie mussten nicht lange warten. Ed stellte das Tablett mit dem Essen auf den Tisch und nahm den Kaffeebecher an sich. Den Rest überließ er David. Er nahm einen Schluck vom Kaffee, schnitt eine Grimasse, stellte den Becher wieder aufs Tablett und rührte ihn dann nicht mehr an.
David sah Ed erwartungsvoll an. Er war wirklich gespannt, wie Ed anfangen würde.
Natürlich habe ich gewusst, dass du nicht all diese Geschichten gefaked haben konntest“, begann Ed mit einem Seufzer. „Klar, ich habe zwar an diesen nicht mit dir zusammengearbeitet, das waren ganz allein deine. Aber ich habe oft genug mit dir gearbeitet, um zu wissen, dass es absolut keinen Sinn für dich machen würde, eine Geschichte zu erfinden. Vor allem deshalb, weil du so etwas überhaupt nicht nötig hast.
Du hast ein Talent, das wenige von uns haben. Ich wünschte, ich hätte es. Aber ich habe es nicht...“ Ed seufzte wieder. „Du kannst Leute zum Sprechen bringen, selbst welche, die überhaupt nicht sprechen wollten. Ganz plötzlich öffnen sie sich dir gegenüber. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass du so etwas wie ein Hypnotiseur seist...“
David hatte die Art, wie er mit Leuten redete, niemals als ein ganz besonderes Talent angesehen, aber wenn Ed das so sah, dann sollte ihm das Recht sein. Aber zur Zeit wollte David ein paar viel wichtigere Dinge von Ed erfahren: „Wenn du wusstest, dass diese Behauptungen über meine Arbeit falsch waren, warum hast du dann so getan, als ob du das Zeug geglaubt hast?“
Ed seufzte noch einmal: „Ich bin zum Chief gegangen, und habe ihm gesagt, dass da etwas nicht stimmen konnte. Dass es unmöglich war, dass du all diese Geschichten erfunden hattest. Der Chief meinte, ich wüsste nicht, wovon ich rede, dass es genug Beweise gäbe, um dich dreimal daran aufzuhängen, und dass ich mich außerdem um meine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, wenn mir mein Job lieb sei.“
David nickte: „Ich habe gewusst, dass unser Chef-Redakteur irgendwie in die Sache verwickelt ist. Wer hätte sonst meine Daten und Fakten fälschen können. Ich glaube aber nicht, dass er die ganzen Zeugen bestochen hat.“
Ed sagte langsam: „Nein, das war er nicht. Du musstest diskreditiert werden, und dafür haben sie ihre Leute.“
'Wer sind sie,' wollte David fragen, aber er hielt sich rechtzeitig zurück. Stattdessen sah er Ed nur weiter erwartungsvoll an.
Und so fuhr Ed fort: „Ein paar Tage später wurde ich kontaktiert von... nun ja... Freunden von Freunden.“
Du meinst die Leute aus diesem Club, in den du mich schon so oft eingeladen hast“, unterbrach David in sanftem Ton. Die Frage schien Ed sichtbar unangenehm zu sein, aber er nickte doch:
Du hättest schon vor Jahren dort eintreten sollen! Dann würdest du besser verstehen, was wirklich auf dem Spiel steht. Dann hättest du auch nie die direkte Anweisung des Chiefs missachtet. Meine Güte- eine Geschichte in die Zeitung zu schmuggeln, über den Kopf des Chef-Redakteurs hinweg... Es gäbe keine Zeitung in der Welt, bei der dich das nicht den Job gekostet hätte, und übrigens hätte auch kein Fernsehsender so etwas durchgehen lassen.“
Da hast du wahrscheinlich Recht“, stimmte David ihm zu, wobei er immer noch in diesem besonders sanften Ton redete, der seine eigenen Gefühle vollkommen verbarg und dem Gegenüber das Gefühl gab, völlig akzeptiert zu sein.
Vielleicht hast du mit dieser anderen Sache auch Recht. Vielleicht hätte ich eintreten sollen, damit ich das Ganze im Zusammenhang sehen konnte. Haben sie dir erklärt, warum sie zu solchen extremen Maßnahmen greifen mussten?“
Ed antwortete in einem Ton der vorsichtigen Rechtfertigung: „Sie haben wirklich nichts gegen dich persönlich. Es ist einfach nur so, dass du eine sehr wichtige Operation behindert hast. Nachdem ich mit ihnen geredet und ihnen von deinen speziellen Talenten berichtet hatte, da meinten sie, wenn du einmal zur Vernunft gekommen bist, dann helfen sie dir wieder auf die Beine zu kommen. Sie würden dich wahrscheinlich irgendwo im Ausland einsetzen. Und nachdem Tina und du euch getrennt habt, da hält dich doch sowieso nichts mehr hier.
Sie besorgen dir dann eine neue Identität, vielleicht sogar ein neues Gesicht. Aber da du ja nicht bei einem Fernsehsender gearbeitet hast, da wird plastische Chirurgie vermutlich gar nicht notwendig sein. Mit deinem familiären Hintergrund und deinen Talenten, wäre irgendeine Geheimdienstarbeit genau das Richtige für dich, meinen sie, und da muss ich ihnen zustimmen. Aber sie mussten eine Weile warten, bevor sie dir den Vorschlag unterbreiten konnten. Du brauchtest erst mal ein bisschen Zeit für dich selbst.“
Geheimdienstarbeit, sagst du“, fragte David und fuhr dann in sachlichem Ton fort:
Ich kenne natürlich eine ganz bestimmte Geheimdienstoperation, die Sache, die Abiffson mit seinem Spezial-Einsatz-Team aus dem Pentagon heraus geleitet hat.
Er hat inzwischen ja die Position so etwas durchzuziehen. Von der Chefetage seiner Bank, bis zum Kongressabgeordneten und dann in den Vorstand des größten militärischen Sicherheitsunternehmens, dann wieder zurück in die Politik mit hohen Positionen in zwei aufeinanderfolgenden Regierungen, und jetzt ist er der zweite Mann im Pentagon... immer eine Stufe nach oben, und immer gab es auch Gerüchte, dass hohe Summen im Spiel waren.
Und trotzdem ist es unmöglich, den Mann zu stoppen... Er muss ziemlich bedeutende Hintermänner haben, nehme ich mal an.“
Natürlich hat er die“, stimmte Ed zu. „Und diese Operation, war wirklich wichtig gewesen. Und sie ist auch gut gelaufen, bevor du denen dort einen Knüppel zwischen die Beine geworfen hast. Was ist es genau, was du weißt?“
David zuckte mit den Achseln, als ob ihm das nicht besonders wichtig wäre: „Also einen guten Teil davon hast du bereits in der Zeitung gelesen. Mein Informant war ziemlich gründlich. Ich meine den Richtigen, nicht den Kerl, den sie mir als Ersatz geschickt haben, der mich dann reingelegt hat, mit den falschen Tagen und Uhrzeiten, so dass Abiffsen sein Alibi bekam.
Ich weiß, dass vier Bomben, angebracht unterhalb der ersten Wagen von vier deutschen Hochgeschwindigkeitszügen, gleichzeitig zur Hauptverkehrszeit gezündet werden sollten. Die sollten die Züge zum Entgleisen bringen. Und mein Informant sagte mir, dass in etwa 3000 Todesopfer erwartet würden.
Aber ich weiß immer noch nicht, warum sie dies geplant hatten. Denn eigentlich sind die Deutschen doch unsere Verbündeten.“
Die Deutschen“, Ed's Ton war nichts als verächtlich, „und was für Verbündete die sind. Mit allen ihrem Zögern und Zweifeln an einem rechtzeitigen Angriff auf den Iran, sind sie weit eher Hindernisse als tatsächliche Verbündete.“
Na ja“, erwiderte David sanft, „die haben in der Vergangenheit ja auch nicht die besten Erfahrungen mit dem Kriegführen gemacht. Könnte das vielleicht ihre zögerliche Einstellung erklären.“
Die waren nicht zögerlich als sie auf uns losgegangen sind, oder?“ schniefte Ed.
David gab sich keine Mühe, etwas darauf zu erwidern, stattdessen ließ er Ed weiterreden:
Jedenfalls wäre der Plan im letzten Moment aufgeflogen. Deutsche Geheimdienstleute hätten einen Tip bekommen, die Polizei hätte die Bombenleger gestoppt. Und die Spur hätte dann zu iranischen Bombenbauern geführt. Diese Männer hätten sich dann, wenn ihr Haus von der Polizei umstellt wäre, bequemerweise selbst in die Luft gesprengt. Indizien hätten die toten Verdächtigen mit höchsten iranischen Regierungskreisen in Verbindung gebracht. Und das Ganze wäre dann eine unendliche Angst-Geschichte für die deutschen Medien geworden.
Nein“, David schüttelte den Kopf, „mein Informant hatte auch erst geglaubt, dass es genau so ablaufen würde, dass den Deutschen nur ein Schrecken eingejagt werden sollte. Aber dann fand er heraus, dass Abiffsens Leute einen richtigen Falsch-Flaggen Angriff durchziehen wollten – ein Live-Szenario nannte er es. Und darum ist er dann zu mir gekommen.“
Ed dachte ein paar Sekunden darüber nach. Es schien ihn nicht zu überraschen: „Vielleicht war es notwendig, das Ganze nicht zu stoppen.“
Ed versuchte gar nicht erst, die Behauptung von David's Informanten anzuzweifeln, hatte wahrscheinlich selbst schon so etwas vermutet. Stattdessen ging er gleich dazu über, die Sache zu rechtfertigen.
Wir müssen den Angriff auf den Iran sobald wie möglich starten, bevor es zu spät ist. Und dabei benötigen wir die aktive Unterstützung der Europäer, einschließlich der Deutschen. Und so ein echter Schrecken ist vielleicht die einzige Möglichkeit, die zu bekommen.“
David spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Es erschien ihm unvorstellbar, dass Ed den Horror seiner eiskalten Überlegungen nicht selbst erkannte. Aber David klammerte sich an seinen Professionalismus und dämpfte seine Stimme noch weiter, um ganz ruhig und ungerührt zu fragen:
Warum haben wir einen so engen Zeitplan? Ich dachte, das mit dem angeblichen iranischen Atomwaffen-Programm, würde nur für die öffentliche Meinung so ausgeschlachtet. Und jetzt haben wir ja sogar eine Art Deal mit denen.“
Stimmt“, antwortete Ed. „Aber mit so einem Angriff wäre der Deal sofort geplatzt, und alle würden das verstehen. Tatsache ist, dass diese Islamisten in Teheran für uns gefährlicher sind ohne als mit Bombe.“
Islamisten“, fragte David. „Haben wir die nicht schon eine ganze Weile unterstützt, um Assad in Syrien loszuwerden, nachdem wir den lybischen geholfen haben Ghaddafi zu stürzen? Und soweit ich weiß, haben einige unserer befreundeten Regierungen im Mittleren Osten, wie die Saudis zum Beispiel, auch ein ziemlich enges Verhältnis zu denen. Also warum sollten uns dann die iranischen so viel mehr stören?“
Du bist wirklich ziemlich schlecht informiert, David! Unsere sind doch Salafisten. Ein bisschen verrückt, ganz klar, aber doch voll unter unserer -oder Saudi- Kontrolle, was so ziemlich das Gleiche ist. Wir wissen wer sie sind. Wir wissen, wo sie sind und was sie zu jedem einzelnen Zeitpunkt tun. Sie verrichten ein bisschen Drecksarbeit für uns, und wenn sie nicht mehr gebraucht werden, dann...“
Ed fuhr sich in einer offensichtlichen Geste mit der Handkannte über seine Kehle und fügte dann hinzu: „Genau wie wir das gerade mit der IS-Gang machen. Und als zusätzliches Plus geben die uns die Chance weiter in Syrien aktiv zu sein, um Assad noch ein bisschen abzustrafen, und ebenso wieder zurück in den Irak zu gehen. Dort ist die Regierung inzwischen einfach viel zu freundlich zu den Iranern.“
David fiel es jetzt immer schwerer seine kühle, sachliche Front aufrecht zu erhalten, während er Ed weiter zuhörte: „Die Iraner sind aber eine ganz andere Brut und völlig außerhalb unserer Kontrolle. Jeden Tag wird deren Allianz mit den Russen und Chinesen immer stärker, fast sind sie schon an einem vollen Militärbündnis angelangt.
Das bedeutet wiederum, dass die Chinesen, nachdem sie das iranische Öl sicher in der Tasche haben, immer unverschämter werden. Und den Russen kann man schon gar nicht mehr helfen. Rate mal, warum wir uns mit diesem gescheiterten Staat Ukraine überhaupt so viel abgeben müssen?“
Aber könnten wir das iranische Öl nicht einfach den Chinesen überlassen, und für uns behielten wir dann das der Saudis und der Golf Monarchien? Wäre das nicht viel billiger als so ein Krieg?“ David's Ton drückte immer noch ein rein akademisches Interesse aus. „Ich habe gehört, dass eine Kampagne gegen den Iran mit Sicherheit zum atomaren Krieg eskalieren würde -anders könnte er nicht gewonnen werden.
Ich habe außerdem gehört, dass es dann etwa ein Drittel der iranischen Bevölkerung wäre, die das nicht überleben würde. Das wären dann fast 25 Millionen, glaube ich.“
Ed schüttelte den Kopf: „Also diese Schätzungen sind uralt und völlig übertrieben, neuere sind viel realistischer und gehen von einer Todesrate von nur drei Millionen aus.“
Es war für David kaum noch möglich die gespielte Ruhe zu bewahren, denn inzwischen musste er nicht nur seinen eigenen Schock und Ekel sondern auch den von Hope unter Kontrolle halten. Trotzdem antwortete er in gelassenem Ton, wobei er sein ganzes professionelles Training benutzte:
Das ist sicherlich eine weit vernünftigere Zahl. Aber trotzdem würden die finanziellen Kosten in jedem Fall ziemlich hoch sein. Und ich muss dir wohl nicht sagen, dass es um unseren Finanzhaushalt zur Zeit nicht gerade zum Besten steht?“
Es ist der große Zusammenhang, wie du es vorhin selbst erkannt hast“, Ed begann die Luft mit den Händen zu formen. „Diesen Zusammenhang muss man bedenken. Wir leben in verzweifelten Zeiten: Überbevölkerung, Klimawandel und der Schwund von Ressourcen, das alles bringt uns gefährlich nahe an den Abgrund. Wir haben nicht mehr viel Zeit, um das Ruder herumzureißen.
Wenn wir einmal die Kontrolle an die Russen oder die Chinesen verloren haben, dann wird die Welt unausweichlich den schlüpfrigen Pfad der Zerstörung hinabrutschen. Glaubst du, dass China oder Russland die Selbstzerstörung der Menschheit aufhalten werden?“
Ed beantwortete seine eigene Frage: „Natürlich nicht! Die Russen sorgen sich gerade darum, dass es in der Zukunft vielleicht nicht mehr genug Russen gibt, deshalb ermutigen sie ihre Leute unbedingt noch ein paar mehr zu machen.“
Die Chinesen haben eine strikte Ein-Kind-Politik“, warf David ein.
Eine Zwei-Kind-Politik ist das inzwischen“, widersprach Ed. „Und es gibt Anzeichen, dass sie ihre Politik zur Geburtenkontrolle bald ganz aufgeben wollen. Was glaubst du geschieht, wenn eine explodierende Zahl von Chinesen plötzlich alle Fleisch essen und Auto statt Fahrrad fahren wollen?“
David hatte diese Argumente schon oft gehört und machte sich darum auch nicht die Mühe zu antworten. Und Ed erwartete sowieso keine Antwort, denn seine Frage war rein rhetorisch.
Ich sag dir, was geschehen würde, eine absolute Umweltkatastrophe. In ein paar Jahren würde sich die Erde in eine zweite Venus verwandelt haben – kurz nachdem der Menschheit sämtliche Ressourcen ausgegangen wären!“
Das war beinahe ein Echo von David's eigenen Worten zu Hope vor gerade einmal einer halben Stunde. Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter, während Ed fortfuhr:
Die Leute mit denen ich gesprochen haben, das sind die wirklichen Menschen, die tiefen Denker, die Weisen unserer Zeit. Sie tragen alles Wissen und alle wissenschaftlichen Ideen zusammen. Sie kennen die Trends und wissen, was aus der Welt einmal werden wird, und was notwendig ist, um sie auf einen vernünftigen Weg zu lenken, zum Wohle der ganzen Menschheit, so dass die menschliche Rasse eine Zukunft hat.
Sie wissen, warum die Ressourcen von den vernünftigsten Kräften kontrolliert werden müssen, von jenen, die ihre Mittel und die Macht, die sie schlussendlich einmal erworben haben werden, für das Allgemeinwohl der Menschheit einsetzen. Sicher müssen bis dahin noch einige Opfer gebracht werden. Aber diese Opfer sind es wert, denn wenn sie nicht gebracht werden, dann ist alles verloren.“
Ed hielt inne und sah David erwartungsvoll an.
David wusste, dass er jetzt all die Informationen bekommen hatte, die Ed bereit war ihm zu geben. Er würde mit Sicherheit keine Namen nennen. Und doch war es alles, was David wissen wollte – und wahrscheinlich mehr als das.
Es war jedenfalls viel zu viel für David's inneren Frieden. Eigentlich hatte er sich besser gefühlt, als er noch dachte, dass sein Freund ihm nur deshalb nicht glaubte, weil er die Existenz einer so großen Verschwörung für unmöglich gehalten hatte.
Wenn David noch vor kurzem an diesem Tag die Schönheit des normalen Augenblicks gesehen hatte, dann hörte er jetzt die ultimative Hässlichkeit in der so vertrauten, so normal klingenden Stimme von Ed. Hier war David und er saß an einem Tisch mit Ed, seinem Freund, einem liebevollen Ehemann und Vater zweier kleiner Kinder. Und da war Ed, der in ruhigem Ton den Massenmord an Tausenden von Menschen rechtfertigte als Vorspann für den Völkermord an Millionen.
Eine weise Frau hatte einmal den Ausspruch von der 'Banalität des Bösen' geprägt. Und hier war genau das manifestiert in David's bestem Freund Ed Bernays. David war gezwungen, sich einzugestehen, dass sein Freund ein Soziopath war.
Warum hatte er das nicht schon früher gesehen? Als Journalist waren David schon eine ganze Reihe von Soziopathen untergekommen, manchmal sogar mörderische Psychopathen, und er hatte sie immer als solche erkannt. Immer waren sie charmant, manipulativ und ohne jeglichen ethischen Kern gewesen. In Ed jedoch hatte keine Anzeichen davon gesehen.
David wusste noch, wie sehr er Ed für seinen brillianten Schreibstil bewundert hatte, und weil er mutig genug war als Militärkorrespondent, eine Tour im Irak und eine in Afghanistan zu absolvieren. Er hatte mehr als einmal sein Leben riskiert, um an eine Geschichte zu kommen.
Und David erinnerte sich noch genau daran, wie Ed, als er damals zurückkam, sich darüber beschwert hatte, dass man als Militärkorrespondent so vielen Restriktionen unterlag, die einen Journalisten daran hinderten, die volle Wahrheit zu berichten. Es waren dort Dinge geschehen, über die er gern berichtet hätte, die er aber nicht erwähnen durfte. Ed hatte sogar angedeutet, Zeuge von Ereignissen geworden zu sein, die man als Kriegsverbrechen ansehen konnte.
Nein, Ed war damals noch kein Soziopath gewesen. Zu der Zeit konnte er immer noch Schuldgefühle und Mitleid empfinden. Manche behaupten, dass Soziopathie ein genetischer Defekt sei. Aber im Fall von Ed Bernais war das einfach nicht wahr. Etwas hatte ihn verändert, ihn von den ethischen Gefühlen getrennt, die er einmal besessen hatte.
Dein Club, es ist dein Club“, sagte David laut. Und er fragte sich, ob Ed dort irgendeiner Form von Gehirnwäsche ausgesetzt worden war, und die der Grund dafür war, warum sich sein Freund so sehr verändert hatte.
Was meinst du? Mein Club ist was?“ fragte Ed verwirrt.
David antwortete nicht darauf. Stattdessen beschloss er etwas auszuprobieren:
Was wäre wenn“, schlug er vor, „es keine Überbevölkerung gäbe, keine von Menschen verursachte globale Erwärmung und keinen Ressourcen-Schwund?“
Was meinst du damit“, fragte Ed. „Jeder weiß doch, dass...“
Nein, nicht jeder“, unterbrach ihn David. „Es gibt Wissenschaftler, die erklären, dass eine hohe Geburtenrate eine natürliche Folge von Armut oder Krieg oder anderen Formen sozialer Unsicherheit sei. Wenn man den Entwicklungsländern erlaubt, ökonomisch so weit aufzusteigen, bis die Mehrheit der Bevölkerung den Standard der westlichen Mittelklasse erreicht hat, dann werden die Geburtenraten fallen, bis sie auf dem demselben Niveau liegen wie bei den Europäern und den Anglo-Amerikanern.“
Ed schüttelte den Kopf: „Mittelklasse bedeutet größerer CO2 Verbrauch, bedeutet Klima-Katastrophe.
David fuhr fort: „Was wäre, wenn CO2 gar kein besonders großes Problem darstellt, da die CO2 Anteile an der Luft, bevor es noch Menschen auf dem Planeten gab, oft weit höher lagen als heute, ohne zu einer katastrophalen Erwärmung zu führen. Was wäre wenn Erwärmung und Abkühlung der Erde durch unterschiedliche Intensität der Sonneneinstrahlung und andere natürliche -nicht von Menschen erzeugte- Faktoren bedingt wird?“
Ed war nun ganz aufgewühlt: „Du bist verrückt, David! Bist du jetzt unter die Klimawandel-Leugner gegangen?“
David erwiderte nichts dazu und machte einfach weiter mit seinen provozierenden Fragen: „Was wäre, wenn Öl und Gas gar keine fossilen Brennstoffe wären? Wenn sie a-biotische Substanzen wären, die ständig tief innerhalb des Erdmantels neu produziert würden, und deshalb im Prinzip eine Art erneuerbarer Energie-Ressource wären?“
Und alle Wissenschaftler der Welt haben uns diese Informationen vorenthalten?“ Ed schüttelte heftig den Kopf und schniefte: „Wie viel hast du heute eigentlich getrunken, dass du auf solche schwachsinnigen Verschwörungstheorien reinfällst?“
Jetzt konnte David nur noch lachen: Der Mann, der gerade zugegeben hatte, dass er Mitwisser einer gigantischen Regierungsverschwörung war, wo man versucht hatte einen Angriff unter falscher Flagge auszuführen, um diesen dann zu einem Kriegsgrund zu machen, nannte ihn einen Verschwörungstheoretiker. Und das verrückteste an der ganzen Sache war, dass Ed selbst die Ironie nicht erkennen konnte.
Aber er war ganz klar verärgert über David's Gelächter: „Glaubst du den Schwachsinn wirklich“, fragte er.
Ich glaube“, antwortete David, und jetzt war seine Stimme nicht mehr sanft sondern hart und eiskalt, „dass ich als Journalist die Pflicht habe, objektiv alle Seiten eines Arguments zu beleuchten.
Und wenn dieses Klimawandel-, Ressourcenschwund- und Überbevölkerungs-Paradigma der Grund dafür ist, dass ein nuklearer Krieg angezettelt werden soll, vielleicht sogar der dritte Weltkrieg, dann werde ich nichts unversucht lassen um die gegenteiligen Argumente genau zu untersuchen.“
Was glaubst du denn, wer du bist?“ Ed hörte sich nun wirklich wütend an, „ein Experte, der so was beurteilen kann?“
David schüttelte den Kopf: „Ich bin einfach nur David Ragnarsson, ein menschliches Wesen mit der Fähigkeit selbst zu denken.“
Du bist gefährlich, David“, zischte Ed.
Gefährlich für wen“, fragte David, „ die Freunde von Freunden aus deinem Club?“
Nein“, explodierte Ed, „gefährlich für die Menschheit!
Es ist wegen Leuten wie dir, dass internationale Klimakonferenzen noch keine definitiven Resultate gebracht haben, und die Welt deshalb in tödlicher Gefahr schwebt! Es ist genau wegen Leuten wie dir, warum wir in den Krieg ziehen müssen!“
Nein, das glaube nicht“, erwiderte David und sein Ton wurde noch einen Tick schärfer. „Diese Kriegspläne haben nichts mit Leuten wie mir zu tun. Deine Freunde, die so-genannten 'wirklichen Menschen', wollen unbedingt einen Krieg, gleichgültig, was bei Verhandlungen herauskommen würde.
Sie brauchen den für ihre geo-politischen Schachzüge, in denen ganze Nationen nichts anderes sind als Figuren auf einem Spielbrett, die nach Belieben hin- und hergeschoben oder auch eliminiert werden können.
Und das bringt mich zu dem, was ich wirklich glaube, ganz gleich welche Theorien über Klima oder Ressourcen nun richtig oder falsch sind.
Ich glaube, dass 3000 Deutsche, die ihr für euer Spiel opfern wolltet, das Recht haben zu leben, genauso wie 3 Millionen Iraner. Und dasselbe Recht hatten einmal die eine Million Irakis, die 100 000 Libyer, die 500 000 Syrer, und die wer weiß wie vielen anderen Menschen, die schon zu Opfern eurer dreckigen Spiele geworden sind – Sie hatten ein Recht auf Leben, ein Recht, dass ihnen genommen wurde.“
Und jetzt wurde David's Stimme wieder sanft, als er von Ed weg zu Hope hinübersah, die nun einem Abbild von Trauer und Elend glich.
Ich glaube, dass Leben ein göttliches Geschenk ist. Ich glaube, dass menschliches Leben heilig ist und deshalb immer geschützt werden muss.“
Hope's Gesicht erhellte sich, als sie nun David half ihr Erstes Prinzip zu rezitieren: „Ich glaube, dass jeder Mensch von großer Bedeutung für die Menschheit ist und von unbegrenztem Wert und unveränderlichem, und dass er eine Würde besitzt, die untastbar ist. Und schließlich glaube ich, dass kein Mensch von höherem oder niedrigerem Wert ist, als irgendein anderer Mensch auf Erden.“
Ed's Miene zeigte nichts als Verachtung gegenüber David: „Was für ein großer Haufen Mist. Bist du jetzt auch noch ein religiöser Irrer geworden?“
David schüttelte sanft den Kopf: „Du weißt doch, dass Religion so gar nicht meine Sache ist. Dies war nur eine Interpretation von dem was Thomas Jefferson gesagt hat und andere große Denker.“
David's Stimme wurde wieder schärfer: „An diese Leute könnten deine Denk-Fabrik-Freunde in einer Million Jahre nicht herankommen. Weise nennst du die? Also das sind die mit Sicherheit nicht. Wie kann man etwas Weisheit nennen, das das Recht auf Leben den meisten Mitgliedern deiner eigenen Spezies aberkennt. Du hast ja keine Ahnung, was das Wort überhaupt bedeutet!“
Ed war jetzt im Gesicht ganz rot angelaufen. Er verteidigte seine Weltanschauung: „Das Recht auf Leben ist gar nichts wert, wenn es keinen Planeten mehr gibt, auf dem man leben kann. Der Planet muss zuerst kommen. Das exponentielle Wachstum der Menschheit muss mit allen Mitteln gestoppt werden, bevor es zu spät ist.“
David schüttelte den Kopf: „Weißt du was, Ed. Es sind doch gar nicht China, Russland oder Iran, die die meisten Umweltschäden verursachen. Auch sind es nicht die Menschen in den Entwicklungsländern, die Kinder der Armen, die das größte Problem darstellen. Es sind deine Freunde, die eine wirkliche Gefahr für den Planeten bedeuten. Ihre Kriege und Kriegsspiele sind die schlimmsten Umweltverschmutzer. Kannst du das denn nicht sehen?“
Nein, ich glaube du kannst das nicht“, beantwortete David seine eigene Frage und fügte hinzu:
Jemand hat mal gesagt: 'Ich habe den Feind gesehen, und er gehört zu uns'. Wie wahr!“
Das war zu viel für Ed, um es zu schlucken: „Du bist völlig und total geisteskrank“, zischte er David an, „ein armer Irrer.“
Vielleicht bin ich das“, gab David zu. „Aber das ist immer noch besser, als wenn man an deiner Art von kognitiver Dissonanz leidet und weit weniger gefährlich als die ansteckende Krankheit, die du dir in deinem Club zugezogen hast, eine Krankheit, die dein Herz in Stein verwandelt hat.“
Ed stand wortlos auf und drehte sich um, um zu gehen.
Ed“, hielt David ihn noch einmal auf, „hast du vor, deinen Freuden von mir zu erzählen?“
Ed erstarrte für ein paar Sekunden. Während er die Lippen zusammengepresst hielt, dachte er nach. Am Ende sagte er: „Wenn sie mich nach dir fragen, dann werde ich sagen, dass ich dich immer noch in einem so tiefen alkoholischen Nebel vorgefunden habe, dass ich kein einziges vernünftiges Wort aus dir herausbekommen habe.“
Danke dir“, sagte David, und er war wirklich dankbar. Das würde ihm ein bisschen Raum lassen. Er wollte gerade jetzt nicht unbedingt auf dem Radar des 'Clubs' auftauchen.
Ed antwortete nicht und presste nur wieder die Lippen zusammen. Und ohne ein weiteres Wort drehte er sich zur Treppe und ging.
David sah Hope an, die sich wieder einmal hinter ihrer mentalen Wand von ihm zurückgezogen hatte. Ihre Gedanken blockte sie vor ihm ab, aber ihre Gefühle konnte er trotzdem spüren: kein Zorn mehr, nur Traurigkeit und Furcht, gemischt merkwürdigerweise mit Schuldgefühlen.
Hope“, fragte David, „was ist los? Denk einfach nicht mehr über Ed nach. Er ist ein Idiot und seine Freunde sind noch größere Idioten. Und dein Großonkel hat doch selber gesagt, dass die Pläne von diesen machtbesessenen Leuten am Ende fehlgeschlagen sind. Sie werden scheitern.
Dies ist nicht deine Zeit. Was auch immer hier passiert, das ist in deiner Zeit längst vorbei und Vergangenheit. Und die Menschen deiner Zeit haben aus ihr gelernt, die Menschheit hat sich verändert. Du brauchst dich mit Sicherheit nicht für die Verbrechen meiner Zeit verantwortlich zu fühlen.“
Hope's Antwort war nur eine Welle von Schmerz, die sie zu unterdrücken versuchte. David hatte keine Ahnung, was er noch sagen sollte, um sie zu trösten.
Er sah das Essen an, das immer noch voll eingepackt auf seinem Tablett lag. Er hatte irgendwie seinen Appetit verloren, aber wusste, dass er etwas essen sollte.
Lustlos packte er den Hamburger aus und nahm den ersten Bissen. Dann hatte er eine Idee: Was Hope bis jetzt immer beruhigt hatte, war die Gelegenheit, ihm die technischen und ökonomischen Aspekte ihrer Welt zu erklären.
Also ihr baut euer ganzes Essen selber an, stimmt's“, fragte David nachdem er fast den halben Hamburger mit einem Bissen heruntergeschluckt hatte.
Nein, nicht das Ganze“, antwortete sie und David fühlte wie sie langsam wieder sie selbst wurde, „nur 60%, den Rest importieren wir.“
Aber ich dachte“, kommentierte David, „du hast doch so was gesagt... wie hast du das noch ausgedrückt? Ihr seid Lebensmittel-Souverän... Ach ja, jetzt erinnere ich mich, souverän bedeutet, dass man das Potential hat autark, also ein Selbstversorger zu sein, stimmt doch?“
Hope nickte: „Richtig, wir könnten all unsere Lebensmittel selbst erzeugen, wenn wir wollten, wir müssten dann nur noch mehr aquaponische und aeroponische Gewächshäuser bauen. Außerdem müssten wir einen Großteil des Waldes abholzen, der zu unserem Dorf gehört, um Platz für Anbauflächen zu schaffen. Aber so was wollen wir nicht tun, weil wir ja den wilden Tieren und Pflanzen auch noch einen Ort zum Leben lassen wollen.“
Und was sind dann aquaponische und aeroponische Gewächshäuser?“ David hatte von so was noch nie gehört.
Du hast doch die Pflanzen auf unseren Balkons gesehen?“ erwiderte Hope. Als David nickte, erklärte sie weiter: „Also diese Pflanzen, die wachsen im Wasser, und das Wasser fließt bis zum Ende des Balkons in ein Fischbecken, das dort installiert ist. Und dann fließt das Wasser zurück zu den Pflanzen auf dem ganzen Stockwerk.
Wenn man die Fische füttert, so dass sie wachsen, bleibt immer etwas übrig im Wasser, das Effluent genannt wird. Es würde verschimmeln und am Ende die Fische vergiften, aber das Wasser, das reich an Efluent ist, ist gut für die Pflanzen. Es enthält Stoffe, die die Pflanzen zum wachsen brauchen.
Es gibt dann noch ein paar extra Behälter, um Abfall zu entsorgen und um die richtige Sauerstoffmenge im Wasser zu gewährleisten, aber im Prinzip sind es die Pflanzen, die das Wasser für die Fische säubern, und die Fische, die Düngstoffe für die Pflanzen erzeugen. Und wir können die Fische essen und die Pflanzen. Und von unseren Abfällen machen wir Haufen, in denen wir Würmer züchten, um die Fische zu füttern. Das Ganze ist ein kooperatives System.“
Meine Güte“, bemerkte David beeindruckt, „das ist aber eine geniale Art Nahrungsmittel herzustellen! Und was sind dann diese anderen Gewächshäuser, äro- irgendwas, hat das etwas mit Luft zu tun?“
Ja richtig“, antwortete Hope. „Die aeroponischen Gewächshäuser befinden sich nicht auf unseren Balkons, sondern sie sind am Boden rund um unsere Blocks gebaut. Und dort wachsen die Pflanzen in der Luft.“
David stellte sich Pflanzen vor, die schwerelos durch den Raum schwebten. Hope konnte dieses Bild in David's Kopf sehen und lachte: „Nein, nein, doch nicht so! Die Stängel einzelner Pflanzen stecken in aeroponischen Steropor-Kammern. Dort werden alle Pflanzen mit starkem Licht bestrahlt, um die Photosynthese voranzutreiben. Unten sind die Behälter offen, so dass die Wurzeln durchkommen, die dann regelmäßig mit Nährstoff gemischtem Wasserdunst besprüht werden.
Diese Nährstoffe erhalten wir aus den Abfällen unserer Biogasanlagen. Das ist genau wie bei den Fischen auf unseren Balkons ein kooperativer Kreislauf. Wir essen die aeroponisch gezüchteten Pflanzen und unsere Abfälle erzeugen wieder Nährstoffe für die nächsten Pflanzen. Und diese Pflanzen wachsen wirklich, wirklich schnell, viel schneller als im Wasser oder in der Erde. Das geschieht auch deshalb, weil wir CO2-reichere Luft in die Gewächshäuser pumpen.“
Das hört sich wirklich gut an!“ David war ehrlich beeindruckt.
Ja, das ist es auch“, stimmte Hope ihm zu. „Aber wir müssen auch vorsichtig sein, damit keine unerwünschten Organismen in diese Kammern eindringen. Deshalb dürfen dort auch keine Kinder hinein. Und die Erwachsenen, die dort arbeiten und die Maschinen kalibrieren, die müssen sterile Anzüge tragen.“
Eine Projektion erschien vor David's Augen von jemandem, der so etwas wie einen Raumanzug trug. David lachte, die Pflanzen schwebten zwar nicht in der Schwerelosigkeit, aber die Bauern sahen ganz nach Astronauten aus.
Was sind Astronauten“, fragte Hope.
Das sind Leute, die ins All fliegen oder zum Mond“, antwortete David.
Solche Leute haben wir nicht“, erklärte Hope kurz. Und doch spürte David, dass dies wieder einmal ein Thema war, dass sie irgendwie unangenehm berührte, auch wenn sie das nicht weiter ausführte.
Stattdessen begann sie wieder mit ihrer Erklärung zur Nahrungsmittelproduktion:
Wir haben Verträge mit acht anderen Dörfern, von denen wir Nahrungsmittel kaufen. Die meisten liegen im mittleren Teil unseres Kontinents. Und als Jugendliche bekommen wir, jeder von uns mindestens einmal, die Gelegenheit Projektarbeit in einem dieser Dörfer zu verrichten.
Sensei hat uns vorausgesagt, wie viel mehr wir über das Kooperationssystem der Natur lernen werden, wenn wir einmal in einem der Lebensmittel produzierenden Dörfer während der Aussaat oder der Erntezeit arbeiten können. Diese Dörfer besitzen viel mehr Land als wir, und es leben da nur ein paar hundert Leute in jedem einzelnen Dorf.
Jede Familie hat ihr eigenes Land und ihre eigenen Herden an unterschiedlichen Nutztieren. Und weißt du was, Onkel David, diese Leute sehen eigentlich fast so aus wie die Menschen in deiner Zeit, außer dass ihre Kleider nicht so hässlich eng und kurz sind. Aber trotzdem trägt jeder von ihnen Kleider von ganz unterschiedlicher Farbe und Form und ganz unterschiedliche Mützen auch und überhaupt keine Stickereien auf der Kleidung, so wie sie meine Mama für alle Erwachsenen unserer Hausgemeinschaft herstellt.
Also ich würde nicht gern in solcher Kleidung herumlaufen, so ganz anders als alle anderen,“ meinte Hope in einem leicht angewidertem Ton. „Ich will zeigen, dass ich zu meiner Hausgemeinschaft und zu meinem Dorf gehöre. Es ist doch wichtig, dass man irgendwo dazu gehört, warum will man das dann nicht zeigen?“
Hope hielt für einen Moment inne und fuhr dann etwas leiser und nachdenklicher fort: „Also ich meine das eigentlich nicht so, dass ich denke dass die Leute in diesen Dörfern schlechte Menschen sind. Sensei hat uns gelehrt, dass wir keine Vorurteile haben sollen gegen die Menschen, die anders sind als wir. Die denken vermutlich auch, dass unsere Kleider merkwürdig sind, genau wie du. Stimmt's, Onkel David?“
David antwortete lächelnd: „Da könntest du Recht haben.“
Jetzt hatte Hope ihren eigentlich Faden wieder gefunden: „Jedenfalls pflanzen die Leute aus diesen Dörfern all ihre Saaten draußen auf den Feldern und nicht in Gewächshäusern. Sie müssen deshalb sehr viel über die biologischen Vorgänge im Erdreich wissen, über die Mikroorganismen, die dort leben, und die dem Boden Fruchtbarkeit verleihen, und wie man diese Organismen durch unterschiedliche Dünger und auch durch regelmäßigen Fruchtwechsel schützt und füttert. Und all das werden wir lernen, wenn wir dort arbeiten, sagt Sensei.“
Oh, aber ich dachte doch, dass ihr immer mit verschiedenen Dörfern Handel treibt, mit denen, die die niedrigste Summe an Intercoin auf ihren Konten haben“, wandte David ein. „Oder habe ich das missverstanden?“
Das ist nur so bei industriell gefertigten Dingen“, erwiderte Hope. „Kein Dorf würde das bei Nahrungsmitteln so machen. Niemand möchte anonyme Lebensmittel essen.“
David lachte auf: „Also bevor du ein Kottelet isst, musst du erst einmal wissen, wie das Schwein heißt?“ scherzte er.
Igitt“, Hope schüttelte sich. „ich würde niemals Fleisch von einem Tier essen, dessen Name ich kenne. Deshalb esse ich auch kein Rindfleisch mehr, seit ich angefangen habe, mich um unsere Kühe zu kümmern.
Ja, ich weiß, das war nur ein Witz von dir. Aber in Echt, das ist es nicht, was wir mit anonymen Lebensmitteln meinen. Es bedeutet einfach nur, dass man die Leute nicht kennt, die die Nahrungsmittel hergestellt haben, die gesät und geerntet und die Tiere aufgezogen haben.
Aber was ist“, warf David ein, „wenn diese Dörfer einmal eine schlechte Ernte haben, und sie euch nicht so viel verkaufen können, wie ihr braucht?“
Hope zuckte mit den Schultern: „Das passiert eigentlich nicht sehr oft. Und wir bewahren auch immer genug Vorräte an Nahrungsmitteln in den Kellern unserer Hausgemeinschaften auf, so dass sie für ein ganzes Jahr ausreichen würden.
Vor fünf Jahren, als unser Dorf einmal seine Vorräte aufstocken musste, da wurden einige Leute vom Dorfrat beauftragt einige Dörfer in Europa zu besuchen, die dort genug Überschuss an Nahrungsmitteln produziert hatten, um mehr als sonst zu verkaufen. Unsere Leute sollten herausfinden, wie dort die Nahrungsmittel produziert wurden, bevor wir sie kaufen würden.“
Aber warum müsst ihr das unbedingt tun?“ fragte David. „Glaubt ihr vielleicht, dass diese Nahrungsmittel-Produzenten euch vergiften wollen? Das hört sich aber ganz schön paranoid an.“
Natürlich glauben wir das nicht“, erwiderte Hope entrüstet. „Wir sind nicht paranoid. Wir haben keine Angst davor, dass andere Dörfer uns vergiften wollen. Es ist einfach eine Sache von Macht.
Kein Dorf sollte die Macht über Nahrungsmittel und Energie anderen Leuten geben, die sie nicht kennen.
In den Dunklen Zeiten, ich glaube, es war schon bevor du geboren bist, Onkel David, da hat ein mächtiger Mann einmal gesagt: Kontrolliere das Öl und du kontrollierst die Nationen, kontrolliere die Nahrungsmittel und du kontrollierst die Menschen.
Und nachdem er das gesagt hatte, da haben er und andere mächtige Männer alles daran gesetzt, die Kontrolle über die Nahrungsmittel der ganzen Welt zu erlangen.“
Und schon wieder waren sie an diesem Punkt angelangt, dachte David mit einem innerlichen Seufzer. Es schien ihm so, als ob alles, was in Hope's Welt politisch oder ökonomisch getan wurde, eine direkte negative Reaktion auf das war, was irgendwelche Leute in seiner Zeit gesagt oder getan hatten. Es war als ob die Menschen der Zukunft, es sich zur höchsten Lebensaufgabe gemacht hatten, sich so weit wie irgend möglich von der Vergangenheit zu distanzieren, einer Vergangenheit, die sie die 'Dunklen Zeiten' nannten.
Hope fuhr inzwischen mit ihrer Interpretation von David's Zeit fort: „In den riesigen Produktionsstätten der Mächtigen veränderten die Wissenschaftler, die für diese arbeiteten, die Nahrungsmittel durch schädliche Chemikalien, damit diese länger haltbar waren, oder damit die Menschen mehr davon aßen. Diese Chemikalien machten die Menschen krank.
Die Wissenschaftler veränderten manchmal auch die genetische Zusammensetzung von Samen. Und mit ihrer Kontrolle über die Coins der Welt, konnten die Eigner der Produktionsstätten dafür sorgen, dass die Bauern in der ganzen Welt diese Samen immer und immer wieder kauften. Denn die Samen, die so hergestellt wurden, erzeugten selbst keine Ernten mit fruchtbaren Samen.
Und einige der so hergestellten Nahrungsmittel waren sogar so schädlich, dass sie die inneren Organe derer veränderten, die sie aßen, sowohl bei Menschen als auch bei Tieren. Manchmal verkleinerten sie sogar das Gehirn.
Ist das wahr?“ fragte David mit leiser Stimme. „Sind genetisch veränderte Samen wirklich so gefährlich?“
Hope nickte: „Wir haben immer noch die Dokumente in unseren historischen Archiven auf dem Friedensnetz. Wir haben sogar noch ein paar von den Samen und auch von den Chemikalien, die die Bauern über ihre Felder sprühten, nachdem sie diese eingepflanzt hatten.
Und vor ein paar Jahren haben einige Wissenschaftler angefangen, diese Samen und diese Chemikalien weiter zu untersuchen, um herauszufinden, was genau diese physiologischen Veränderungen verursachte. Sie haben ihre Arbeit bis jetzt noch nicht beendet.
Allerdings haben einige historische Wissenschaftler die These aufgestellt, dass diese Veränderungen vielleicht nicht zufällig herbeigeführt wurden, denn einige der Mächtigen in den Dunklen Zeiten hatten tatsächlich zwei theoretische Ziele für die Menschheit.
Das eine Ziel war es, eine kleine Minderheit von Kindern genetisch zu verbessern, und das zweite war es, die Hirnkapazität vom Rest der menschlichen Kinder auf die von Primaten-Affen zu reduzieren. Und die Nahrungsmittel, die von den Mächtigen kontrolliert wurden, könnten vielleicht als Werkzeug dafür benutzt worden sein, um dieses zweite Ziel zu erreichen.
Im letzten Jahr in einer Lektion über diese beiden theoretischen Ziele aus den Dunklen Zeiten hat Sensei einen Autor aus deiner Zeit, einen Mr Russel, zitiert, der geschrieben hat: -Allmählich, durch selektiv-gesteuerte Fortpflanzung, werden die intellektuellen Unterschiede zwischen Regierenden und den Regierten so groß, dass sie praktisch zu verschiedenen Spezies werden. Eine Revolte des Plebs würde dann so undenkbar werden, wie ein organisierter Aufstand von Schafen gegen die menschliche Praxis Schaffleisch zu essen.“
Hope schüttelte sich und auch David schauderte, während Hope weiter erklärte: „Plebs, das sind die normalen Menschen und Aufstand bedeutet...“
Ich weiß, was es bedeutet“, unterbrach David. „Aber es muss einfach nur irgendein Durchgeknallter gewesen sein, der diesen Schwachsinn von sich gegeben hat, ein Geistesgestörter, der etwas in der Zelle seines Irrenhauses aufgeschrieben hat.“
Hope sah David skeptisch an: „Ich weiß nicht, ob dies einfach nur ein geistig gestörter Mann gewesen ist, jemand, dem niemand zugehört hat. Aber vielleicht hast du ja Recht“, meinte sie dann achselzuckend.
Die historischen Wissenschaftler haben auch noch keine Dokumente gefunden, die zweifelsfrei beweisen, dass Wissenschaftler aus den Dunklen Zeiten an den beiden Zielen wirklich aktiv gearbeitet haben. Aber sie haben doch Dokumente gefunden, die besagen, dass sie erwarteten, dass sich die Menschheit in der Zukunft in zwei unterschiedliche humanoide Spezies aufteilen sollte.“
Vielleicht haben sie ja geglaubt, das würde auf natürliche Weise geschehen“, protestierte David schwach.
Hope schüttelte entschieden den Kopf: „Das könnte niemals auf natürliche Weise geschehen, hat Sensei uns erklärt, denn Homo Sapiens als eine eigene Spezies existiert bereits seit mindestens 300 000 Jahren.
Und obwohl unterschiedliche Gruppen von Menschen tausende von Jahren, und bei den Neandertalern sogar hunderttausend Jahre lang weit, weit weg von anderen Menschengruppen gelebt haben, und obwohl sie sich in der ganzen Zeit äußerlich ganz unterschiedlich entwickelt haben, sind sie doch keine unterschiedlichen Spezies geworden.
Und dann konnten die Menschen seit ein paar hundert Jahren ganz einfach überall in der Welt herumreisen. Und seit dem konnten sich Menschen aus ganz verschiedenen Gegenden treffen und einander heiraten und Kinder zusammen haben. Und alle Gene wurden miteinander vermischt, so dass es absolut unmöglich war, dass sich die Menschheit auf natürliche Weise, nur durch genetische Mutationen, in zwei verschiedene Spezies entwickeln würde.“
Du meinst also“, fragte David, wobei ein Gefühl der tiefen Traurigkeit sich in ihm ausbreitete, „dass diese mächtigen Leute, von denen du geredet hast, wirklich versuchen, unsere Nahrung zu vergiften, um dieses zwei Spezies Ideal zu erreichen?“ David wollte das nicht glauben, konnte es aber nicht mehr völlig ausschließen.
Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Hope ebenso traurig und fügte mit kaum hörbarer Stimme hinzu. „Vor ein paar Tagen haben wir von dokumentierten Experimenten gehört, die gegen Ende der Dunklen Zeiten durchgeführt wurden, und diese Experimente hatten eindeutig den Zweck das erste von den beiden Zielen zu erreichen.
Da waren Wissenschaftler, die ein zusätzliches Paar Chromosomen in Mäuse-Embryos verpflanzt haben und zwar als Vorbereitung, um dasselbe mit menschlichen Embryos durchzuführen. Sie glaubten, es sei zu schwierig den gesamten menschlichen Gen-Code zu verbessern, um eine neue Spezies zu erschaffen. Sie glaubten, es sei einfacher, das gesamte Verbesserungs-Material einfach in ein extra Chromosomen-Paar zu stecken.
Die sind wahnsinnig, absolut wahnsinnig“, kommentierte David. Hope nickte und David spürte, dass ihre Traurigkeit sich in seiner eigenen widerspiegelte.
Hope hörte auf zu reden, und auch David war für eine Zeit lang ganz still.
Der Stein in seinem Magen machte es ihm unmöglich weiter zu essen, und deshalb schob er das Tablett von sich weg. Aber die deprimierenden Gedanken konnte er nicht wegschieben.
Ja, die Idee 'Über- und Untermenschen' zu kreieren schien extrem, unwirklich und völlig außerhalb des Normalen. Es war etwas, das zum Nazi-Kult einer vergangenen Zeit gehörte. Aber war denn die Entwicklung solcher Ideen nicht einfach nur die logische Konsequenz anderer Ideen, die das menschliche Leben als ebenso wertlos ansehen, ein Objekt, das weggeworfen und zerstört werden konnte. Und waren diese Ideen nicht schon völlig alltäglich in seiner Zeit... eigentlich banal.
Sein Freund Ed hatte Massenmorde und einen Atomkrieg gerechtfertigt, um dadurch ein für ihn höheres Gut zu erlangen. Aber David erkannte nun auf welche Weise seine gesamte Kultur mit einer immer größer werdenden Akzeptanz von mörderischer Gewalt durchdrungen war.
Die Action-Filme der letzten Jahrzehnte waren praktisch zu Spektakeln von Massentötungen verkommen, in denen die virtuelle Todesrate immer weiter anwuchs. Und selbst das früher so seichte aber harmlose Fernsehen war mit jedem Jahr immer gewalttätiger und brutaler geworden.
Ungebeten stiegen die Bilder von der Folge einer Fernsehserie, die David kürzlich angesehen hatte, in ihm auf. Da ging es um einen Kriegsveteranen, der nach einem Autounfall plötzlich übergeschnappt war, und bei einem Amoklauf Freunde, Familie und Fremde ohne Unterschied erschoss.
Ein Teil der Folge war David besonders im Gedächtnis geblieben und hatte in ihm Übelkeit verursacht. Das war als die FBI Protagonisten der Serie die psychologische Ursache für die Halluzinationen und den Amoklauf rechtfertigten:
Der Soldat war früher ein hochdekoriertes Mitglied einer Spezialeinheit gewesen. Bei einem bestimmten Einsatz war es sein Befehl gewesen, in Friedenszeiten, einen ausländischen Geschäftsmann zu liquidieren, der nukleare Geheimnisse an den Iran verkaufte. Gemäß diesem Befehl sollte er außerdem auch alle Personen liquidieren, die sich auf der Yacht befanden, auf der die Verhandlungen stattfanden. Dazu gehörten unerwarteter Weise auch zwei Kinder. Während er die Crew, die unschuldigen erwachsenen Opfer des Einsatzes nicht einmal erwähnte, erklärte der Haupt-FBI- Protagonist die beiden Kinder zu manchmal 'unvermeidlichen Kollateralschäden'.
David vermutete, dass es unter all seinen Freunden und Bekannten keinen einzigen gab, der diese Serien-Folge aus moralischen Gründen abgelehnt hätte. Keiner von ihnen hätte sich gegen die Idee ausgesprochen, dass das amerikanische Militär und seine Alliierten auch zu Friedenszeiten das Recht hätten, immer und überall auf der Welt jeden Ausländer zu töten, den Amerika zum Feind deklariert hatte, um damit irgendein höheres Gut zu verteidigen. Und auch David selbst, wenn er diese Sendung vor einem Jahr gesehen hätte, hätte diesen universellen amerikanischen Glauben nicht in Frage gestellt.
Jetzt fragte er sich, was wohl erst gekommen war, die endlosen Kriege, die so eine Gewaltverherrlichung in fiktiven Geschichten entstehen ließen oder war es umgekehrt. War es vielleicht die Brutalität in den Fiktionen, die die enorme Bereitschaft Gewalt und Krieg als normal zu akzeptieren, erst hervorbrachte?
Gleichgültig was die Reihenfolge auch war, David musste sich eingestehen, dass Eds Verwandlung zum Soziopathen wohl nicht die Folge von obskuren Gehirnwäsche-Methoden gewesen war, sondern dass es die natürliche Konsequenz der psychopatischen Denkweisen war, die die gesamte Gesellschaft seiner Zeit durchdrang.
Und wenn er den Kontrast zwischen Hope's und seiner Welt betrachtete, dann identifizierte er diese Denkweisen jetzt, als den Glauben, dass dem Leben eines Menschen kein wirklich universeller Wert zugerechnet wurde, statt dessen war sein Wert abhängig von dessen Nutzen.
Nutzen für wen oder was? Das nationale Interesse, sagen manche - aber wer in seiner Nation profitierte wirklich von diesen endlosen Kriegen und all der Zerstörung...
In tiefer Frustration dachte David darüber nach, wie viel Preise der letzte Kriegsfilm aus Hollywood gewonnen, und wie viel Geld er eingespielt hatte. Und er fragte sich zum x-ten Mal, wie es möglich war, dass gewöhnliche Menschen, die doch ökonomisch durch die teure Kriegspolitik nichts als Verluste in ihrem Lebensstandard erlitten, sich trotzdem mit den Mächtigen identifizierten und mit ihrer Religion der Gewalt, Herrschaft und Eroberung. Diese ganz normalen Amerikaner sonnten sich im Glanz einer Nation, deren größtes Verdienst es war, ein riesiges Waffenarsenal zu besitzen, größer als die Arsenale aller anderen Nationen zusammengenommen.
Aber es war ja nicht nur Amerika, diese Gewaltverherrlichung schien ein globales Phänomen zu sein. Warum sonst erfreuten sich diese Hollywood Action-Blockbuster so weltweiter Beliebtheit.
Wie könnte es je möglich werden, dass die Menschen dieser heutigen Welt irgendwann einmal in der Zukunft dieses 'Erste Prinzip' aus Hope's Welt für sich zum Grundsatz machten?
Das schien außerhalb jeglicher Realität zu liegen, außerhalb der logischen Prozesse der Weltgeschichte, in der die Zukunft immer eine natürliche Konsequenz gegenwärtiger Bedingungen war, die auch wieder von der Vergangenheit hervorgebracht worden waren.
Das ist unmöglich, absolut unmöglich!“ sagte David laut.
Manchmal geschehen Wunder“, antwortete Hope sanft.

***

Wenn ich Ms Alba anschaue, die in verkrampfter Haltung und mit geballten Fäusten neben mir sitzt, sehe ich genau, wie sehr sie dieser Vorfall von rücksichtsloser Grausamkeit mitgenommen hat. Darum wende ich mich mit meiner Voraussage vor allem an sie und dann erst an die anderen meiner Gefährten auf dem Rücksitz:
In ein paar Tagen wird die Stadt hier leer sein. Nachdem alle Frauen und die meisten der Männer in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt sind, da werden diese Vollstrecker niemanden mehr haben, den sie tyrannisieren können.”
Der Professor jedoch schüttelt bedächtig den Kopf: “Die meisten Wissenschaftler der Welt, die menschliches Verhalten studiert haben, glauben dass wahrscheinlich nur ein kleiner Teil der Frauen und ein noch kleinerer der Männer Nephilim City verlassen wollen, um in ihre ehemaligen Dörfer zurückzukehren.”
Wirklich? Nicht einmal alle Frauen?” Diese Theorie überzeugt mich nicht.
Der Professor fährt fort: “Der Lebensstil von Nephilim City führt zu einer extremen Abhängigkeit. Wenn ein Mensch einmal darin gefangen ist, dann verändern sich die Hirnmuster und seine ganze Art zu denken. Nachdem sie einmal einige Jahre hier verbracht haben, da werden sogar Frauen, gleichgültig wie sehr sie verletzt und gedemütigt wurden, sich kein anderes Leben mehr wünschen. Nur Eltern wie Nanami, die ihre Kinder mehr lieben als die Abhängigkeit zu einem Lebensstil, werden bereit sein zu gehen.”
'Abhängigkeit' von einem Lebensstil oder so ähnlich... das habe ich schon einmal gehört. Und ich kann mich noch gut daran erinnern, wieviel Verachtung mein Vater für die geäußert hatte, die sich abhängig machen ließen, obwohl es doch genau er und seine Elitisten-Freunde waren, die diesen Lebensstil überhaupt geschaffen hatten.
Schließlich waren sie es, denen diese ganzen Clubs, Kinos und andere Unterhaltungs- Etablissements gehörten. Und sie waren es auch, die die Entwickler von abhängig machenden chemischen Substanzen beschäftigten, die dort drin verkauft wurden, ebenso wie deren Verkäufer auf ihrer Gehaltsliste standen.
Um mir seinen Standpunkt klarzumachen, ist mein Vater häufig mit mir zu einer Filmvorführung gegangen, nur um mich gnadenlos schon lange vor dem Ende des Film wieder aus dem Kino zu zerren.
Wir beide, du und ich, werden uns nicht von Film-Emotionen abhängig machen lassen, noch von irgendetwas anderem”, bekräftigte John Galt, während wir das Kino von außen ansahen. “Wir sind die Elite. Und die Idioten, die dort drin vor der Leinwand kleben, die Prols, die sich in ihren seichten Träumen mit den Superhelden dieser Filme identifizieren, werden aus diesem Haus herausströmen und sich noch bereitwilliger zu Werkzeugen unserer Pläne machen lassen. Wir sind die wahren Superhelden dieser Welt. Wir sind die Götter unserer Zeit, wir kreieren und erschaffen die Welt und die gesamte Realität neu, gemäß unseres eigenen Willens.” 

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